Etwas riss mich aus dem Schlaf, der unruhig gewesen sein musste, wie ich feststellte, als meine Hand über das verrutschte Laken strich. Durch das geöffnete Fenster drang eiskalte Luft herein; dennoch glühte mein Gesicht so stark, dass ich befürchtete, Fieber zu haben. Ein Glockenlaut vertrieb die Gedanken, und mir war klar, dass das Läuten der Kirchenglocken mich geweckt hatte.
Ich lehnte mich zurück in das feuchte Kissen und warf einen Blick nach links, wo unter der Bettdecke ein massiger Körper schlummerte. Ich verzog das Gesicht zu einem Lächeln, doch es wurde eher eine Grimasse des Abscheus. Wieder nichts, schoss es mir durch den Kopf, und ich erschauderte unter dem Gefühl des Frusts. Immer wieder traf ich auf Männer, die, einem eitlen Pfau gleich, ihre Großartigkeit priesen, doch nach und nach löste sich der scheinbare Glanz in Wohlgefallen auf, und was übrig blieb, war bestenfalls ein kümmerliches Gerippe aus Lügen und falschen Versprechungen. Woran lag das nur? Lag es an mir?, überlegte ich, obwohl ich mir längst geschworen hatte, derartige Gedanken niemals mehr zuzulassen. Sie führten zu nichts, außer zu Schuldgefühlen, die mich wie eine schwarze Flut in die Tiefe rissen, aus der es kein Entrinnen gab. All die ganzen Nächte voller Tränen und Geflenne und grenzenlosem Hass auf mich selbst.
Dabei wusste ich doch insgeheim, dass es nichts mit mir zu tun haben konnte; ich war, wenn ich es darauf anlegte, sehr charmant und überdies eine gute Zuhörerin. Ich plapperte oder schwätzte nicht drauflos, da ich nur zu genau wusste, dass die meisten Männer dies eher einschüchterte; vielleicht sahen sie dann in ihrem Gegenüber, mochte es noch so hübsch sein, einen feuerspeienden Drachen, der sie zu verschlingen drohte. Dieses Bild vor Augen, gelang mir nun doch ein schwaches Lächeln, das ich in die Dunkelheit verschwendete, die mich umgab wie ein Leichentuch.
Und ja; man konnte mich durchaus hübsch nennen. Jedenfalls hatte ich Komplimente dieser Art oft gehört, und nicht alle konnten eine Lüge gewesen sein. Die Wortwahl änderte sich zwar ständig, je nach Charakter desjenigen, mit dem ich es zu tun hatte, doch am Ende kam das alles aufs Gleiche raus: Du bist hübsch, jedenfalls für ein paar Nächte.
Und dennoch: Das Feuer, loderte es am Anfang auch noch so hoch, erlosch bald zu einem müden Funkeln, dann zu kalter Asche, und die Erkenntnis war immer, dass meine Liebschaften zu nichts taugten, ein Makel gesellte sich zum anderen, als wäre das ein Naturgesetz.
Ich runzelte die Stirn, als ich über den Namen des Mannes neben mir nachdachte. Erst nach einigen Sekunden fiel er mir wieder ein: Peter, ein Name, der so gewöhnlich war wie der Mann selbst: ein Anhänger von Borussia Dortmund, jahrelang im Besitz einer Dauerkarte, sein Lieblingsgetränk war Pils, am liebsten aß er Schnitzel, er hatte zu viele Haare am Rücken und einen beachtlichen Bauchansatz. Ein Name, ein Mann zum Vergessen. Ich hätte es wissen müssen, als er vor mir stand und seinen Namen stammelte.
Ich starrte ihn an, und da sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich Konturen seines bleichen Gesichts, das schlaff und eingefallen wirkte.
»Peter«, murmelte ich leise in die Finsternis hinein und achtete darauf, ob der Name etwas in mir berührte, doch da war keine Trauer, kein Ärger. Wozu auch? Es gab schließlich nichts zu bedauern.
