„Hudää, hier Hudää“, tönte es nach dem Pfiff einer Trillerpfeife aus dem Megaphon des Schaffners. Aufgeregt und interessiert lehnte ich mich so weit aus der geöffneten Waggontür, dass postwendend die mahnende Stimme meiner Mutter rief: „Komm sofort wieder herein, oder willst du hinaus fallen!“ „Och menno“, maulte ich, trat aber einen Schritt zurück. „Nur noch mal hören, bitte“, sagte ich mit Blick über die Schulter zu meiner Mutter. „Bitte, bitte.“ „Du kannst die Stimme des Schaffners auch im Zug noch hören. Ist ja laut genug“ antwortete meine Mutter und warf mir einen mahnenden Blick zu. Sie klopfte auffordernd auf das Sitz-polster an ihrer Seite. Schmollend und widerwillig folgte ich ihrer Aufforderung. Das war gemein von ihr fand ich. Sie wusste genau wie gern ich das lang gezogene „Hudää“ des Schaffners hörte. Schon ab Oldenburg rutschte ich immer auf dem Sitz unruhig hin und her, in Erwartung auf das wohl tönende, langgezogene „Hudää“. Immer dann, wenn wir zu meiner Großmutter nach Essen fuhren und wir durch den Ort Hude kamen.
Damals fuhr der Zug von unserem Bahnhof aus noch direkt durch bis nach Essen, oder wir mussten erst in Bremen umsteigen.
Ich war erst drei, als ich dass erste Mal mit meinem Vater zu meiner Großmutter nach Essen fuhr. Ich kann mich an dieses erste Mal nicht mehr selbst erinnern und weiß nur aus Erzäh-lungen, dass ich scheinbar von Anfang von dem lang gezogenen „Hudää“ des Schaffners über Lautsprecher oder Megaphon fasziniert war.
Jedes mal, wenn es jetzt zur Oma nach Nordrhein-Westfalen ging, saß ich, wie schon er-wähnt, ab Oldenburg wie auf Kohlen und nervte meine Mutter mit der ständigen Frage, wann wir denn wohl in Hude seien würden.
Mit fünf, und daran kann ich mich nun auch erinnern, teilte ich meiner erstaunten Mutter mit dem ganzen Ernst, den ein Kind in diesem Alter wohl aufbringen kann mit, dass ich später einmal in Hude wohnen würde. Auf ihre Frage nach dem warum sagte ich, dass ich natürlich den Schaffner, der so herrlich „Hudää“ rief, heiraten würde, und dann, da dieser Mann wohl meiner Meinung nach nur in Hude wohnen konnte, mit ihm in Hude wohnen würde.
Diese Zeit liegt mittlerweile über vierzig Jahre zurück. Ich habe früh geheiratet, bekam vier Kinder und lebte bis 1990 mehr oder weniger, eher sehr viel weniger, zufrieden in meiner Geburtsstadt. Mein Wunsch aus der Kindheit war in weite Ferne gerückt und nur ab und zu erinnerte sich meine Mutter daran, und gab es zu irgendeinem Anlass als einen meiner Kind-heitsträume zum Besten.
Eigentlich lief alles ganz normal, könnte man meinen. Doch manchmal läuft das Leben leider nicht so, wie man es sich wünschen würde. So auch bei mir. Ein schweres Kindheitstrauma, dass ich damals nicht in der Lage war zu bearbeiten, suchte sich einen Weg ins Bewusstsein. Da ich mich vehement gegen Tatsachen wehrte, die ich nicht wahr haben und akzeptieren wollte und konnte, somit also versuchte, sie mit allen Mitteln zu verdrängen, wich ich auf ein Suchtmittel aus, dass mir erlaubte, all die Erinnerungen, Bilder und Flashbacks, die mich heimsuchten, zu verdrängen. Alkohol. Das gelingt durchaus. Zumindest für eine Weile, glaubt man. Dass dem nicht so ist, muss ich wohl nicht erwähnen. Das Bewusstsein lässt sich nicht betrügen, und irgendwann kommt man, oder zumindest ich, nicht an der Bearbeitung vorbei.
