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Der Kronprinz und das Fräulein

Eines Nachts raste eine Kutsche, bespannt mit zwei schwarzen Pferden, durch den Wald nahe der Stadt Leuenbach. Es regnete stark und der darin sitzende Prinz Callidus rief ungeduldig seinem Kutscher zu: „Ist Leuenbach nun endlich in Sicht?“ Der Kutscher, dessen Name Mario war, antwortete: „Jawohl, da hinten sind bereits kleine Lichter zu sehen!“

Als der Prinz hinausschaute, erblickte er etwas weißlich Leuchtendes zwischen den Bäumen. Er sah etwas genauer hin und erkannte die Silhouette einer Frau: „Mein Gott!“, sagte er leise zu sich. Wenige Momente später erreichte die Kutsche das Hotel, in dem Callidus ein Zimmer gebucht hatte. Die Empfangsdame, eine etwas pummlige Frau im blauen Samtkleid, begrüßte den Prinzen: „Herzlich Willkommen in Leuenbach, Königliche Hoheit! Ich hoffe, Sie hatten trotz des Schmuddelwetters eine angenehme Fahrt hierher.“ Callidus: „Die Anreise war etwas holprig, aber im Wald gibt es halt keine ebenen Straßen wie in der Stadt.“

Der Prinz bezog ein Zimmer, von welchem man bei Tageslicht einen herrlichen Blick auf die etwas erhöht über der Stadt liegende Burg hatte. Am folgenden Morgen traf sich Callidus mit dem Bürgermeister. Die beiden sprachen über finanzielle Dinge, aber auch das Geheimnis der Burg Leuenbach: „Man erzählt sich, dass sie noch immer bewohnt ist.“, merkte Bürgermeister Voss an, „Es ist die Rede von einer jungen Frau, die Nacht für Nacht durch den Wald streift und erst kurz vor Sonnenaufgang sich wieder nach dort oben zurückzieht.“

Callidus dachte kurz über etwas nach: „Gibt es irgendeine Möglichkeit, da hoch zu gelangen?“ Herr Voss schaute aus dem Fenster: „Im letzten Krieg wurde die Brücke über dem Burggraben zerstört – seitdem könnte man nur noch über die Treppen unterhalb des Wachturms nach oben gelangen, aber diese sind mit den Jahren völlig zugewachsen und schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden.“ Prinz Callidus sagte entschlossen: „Dann werde ich derjenige sein, der sie nach dieser unendlich langen Zeit wieder nutzt, um hinauf zu gelangen.“

Der Bürgermeister war von dieser Idee alles andere als begeistert: „Bedenken Sie doch, Hoheit, dass die Treppen zu allem Überfluss glitschig und vielleicht sogar abbruchsgefährdet sind. Ich bitte Sie inständig, nochmals darüber nachzudenken!“ Callidus ließ sich nicht beirren und hielt an seinem Entschluss fest: „Ich habe entschieden, dass ich hinauf zu der Burg steigen und das einsame Mädchen nach Leuenbach bringen werde – vorausgesetzt, die Sage stimmt.“, sprach er laut. Herr Voss gab nach: „Also, gut, ich werde Sie nicht aufhalten, Hoheit.“ Callidus zog sich seine Jacke an, öffnete die Tür auf und verabschiedete sich von Herrn Voss.

Das Schwert, das er immer mit sich trug, half ihm beim Durchqueren des Waldes. Irgendwann entdeckte er an den Felsen, auf denen die Burg stand, viele Steinstufen: „Das muss die Treppe sein!“, dachte er laut, schaute nach oben und erblickte einen Turm – den Wachturm. Herr Voss hatte völlig Recht mit dem, was er ihm erzählt hatte. Nach einem anstrengenden Aufstieg war Callidus endlich auf der Burg angekommen. Er atmete durch und schaute sich um: „Gruselig!“, dachte er. Niemals hatte er sich erträumen lassen, einmal da oben zu stehen.

Von der einst erhabenen Burg aus dem dreizehnten Jahrhundert war nach unzähligen Kriegen nicht viel übrig geblieben. Gräser, Moose und andere pflanzenartige Gewächse bedeckten den Steinboden und die Wände des uralten Turmes. Es begann zu regnen und Callidus suchte im Wachturm Unterstand. Forschend die Wendeltreppe hinaufsehend rief er: „Hallo?! Hallo!! Ist irgendjemand da oben?“ Er merkte, dass jemand hinter ihm vorbeihuschte.