Vorsichtig lupfte ich die Bettdecke von Peters Körper. Das Messer steckte immer noch in seiner Brust. Er hatte nur wenig Blut verloren, sah ich, während ich prüfend meinen Blick über das Laken unter ihm inspizierte. Zwar machte ich mir nichts aus verspritztem Blut, aber dennoch vermied ich es gern, in einem besudelten Bett zu schlafen. Ein leises Gefühl der Sympathie durchschlich mich, doch gleich darauf schalt ich mich für diese absurde Empfindung. Die Tatsache, dass Peter in den Sekunden seines Todes nicht sinnlos sein Blut verspritzt hatte, machte aus ihm keineswegs einen besseren Menschen.
Ich umfasste den Griff des Messers, das bis zum Heft in seiner Brust steckte. Das Herausziehen einer tief im Fleisch sitzenden Klinge erzeugte in meinen Ohren stets ein einzigartiges Geräusch, das ein leises, aber unwiderstehliches Grauen in mir weckte; am ehesten war es noch vergleichbar mit einem leisen Schmatzen, als säße unter dem Bett ein Kind mit schlechten Manieren. Sorgfältig wischte ich die Klinge an der Bettdecke ab und legte sie beiseite.
Mit einem Gähnen schlüpfte ich aus dem Bett, und sogleich spürte ich die Kälte, die im Raum herrschte. Der böige Wind bauschte die Gardine auf und umschlang mich mit seinen eiskalten Fingern. Ich schloss die Augen und genoss diese Liebkosung. Ich mochte den Winter mehr als alle anderen Jahreszeiten. Mir graute bereits vor dem nahenden Frühling. Am liebsten waren mir die froststarren Nächte, die so finster und freudlos waren wie das Grinsen eines Wahnsinnigen und nicht enden wollten und irgendwann in sonnenlose und schlappschwänzige Tage übergingen. Oft lag ich während solcher Nächte reglos in meinem Bett und hing meinen Gedanken nach oder lauschte in die Stille hinein, die manchmal klang wie das Flüstern und Raunen toter Seelen. Dann war ich ein anderer Mensch, ein besserer Mensch, der Ambitionen hatte, die weit über das hinausgingen, was das Leben zu bieten hatte.
Ich verließ das Schlafzimmer und schlurfte in die Küche, in der es wärmer war. Stirnrunzelnd überblickte ich den Raum, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Die Schränke und Geräte waren alt, die Wände vergilbt. Ich musste dringend die Zeit zum Renovieren finden, doch ich wusste genau, dass ich mich dazu nicht würde aufraffen können. Die Küche stammte noch aus der Zeit, als meine Eltern hier gelebt hatten. Meine Mutter war schon lange tot, danach lebte ich mit meinem Vater hier. Ich blieb bei ihm, bis er starb, und nach seinem Tod nahm ich mir vor, das Haus ganz nach meinen Wünschen einzurichten. Leider hatte ich das bis heute nicht geschafft. Beinah erzürnt starrte ich auf eine grüne Kachel neben dem Spülbecken, die gesprungen war, nachdem mein Vater vor vielen Jahren ein Loch zu bohren versucht hatte.
Ich glaubte, das Brennen wieder auf meiner Wange zu spüren. Seine Ohrfeige, die ich für mein hämisches Kichern kassiert hatte, war heftiger als alle anderen gewesen; ich war zu Boden gestürzt und bis zur Wand gerutscht, wo ich mir heftig den Kopf am Heizkörper anschlug. Blut, das aus meiner aufgeplatzten Lippe tröpfelte, vermischte sich mit dem aus der Wunde am Hinterkopf. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich weinend auf die Beine kommen, während mein Vater die zerstörte Kachel anstarrte, genau wie ich es nun ebenfalls tat.
Warum sah die Küche immer noch so aus wie zu Lebzeiten meiner Eltern? Immer noch dieselben scheußlichen Bilder, die unwirkliche Landschaften zeigten. Unter mir quietschte der braungraue Linoleumboden, der an einigen Stellen wellig oder aufgeplatzt war. Nicht nur hier in der Küche, sondern im gesamten Haus war es so, verbesserte ich mich mit einer Nachdrücklichkeit, als wolle ich mir selbst wehtun. Ich schlief im Schlafzimmer meiner Eltern, in ihrem Bett, wobei ich jedoch stets darauf achtete, auf der Seite meiner Mutter zu liegen. Ich kicherte wie ein kleines Kind: Peter lag tot und blutig auf Vaters Seite, wie ihm das nur gefallen hätte.
