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Der unheimliche Schwimmer

Gregory Norman kannte den Anblick des alten, geschlossenen Hallenbades seit Jahren. Es war ihm so vertraut wie das Gesicht eines Verwandten. Aber nun, da er die Stufen zum Eingang emporstieg, änderte sich die Perspektive, und es schien, als erwache er aus einem Traum. Er war als Käufer hier. Noch letzten Monat hätte er bei dem Gedanken, ein Hallenbad zu kaufen, belustigt abgewunken, aber durch einen Zufall hatte er von dieser Angelegenheit und dem Spottpreis, der verlangt wurde, erfahren. Natürlich ging es ihm nicht um das Hallenbad – das war baufällig und seit Jahrzehnten nicht mehr rentabel -, sondern um das Grundstück. In ihm schlummerte eine Goldgrube, da war Gregory sicher; es lag ganz in der Nähe des Stadtkerns, einen Steinwurf weiter begann ein noch im Bau befindlicher Wohnkomplex, der bald Heimat für solide und gut betuchte Familien war. Diese Investition musste ganz einfach Erfolg bringen; mit dem Gedanken, was geschähe, wenn er sich irrte, befasste Gregory sich lieber nicht. Das tat er nur an regnerischen Tagen nach dem dritten Glas Scotch. Doch im Moment schien die Sonne, und Gregory war nüchterner als eine züchtige Pastorentochter.

»Hören Sie«, sagte er und wandte sich dem Mann zu, der ihn begleitete. »Es ist wirklich nicht nötig, dass wir es uns ansehen. Ich kauf es ja nur, um es abzureißen.« Er empfand keine Lust, mit dem Verkäufer ein leerstehendes Gebäude zu betreten. Gregory linste aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Sein Aussehen war schnell umschrieben, und nichts davon war ein Kompliment: Er war klein, fett, er schwitzte wie ein Schwein, und deswegen roch er auch wie eines, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte er die unangenehme Fistelstimme eines Eunuchen. Gregory erinnerte sich an die Begrüßung und das ausgiebige Händeschütteln vor einigen Minuten. Die Hand des Mannes hatte sich warm und feucht angefühlt wie … Gregory erschauderte und starrte verstohlen auf seine Rechte hinunter. Als hätte sich ein Pavianarsch über sie gestülpt, so hatte es sich angefühlt.

John McDonald, der jetzige Eigentümer, zauberte ein Lächeln hervor, das einer Bitte gleichkam. Lass es uns anschauen, sagte es. »Es dauert nur wenige Minuten«, sagte er, »das Gebäude ist nicht absonderlich groß.«

Absonderlich, dachte Gregory mit gerunzelter Stirn. Mehr und mehr gelangte er zu der Ansicht, dass McDonald ein Spinner war, der dem Lauf der Welt nicht zu folgen wusste. Irgend ein Fetischist, dachte er, der ausgestopfte Tiere oder Bilder von Unfallopfern sammelte. Der Gedanke, mit diesem Mann in ein einsames Gebäude einzudringen, gefiel ihm immer weniger, aber sie befanden sich bereits unmittelbar vor der Eingangstür; nun war es für einen Rückzieher zu spät.

»Wie sind Sie eigentlich an dieses Grundstück gekommen?«, fragte er plötzlich. »Gehörte es nicht früher einmal der Stadt?«

McDonald nickte. Er schloss die breite Eingangstür auf und ließ Gregory den Vortritt. »Das ist richtig. Ich habe es ihr vor zehn Jahren abgekauft, als die Kassen leer waren und die Stadt Geld für Projekte benötigte, die lohnender waren.« Seine hohe Stimme hallte von den nackten Wänden wider. »Leider brauche nun ich Geld und muss mich hiervon trennen.« Er breitete die fetten Arme aus und schaute Gregory auffordernd an, als handelte es sich um mehr als ein verfallenes Gebäude.

Sie standen in einem kahlen Foyer, in dem früher Sitzgruppen für Gemütlichkeit gesorgt hatten; beinah konnte Gregory das Johlen von Schulklassen und die Maßregelungen von Lehrern hören. Jenseits der beiden Drehkreuze, durch die man früher nach Bezahlung gehen konnte, führten Gänge zum Becken und zu den Umkleideräumen. Gregory fühlte, wie sich seine Lunge mit muffiger Luft füllte, die, wie er glaubte, vor Schimmel troff. Es roch brackig, und er verzog angewidert das Gesicht. Herrgott, er wollte nicht hier sein.

