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Eine Leiche verschwindet

 

Georg Hensel blickte aus dem Fenster seines kleinen Zimmers. Zu seiner Rechten erstreckte sich ein gewaltiges Gebirge, doch wandte er den Blick zur anderen Seite, fand er eine friedlich in der Sonne liegende Kleinstadtidylle. Der einzige Störenfried zu dieser frühen Stunde war ein Lkw mit laufendem Motor, der vor dem Hotel Königssee stand. Der mürrisch aussehende Fahrer hievte Getränkekisten aus dem Laderaum. Das Hotel war ein imposantes Gebäude, teils aus Holz errichtet, das erhaben direkt am Ufer des Königssees stand.

Seit rund einer Woche befand er sich in Schönau am Königssee und fühlte sich rundum wohl. Angekommen war er als gestresst und ausgelaugt wirkender Mittdreißiger mit blassem Gesicht, der als Tourist leicht zu identifizieren war. Doch mittlerweile hatte sich das traurige Bild gewandelt, sodass selbst die robuste Chefin des Hauses ihm gelegentlich einen glutvollen Blick zuwarf, welcher ihm sofort noch mehr Farbe ins Gesicht zauberte.

Die kleine Pension Zur Sonnenblume, die am Rande des Ortes lag, war zu dieser Zeit nicht besonders gut besucht, worüber Georg sehr erfreut war. Genau diese Ruhe hatte er gesucht.

Frische Luft, in der noch ein wenig von der Eiseskälte des Winters mitschwang, drang ins kleine, liebevoll eingerichtete Zimmer.

Aus dem Erdgeschoss hörte er die Stimme von Luisa Geringhaus, der Wirtin, die zusammen mit ihrem Mann Horst die Pension bewirtschaftete. Neben dem stets reichhaltigen Frühstück gab es abends immer eine deftige Küche, die vorzüglich war.

Gemächlich ging er ins Bad und nahm eine ausgiebige Dusche. Danach kleidete er sich an und verließ das Zimmer. Auf dem Flur stieg ihm bereits der Duft der frischen Brötchen in die Nase, und sein Magen quittierte dies mit einem grimmigen Knurren.

»Guten Morgen, Herr Hensel«, rief Frau Geringhaus aus der Küche neben dem Speiseraum, in dem fünf Tische standen. Eine Dampfwolke, die vom Herd emporströmte, umgarnte sie. In ihrer halb erhobenen Hand hielt sie eine Gabel, sodass die Wirtin ein wenig wirkte wie der Leibhaftige persönlich. Dieser Vergleich ließ Georg schmunzeln.

»Am frühen Morgen so fröhlich? Das lob ich mir«, rief die Wirtin mit Nachdruck.

»Immer, wenn ich Sie sehe«, erklärte Georg und ließ ein mehrmaliges Kopfnicken folgen.

Diese Äußerung entlockte Frau Geringhaus ein Kichern, und sie schüttelte den Kopf, als konnte sie nicht glauben, was sie soeben vernommen hatte.

Georg bediente sich am Büfett, sein Frühstück fiel entgegen seiner Gewohnheit recht klein aus. Lediglich ein Brötchen und eine Scheibe Toast landeten auf seinem Teller, dazu ein wenig Aufschnitt und Butter. Er wollte früh zu einer ausgiebigen Wanderung aufbrechen. Sein Ziel war der Grünsee. Bis dorthin waren es zwar kaum zwei Kilometer, aber der Höhenunterschied war beträchtlich. Da Georg den erbarmungswürdigen Zustand seiner Kondition kannte, wollte er genügend Zeit für Pausen einplanen.

Der kleine Frühstücksraum war beinah leer, lediglich zwei Männer, die an einem Tisch saßen und Kaffee tranken, hatten sich zu dieser frühen Stunde eingefunden. Sie sahen nicht wie Touristen aus; ihre Kleidungsstücke waren zu verschlissen, ihre Gesichter zu derb, ihre Blicke zu finster.