Ich wischte die unguten Gedanken beiseite und steuerte auf die große Tiefkühltruhe zu, die summend in einer Ecke der Küche stand. Sie hatte mindestens zwanzig Jahre auf dem Buckel und war für mich vollkommen überdimensioniert. Doch meine Eltern, die beide die Auswirkungen der Kriegsjahre erlebt hatten, legten immer großen Wert darauf, dass möglichst viele Vorräte vorhanden waren, zumeist aus dem eigenen kleinen Garten hinter dem Haus, der seit Jahren vollkommen verwildert war. Ich wusste, ich hätte mich auch um den Garten kümmern sollen, doch fand ich nie die Gelegenheit dazu. Außerdem war ich keine talentierte Gärtnerin, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Mein Vater meinte immer mit seiner sarkastischen Stimme, dass ich einfach zu dumm für die einfachsten Dinge sei, und daher ließ ich mich zu seinen Lebzeiten nur selten im Garten blicken, und jetzt sah ich keinen Grund mehr, ihn aufzusuchen. Was hätte ich dort tun sollen? Der Garten gehörte den Tieren und Insekten mehr als mir.
Ich hob den Deckel der Kühltruhe, und Eiseskälte wehte mir ins Gesicht. Die Truhe war beinah randvoll gefüllt mit Plastiktüten, die zugeschweißt waren und kleine Ein-Personen-Portionen enthielten. Auf allen Tüten befanden sich Etiketten, auf denen ich den Inhalt geschrieben hatte: Leber, Schinken, Brust. Manchmal bedauerte ich, dass ich nicht ausführlicher geworden war; ich vermochte nicht zu sagen, mit wessen Brust die Tüte, auf die ich starrte, nun wirklich gefüllt war. Ich nahm an, dass es das Fleisch von Marcus war, von dem ich mich vor ungefähr sechs Monaten getrennt hatte, doch sicher war ich mir nicht. Ich nahm mir vor, die Tüten, die ich mit Peter füllen wollte, ausführlicher zu beschriften: Name und Datum mussten mit auf das Etikett. Ich wusste nicht, ob in der Truhe noch ausreichend Platz für die neuerliche Ladung war; zumindest wäre sie danach bis zum Rand gefüllt. Entweder musste ich in nächster Zeit mehr Fleisch verschlingen oder es irgendwo verscharren. Meine Eltern hatten mich jedoch stets gelehrt, keine Lebensmittel zu verschwenden, und ich hatte diesen Leitspruch so sehr verinnerlicht, dass ich keinen Unterschied machte zwischen einem Schwein und einem Mann.
Zuunterst lugten einige völlig vereiste Tüten hervor, von denen einige aufgeplatzt waren, sodass ihr unansehnlicher Inhalt verstreut am Boden der Truhe lag. Voller Missmut blickte ich auf die Überreste meines Vaters, der mir auch lange nach seinem Tod das Leben so schwer wie möglich machte. Aber nun dämmerte mir, dass für ihn nicht länger Platz in der Gefriertruhe war.
Das war eine weitere Aufgabe, die auf mich wartete. Ich zog eine Schnute und schloss die Truhe. Im Keller befand sich altes Schlachterwerkzeug meines Großvaters, der in einer Schlachterei gearbeitet hatte. Es war, inklusive einer kolossalen Knochenmühle, tadellos in Schuss, weil ich es pfleglich behandelte. Damit wäre es relativ einfach, Peter zu zerlegen. Das Schwierigste war, ihn in den Keller zu zerren, weil er nicht gerade ein Leichtgewicht war. Da ich wusste, wie unsauber die Arbeit war, entkleidete ich mich vollständig. Das Blut konnte ich leicht mit dem Gartenschlauch entfernen; sowohl von den Instrumenten, dem Kachelboden und von meinem Körper, der nach getaner Arbeit so erhitzt wäre, dass er unter den eiskalten Wasserstrahlen zu dampfen begänne.