Ich unterzog mich einer Langzeittherapie und begann mich den Dingen zu stellen. Leider auch zu diesem Zeitpunkt nur ansatzweise und nicht wirklich überzeugt.
Während meiner Therapie trennte ich mich von meinem Mann. Unsere Eher war seit länge-rem zerrüttet und Unterstützung bei der Bewältigung meiner Sucht, war von ihm in keinster Weise zu erwarten. Hatte ich doch trotzdem immer „funktioniert“. Warum also etwas ändern.
Nach der Therapie zog ich mit meinen beiden jüngsten Kindern in eine andere Stadt. Die bei-den älteren wollten vorerst beim Vater bleiben. Ich bekam eine winzige Wohnung (11/2) Zimmer in einer der schlimmsten Gegenden der Stadt. Allerdings wusste ich dies zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.
Die Wohnung zu klein, die Umgebung wenig reizvoll und zudem absolut nicht kinderfreund-lich, keine Kindergartenplätze für die Kinder und somit keine Möglichkeit zum Arbeiten für mich, die Leute fremd, wenig Chancen auf neue Kontakte und ständiger Stress mit dem neu-en Partner, weil mich das Heimweh, nach den beim Vater verbliebenen Kindern plagte. Ich hielt uns mit Putzjobs und ein wenig Kellnern über Wasser und war froh, wenn ich der häusli-chen Enge für einige Stunden entfliehen konnte. Es war ein furchtbares Jahr, das wir dort verbrachten.
Nach 13 Monaten zog ich in meine Heimatstadt zurück, in der Hoffnung, an diesem Ort eine für mich und die Kinder etwas einfachere Situation vorzufinden. Hier lebten auch meine Mut-ter und einer meiner Brüder. Leider hatte ich vergessen, dass auch meine Vergangenheit hier lebte. Und die meldete sich wieder laut stark zu Wort, stärker als je zuvor und wartete darauf, nun endlich so bearbeitet zu werden, dass langfristig auch für mich ein zufriedenes vielleicht sogar glückliches Weiterleben möglich werden würde.
Anstatt mich den Dingen noch einmal, diesmal gezielter als vorher zu widmen, zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück und holte an den Abenden wieder das Glas aus dem Schrank. Ich „funktionierte“’ wieder nur, ohne wirklich am Leben teil zu nehmen.
Ich denke nicht, dass ich meiner Rolle als Mutter nicht gerecht wurde, tagsüber trank ich ei-gentlich nie, aber ich hatte keine Freude an den Dingen und Geschehnissen um mich herum. Sie berührten mich kaum mehr. Wenn man selbst keine Freude empfindet, kann man sie na-türlich auch nicht an die Kinder vermitteln. Ich wusste das nur zu genau, und doch konnte ich aus meinem Kreislauf nicht heraus. Immer öfter dachte ich daran, dass die Kinder ohne mich vielleicht besser dran wären. Meine Familie konnte mir nicht helfen, verstand sie mich doch überhaupt nicht.
Nach einem dreiviertel Jahr raffte ich mich noch einmal auf und beantragte eine sog. Stabili-sierung in der Klinik, in der ich meine Langzeittherapie absolviert hatte. Eine solche Stabili-sierung dauert ca. vier Wochen und soll dem Patienten die Möglichkeit bieten, nicht, oder nur ansatzweise bearbeitete Probleme noch einmal zu behandeln, oder neu erlernte Verhaltens-strategien zu vertiefen. Fünf Wochen später bekam ich einen Termin in der Klinik und schöpfte ein wenig Hoffnung. Die Kinder sollten bei ihrem Vater, der mittlerweile in zweiter Ehe verheiratet war bleiben, und ich wähnte sie somit gut aufgehoben.