Georg nickte in ihre Richtung und machte sich über sein kleines Frühstück her. Das Getuschel der Männer, von dem Georg nichts verstand, war beinah einschläfernd.

»Wann kommt er?«, wollte einer von ihnen wissen, deutlich lauter. Die Frage galt Luisa Geringhaus, die soeben die Küche verließ.

»Wer?«

»Der Münchner.«

Georg hatte einige Male von ihm gehört, ihn aber noch nie zu Gesicht bekommen. Auch in der örtlichen Presse wurde er oftmals erwähnt. Georg wusste, dass der Mann die unbeliebteste Person in der Gegend war. Es handelte sich um einen Baulöwen, der ganz in der Nähe von Schönau ein großes Hotel errichten lassen wollte, was bereits seit Monaten auf heftigen Widerstand bei den Hotel- und Pensionsbesitzern stieß, denen er sicher viele Gäste abringen würde. Die Stadtoberen saßen zwischen allen Stühlen, denn sie sahen den Unmut der Menschen, wussten aber auch um den Aufschwung, den ein solcher Bau dem Ort bringen würde. Soweit Georg wusste, hieß der Mann Detlev Kramer.

»Im Laufe des Nachmittags soll er hier eintreffen«, sagte Frau Geringhaus. Eine steile Falte hatte sich über ihre Augen eingegraben und machte ihren Unmut offenkundig. Nicht nur die Ankunft des Mannes störte sie, sondern auch die Tatsache, dass die Gespräche ausgerechnet in ihrer Pension stattfinden sollten. Aus diesem Grund gab es für die Gäste des Hauses nur bis neunzehn Uhr Abendessen; anschließend wurde der Raum verschlossen.

Auch dies war ein Grund, warum Georg zeitig aufbrechen wollte. Er beendete sein Frühstück, verabschiedete sich von der Wirtin und ging auf sein Zimmer, um seinen bereits gepackten Rucksack zu holen.

Er war froh, als er endlich in den hellen Strahlen der Frühlingssonne stand, die ihn wärmte, als würde ihm jemand zerlassene Butter auf den Schädel träufeln. Kramers bevorstehende Ankunft lastete auf den Menschen, die sich mit der Sache auseinandersetzen mussten, wie ein Fluch.

Nebel hing über den Tannenwäldern, obwohl es in der Sonne bereits warm wurde.

Georg schlug einen Pfad ein, der leicht anstieg. Die dicht an dicht stehenden Tannen schluckten das Licht; unversehens fuhr ihm ein Frösteln über den Rücken und die Arme.

Schon bald wurde ihm klar, dass er seinen Rucksack aus Segeltuch zu schwer beladen hatte, er drückte unangenehm auf seinen Schultern. Die Wanderung dauerte seiner Schätzung nach sieben Stunden, doch er hatte, ganz wie es seine Art war, Utensilien für eine mehrtägige Wanderung eingepackt.

Nicht nur an Regenkleidung und einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten hatte Georg gedacht; auch ein Buch über die Sehenswürdigkeiten der Gegend befand sich im Rucksack, genau wie ein schweres Fernglas, eine Taschenlampe und ein Notizbuch für den Fall, dass er seine Eingebungen niederschreiben wollte.

»Das hast du nun davon«, murmelte er. Er verschwendete keinen Gedanken daran, seinen Rucksack wieder zu entleeren, denn dies würde ihn nur Zeit kosten.

Es waren nur wenige Wanderer in seiner Nähe. Einige Meter voraus sah er ein Pärchen, das genau wie er emporstieg. Nachdem es zum Ende des Winters einige Wochen lang ausgiebig geregnet hatte, trauten offenbar viele Touristen der jetzigen Schönwetterperiode nicht über den Weg. Einige Besucher hatten ihre Reservierungen storniert, wie er von Frau Geringhaus wusste.

Kalkfelsen und Kiefern drängten sich am Wegesrand, Georg blickte immer wieder zu den faszinierenden Formationen auf, vergaß dabei aber nicht, den Pfad nach aus dem Boden ragenden Wurzeln oder Gesteinsbrocken abzusuchen.