Ich klatschte in die Hände, was einem unsichtbaren Zuschauer gewiss wie ein Startsignal vorgekommen wäre, denn gleich darauf verschloss sich mein Gesicht zu einem Ausdruck höchster Konzentration, die meine Aufgabe mir in den nächsten Stunden abverlangen würde.
***
Zwei Monate später, der Frühling verkürzte zu meinem Leidwesen die Nächte, die mir mehr Freude bereiteten als früher Sonnenschein und Vogelgezwitscher und emsige Eisverkäufer. Die Gefriertruhe war ein wenig leerer geworden, aber nicht sehr viel, da ich die Überreste meines Vaters einfach nicht hatte anrühren können.
Ich war sehr aufgeregt, das vermochte ich nicht zu verhehlen. Aufgescheucht wie eine alte Jungfer eilte ich von Raum zu Raum und versuchte hier und dort etwas zu verschönern oder zumindest dekorativ umzugestalten. Vermutlich vergebene Liebesmüh, doch ich war zu aufgewühlt, um innezuhalten. Ich erwartete Besuch.
Diesmal war ich voller Zuversicht, dass der Mann sich nicht als solch ein Einfaltspinsel erweisen würde wie die anderen Besucher vor ihm. Zwar hatte ich bislang lediglich übers Internet mit ihm angebandelt, doch er machte einen äußerst sympathischen und gebildeten Eindruck auf mich. Er vermochte sich gewählt auszudrücken, beinah blumig wie ein Mann aus einem vergangenen Jahrhundert, und hatte einen erlesenen Geschmack, wenn es ums Essen und Trinken ging, und auch seine kulturellen Interessen entsprachen ganz den meinen. Mehr noch als diese Indizien war es jedoch sein Name, der mich schier verzauberte.
»Valentin«, sagte ich leise und wiederholte mehrmals seinen Namen. Ein Mann, der so hieß, musste einfach ein besonderes Exemplar sein.
Ein gehetzter Blick auf die Uhr, kaum noch fünfzehn Minuten, bis die vereinbarte Zeit anbrach. Ich hoffte, er war pünktlich, da ich es hasste, warten zu müssen.
Ich richtete mein Haar, dann lief ich rasch in die Küche und öffnete die Tür des Backofens. Der Duft knusprigen Fleisches drang verführerisch in meine Nase, und ich schloss genussvoll die Augen. Valentin würde nie in Erfahrung bringen, dass er seinen direkten Vorgänger, Peter, serviert bekam, und wenn alles gut ging, dann würde Valentin niemals das Schicksal all dieser trostlosen Versager teilen, die nur zersägt und tiefgefroren eine gute Figur machten.
Es klingelte an der Tür, und ich zuckte zusammen. Punkt zwanzig Uhr; Valentin war so pünktlich, wie ich es kaum zu hoffen gewagt hatte.
Welch ein Mann, dachte ich und eilte zur Tür, während ich auf den Weg dorthin meinen Mund zu dem herzlichsten Lächeln verzog, das mir in meiner Aufgeregtheit gelingen wollte.
***
Einige Tage später: Mürrisch blickte ich auf den Teller mit dampfendem Fleisch, das aus einem See dunkler Soße hervorlugte, während ich ungeduldig einen Happen zerbiss und mit einem Schluck Weißwein hinunterwürgte.
Valentin, dachte ich, und eine Welle heißen Zorns schoss wie Brechreiz in mir hoch. Valentin war ein wundervoller Mann, und genauso schmeckte er auch: mild, zart und natürlich. Traurig stach ich die Gabel in das Stück Brustfilet und schlang es hinunter. So ein wundervoller Mann; seinen hübschen Körper zu zersägen und auszunehmen, war mir ungeheuer schwergefallen. Und doch blieb mir keine andere Wahl, als Valentin das gleiche Schicksal aufzubürden wie seinen unwürdigeren Vorgängern. Valentin eröffnete mir am Abend unseres Kennenlernens, dass er Kripobeamter war, ein hohes Tier sogar, und ich erkannte sofort die Gefahr, die dieses Geständnis für mich bedeutete. Valentin war in der Lage, scheinbar belanglose Details zu einer Kette zu verknüpfen, bis die ganze Wahrheit ans Tageslicht kam.
