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Die dunkle Welt von Helden und Schändern

Der Wind, der in unberechenbaren Böen vom Hafen her in die Stadt hineinzog, brachte den Duft von brackigem Wasser und verrottenden Fischeingeweiden mit, und Brendan blieb nichts anderes übrig, als diese Gabe mit einiger Würde zu erdulden. Sein Gesicht war unbewegt, doch seine Augen tränten so stark, als wäre er Teil einer großen Tragödie.

Er blickte auf das alte, wurmstichige Wirtshaus, das schmutzig in der Nähe des Bostoner Hafengebiets aufragte und in der Dunkelheit eine gewisse Ähnlichkeit mit einer monströsen Kröte hatte, die hungrig im Morast kauerte. Es gab jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde, einen obszönen Rülpser von sich; immer wieder spie es torkelnde Gäste aus, die brabbelnd oder lachend, allein oder in Gesellschaft den Heimweg antraten. Manche von ihnen warfen ihm, Brendan, einen schwerfälligen Blick zu, und er konnte selbst aus einiger Entfernung den billigen Alkohol riechen, der den Gesellen aus jeder Pore ihres Körpers quoll. Die Straße, die an der Schänke vorbeiführte, war von den Regenfällen der letzten Tage in eine Schlammwüste verwandelt worden, und jedes Zögern der Passanten führte dazu, dass der Morast gierig an ihren Schuhen sog.

The Raven war eine finstere Spelunke, aber immerhin eine, die eine fragwürdige Berühmtheit errungen hatte, und zwar wurden mehrmals im Monat Attraktionen geliefert, auf die Wetten platziert werden konnten. Die Verlockung eines nicht unbeträchtlichen Gewinns zog Menschen, die sich ansonsten eher naserümpfend aus dem Weg gegangen wären, in dieses ehrenwerte Etablissement: Soldaten mit blank geputzten Stiefeln kamen genauso dorthin wie nach Eingeweiden toter Tiere riechende Schlachter und ungewaschene Hafenarbeiter, die mit Buchhaltern über die angebotenen Wettkämpfe debattierten.

Kampftrinken, Hundekämpfe, neuerdings auch Duelle zwischen Hund und Ratten, Hahnenkämpfe; sämtliche Lebewesen, die einen Funken Selbsterhaltungstrieb im Blut hatten, dienten als Kandidaten, und so kam es, dass die Spelunke, die weder Komfort noch ein Mindestmaß an Sauberkeit bot, in aller Regel aus allen Nähten platzte.

Die Zuschauer gierten nach dem Blut der Verlierer und auch der Sieger, die in vielen Fällen die Arena nur wankend und angeschlagen verließen. Die Lust der Besucher war grenzenlos, und so kamen bald auch Boxen und Ringkämpfe hinzu. Ganz besonders begehrt waren Auseinandersetzungen zwischen Freiwilligen, die eine Versehrtheit aufwiesen; wenn ein Blinder gegen einen Armamputierten antrat oder ein Zwerg sich mit einem Schwachsinnigen duellierte, schossen die Wetteinsätze in die Höhe. Zwar waren solche Kämpfe verboten, aber gelegentliche Kontrollen und auferlegte Strafen wurden achselzuckend vom Besitzer akzeptiert. Nicht selten fanden sich die Kontrolleure unter den Zuschauern.

Brendan stieß einen zitternden Seufzer aus, der seinen eigenen Ohren schmeichelte; er wusste, gleich wurde es Zeit für ihn, das Haus zu betreten. Seine Aufgabe war es, dort Ordnung zu schaffen, die Böden zu wischen, die Bierkrüge zu spülen und die Kadaver aufzulesen, und er widmete sich ihr mit größter Aufmerksamkeit.

Die Worte von McCean, dem Besitzer, waren ihm noch in guter Erinnerung: »Behandle mein Haus wie deine Geliebte, Junge. Die würdest du niemals zugrunde richten, nicht wahr? Denk dran, dass das Wirtshaus mein Eigentum ist. Sollte mir zu Ohren kommen, dass du dich gegen meine Anweisungen stellst, wirst du teuer dafür bezahlen.«

Brendan glaubte dem Mann, einem irischen Einwanderer, der seinen unglaublich massigen Körper mit graziler Eleganz von einem Ende des Tresens zum anderen bewegte, vorbehaltlos. Er befand sich in McCeans Hand, und das war ganz allein seine, Brendans, Schuld, denn in einer Sekunde geistiger Umnachtung hatte er eines Abends über den Tresen gelangt und ein paar Geldscheine aus der unbewachten Kasse geangelt. Jemand musste dem Wirt diese Geschichte erzählt haben, denn es dauerte nur wenige Minuten, und Brendan wurde von McCeans Wanst schier erdrückt, während die Augen des Mannes ihn finster musterten. Entweder, so grollte der Ire, würde er ihn nun eigenhändig zur Polizei schleifen oder aber, großmütig, wie er sei, die Sache vergessen, wenn Brendan bereit wäre, für eine gewisse Zeit das Etablissement in Ordnung zu halten.