Der Prinz hielt sich seine Jacke über den Kopf, um nicht nass zu werden, und lief über den Hof des historischen Bauwerks. Weiter hinten, kurz vor dem Abgrund, sah er dieselbe Frau, die er am Tage zuvor im Wald erspäht hatte. Er lief zu ihr, um sie näher zu betrachten. Sie drehte sich um und hielt ihre Hände nach vorn: „Halt, bleiben Sie stehen, wo Sie sind!“ Callidus tat, was sie sagte und betrachtete sie so verzaubert, wie als schaue er einen Engel an.

Flucht von der Burg

 Sie hatte silberblonde Haare, kristallblaue Augen und war etwa zwanzig Jahre alt. Callidus war wie hypnotisiert, als er in das junge traurige Gesicht blickte. Ihre Haut wies sehr viele Kratzer, blaue Flecken und Schürfwunden auf. Die Person, die von ihrer Statur her eindeutig eine Frau war, erschien dem Prinzen, geistig noch ein Mädchen zu sein. Er fragte sie nach ihrem Namen, sie antwortete: „Clara; einfach nur Clara. Ich weiß nicht, ob ich einen Nachnamen habe. Meine Eltern wurden von meinem Gebieter umgebracht, als ich noch ganz klein war.“

Callidus: „Wie heißt er?“ Clara wollte antworten, als sie den Mann, um den es ging, hinter dem Prinzen stehen sah. Verängstigt verbeugte sie sich: „Meister, es tut mir schrecklich leid, dass ich unerlaubt eine Pause eingelegt habe, aber ich bin echt kaputt!“ Callidus drehte sich um und sah einen schwarz gekleideten Mann mittleren Alters mir Vollbart vor sich stehen: „Wer sind Sie?“, fragte dieser. Callidus: „Mein Name ist Callidus von Bohlberg, ich bin Kronprinz dieses Reiches – und wer sind Sie, bitteschön?“ Der unbekannte Mann schwieg kurz.

Nach ein paar Sekunden sprach er: „Ich bin Jasmund, der Herr über diese Burg, und mir sicher, dass mich Ihr Vater gut kennt. Sie sind doch der Sohn von König Wendelin, oder?!“ Der Prinz nickte. Jasmund: „Wusste ich’s doch! Ah, wie ich sehe, haben Sie Clara bereits kennengelernt. Sie hilft mir, die Burg Stein für Stein abzutragen. Nur der Wachturm wird stehen bleiben, um die Nachwelt an dieses alte Bauwerk zu erinnern.“ Der Prinz war geschockt. Blitzschnell zog er sein Schwert, stach Jasmund in den Bauch, schwang seinen Umhang um die (abgeschaltete) Stromleitung und ließ sich mit Clara herunterrutschen. Deren Herr blieb schmerzverkrampft liegen. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte er: „Ich krieg dich wieder, Clara!“

Unten angekommen landeten der Prinz und seine „Schutzbefohlene“ unsanft in einem Haufen zusammengerechter Äste und Zweige. Callidus erkundigte sich nach dem Befinden des jungen verschüchterten Fräuleins. Anstatt darauf zu antworten, sprang sie auf und rannte davon, ohne ein Wort zu sagen. Callidus konnte ihr nicht folgen, weil ihm der Rücken wehtat.

Nach ein paar Minuten waren die Schmerzen weg und der Prinz stand auf. Er sah sich suchend um, doch Clara war verschwunden. Wehmütig hielt er sich die linke Hand ans Herz: „Oh, ich hoffe, ihr wird nichts Schlimmes zustoßen!“ sprach er leise und ging zum Rathaus.

Als er dem Bürgermeister von seinen Erlebnissen erzählte, war dieser die Aufregung in Person. Herr Voss und lief wild im Zimmer umher: „Mein Gott, Königliche Hoheit, sind Sie denn noch ganz bei Trost? Die junge Dame findet sich doch hier unten gar nicht zu Recht und … ich bezweifle, ob sie überhaupt Ahnung vom Umgang mit anderen Menschen hat – so einsam, wie sie bis jetzt gelebt hat.“ Callidus nickte: „Genau deshalb gehe ich sie jetzt suchen.“

Mit einem flüchtigen Handschlag verabschiedete sich der Prinz vom entnervten Bürgermeister, zog sich seinen Mantel an und verließ das Haus. Er befragte alle Leute, die er traf, nach Clara, aber niemand wollte sie gesehen haben, bis er zum Müller kam, welcher sagte: „Ich höre schon seit einer Weile komische Geräusche aus dem Lagerraum – vielleicht ist sie es ja.“