Und tatsächlich wunderte er sich während des Essens über den interessanten Geschmack des Fleisches und verlangte zu wissen, wo ich es gekauft habe. Wurde sein bis dahin warmherziger Blick währenddessen nicht gleich auch um eine Spur kälter und lauernder? So jedenfalls kam es mir vor, und noch schlimmer machte ich es, als ich eine vage Antwort stammelte, bei der ich das Gefühl hatte, auf meiner Stirn stünde in grell blinkenden Lettern: Das ist eine Lüge. Valentin lächelte, doch er glaubte mir nicht. Sein Misstrauen war geweckt, und es würde, das wusste ich mit Gewissheit, nie wieder schwinden. Nachts, wenn ich an seiner Seite schliefe, würde er aus dem Bett schlüpfen und der Herkunft des Fleisches auf den Grund gehen. Er müsste nur den Deckel der Truhe anlupfen, und die zersägte und in Würfel geschnittene Parade seiner Vorgänger würde mein Schicksal besiegeln.
Was also blieb mir übrig, dachte ich, während ich das letzte Stück von meinem Teller aufspießte, als Valentin noch in jener ersten Nacht ins Bett zu locken und ihm in einem Augenblick der Ablenkung das Messer in die Brust zu jagen. Sein Tod war der schönste, dem ich beiwohnen durfte; er starb still, und es schien, als leuchtete so etwas wie Verständnis für meine Tat in seinen blauen Augen auf. Aus der Wunde drang nur wenig Blut, und ich redete mir ein, dass er aus Rücksicht auf mich so zurückhaltend war. Das mochte blanker Unfug sein oder der Beginn von Wahnsinn, aber so sah ich es halt. Er starb mit einem Seufzen auf seinen Lippen, in dem ich eine Silbe meines Namens herauszuhören glaubte.
Selbst meinen Messern und Sägen widersetzte er sich nicht lange; er ließ sich beinah so leicht zerlegen wie ein Block aus Styropor, und der stets so grimmig knirschenden Knochenmühle, welcher ich seine Überreste anvertraute, schien er beim Häckseln Melodien zu entlocken, die ich nie zuvor gehört hatte.
Ich glaube, es ist überflüssig zu betonen, dass er auch auf dem Herd seinen Mann stand, ganz gleich, ob gebraten oder gedünstet, pur oder mariniert: Das war für mich keine Überraschung, doch leider genauso wenig ein Trost, denn nun befand ich mich wieder in Gesellschaft von Einsamkeit und Verzweiflung, die wie gute Freundinnen Tag für Tag an meine Seite schlüpften und über die Ungerechtigkeit dieser Welt lamentierten. Das taten sie so lange, bis ich mir die Ohren zuhielt oder mit den Fäusten gegen die Wände schlug.
Meine Augen füllten sich mit Tränen
Plötzlich klingelte es an der Haustür, und vor Schreck verschluckte ich mich an dem zerkauten Stück Fleisch. Mein kläffendes Husten drang zweifellos an die Ohren des Besuchers, daher blieb mir keine andere Wahl, als die Tür zu öffnen. Mein hochrotes Gesicht und die tränenden Augen verleiteten den Mann, der auf der obersten Stufe stand, zu der Frage, ob alles in Ordnung sei.
»Gewiss«, krächzte ich, »habe mich leider verschluckt. Es tut mir leid.« Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Wofür entschuldigte ich mich?