»Man gewöhnt sich dran«, sagte McDonald, der das Mienenspiel beobachtet hatte. »Es ist nicht angenehm, aber man gewöhnt sich dran.«

»Man gewöhnt sich an alles, nicht wahr?«

McDonald schien den zynischen Unterton nicht zu bemerken. »So ist es«, sagte er feierlich und schritt durch eines der Drehkreuze. Gregory glaubte, ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen zu haben.

Als sie in ein kleines Labyrinth aus schmalen Gängen eintauchten, von denen rechts und links einige Dutzend Türen zu den Umkleidekabinen abzweigten, spürte Gregory, wie warm es hier war, fast schwül. Er begann unter seiner Kleidung zu schwitzen. Die Wände und der Boden waren gekachelt, aber viele der einst hellblau und türkis schimmernden und nun staubiggrauen Fliesen waren fort, als hätte jemand in regelmäßigen Abständen mit einem Hammer zugeschlagen, aus purer Freude am Zerstören. Zurückgeblieben war schwarzer Mörtel.

Die bislang vorherrschende Düsternis wurde schwächer, weil aus der Richtung, in der sie gingen, ein Schwall Tageslicht zu ihnen drang. Bald darauf endete der Gang, und sie gelangten zum Schwimmbecken, an dessen gegenüberliegendem Rand die Startblöcke und zwei gewaltige Springtürme aufragten. Schichten aus Schimmel – fast wie ein Webteppich, dachte Gregory – überwucherten das riesige Dachfenster. Ein schaler, bitterer Geschmack machte sich in seinem Mund breit.

»Da ist ja Wasser drin«, sagte er überrascht. Es war kein klares Wasser, das er im bis zum Rand gefüllten Becken erblickte, kein verlockendes Schwimmbadwasser. Dieses Wasser hier war dunkelgrün und tot und – wie mit einer erstarrten Haut überzogen - völlig still. Am Beckenrand trieben aufgeweichte, unkenntliche Müllbrocken und einige tote Tiere, teilweise von der Verwesung ausgetilgt. Er sah das schwarze Fell einer Katze, die sicherlich noch nicht lange dort treiben konnte. Ihre starre Schwanzspitze durchstach von unten die Wasseroberfläche. Ein leises Grausen überkam ihn, als er sich vorstellte, dort hineinzufallen.

»Wie …« Er wollte McDonald fragen, welche Erklärung er für die toten Tiere im Wasser hatte – und welche für das Wasser überhaupt -, aber als Gregory sich umwandte, sah er niemanden. »Mr. McDonald!«, rief er in die Stille des Hallenbades hinein. Der Hauch eines Echos kam zu ihm zurück, aber dies war die einzige Antwort, die er erhielt. Verärgert stieß er die Luft aus.

Wohin war der Kerl nur so schnell verschwunden? Wollte er ihm mit dieser unverschämten Aktion etwa Angst einjagen?

»Warte nur, du fettes Arschloch, ich werde dich schon finden!«, knurrte Gregory und sprach laut genug, dass seine Worte sicher zu hören waren.

Gerade wollte er gehen und McDonald suchen, da vernahm er hinter sich ein leises Glucksen. Gregory wirbelte herum und starrte auf das widerlich grüne Wasser. Konzentrische Kreise bewegten sich dort, Miniaturwellen gleich, die zögernd zerfaserten. Als er näher an den Beckenrand heranging, sah er die Luftblasen, die vom Grund her aufstiegen.

Himmel, was war das? Es war unmöglich, durch das Dreckwasser den Boden zu erkennen. War es möglich, dass dort ein Fisch schwamm? War dies etwa ein Aquarium, hatte McDonald ihn nur deshalb in das Gebäudeinnere geführt, damit Gregory seine Begeisterung teilen sollte?

Plötzlich riss er verblüfft die Augen auf. Ein Schatten schwamm, durch das Wasser seltsam auffasernd, etwa einen Meter unterhalb der Oberfläche. Er konnte nicht erkennen, um welche Art Fisch es sich dabei handelte, aber er musste sehr groß sein, musste menschliche Ausmaße haben. Dann verschwand der Schatten in der Tiefe.

Er musste McDonald ausfindig machen und ihm Fragen stellen. Er war plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob er diesen Kauf wirklich tätigen wollte. Es war besser, wenn er nochmals in aller Ruhe darüber nachdachte, weitab von riesigen Fischen und Tierkadavern, die im Wasser schwammen. Gregory machte einen Schritt, um die Schwimmhalle zu verlassen, als er Wasser plätschern hörte und etwas mit unerbittlicher Härte seinen rechten Knöchel packte. Sein Bein wurde zur Seite gerissen, über den Beckenrand hinaus, und Gregory verlor den Halt. Schmerzhaft stürzte er zu Boden und prellte sich die Hüfte. Ein Schrei kam über seine Lippen. Sein Bein befand sich bis zum Knie im Wasser, das unangenehm warm war. Er konnte nicht sehen, was ihn hielt und ruckartig weiter auf das Wasser zuzog

Voller Verzweiflung versuchte er, Halt zu finden – es kostete ihn Haut und Nägel seiner Finger -, jedoch konnte der Boden, obschon rissig, ihm keinen bieten. Er stemmte sich mit aller Macht zurück, aber der Griff um seinen Knöchel gab nicht nach.