Bereits nach einer knappen Woche musste ich die Stabilisierungstherapie abbrechen, da die neue Ehefrau meines geschiedenen Mannes sich außer Stande sah, alle Kinder zu betreuen. Das war äußerst bitter für mich. Völlig frustriert, und mit dem, meinem Therapeuten gegebe-nen Versprechen, meine Therapie unbedingt ambulant weiter zu führen, verließ ich die Klinik. Ich war überzeugt davon, dass gegebene Versprechen einzulösen. Mein Wille war zumindest da und auch der Wunsch, mich endlich aus dem Gefängnis der Vergangenheit zu befreien.
Wunsch und Realität gehen bekannterweise oft verschiedene Wege. Der Alltag sah dann wie-der ganz anders aus. Ich hatte nie die Garantie für die verlässliche Betreuung meiner Kinder während der vereinbarten Therapiestunden. Weder von Seiten meiner Familie noch von Sei-ten Bekannter oder sog. guter Freunde. Zulange schon verweilte ich ihrer Meinung nach in meinem seelischen Tief, und der ein oder andere hatte bereits zweifelsfrei durchblicken las-sen, dass ich schon längst wieder „funktionsfähig“ seien müsste. Ich müsste es nur wollen, ganz einfach wirklich wollen. Niemand hatte auch nur die Spur einer Ahnung, wie es in mir aussah. Außer meinem Therapeuten wusste auch keiner von meinem Trauma. Zu schrecklich wären meiner Meinung nach die Auswirkungen für die Familie gewesen.
Also schwieg ich weiter und litt still und leise, mit Hilfe meines verlässlichen Seelentrösters vor mich hin. Vermutlich wäre dies noch lange Zeit so gegangen, wenn ich überhaupt jemals wach geworden wäre.
Mein Lebensgefährte sah in meinem Leiden und gleichzeitigem „Kleinsein“, auch resultie-rend aus meinem Alkoholkonsum, denn dadurch nimmt man sich selbst das letzte bisschen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, seine Chance, mich wieder in seine räumliche Nähe zu ziehen. Er arbeitete in Bremen und war nur am Wochenende bei uns.
Selbst eine zerrüttete Beziehung war mir lieber als das Alleinsein, denn ich war mit meinen Erinnerungen, mir selbst der größte Feind und hasste mich dafür.
Durch einen Arbeitskollegen erfuhr mein damaliger Partner von einer zu vermietenden Woh-nung in Hude. Die räumliche Nähe zu Bremen war gegeben, und die Verbindung mit öffentli-chen Verkehrsmitteln hervorragend.
Als er mir den Vorschlag, die Wohnung zu besichtigen unterbreitete, fiel mir mein Kind-heitswunsch wieder ein. „Nach Hudää“ ziehen“ fragte ich und betonte das Wort so, wie es der Schaffner damals gerufen hatte. „Der Ort heißt Hude nicht Hudää“’ belehrte mich von mein Partner. Ich musste lächeln, aber erzählen wollte ich ihm die Geschichte von damals nicht. „Vielleicht. Mal seh`n“, sagte ich und damit war das Thema für mich schon fast wieder erle-digt.
Zwei Wochen später hatte ich das erste Mal seit vielen Jahren einen kinderfreien Abend. Die Kinder schliefen bei meiner Mutter und ich wollte mit einer ehemaligen Schulkollegin ins Kino gehen. Ich hatte mich sogar ein wenig auf diesen Abend gefreut, obwohl meine Schul-freundin lange brauchte, um mich dazu zu überreden.
Nach dem Kino waren wir noch in einem kleinen Bistro und haben Wein getrunken. Es war nicht viel. Zwei, höchstens drei Gläser, nicht einmal volle. Aber das reichte. Es kam was kommen musste. Ein Streifenwagen hielt uns auf dem Heimweg an. Ich war mir völlig sicher, dass ich nichts zu befürchten hatte. Weit gefehlt! Damals galt noch die 0,9 Promille Grenze. Diese hatte ich, wenn auch nur leicht, überschritten. Ich konnte es nicht glauben. Meine Fahr-erlaubnis, die einzige Möglichkeit für mich, ab und zu mit dem Wagen meiner Mutter mei-nem Alltag zu entfliehen, mit den Kindern ans Meer, in den Wald oder sonst wohin zu fahren, so zu tun, als wären wir eine ganz normale kleine Familie, diese Möglichkeit hatte ich mir selbst verbaut. Ich hasste mich noch mehr als ohnehin schon und schämte mich zu dem in Grund und Boden.