Tatsächlich: Zwischen vielen Mehlsäcken kauerte Clara, zusammengerollt wie ein ängstlicher Igel. Callidus bat sie, aufzustehen, was sie jedoch verweigerte: „Lassen Sie mich in Ruhe, Euer Hoheit! Sie haben doch was Besseres zu tun als sich um mich armseliges Wesen zu kümmern.“ Callidus: „Nein, gerade, weil du so armselig und hilflos bist, will ich dir ja helfen.“

Der Müller räumte ein paar Säcke beiseite und der Prinz hockte sich vor die sehr mädchenhafte Frau hin: „Sieh mich an, Clara, bitte!“ Sie tat es und gab Callidus den Blick in ihre verweinten Augen frei, was ihn schaudern ließ: „Dein Anblick ist schrecklich – dir muss geholfen werden. Bitte, komm mit in mein Schloss! Ich bitte dich inständig, meine traurige Schönheit!“ Dieser Bitte kam Clara sofort nach, denn niemand hatte sie zuvor als „schön“ bezeichnet. Der Prinz rief eine Kutsche herbei und fuhr mit ihr rasch in Richtung des Königsschlosses.

Die Königsfamilie

 In der Empfangshalle des prunkvollen Gebäudes traf Callidus zufällig auf seinen Vater, König Wendelin, welchem er seine Begleiterin vorstellte. Der König schaute sie mitleidig an: „Oh, du armes Kindel siehst fürchterlich aus! Du brauchst dringend neue Kleidung.“ Callidus: „Darum kümmere ich mich, Vater. Mach dir keine Sorgen – bei mir ist sie gut aufgehoben!“

Callidus führte Clara in ein großes Gemach, dessen Fenster Ausblick auf den gesamten Garten boten. Sie stand halb geschockt, halb erstaunt da und sagte leise: „So was ist mir nicht würdig, Hoheit! Ich bin doch nur ein einfaches mittelloses Mädchen.“ Callidus ergänzte: „Mit einem so wunderhübschen Antlitz, dass selbst der Vollmond am Himmel dagegen wie ein klitzekleines, meilenweit entferntes Flackerlicht erscheint.“ Heimlich schloss er die Zimmertür ab.

Clara betrachtete skeptisch das große Himmelbett, das mit einem rotweißen Kissen und einer gleichfarbigen Decke bestückt war. Von den verzierten Eichholzstangen hing ein schneeweißer Vorhang herunter, der an allen vier Seiten mit ebenso weißen Bändern befestigt war.

Der Prinz knöpfte langsam Claras Kleid am Rücken auf, als sie sich pfeilschnell umdrehte und ihn wegschubste: „Nein!“, rief sie, „Oh nein, Hoheit, das will ich nicht. Ich kenne Sie doch gar nicht so gut.“ Callidus’ Stimme wurde sanfter: „Wenn zwei Herzen im gleichen Takt schlagen, ist es doch egal, wie gut sich ihre Besitzer kennen. Ich liebe dich und du tust dies sicher auch.“ Die junge Frau wusste nicht, was sie sagen sollte. Verwirrt setzte sie sich aufs Bett.

Callidus: „Ich sehe es dir doch an – du liebst mich – auch, wenn du es nicht offen sagen willst. Zeige es, wenn schon nicht in Worten, wenigstens in deinen Taten!“ Clara. „Oh nein, Hoheit, ich werde mich Ihnen nicht hingeben – niemals!“ Callidus schloss die Tür wieder auf: „Na gut, du hast gewonnen. Jetzt lasse ich dich in Ruhe, aber du wirst schon sehen, dass ich Recht habe. Früher oder später bestimmt. Ich geh jetzt zu meinen Eltern.“ Er verließ den Raum.

Vollkommen fassungslos blieb Clara auf der Bettkante sitzen, bis König Wendelin um Eintritt bat, der ihm gewährt wurde. Er trat mit einem zusammengefalteten Kleid im Arm ins Zimmer und setzte sich neben Jasmunds Ex-Sklavin: „Zieh dich erst einmal um, dann kannst du in den Speisesaal kommen. Du musst unbedingt etwas essen – so abgemagert, wie du bist!“, sprach er und ging wieder raus. Clara starrte sekundenlang gedankenverloren auf das Kleid.