»McDonald!«, kreischte er. »Helfen Sie mir!« Der Verkäufer blieb verschwunden, und Gregory begriff, dass die Besichtigung nur dem Zweck gedient hatte, ihn diesem Wesen zu opfern.

Mit einem müden Plätschern rutschte Gregory mit dem Gesäß ins Wasser.

»Nein!«, keuchte er. Er weinte und schluchzte. Dann, als nur noch sein Kopf und die Schultern und eine blutige Hand, mit der er sich am Beckenrand festhielt, aus dem Wasser ragten, sah er den Mann aus einem Gang kommen, der zu den Saunaräumen und Dampfbädern führen mochte, und Gregory schrie erneut: »Bitte, helfen Sie mir!«

McDonald blickte mit einem betretenen Gesichtsausdruck zu ihm hinüber und vermied es, sich dem Wasser zu nähern. »Ich kann es leider nicht. Es tut mir leid für Sie, wirklich, das müssen Sie mir glauben.« Und dann, als würde es ihn von jeglicher Schuld befreien, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu: »Es wird schnell gehen.«

»Bitte! O Gott – bitte!« Sein Mund klaffte auf wie ein Loch; die Augen hatte er so weit aufgerissen, dass sie fast aus den Höhlen sprangen. Es schien, als würde dieses letzte Wort kein Ende nehmen, aber schließlich ging es in ein Gurgeln über, als der Mörder mit einem letzten unerbittlichen Ruck sein Opfer zu sich holte. Seine Hand ragte für eine Sekunde aus dem Wasser und ballte sich zur Faust. Dann verschwand sie.

Gregory wehrte sich voller Verzweiflung und drosch und trat blind um sich. Einige Male traf er den unheimlichen Schwimmer, aber er schaffte es nicht, der Umklammerung zu entkommen.

Das Blut rauschte in seinem Kopf. Zuckend drehte er sich im Wasser, seine Augen waren nach oben gerichtet, von wo ein schwaches Tageslichtgerinnsel nach unten drang, dann erlahmten seine sinnlosen Bemühungen. Die Bestie zog ihn tiefer, und er wehrte sich nicht mehr. Gurgelnd schossen Luftblasen nach oben, als Gregory seinen Mund öffnete und warmes Wasser seine brennenden Lungenflügel füllte.

John McDonald war nun doch bis nahe an den Beckenrand vorgetreten. Er sah Schatten und Schemen in der Nähe des Grundes; einmal war Gregory Normans panisch verzerrtes Gesicht so nah, dass er es hätte berühren können. Es schien, als würde er unter Wasser einen Schrei ausstoßen. Gänsehaut überzog seinen Körper, als er sich den aussichtslosen Kampf vorzustellen versuchte. Der arme Mann, dachte er mitleidig, solch ein elender Tod. Aber was soll ich tun?

Das Wasser schwappte über den Rand und nässte seine Schuhe, aber er trat nicht zurück. McDonald wartete zehn Minuten, bis er sicher war, dass Gregory Norman verschwunden blieb. Der Schwimmer fraß seine Opfer vollständig auf, solange sie noch warm waren. Tiere verschmähte er. Manchmal machte McDonald ihm eine Freude und warf Katzen und kleine Hunde, die zutraulich genug waren, sich einfangen zu lassen, ins Wasser, aber das Wesen sah in ihnen keine Nahrung. Er spielte eine Weile mit ihnen und ließ sie dann gelangweilt an die Oberfläche treiben.

McDonald schaffte das Futter heran und war heilfroh, dass jenes Ding, das er nie gesehen hatte, ihn als Ernährer anerkannte. Es konnte aus dem Wasser kriechen, McDonald hatte die getrockneten Spuren seiner annähernd menschlichen Füße gesehen, aber es zog das nasse Element vor und war offenbar so phlegmatisch – und damit eindeutig menschlich -, dass es auch dort blieb, wofür McDonald sehr dankbar war.

 

Impressum

Texte: Klaus Frank
Bildmaterialien: Cover: wkiv665 "Durchblick" / http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de / Quelle: http://piqs.de/
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2015

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