Obwohl das Pärchen vor ihm Hand in Hand ging, wurde die Kluft zwischen ihnen größer. Es wurmte Georg, dass er bereits jetzt, nach nur wenigen hundert Metern, außer Atem war. Seine Kondition war in einem üblen Zustand. Zum wiederholten Male nahm er sich vor, künftig mehr Sport zu treiben, doch er wusste bereits jetzt, dass er mit dieser Absicht scheitern würde. Es kam ihm immer wieder so vor, als drücke ihn eine unsichtbare Hand wieder zurück in die Polster seines Sessels, sobald er sich aufraffen wollte.

Unermüdlich kämpfte er sich nach oben, und nach einer geraumen Zeit sah er zwischen den Bäumen hin und wieder die Mauern der Kirche St. Bartholomä durchschimmern, die ein beliebtes Ausflugsziel war und von den Schiffen angefahren wurde. Dahinter schloss sich der Watzmann an, über dessen zerklüfteten Gipfel in diesem Moment weit oben ein Flugzeug flog, das einen weißen Schweif hinter sich ließ.

Zu Georgs Kummer wurde der Anstieg nun deutlich steiler. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um von seiner Position die nächste Biegung zu erspähen, hinter welcher es erneut bergan ging. Er wischte sich einen dünnen Schweißfilm von der Stirn, dann machte er sich mit kleinen Schritten an den Anstieg. Von dem Pärchen, das er zu Beginn seiner Tour vor sich gesehen hatte, fand er keine Spur mehr.

Nach einigen hundert Metern fühlte Georg sich völlig ausgelaugt. Er brauchte dringend eine Pause. Das Schicksal meinte es günstig mit ihm. Vom breiten Wanderweg führte ein schmaler Pfad durch das an dieser Stelle ansonsten undurchdringliche Dickicht. Geröll erschwerte das Vorankommen immens. Georg erwartete, dass er am Ende des Pfades einige Felsen vorfinden würde, auf die er sich niederlassen konnte. Ein keuchender Laut der Überraschung entfuhr ihm, als er erkannte, dass er urplötzlich auf einer kleinen Plattform stand, die einen unbeschreiblichen Blick ins Tal bot. Außerdem stand nah am Rand des Platzes eine hölzerne, vom Wetter verwitterte Sitzbank.

Doch leider saß ein Mann auf ihr. Er starrte gedankenverloren vor sich hin und bekam nicht mit, dass Georg sich ihm von hinten näherte. Georg zauderte. Sollte er sich zu dem Mann setzen? Platz war auf der Bank ausreichend vorhanden, aber eine innere Stimme hielt ihn davon ab. Doch der Wunsch nach einer Pause war stärker.

»Entschuldigung, darf ich?«, fragte Georg und deutete auf die Bank.

Es erfolgte keinerlei Reaktion. Der Mann starrte stur geradeaus. Eine tief in die Stirn gezogene Mütze sowie der hochgestellte Kragen seiner Winterjacke verhüllte einen genauen Blick auf sein Gesicht, doch Georg vermutete, dass er zwischen sechzig und siebzig Jahre alt sein mochte. Vielleicht hörte er schlecht oder er war eingeschlummert.

Neben den Füßen des Mannes stand ein Rucksack, der Georg ein wenig in die Quere kam, als er sich setzte, doch er wollte nicht so unhöflich sein, ihn mit den Füßen wegzuschieben.

Vor ihm breitete sich in der Tiefe der langgezogene Königssee aus. Amöbenhaft klein erschienen ihm die Boote und Schiffe. So schön der Blick in das Tal auch war, der Mann wurde Georg recht bald unheimlich, und er wünschte, sein regloser Sitznachbar würde endlich seinen Rucksack nehmen und seines Weges gehen.

»Sagen Sie«, begann Georg schließlich, »würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Rucksack ein wenig zur Seite zu stellen?«

Der Mann schwieg verbissen. Georg wandte den Kopf und betrachtete ihn zum ersten Mal eingehender. Es schien, als habe er sich seit Georgs Ankunft um keinen Deut bewegt. Schlief er etwa tatsächlich?