»Ich wollte mich erkundigen, ob Herr Meiners bei Ihnen ist.«
Ich starrte den Mann mit einiger Verwirrung an. Unschlüssig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. »Ich kenne niemanden …«
»Valentin«, erklärte der Besucher mit einem schwachen Lächeln. »Hab ihn zu Ihnen gefahren, doch leider hat er sich seit jenem Abend nicht mehr gemeldet. Entschuldigen Sie, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Hochgärtler, ich bin ein Kollege von Herrn … von Valentin. Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, zu Hause ist er nicht, daher dachte ich, dass er womöglich noch …« Er stockte und blickte mich aufmerksam an, plötzlich ganz und gar Ermittler. »Ist er noch bei Ihnen?«
Ich ertappte mich dabei, wie ich den Kopf schüttelte. Hochgärtler war beinah kahlköpfig und recht groß, wirkte aber sympathisch. Kurz überlegte ich, ob er noch Platz in meiner Gefriertruhe fände, doch das war ganz und gar ausgeschlossen. Nochmals schüttelte ich den Kopf, energischer jetzt. »Er ist noch an jenem Abend wieder gegangen. Es war ein netter Abend, wir haben viel erzählt und ein wenig Wein getrunken. Und zu Abend gegessen.« Ich gab mir einen Ruck und wagte ein schüchternes Lächeln. »Wie schaut es aus, Herr Polizist – darf ich Ihnen eine Kleinigkeit anbieten? Ich habe vorhin Essen zubereitet. Das Fleisch schmeckt wunderbar, das kann ich Ihnen versichern.«
»Nun, ich weiß nicht so recht.« Hochgärtler kratzte sich unschlüssig am Kopf. »Es war nicht meine Absicht, Sie aufzuhalten.«
»Tun Sie nicht«, versicherte ich und erneuerte mein Lächeln. »Tun Sie ganz und gar nicht. Es würde mich freuen, wenn ich Ihnen etwas Leckeres servieren dürfte. Allein zu essen macht schließlich keinen rechten Spaß.« Ich trat einen Schritt beiseite und lud ihn mit einer Geste ein. Insgeheim fragte ich mich, was in mich gefahren war, dieses Risiko einzugehen. Aber die unverhoffte Chance, die sich mir bot, konnte ich nicht verstreichen lassen; ich hätte mir tagelang Vorwürfe gemacht, ließ ich Hochgärtler nun wieder gehen. Der Mann wirkte nett und arglos; ich musste ihm lediglich noch einmal versichern, dass ich nicht wusste, wohin Valentin verschwunden sein könnte. Seine Kleidung hatte ich längst vernichtet, sein Blut aufgewischt. Die Truhe, schoss es mir durch den Kopf, hoffentlich schaut er nicht in die Truhe. Doch nun war es zu spät.
»Das duftet ja wirklich köstlich«, sagte Hochgärtler mit genießerischer Miene und blickte auf mich herab, als versetze ihn die Tatsache, dass ich etwas vom Kochen verstand, in Erstaunen. »Was für ein Fleisch ist es denn? Ich tippe auf Rind.«
»Nicht ganz«, sagte ich lächelnd und bemerkte mit Zufriedenheit, dass er nicht zurückzuckte, als ich wie zufällig seinen Unterarm berührte, »aber nah dran: Es ist Fleisch vom Bullen. Ein wahres Prachtexemplar.«
Sein Gesicht war von bleigrauer Farbe, die Augen vollkommen glanzlos und die Abmagerung so vorgeschritten, dass es mir vorkam, als müssten die Backenknochen die Haut durchstoßen. Er hatte außerordentlich starken Auswurf, sein Puls schlug kaum vernehmlich.
Der Fall Valdemar, Edgar Allan Poe
Ungefähr sechs Monate nach den schicksalhaften und schrecklichen Ereignissen um meinen Freund Ernst Valdemar, dessen Grabstätte ich in aller Regelmäßigkeit besuche und mit frischen Blumen schmücke, fasste ich den Entschluss, das Wagnis des damaligen Experiments noch einmal einzugehen. Ich wollte versuchen, einen Patienten zu magnetisieren, genauer gesagt, ich wollte mit aller Entschiedenheit herausfinden, ob magnetische Beeinflussung möglich sei bei einem im Todeskampf liegenden Menschen.
Ich hatte die verstrichene Zeit gut genutzt, um mit Gewissheit sagen zu können, dass ich auf alle Probleme vorbereitet war. Um mir das zu beweisen, wollte ich das Experiment unter ganz genau den gleichen Voraussetzungen wiederholen, wie es damals beim armen Teufel Valdemar der Fall gewesen war, der unter Schwindsucht im Endstadium gelitten und, als wir mit den Versuchen begannen, nur noch kurze Zeit zu leben hatte.
