Nebelschwaden schlichen sich ungesehen durch die dunklen Gassen der Stadt, Finsternis regierte in ihrer Endlosigkeit. Straßenlaternen tauchten die Straßen in Zwielicht und nur selten war das Bellen eines Straßenhundes zu hören. Wer wagte sich schon zu solch ungemütlicher Stunde auf die Straße? Es gab einen, der dieses Ambiente vorzog. Er hasste die überfüllten Straßen am Tage und verabscheute Menschenmengen. In den schützenden Umhang der allmächtigen Nacht gehüllt konnte niemand sein Treiben beobachten. Aber es kam vor, daß nächtliche Wanderer seinen Weg kreuzten. Er blieb in den Schatten verborgen und ließ die Menschen ihr trübes Dasein fristen, doch wenn er einmal gesehen wurde, war es schnell getan. Er labte sich an dem zähflüssigen Lebenssaft der Menschen, der nach Tausenden von Jahren noch immer gleich schmeckte. Er ging nicht mehr oft auf Menschenjagd, denn er war schon sehr alt und mächtig. Er war Nahrahl, der Vampir. Er mußte der Letzte sein, denn seit einem halben Jahrtausend hatte er keinen mehr seiner Art gesehen, doch was bedeuten schon fünfhundert Jahre für ein Wesen, daß vor fünfeinhalb tausend Jahren geschaffen wurde. Er hatte die Kraft von tausend Männern, doch er brauchte sie nicht, da sein magisches Talent ihn über die physische Welt erhaben machte. Weshalb sollte er einen Menschen erwürgen, wenn er mit einem Wimpernschlag sein Hirn verglühen lassen konnte.
Es war wieder eines dieser Jahrzehnte, in denen Nahrahl von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wurde. Er schritt durch die Straßen und ließ seinen Erinnerungen freien Lauf. Die Landschaft schien sich tatsächlich zu verändern, immer und immer wieder. Er spazierte durch vergessene magische Wälder, betrat die Vorhöfe längst zerfallener Schlösser, schwamm in lange verseuchten Seen und zwängte sich durch die überfüllten Jahrmärkte entschwundener Zivilisationen. Alte Freunde begegneten ihm, Gefährten, Ehefrauen, Kaiser, Magier und Vampire. Keiner lebte noch, niemand hatte der alles zerstörenden Zeit widerstehen können, niemand außer ihm. Er hatte zahllose Vampire geschaffen, doch er hatte sie alle überlebt.
Eine Präsenz riß ihn aus seinen Gedanken und Nahrahl fand sich in einem Park am Stadtrand wieder. Nicht nur die fehlende Sonne begründete die Dunkelheit dieses Ortes, es war die düstere Atmosphäre, die über allem lag. Er kannte den Grund. Einst wurde hier eine der gewaltigste magische Schlachten aller Zeiten geschlagen. Es waren keltische Droiden, die hier von römischen Legionen umzingelt waren und ihre letzten Zauberkräfte gegen die Armeen warfen. Nun schlichen die ruhelosen Seelen der Droiden über die Landschaft. Nahrahl hatte damals im Dienste des römischen Feldherren Lazum gestanden und voller Grauen die Nachricht über die Vernichtung des letzten Droidenkultes aufgenommen. Ein großes Stück Magie ist damals vernichtet worden und bis heute nicht wiedergekehrt, nach über zweitausend Jahren.
Doch es war nicht die übliche Düsternis, die ihn wachgerüttelt hatte, es war die Anwesenheit eines Menschen, eines sehr stark präsenten Menschen. Er mußte über eine große Menge intuitiver Magie, Charisma, Karma oder wie immer man es nennen wollte, verfügen, denn seine Anwesenheit war so deutlich wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel. Nahrahl hatte vieler solcher Menschen kennengelernt: Odysseus, Karl den Großen, Artus Pendragon, Charles Manson, jede Zeitepoche hatte solche Menschen gehabt. Nahrahl hatte immer den Verdacht gehabt, daß es sich dabei um eine Art ewiger Reinkarnation handeln würde, doch wirklich beschäftigen tat ihn das nicht.
Es war ein kräftiger junger Mann mit langem blonden Haar und glänzenden blauen Augen. Seine schwarze Kleidung erinnerte Nahrahl an die Mode des 12. Jahrhunderts, wo die Vorliebe für dunkle Lederwesten und schwere Stiefel ihren Ursprung fand. Der Mann saß auf einer Bank abseits der Laternen und schüttete sich mit Whiskey zu. Er bemerkte Nahrahl erst, als dieser fast vor ihm stand, denn die Bewegungen eines Vampirs sind so perfekt geschmeidig, daß sie mit dem Hintergrund der Natur verschwimmen. Langsam wandte sich der Kopf des Betrunkenen dem Vampir zu und seine Augen verharrten auf dem nächtlichen Wanderer. "Hallo!" brachte er hervor und blickte auch schon wieder in die Leere.
Nahrahl ließ sich neben dem Fremden nieder und lehnte einen Schluck aus der Flasche ab. Vampire hatten keine Organe und konnten ausschließlich Blut zu sich nehmen. Der Vampir rutschte auf seinem Platz hin und her, denn die Aura des Menschen war blendend stark. Unfähig, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen, fragte Nahrahl: "Wer seid Ihr?" Er liebte die mittelalterliche Sprache.