Georg überlegte, ob er ihm eine Hand auf die Schulter legen sollte, doch das konnte für jemanden, der aus dem Schlaf aufschreckte, wie eine Bedrohung wirken. Er nahm den Rucksack des Alten und wollte ihn zur Seite stellen. Dabei fiel ihm auf, dass der Reißverschluss nicht geschlossen war. Durch einen Spalt sah er ins Innere und erspähte einen Stapel Papier. Georg stutzte. Wer ging mit nichts weiter als beschriebenem Papier auf eine Wanderschaft.

Erneut blickte er dem Fremden ins Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern und griff in den Rucksack. Er sah auf den ersten Blick, dass es sich um einen Vertrag handelte; nichts weiter als reizlose Textwüsten und auffallend lange Zahlen.

Georg hielt den Atem an, als ihm ein Name ins Auge sprang: Detlev Kramer. Saß er etwa neben dem Baulöwen, dessen Ankunft für diesen Nachmittag vorgesehen war?

Ein Windstoß fuhr jäh in den losen Papierstapel und wirbelte ihn auseinander. Georg erschrak und griff nach den davonflatternden Seiten. Die meisten erwischte er. Eilig sprang er auf, um auch die restlichen Blätter zu erhaschen. Dabei verhedderte sein Fuß sich mit dem Rucksack. Er geriet ins Straucheln. Auf dem etwas abschüssigen und unebenen Boden der kleinen Plattform taumelte er nach vorn und geriet gefährlich nah an den Rand des vor ihm gähnenden Abgrunds. Georg blickte in die bodenlose Tiefe, die sich beinah senkrecht vor ihm auftat.

Verzweifelt ruderte er mit den Armen in der Luft, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Mit dem Oberkörper ragte er bereits über die Grenze zwischen Boden und dem tödlichen Nichts hinaus. Mit aller Kraft machte er einen Satz rückwärts, dabei stolperte er erneut über den Rucksack. Im Fallen ergriff Georg die Sitzbank und versuchte, seinen Sturz zu vermeiden. Es gelang ihm, und es wurde ihm bewusst, dass er gewiss keine gute Figur abgab. Doch niemand war Zeuge, selbst der Alte regte sich nicht. Eine Erkenntnis zuckte plötzlich durch seinen Kopf: Der Mann war tot.

Ohne Absicht touchierte Georg ihn beim Aufstehen. Dies genügte, um Kramer seitlich von der Bank rutschen zu lassen. Auf der abschüssigen Fläche machte er mehrere Rollen, und Georg erkannte die Gefahr. Der Tote verlor seine Mütze, die an den Zweigen eines blattlosen Strauches hängenblieb.

Ein entsetztes Keuchen entfuhr Georg, als er die klaffende Wunde im Schädel des Mannes erkannte. Eine Sekunde geschah das Schreckliche: Die Leiche verschwand in der Tiefe.

Georg hörte die Laute, mit der die Leiche auf die Felsen prallte, die jedoch ihren Sturz keineswegs abmilderten. Er wusste, dass diese Geräusche Gast in seinen Träumen sein würden.

Dann kehrte endlich wieder Ruhe ein. Langsam und sehr vorsichtig schritt Georg auf den Abgrund zu und spähte hinunter. Von Kramer war nichts mehr zu sehen. Er lag tief drunten, verdeckt von Steinen und Geröll und dürren Sträuchern.

Hilflos blickte er sich um. Was war dem Mann nur zugestoßen? Ein Unfall konnte es doch wohl nicht sein, überlegte er. Die Alternative war schrecklich, jedoch aufgrund der Umstände äußerst naheliegend. Jemand hatte den Mann umgebracht, hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen und ihm – vielleicht mit einem Stein - den Schädel eingeschlagen. Doch dann die Leiche mitsamt der Vertragsunterlagen auf der Bank zu lassen, erschien ihm ungewöhnlich. Welche Erklärung gab es nur dafür?