Unterdessen im Speisesaal: Callidus, dessen Mutter Königin Klementine, und seine Schwester Xenia saßen gemeinsam am Esstisch, als Wendelin hinzukam. Callidus fragte hektisch: „Vater, hat Clara das Kleid angenommen?“ Der König setzte sich neben seine Frau: „Ich weiß nicht – sie saß stumm da und starrte Löcher in die Luft.“ Xenia: „Callidus, warum hast du die Kleine mitgebracht? Sie gehört doch gar nicht hierher.“ Callidus: „Oh doch, meine Liebe!“

Wendelin nahm etwas Salat aus der Schüssel, die ihm ein Diener hinhielt, und sprach: „Streitet euch nicht schon wieder! Seit ihr euch kennt, gibt’s Zwist. Von Geschwisterliebe kann wirklich keine Rede sein.“ Klementine: „Oh ja, mein liebster Gemahl, das stimmt allerdings.“

Die Königin legte ihr Besteck parallel auf den Teller: „Das Essen war wieder einmal köstlich!“ Sie tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab: „Also, Callidus, du machst deinem Vornamen momentan überhaupt keine Ehre – all deine Handlungen erscheinen mir alles andere als klug.“ Verrate mir den Grund, warum du dieses verwahrloste Mädel zu uns gebracht hast.“

Callidus schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief laut: „Clara ist nicht verwahrlost – nur unter Umständen aufgewachsen, die ihr nicht würdig sind!“ Xenia: „Hey, beruhig dich mal wieder! Woher willst du wissen, was wem würdig ist?“ Callidus: „Ich weiß es halt.“

Wendelin blieb, im Gegensatz zu den anderen, ruhig: „Mein Sohn wird schon wissen, warum, wieso, weshalb und so. Ich habe vollstes Vertrauen zu ihm.“ Callidus bedankte sich bei seinem Vater für dessen liebevolle Worte: „Das werde ich dir niemals vergessen. Clara wird sich hier sicher gut einleben – dafür garantiere ich.“ In diesem Moment klopfte es an der Tür.

Der Fremde im Park

 Alle Augen waren auf diese gerichtet, als Klementine die noch unbekannte Person zum Eintritt aufforderte. Die Tür ging auf und eine Frau mit offenem blonden Haar und schimmernder Haut betrat in einem himmelblauen Kleid mit weißen Stickereien den Raum.

Prinz Callidus stand überwältigt auf: „Clara, bist du es wirklich?“ Der Rest der Familie schaute ebenso erstaunt drein. Xenia: „Oh, wer hat dich denn so fein hergerichtet?“ Clara zeigte auf ein Dienstmädchen, das schräg hinter ihr stand. Klementine erhob sich flüchtig: „Tanja, das warst du?“ Die Zimmermagd verneigte sich: „Äähhm, ja, Majestät. Mir tat ihr schrecklicher Anblick unsagbar leid – deswegen hab ich sie etwas, … sagen wir, verschönert.“

Mit Erlaubnis des Königs entfernte sich Tanja, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte. Callidus stand da, wie als stünde er vor einem Berg von Diamanten, dann küsste er Clara die Hand: „Du warst vorher schon bildhübsch, aber das setzt dem Ganzen die Krone auf.“

Verschüchtert versuchte Clara ihren ersten Hofknicks, der leider misslang – sie knickste so tief, dass sie sich nicht mehr aufrichten konnte. Callidus half ihr beim Aufstehen: „Mach dir nichts draus. Es reicht aus, wenn du dich nur verneigst.“ Wendelin stand auf: „Wir heißen dich ganz herzlich auf Schloss Bohlberg willkommen und trinken auf dein Wohl.“

Alle nahmen sich Gläser, ein Diener füllte sie mit etwas Sekt und die Familie stieß auf Claras Wohl an. Nachdem jeder einen Schluck getrunken hatte, flüsterte Callidus seiner Auserwählten Folgendes ins Ohr: „Denke nicht, dass du dich ewig drücken kannst!“ Schockiert ließ Clara ihr Glas fallen und rannte aus dem Saal. Xenia: „Was ist denn jetzt mit ihr?“

Die verängstigte Naturblondine versteckte sich im Schlosspark, wo sie von einem jungen Mann bemerkt wurde, der sie verwundert ansprach: „Hey, warum bist du denn so verstört?“ Clara sah ihm in die haselnussbraunen Augen und konnte sich sekundenlang nicht von ihnen lösen. Der Mann, welcher schätzungsweise Mitte zwanzig war, reichte ihr die Hand: „Hi, ich heiße Dario und du?“ Von seinem Blick gefesselt ließ Clara sich von ihm aufhelfen.