Was sollte er also tun?, überlegte Brendan, während er versuchte, das Gelächter der anwesenden Gäste auszublenden, die feixend auf ihn deuteten. Diese Frage war leicht zu beantworten: Er wollte auf gar keinen Fall ins Gefängnis, wo es nur finstere Löcher gab, in denen sich selbst die Ratten nur widerwillig aufhielten. Er hatte einen Teil seines jungen Lebens in Gefängnissen und Heimen verbracht und wusste, dass er keinen Nachschlag wollte. Schlaflose Nächte lang auf harten Pritschen zu liegen und Dreckmuster an den Decken und Wänden zu studieren und in ihnen Botschaften zu erkennen glauben, dies war für ihn der reinste Horror. Die Erinnerung an die Männer, deren Augen einen freudlos-starr anschauten, mit denen er die Zelle und die Mahlzeiten geteilt hatte, schlich sich immer wieder wie ein Dieb in seine Träume, aus denen er schreiend erwachte. Dort gab es nichts, was Trost versprach, und Hoffnung war für Brendan ein verlorenes Wort; wie Kindheit oder Freude.

Dann lieber in dieser Kaschemme schuften und den Dreck forträumen, den zu hinterlassen den Besuchern offenbar große Freude bereitete. Die Leiber geschundener Tiere, in denen hin und wieder noch ein wenig Leben zuckte und die dann voller Hoffnung zu ihm emporstarrten, mussten beseitigt und tunlichst unbemerkt in den Fluss geworfen werden, wo sie sich nicht selten zu ihren erstarrten Leidensgenossen gesellten. Im Laufe all der Wochen hatte er sich eine gewisse Abgestumpftheit angeeignet, die ihn davon abhielt, Bedauern zu empfinden, wenn er Hunde oder einst stolze Hähne vom blutigen Boden aufklaubte. Es störte ihn nicht, wenn unter seinen Füßen kalte Gedärme platzten, die der Verlierer eines Duells hinterlassen hatte. Manchmal entdeckte Brendan auch über ganze Tischreihen hinweg verspritztes Erbrochenes, hin und wieder auch noch den schnarchenden Gast, der diese Meisterleistung vollbracht hatte.

Noch einige Zecher verließen nun in kurzen Abständen The Raven, offensichtlich machte McCean seinen Gästen Druck und warf sie kurzerhand raus. Nun also war Brendans Zeit gekommen, und ohne jede Begeisterung betrat er nach einigen Minuten die düstere Kaschemme, die von verrußten Öllampen beleuchtet wurde. Ein übler Geruch empfing ihn, und er verzog das Gesicht. Obgleich noch zwei oder drei Gäste anwesend waren, die wankend am Tresen standen, jedoch von McCean trotz ihrer kleinkindhaften Bettelei nicht mehr bedient wurden, riss Brendan sofort eines der Fenster auf, damit wenigstens ein bisschen frische Luft ins Innere dringen und versuchen konnte, den kolossalen Duftbrei aus alten Fürzen, Blut, Rauch billiger Zigaretten und Schweiß zu vertreiben.

»Nun aber raus hier!«, dröhnte McCeans Stimme durch das Dunkel. Brendan zuckte zusammen, obwohl nicht er gemeint war, und selbst die Betrunkenen richteten sich für einen kurzen Moment auf und nahmen Haltung an, bevor sie letztlich in stummer Übereinstimmung wieder in sich zusammensackten, als wäre ihr Rückgrat zu Staub zerfallen.

Lallend machten sie sich auf den Heimweg und schimpften draußen, als die Kälte der Nacht sie empfing. Brendan grinste einige Sekunden lang vor sich hin.

»Du bist nicht hier, um blöde Grimassen zu schneiden, Schlaumeier!«, herrschte McCean ihn an. »Schaff hier Ordnung, und sei diesmal gründlicher als an

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Klaus Frank
Bildmaterialien: Coverdesign: Klaus Frank, unter Verwendung eines Bildes von: © Kotangens / Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4738-8

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