In dieser Nacht hatte ich einen furchtbaren Alptraum, den zu schildern an dieser Stelle zu weit führen würde. Ich wachte mit heftig klopfendem Herzen und schweiß gebadet auf. Für einen Moment dachte ich, ich müsste hier und jetzt sterben. Die Konsequenz aus langem Raubbau, den ich mit mir, meinem Körper und meiner Seele getrieben habe. In dieser Nacht habe ich nicht mehr geschlafen, sondern den Grundstein für mein neues Leben gelegt.
Irgendwo in einer Schublade fand ich die Telefonnummer des Vermieters der noch leer ste-henden Wohnung in Hude. Ich konnte den Morgen kaum noch abwarten, denn ich wusste plötzlich genau, was ich zu tun hatte. Irgendjemand hatte den Schleier vor meinen Augen ent-fernt.
Punkt 08.00 Uhr wählte ich die Huder Telefonnummer und vereinbarte für den gleichen Tag einen Besichtigungstermin mit dem Vermieter. Warum lange warten, wenn man plötzlich weiß, was man will und was richtig ist!
Meine beiden jüngsten Kinder, mittlerweile vier und fünf Jahre alt, waren mindestens genau so aufgeregt wie ich, als wir in den Zug stiegen. Er fuhr nicht mehr durch, wie vor vierzig Jahren. Jetzt mussten wir vorher umsteigen. Lange bevor wir den Huder Bahnhof erreichten, öffnete ich ein Stück das Fenster und schaute hinaus. Ich sah mich als kleinen Steppke erwar-tungsvoll die Nase an der Fensterscheibe platt drücken, darauf lauernd, den Schaffner mit seinem Ausruf „Hudää, hier Hudää“, zu hören.
Auch jetzt wartete ich und wurde immer unruhiger. Eine Unruhe, die man rationell nicht er-klären kann.
Endlich. Der Zug hielt. Wir saßen am Fenster zum Gleis. Das Fenster war immer noch geöff-net. Der Zug hielt und der Schaffner stieg aus einem der hinteren Waggons. Lang war der Zug nicht, und so konnte ich tatsächlich, wenn auch leider nur sehr leise, das ersehnte „Hudää“ hören. Nicht über Lautsprecher oder Megaphon, ganz ohne technische Hilfsmittel. Leider. Es klang auch nicht so schön lang gezogen, wie ich es in Erinnerung hatte, aber es reichte, um die Augen feucht werden zu lassen.
Der Weg zur Wohnung führte vom Bahnhof die gesamte Einkaufsstraße hinunter. Es war Mai, es war herrliches Wetter und viele Menschen unterwegs. Die Kinder entdeckten an jeder Ecke etwas neues, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Tausend wichtige Dinge für sie. Ich ließ mich von ihrer Begeisterung nur allzu gern mitreißen. Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal so viel mit einander gelacht haben. Ich fühlte mich wohl, aus welchem Grund auch immer. Schon jetzt wusste ich, dass ich, selbst wenn die Wohnung nicht so optimal wäre, sie nehmen würde. Egal. Ich wollte hier her. Dieser Gedanke ließ mich auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt mit dem Vermieter nicht mehr los. An diesem Ort will ich wohnen und leben.
Die Wohnung war genial und nach zehn Minuten teilte ich dem Vermieter mit, dass ich, oder wir sie gern nehmen würden, sein Einverständnis vorausgesetzt. Mein Partner, der etwas spä-ter auch zur Besichtigung kam, war natürlich ebenso angetan, da er mich nunmehr wieder in meiner Nähe wähnte.