Sein Lächeln zauberte auch eines auf ihreLippen: „Glaubst du an das Schicksal?“ Dario fühlte sich etwas überrumpelt: „Wie kommst du denn auf die Frage? Egal. Wenn es positiv für mich ausfällt, klar!“ Von weitem war Callidus’ Rufen zu hören, was Clara unruhig werden ließ. Sie klammerte sich an Dario: „Oh, bitte, beschütze mich!“ Er umarmte sie.

Nach kurzer Zeit stand Callidus den beiden gegenüber und forderte Clara forsch auf, zu ihm zu kommen, was sie kopfschüttelnd ablehnte. Der Prinz zog sein Schwert: „Du kommst sofort her, oder dieser Staatsfeind singt bald mit den Engeln!“ Clara fragte ungläubig nach: „Staatsfeind?“ Callidus bedrängte sie: „Du hast richtig gehört! Na los, wird’s bald?!“

Dario ließ sie los: „Es ist besser, wenn du seinen Anweisungen folgst.“ Callidus zog sie an sich und bedrohte Dario mit den Worten: „Verschwinde, oder der Friedensvertrag ist Geschichte!“ Callidus verließ mit Clara den Park, Dario folgte wenige Schritte hinter den beiden. Kurz vorm Schlosstor blieben die drei stehen. Der Prinz schaute seinen Rivalen mit bösem Blick an, sagte kurz: „Mach dich vom Acker!“ und ging mit Clara zurück ins Schloss.

Das junge Fräulein fragte den Thronfolger: „Warum hast du ihn so kaltherzig weggeschickt?“ Wortlos führte Callidus sie in ein Zimmer, in dem viele Landkarten standen und hingen. Er trat vor eine von denen: „Der Dario ist der Sohn des Fürsten von Montanien. Die Grenze zwischen unseren zwei Reichen verläuft mitten durch den Schlosspark. Vor acht Jahren haben Vater und Fürst Malvin einen Vertrag unterzeichnet, der den Frieden sichern sollte, aber ich zweifle an seinem ewigen Fortbestand, denn ich verachte Montanier aufs Tiefste.“

Clara konterte: „Du spinnst ja! Hat dir irgendjemand von ihnen dir was getan?“ Callidus: „Mh, es geschah, als ich noch zur Schule ging. Damals ermordeten bis heute unbekannte Montanier den Bürgermeister von Bosselheim, der Hauptstadt des Königreiches.“

Rätsel um Callidus

 Clara schüttelte verständnislos den Kopf: „Du kannst doch nicht von ein paar wenigen auf alle Montanier schließen – vom Charakter her, meine ich.“ Callidus: „Was ich kann und, was nicht, ist immer noch meine Sache. Du hast dein Leben bis jetzt auf einer Burg verbracht – du kannst noch nicht wissen, wer gut und, wer böse ist.“ Clara: „Aber…!“ Der Kronprinz unterbrach sie laut: „Nichts aber!!! Halte dich von bloß diesem Dario fern – ich rate es dir!“

Wortlos stürmte Clara aus dem Raum und lief in ihr Gemach, wo sie auf Tanja traf. Überrascht knickste die Dienstmagd vor ihr: „Fräulein Clara, weshalb sind Sie so beunruhigt?“ Clara: „Oh, dieser Callidus; er wertet ein ganzes Volk ab – wegen einer Hand voll Irrer!“

Tanja ahnte, wovon die Auserwählte des Prinzen sprach: „Sie sprechen sicher vom Hass Seiner Königlichen Hoheit auf Montanien. Ich reg mich genau so drüber auf wie Sie. Es ist furchtbar, wie er mit unseren Nachbarn umgeht, nur weil ein paar wenige eine schwere Straftat begangen haben, aber so was ist aber typisch für ihn!“ Clara: „Was meinst du damit?“

Nachdenkend setzte sich Tanja auf einen Stuhl: „Er fiel schon als Kind durch sein nicht gerade normales Verhalten auf. Die Kindermädchen wechselten bei ihm ungefähr so oft wie der Mond seine Gestalt – er biss, schlug oder bewarf sie mit jeglichem Greifbaren. Seltsamerweise haben der König und seine Frau nichts davon mitbekommen. In deren Gegenwart war und ist Callidus immer fromm und deichseltreu wie ein Englein. Ich selbst hab es nicht miterlebt – das weiß ich alles von meiner Vorgängerin.“ Clara: „Der Kerl ist geistig hypergestört!“