Ein Stein setzte sich hinter ihm wie von Geisterhand in Bewegung und rollte auf Georg zu. Er zuckte zusammen. Wurde er beobachtet? War der Mörder noch in der Nähe? Hatte er die Leiche nur deswegen nicht beiseitegeschafft, weil Georg ihm in die Quere gekommen war? Ihm wurde klar, dass er mit seiner Tollpatschigkeit die lästige Arbeit des Killers erledigt hatte. Er hatte sich zum Kompagnon eines Mörders gemacht!

Dieser Gedanke tröpfelte wie Lava durch seinen Verstand. Und außerdem stand er wie eine lebendige Zielscheibe am Rande des gähnenden Abgrundes. Schon mit dem gezielten Wurf eines handgroßen Steins wäre es ein Leichtes, Georg den Weg des Baulöwen gehen zu lassen. Sicher wurde jede Regung, jedes Zucken in seinem Gesicht genau beobachtet.

Wie in Trance pflückte er drei, vier lose Seiten aus den umfangreichen Vertragsunterlagen von Büschen herunter, in deren Zweigen sie hängengeblieben waren. Ihm war bewusst, dass er seine Bewegungen mit Absicht so langsam ausführte, damit der verborgene Zeuge Georgs Absichten mühelos erkennen konnte. Georg wollte ihm signalisieren, dass er auf seiner Seite stand. Was anderes blieb ihm übrig? Der Baulöwe lag bereits in seinem ewigen Grab, Georg war längst zum unseligen Handlanger des Mörders geworden, es spielte keine Rolle, ob dies auf Zufall oder Tollpatschigkeit zurückzuführen war. Also konnte er das Spiel nun auch bis zu seinem Ende durchziehen; er musste sogar, flüsterte ihm eine Stimme zu, die tief in seinem Kopf saß, in dem die Angst summte und jammerte.

Er zerknüllte die Seiten und warf sie in die Tiefe.

Dann fiel sein Blick auf Kramers Rucksack. Er nahm ihn und schleuderte ihn dann ebenfalls von sich. Wie eine tote Krähe stürzte er hinunter. Gleiches machte er mit der Mütze, deren Futter auf der Innenseite mit Blut durchtränkt war.

Aus dem Dickicht, das ihn umgab, hörte er keinen Laut, aber er spürte die aufmerksamen Blicke, mit dem man ihn finster taxierte. So musste sich ein Lamm fühlen, das auf der Schlachtbank lag und den blutbespritzen Metzger heranschlendern sah. Es war ein bedrohliches Gefühl, das Georg frösteln und beinah schlottern ließ, und die gewaltige Atmosphäre der Gebirgslandschaft hatte plötzlich etwas unzweideutig Angsteinflößendes. Sein Leben konnte binnen Sekunden beendet sein, und niemand würde je etwas über seinen Verbleib erfahren. Von der Leiche Kramers war nichts zu sehen, und genauso gut konnte es auch Georg ergehen.

Hastig wandte er sich um und ging den schmalen Pfad zurück, beinah rannte er. Dabei hielt er den Blick auf den Boden gewandt, er wollte dem Mörder nicht signalisieren, dass er dessen Nähe ahnte. Den abschüssigen Wanderweg, den er nur wenige Minuten zuvor mühsam erklommen hatte, lief er nun hinunter in die Stadt. Schweiß rann an seinem Rücken entlang. Ihm war kalt und heiß gleichzeitig. Vor wenigen Stunden hatte es noch den Anschein eines unbeschwerten und leichten Tages gehabt, doch nun fühlte es sich so an, als wandele Georg einsam durch eine eisummantelte Nacht des Grauens.

Eine Leiche, dachte er verstört, ich hab neben einer Leiche gesessen und sie verschwinden lassen! Fassungslos schüttelte er den Kopf, als die Essenz dieses Gedankens durch seinen Verstand tröpfelte. Ihm wurde übel, und viel fehlte nicht, dass er sich am Wegesrand übergeben hätte. Nur mit Mühe konnte er den Inhalt seines vor Panik schmerzenden Magens bei sich behalten.