Vier Wochen später standen wir mit dem voll bepacktem Möbelwagen vor der neuen Woh-nung. In den Wochen zuvor hatte ich nicht ein einziges Mal mehr getrunken. Ich war die wie ausgewechselt. Irgendetwas sagte mir, dass dies der richtige Schritt in die richtige Richtung war. Meine Vorfreude gab mir einen ungeahnten Energieschub.
Nachdem die gröbste Arbeit erledigt, alle Helfer nach Hause geschickt und die Kinder spät abends im Bett waren, öffnete ich im Wohnzimmer weit das Fenster und setzte mich, mit den Beinen nach draußen auf die Fensterbank. Ich hatte einen sehr guten Blick über die Straße. Es war mittlerweile nach 23.00 Uhr, aber immer noch nicht wirklich dunkel, was wahrscheinlich auch am Vollmond lag. Menschen waren keine mehr auf der Straße. Es roch herrlich würzig nach Wald, nach verschiedenen Blumen und Sträuchern und merkwürdiger ein wenig nach Lavendel. Noch heute kann ich diesen Duft aus meinem Gedächtnis abrufen. Ich saß einfach nur da, blickte in die Dunkelheit und fühlte in mich hinein. Ein ganz eigenartiges Gefühl, ei-nes, was ich mir mein Leben lang gewünscht und immer wieder versucht hatte, mir vorzustel-len, stieg langsam in mir hoch. Ich kannte es nicht, hatte es noch niemals zuvor gespürt. Nicht im Elternhaus, nicht in meiner Ehe, nicht in meiner Heimatstadt oder an irgendeinem anderen Ort dieser Welt. Ich bin in meinem Leben bis zu diesem Zeitpunkt zwanzigmal umgezogen und habe dieses Gefühl nicht spüren können oder dürfen. Aber ich wusste, welches Gefühl es war. So musste es sein und sich anfühlen. So hatte ich es mir immer vorgestellt. Ich fühlte mich zu Hause. Wie nach endlos langer Suche endlich angekommen. So pathetisch das auch klingen mag, genau so ist es gewesen und noch heute bekomme ich leichte Gänsehaut, wenn ich an diese erste Nacht in Hude zurück denke.
Tatsächlich begann ich mein Leben völlig zu verändern. Die Kinder bekamen umgehend Plät-ze im Kindergarten und ich hatte Zeit mich nach Arbeit um zu sehen. Im Herbst sollte eine Wiedereingliederungmaßnahme für Berufsrückkehrerinnen über das Arbeitsamt stattfinden. Zu dieser meldete ich mich sofort an. In der Zwischenzeit hielt ich uns wieder mit Putzjobs, Kellnern und Zeitung austragen über Wasser. Aber es belastete mich nicht mehr so wie frü-her. Ich wusste ja, es war ein Ende abzusehen. Ich würde wieder in meinem Beruf oder zu-mindest einem Artverwandten Beruf arbeiten können.
Eine Möglichkeit zur Wiederaufnahme meiner ambulanten Behandlung würde ich auch fin-den, dessen war ich mich sicher. Aber es kam anders, nämlich viel besser. Durch einen dummen Zufall lernte ich eine etwas ältere Frau kennen, die, so erfuhr ich nach einiger Zeit, ähnliche Kindheitserfahrungen machen musste wie ich. Ein weiterer, glücklicher Zufall be-scherte mir die Bekanntschaft einer Therapeutin, die mit Patientinnen aus diesem Erfahrungs-bereich arbeitete. Mit ihrer Hilfe bauten wir einen kleinen Frauenkreis auf, der, auch wenn er in privaten Räumen statt fand, schon die Züge einer Selbsthilfegruppe hatte.
Meine finanziellen Mittel reichten trotz mehrer Jobs nicht, um meine Familie völlig autark zu ernähren, so dass ich schweren Herzens öffentliche Mittel in Anspruch nehmen musste. Zu-mindest vorübergehend. Aber auch hier half der Zufall. Oder war es doch eher Hilfe zur Selbsthilfe? Ich fand über das BSHG (Bundessozialhilfegesetz) eine sehr interessante Arbeits-stelle in einer Stiftung, die in vor Ort ansässig war. Diese war zwar nur auf ein Jahr befristet, und auch lediglich halbtags, aber ich konnte zwei Putzjobs an den Nagel hängen und war nicht auf öffentliche Mittel angewiesen. Ich konnte uns allein ernähren.
