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Veronika

Sein Gesicht war von bleigrauer Farbe, die Augen vollkommen glanzlos und die Abmagerung so vorgeschritten, dass es mir vorkam, als müssten die Backenknochen die Haut durchstoßen. Er hatte außerordentlich starken Auswurf, sein Puls schlug kaum vernehmlich.

 

Der Fall Valdemar, Edgar Allan Poe

 

 

 

 

Ungefähr sechs Monate nach den schicksalhaften und schrecklichen Ereignissen um meinen Freund Ernst Valdemar, dessen Grabstätte ich in aller Regelmäßigkeit besuche und mit frischen Blumen schmücke, fasste ich den Entschluss, das Wagnis des damaligen Experiments noch einmal einzugehen. Ich wollte versuchen, einen Patienten zu magnetisieren, genauer gesagt, ich wollte mit aller Entschiedenheit herausfinden, ob magnetische Beeinflussung möglich sei bei einem im Todeskampf liegenden Menschen.

Ich hatte die verstrichene Zeit gut genutzt, um mit Gewissheit sagen zu können, dass ich auf alle Probleme vorbereitet war. Um mir das zu beweisen, wollte ich das Experiment unter ganz genau den gleichen Voraussetzungen wiederholen, wie es damals beim armen Teufel Valdemar der Fall gewesen war, der unter Schwindsucht im Endstadium gelitten und, als wir mit den Versuchen begannen, nur noch kurze Zeit zu leben hatte.

Noch immer konnte nicht mit Sicherheit behauptet werden, ob Menschen, die der Tod binnen Stunden ereilen konnte, überhaupt empfänglich für das Magnetisieren waren und wie ihre Reaktion auf eine solche Beeinflussung ausfiel. Meine Verwunderung über dieses offenkundige Desinteresse meiner forschenden Kollegen wuchs beständig, und schließlich konnte ich diesen Umstand nicht mehr ertragen und beschloss, meine Forschungen trotz meines damaligen Misserfolgs zu wiederholen.

Ich kannte niemanden, der Symptome der Schwindsucht im Endstadium aufwies, daher begab ich mich in aller Frühe in das nahegelegene Krankenhaus, um zu sehen, ob das Schicksal einen armen Teufel für mich auserwählt hatte, den ich dann, und hier vertraute ich auf meine Überredungskünste, für meine Ziele begeistern konnte, sofern Begeisterung bei einem dem Tode geweihten Menschen noch zu entfachen war.

Es war ein regnerischer und windiger Tag, und als ich im Krankenhaus eintraf, war ich durchnässt und von übler Laune.

Einer der dort arbeitenden Ärzte, nämlich Doktor F., dessen Unterstützung ich bereits im Fall Valdemar hatte genießen können, war über meinen Besuch rechtzeitig informiert worden, und ich konnte aus einer kurzen Unterredung mit dem Mann heraushören, dass auch er größtes Interesse daran hatte, das waghalsige Experiment zu wiederholen. Wie gut es tat, einen Verbündeten an meiner Seite zu wissen, wo ich ansonsten doch eher auf Abneigung und Skepsis stieß – das Übel fast aller der Wissenschaft dienenden Männer.

Mit einem stummen Kopfnicken begrüßen wir uns am Hauptportal des Krankenhauses, wo ich auf ihn wartete, dann geleitete er mich durch einige Flure und Gänge, aus den Räumen drang angelegentlich das Wehklagen der Kranken und Verletzten an meine Ohren, nicht jedoch an mein Herz, das taub geworden war für solcherart Laute. Ich hielt mich nicht für einen abgestumpften Mann, doch war es aus meiner Sicht unerlässlich, dass ich eine gewisse Kühle und Distanz an den Tag legte, wenn es um das Leid anderer Menschen ging – ein Preis, den ich gern zu zahlen bereit war.

Schließlich standen wir in einem Raum, der mit vier Betten und muffiger Totenluft mehr als ausreichend belegt war. In allen Betten lagen bleichgesichtige, dürre Gestalten, welche der Tod beinah schon für sich gewonnen hatte; das Wenige, das die Menschen noch auf der Seite der Lebenden hielt, würde sich alsbald in Wohlgefallen aufgelöst haben. Diese Erkenntnis stahl mir ein Lächeln ins Gesicht, das von Doktor F. erwidert wurde, wusste er doch nur zu gut, wonach ich suchte. Während der wenigen Minuten seiner Führung durch die Gänge des Hauses hatten wir kaum eine Handvoll Worte gewechselt, und doch war ich dem Mann so nah wie einem Bruder.

Er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Klaus Frank
Bildmaterialien: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2016
ISBN: 978-3-7396-5833-9

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