Am Ortseingang grüßte ein Landwirt ihn, den er in den letzten Tagen mehrere Male auf den Feldern gesehen hatte.

»Diesmal nur eine kurze Wanderung?«, rief der Mann. »Dabei ist doch so ein herrliches Wetter. Sie rennen ja, als sei der Leibhaftige hinter Ihnen her.« Der Mann setzte ein freundliches Lächeln auch, doch in Georgs Augen war es ein hämisches, teuflisches Grinsen.

»Jaja!«, stieß er hastig hervor. Ein fürchterlicher Gedanke ging ihm durch den Kopf. War es möglich, dass sie alle von der Tat wussten? Hatten sie etwa ihren Mordplan in langen Nächten ausgetüftelt, bei abgedunkeltem Licht und reichlich Schnäpsen? Vielleicht sogar im kleinen Frühstücksraum der Pension Zur Sonnenblume. Hatten sich über die Möglichkeiten und Vorzüge von Schuss- und Stichwaffen ereifert, während die Wahl letztlich doch auf eine stumpfe Hiebwaffe gefallen war, während er, Georg, in seinem Zimmer selig schlummerte und von der heilen Alpenwelt träumte.

Frau Geringhaus stand vor ihrer Pension und genoss den Sonnenschein. Ihr Blick, so kam es Georg vor, während er sich der Frau näherte, war düster und lauernd, als warte sie darauf, dass Georg von einem schrecklichen Fund sprach. Er musste den Mund halten, das war ihm klar.

Er konnte aber auch nicht fluchtartig verschwinden, ohne einen Verdacht zu erregen. Er musste dieses Spiel nun zu einem Ende bringen.

Er zauberte ein Lächeln hervor, welches jedoch kaum mehr als eine verschreckte Grimasse war. »Ein herrlicher Tag«, sagte er, »zum Wandern beinah zu warm. Ich werde mich an den Königssee setzen und den Booten zuschauen. Sie machen heute die Küche früher zu, richtig?« Er kratzte mit schmerzhafter Heftigkeit seinen rechten Handrücken, als wolle er sein eigenes Fleisch herunterschaben, um zu sehen, was darunter verborgen lag.

Frau Geringhaus nickte. »Ja, wir bekommen ja Besuch von Herrn Kramer.«

»Ist er denn schon im Ort?« Vorsicht, mahnte eine Stimme tief in ihm. Poker nicht zu hoch. Ein kühler Windhauch strich über seinen schweißnassen Nacken, und er zuckte leicht zusammen. Es kam ihm vor, wie wenn Kramer ihn angehaucht hätte. Dreh nicht durch, sagte er sich, dreh jetzt nicht durch.

»Hab ihn noch nicht gesehen. Er wird wahrscheinlich im Laufe der nächsten Stunden eintreffen.«

»Ach«, hörte Georg sich sagen, ein leichtes Zittern schwang in seiner Stimme mit, »vielleicht hat er es sich auch anders überlegt und er kommt überhaupt nicht.«

»Ein Segen wär das«, stimmte die Wirtin ihm zu. »Vielleicht hat er ja einen kleinen Autounfall. Oder er schaut sich die Gegend an und verstaucht sich dabei den Knöchel und liegt hilflos in den Bergen.« Sie lächelte verzückt. »Vielleicht hat er auch eine Herzattacke.«

»Oder er verliert das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in die Tiefe, sodass niemand ihn jemals finden wird.«

»Aber Herr Hensel«, rief Frau Geringhaus, »Sie haben ja eine mörderische Fantasie.«

»Entschuldigen Sie mich bitte!«, stieß Georg hervor und eilte an ihr vorbei ins Haus. Sein Magen spuckte seinen Inhalt hinauf in die Speiseröhre. Georg wankte krächzend und würgend die Treppe hinaus und schloss vor Erleichterung die Augen, als er es noch rechtzeitig in sein Zimmer schaffte.

Impressum

Texte: Klaus Frank
Bildmaterialien: Bild von Lorraine Cormier auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2020

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