Nach der Maßnahme des Arbeitsamtes fand ich sofort eine Anstellung im öffentlichen Dienst. Das Leben meinte es wieder gut mit mir. Die Arbeit im Frauenkreis, meine Bestätigung im Beruf, die positive Entwicklung meiner Kinder, auch meine älteste Tochter war zwischenzeit-lich zu uns nach Hude gezogen und fühlte sich wohl, all dies lies mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl wachsen. Meinem Partner war diese Entwicklung sehr suspekt, war ich jetzt doch nicht mehr so „handzahm“ wie gewohnt. Ich entwickelte mich weiter und war wie-der neugierig auf das, was noch kommen sollte. Ich hatte wieder Träume und vor allem Spaß am Leben. Ich freute mich auf jeden neuen Tag. Und er konnte nicht mehr mithalten. Diese „Neue Frau“ stellte andere Erwartungen ans Leben und konnte selbständig denken, ja sogar handeln. Für seine recht patriarchalische Weltanschauung nicht vorstellbar. Nach vielen Strei-tereien setzte ich meinen Partner vor die Tür bzw. suchte ihm eine neue Wohnung.
Die Zeit, die dann kam, war eine der wichtigsten und auch schönsten in meinem bisherigen Leben. Ich war selbständig, unabhängig und rundum zufrieden. Die Kinder waren voll integ-riert, ich fand Anerkennung im Beruf und auch im weiteren sozialen Umfeld.
Die Frauengruppe löste sich leider nach zwei Jahren auf, was bedauerlich ist, weil man ein wichtiges Stück Weg gemeinsam gegangen ist. Aber es war auch gut so. Ich konnte allein laufen und brauchte keine stützende Hand mehr.
Mein Umzug nach Hude liegt jetzt schon wieder sechzehn Jahre zurück. Einmal bin ich doch noch umgezogen. In einem kleinen Dorf kurz vor Hude, aber noch zur Gemeinde dazu gehö-rig, habe ich zu allem Glück das mir widerfahren ist, noch meinen „Prinzen“ gefunden, auch wenn es kein Schaffner ist.
Meine Kinder sind erwachsen; die ersten Enkelkinder bereits in der Schule und leben alle, bis auf einen Sohn in Hude oder der näheren Umgebung.
Auch meine Mutter hat viele Jahre davon geträumt, hier ihren Wohnsitz zu nehmen. Aus be-ruflichen Gründen war ihr das leider nicht mehr vergönnt. Trotzdem habe ich sie mitgenom-men. Sie wohnt jetzt im Friedwald unter einer wunderschönen Buchecker und winkt mir zu-frieden und zustimmend zu, wenn ich sie besuche. Es tut gut, das sie hier bei mir ist.
Hude ist für mich so viel mehr als nur eine Stadt in Norddeutschland. Es steht für mich für Regeneration, Neubeginn, Bestätigung, Lebensfreude, Glück und – zu Hause. Ich bin hier zu Hause und das liegt nicht zuletzt auch an den Einwohnern, die mich Zugereiste offen empfan-gen haben, besonders hier in meinem Dorf. Hude ist neben meinen Kindern und meinem Mann, dass Beste was mir in meinem Leben passieren konnte, und manchmal werden hier auch Kinderträume erfüllt.
Jedes Jahr, feiere ich neben meinem offiziellen Geburtstag im September einen weiteren Ge-burtstag. Es ist das Datum jener besagten Nacht, in der ich beschloss, in Hude einen neuen Anfang zu wagen. In diesem Jahr werde ich achtzehn, volljährig, und verfüge über die gleiche große Neugier, die jeder andere junge, pubertierende Mensch in diesem Alter besitzt.
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2011
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