Noch immer konnte nicht mit Sicherheit behauptet werden, ob Menschen, die der Tod binnen Stunden ereilen konnte, überhaupt empfänglich für das Magnetisieren waren und wie ihre Reaktion auf eine solche Beeinflussung ausfiel. Meine Verwunderung über dieses offenkundige Desinteresse meiner forschenden Kollegen wuchs beständig, und schließlich konnte ich diesen Umstand nicht mehr ertragen und beschloss, meine Forschungen trotz meines damaligen Misserfolgs zu wiederholen.
Ich kannte niemanden, der Symptome der Schwindsucht im Endstadium aufwies, daher begab ich mich in aller Frühe in das nahegelegene Krankenhaus, um zu sehen, ob das Schicksal einen armen Teufel für mich auserwählt hatte, den ich dann, und hier vertraute ich auf meine Überredungskünste, für meine Ziele begeistern konnte, sofern Begeisterung bei einem dem Tode geweihten Menschen noch zu entfachen war.
Es war ein regnerischer und windiger Tag, und als ich im Krankenhaus eintraf, war ich durchnässt und von übler Laune.
Einer der dort arbeitenden Ärzte, nämlich Doktor F., dessen Unterstützung ich bereits im Fall Valdemar hatte genießen können, war über meinen Besuch rechtzeitig informiert worden, und ich konnte aus einer kurzen Unterredung mit dem Mann heraushören, dass auch er größtes Interesse daran hatte, das waghalsige Experiment zu wiederholen. Wie gut es tat, einen Verbündeten an meiner Seite zu wissen, wo ich ansonsten doch eher auf Abneigung und Skepsis stieß – das Übel fast aller der Wissenschaft dienenden Männer.
Mit einem stummen Kopfnicken begrüßen wir uns am Hauptportal des Krankenhauses, wo ich auf ihn wartete, dann geleitete er mich durch einige Flure und Gänge, aus den Räumen drang angelegentlich das Wehklagen der Kranken und Verletzten an meine Ohren, nicht jedoch an mein Herz, das taub geworden war für solcherart Laute. Ich hielt mich nicht für einen abgestumpften Mann, doch war es aus meiner Sicht unerlässlich, dass ich eine gewisse Kühle und Distanz an den Tag legte, wenn es um das Leid anderer Menschen ging – ein Preis, den ich gern zu zahlen bereit war.
Schließlich standen wir in einem Raum, der mit vier Betten und muffiger Totenluft mehr als ausreichend belegt war. In allen Betten lagen bleichgesichtige, dürre Gestalten, welche der Tod beinah schon für sich gewonnen hatte; das Wenige, das die Menschen noch auf der Seite der Lebenden hielt, würde sich alsbald in Wohlgefallen aufgelöst haben. Diese Erkenntnis stahl mir ein Lächeln ins Gesicht, das von Doktor F. erwidert wurde, wusste er doch nur zu gut, wonach ich suchte. Während der wenigen Minuten seiner Führung durch die Gänge des Hauses hatten wir kaum eine Handvoll Worte gewechselt, und doch war ich dem Mann so nah wie einem Bruder.
Er ließ mich mit den Todgeweihten allein, und ich hatte die Muße, einen geeigneten Kandidaten auszuwählen. Gewiss kamen sie alle in Frage, aber letztlich entschloss ich mich für einen reglos im Bett liegenden Patienten, der bis zur Nase unter der weißen Decke lag und die Augen geschlossen hielt. Nur kleine Regungen der Lider oder manchmal der Finger verrieten Leben.
Meine Überraschung war groß, als ich die Bettdecke zurückzog und feststellen musste, dass es sich nicht um einen Mann, sondern vielmehr um eine Patientin handelte. Sie schlug die Augen auf, die dunkel wie Kohlestücke waren, und aus den befallenen Lungen stieg ein schauderhaftes Röcheln hervor, das symptomatisch für die Schwindsüchtigen war. Ich glaubte, Erkennen in ihrem Blick zu lesen, doch das konnte nicht sein; nie zuvor waren wir einander begegnet. Möglicherweise, so räumte
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Texte: Klaus Frank
Bildmaterialien: Cover: jimmy brown "Grave Intentions" http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Quelle: http://piqs.de/
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8229-4
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