Der Fremde blickte wieder auf. "Niemand. Oder Jeder? Ich weiß es nicht, such es dir aus." Lachend stürzte er einen weiteren Schluck herunter.
Doch Nahrahls Gehör war kein gewöhnliches. Er hatte schon so lange mit Menschen zu tun gehabt und ihre Gedanken gelesen, daß seine Menschenkenntnis auch ohne Magie immens war. Er hörte die Trauer in dem Gelächter, spürte, daß er die entscheidende Frage gestellt hatte. Es war die uralte Was-ist-das-Universum-Philosophie. Die Menschen wußten so wenig von der Beschaffenheit des Universums, dabei war es einfacher als man es annehmen würde. Es war gut zu wissen, daß es wenige Menschen gab, die dies im Ansatz zu begreifen schienen. Und es würde diese Menschen immer geben, auch wenn sie ein trostloses Leben führten, weil sie mit diesem Wissen nicht klarkommen konnten. Menschen waren so unglaublich labil. "Ich kenne Leute wie Euch." Sagte Nahrahl und schien endlich das Interesse des Fremden zu erwecken.
"Wie meinst du das?" obwohl die Whiskeyflasche beinahe leer war, schien der Verstand des Menschen noch erstaunlich wach zu sein.
"Ihr seid Euch nicht im Klaren über die Funktion Eures Daseins und versucht verzweifelt nach einem höheren Sinn zu suchen, nach einer Art Gottheit, die alles zu lenken scheint." Das plötzliche Gelächter des Betrunkenen ließ Nahrahl verstummen.
"Du irrst dich. Götter sind nicht das, was ich suche, mein Freund. Es sind Antworten." Wieder ein Schluck. "Ich erwarte das Erwachen meiner wahren Seele, doch es tut sich gar nichts. Ich weiß, daß mehr hinter meiner hohlen Existenz steckt, doch nicht, wie lange ich noch warten muß."
Nahrahl wußte nicht mehr, wann er das letzte Mal überrascht war, doch nun beschlich ihn wieder dieses Gefühl, unperfekt zu sein, einen gedanklichen Fehler gemacht zu haben. Er hatte sein gegenüber falsch eingeschätzt. Wahrscheinlich war es die Tatsache, daß er die Gedanken dieser leuchtenden Menschen nicht lesen konnte, was ihn faszinierte. "Athanas?" fragte er leise und traf sein Gegenüber hart.
"Du weißt von Athanas?" Der Mensch starrte Nahrahl an als säße er einem Gott gegenüber. Es war immer das Gleiche. Diese Lichtmenschen erahnten ihre Übermenschlichkeit. Athanas, der Unsterbliche, war die Legende eines göttlichen Wesens, daß sich seit der Geburt der Erde mittels Reinkarnation durch die Welt bewegt, seit nunmehr viereinhalb Milliarden Jahren. Es heißt, daß Athanas mit Hilfe der unerschöpflichen Energien der Sonne das Leben erschuf und den Lebewesen die Seele einhauchte. Er wählte das Leben unter den Menschen selbst und vergaß schließlich seine göttliche Wesenheit. Manchmal erwachte das Wissen in einem Menschen und der Gott brach hervor, um großes Übel abzuwenden. Aber dieses Erwachen war immer nur von kurzer Dauer, bis der Gott wieder vergaß und seine Leben weiterlebte. Auch Nahrahl glaubte an diese Legende, doch es war eben nur eine Legende, wie der heilige Gral oder Feenstaub, oder Vampire! Nahrahl lächelte. "Ja, ich kenne den Athanasglauben."
"Ich dachte immer, daß ich der Einzige wäre, der an diese Geschichte glaubte, ein Hirngespinst meiner selbst. Nie habe ich irgendwo davon gehört. Ich wußte einfach, daß es so gewesen sein mußte." Ein Lächeln stand auf den Lippen des Menschen, als hätte er eine gewaltige Schlacht gewonnen.
Nahrahl hingegen verspürte Verblüffen, mehr noch, es war unvorstellbar, daß sein Gegenüber von der Athanaslegende wußte, ohne, daß sie ihm erzählt wurde. Nahrahl wurde stutzig, vielleicht war mehr an der Geschichte, als er bisher vermutet hatte. Die Flasche war leer und Müdigkeit stand in den Augen des Menschen. "Wer bist du?"
Nahrahl spielte kurze Zeit wirklich mit dem Gedanken, den Menschen am Leben zu lassen, ihn vielleicht sogar zu einem Vampir zu machen. "Ich bin Euer Tod!" sagte er sanft und packte sein Opfer, bevor es sich regen konnte. Seine Fänge schlugen in den Hals des Objektes seiner Begierde und gierig schlürfte er den sättigenden Saft. Es gab keine Gegenwehr, nur Erstaunen und eine gewisse Freude über die Vielseitigkeit der Schöpfungen, die auf Mutter Erde wandelten, dann erschlaffte der Körper.
Nahrahl war nahe daran, Reue zu empfinden. Doch in wenigen Jahrhunderten würde er bestimmt die Unterhaltung mit einer weiteren Inkarnation fortführen. Für heute hatte er genug erfahren.
Nahrahl leckte sich die Lippen und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011
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