Auf einmal stürmte Callidus ins Zimmer: „Sage das nicht noch einmal!“, stieß Clara auf das Bett und trieb Tanja fort. Als das Dienstmädchen weg war, sprach er: „Du kleines Miststück, jetzt höre mir mal zu! Ich habe dich nicht aus den Fängen dieses Verrückten gerettet, damit du mich schlecht machst, sondern, weil ich dich liebe!“ Clara: „Ha, wer hier verrückt ist, bist doch du!“ Er zog sein Schwert und hielt die Klingenspitze an ihren Hals: „Halte deinen vorlauten Mund, du Dreckflittchen! Sag mir, dass du mich auch liebst, oder sonst…!“

Clara geriet in arge Bedrängnis: „Wie könnte man einen Geisteskranken wie dich lieben? Du bist hochgradigst klapsmühlenreif!“ Callidus schmiss sein Schwert weg, riss Claras Kleid auf und fauchte leise: „Du musst mich lieben, weil ich es will! Ich bin der Kronprinz und du bloß ein dummes Mädchen im Körper einer so bildschönen begehrenswerten Frau.“

Sie stieß ihn von sich: „Was weißt du schon über mich? Wir kennen uns erst wenige Stunden und du tust so, als seien es Jahre. Hör auf, mich zu bedrohen und lass mich erst einmal in die Welt unterhalb der Burg hineinwachsen!“ Callidus lachte laut: „Für mich kann’s nicht schnell genug gehen – hiermit ist deine Hineinwachsphase höchstoffiziell beendet!!“

Er wollte Clara packen, aber sie wich ihm aus und stürmte schnell aus dem Raum – direkt in die Arme von Tanja, welche erschrocken stotterte: „Liebe Güte, Fräulein Clara, wie sehen Sie denn aus?“ Sie nahm das verängstigte Wesen mit in ihr Zimmer: „Setzen Sie sich. Was ist mit Ihnen geschehen?“ Clara rollte sich zusammen: „Callidus … ist kein Mensch.“

Tanja setzte sich auf einen Stuhl: „Das denke ich auch. Als ich hier angefangen habe, hielt ich seine Aggressionen für vorübergehende Launen, aber mittlerweile seh ich sie als ernsthaft an. Oh, Fräulein, er hat Sie ja übelst zugerichtet!“ Clara: „Ich weiß nicht, was er hat, aber er muss dringend von einem Arzt behandelt werden.“ Tanja: „Er lässt keinen an sich ran. Wäre er kein Prinz, hätte man ihn schon lägst in die Irrenanstalt gesteckt – lebenslänglich.“

Clara entdeckte das Bild eines jungen Mannes auf dem Nachttisch des Dienstmädchens: „Wer ist das?“ Tanja nahm es in die Hand: „Oh, das ist mein großer Bruder Viktor. Er ist im letzten Krieg zwischen Montanien und unserem Reich gefallen.“ Clara horchte auf: „Wann war das?“ Tanja überlegte: „Vor zehn Jahren – zwei Jahre vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags. Zwischendurch herrschte zwischen unseren Ländern ein Jahr totale Funkstille.“

Verzweiflung und Entschlossenheit

Die Dienstmagd holte aus der Nachttischschublade einen Zettel heraus: „Diesen Brief hat ein General meinen Eltern geschickt.“ Um Fassung ringend las sie ihn vor.

 

Sehr geehrte/r Frau/Herr Kurenko,

 

hiermit spreche ich Ihnen mein tiefstes Beileid aus. Ihr Sohn, Generalmajor Viktor Alexander Kurenko, ist am gestrigen Tag, dem 2. April, in einem Lazarett bei Bazin verstorben.

Laut Bericht des Majors Erik Meson, welcher Ihren Sohn auf dessen letzten Feldzug begleitet hatte, wurde er von einem Mitglied der feindlichen Armee erschossen. Meson verband die Wunde, um ein Verbluten des Generalmajors noch zu verhindern. Dieser überlebte jedoch nicht lange. Eine Krankenschwester stellte wenige Stunden darauf seinen Tod fest.

 

Mit anteilnehmenden Grüßen verbleibe ich

 

General Bruno van Drakshelen

 

Nun konnte Tanja die Tränen nicht mehr zurückhalten. Auch Clara musste weinen: „Wo liegt er denn begraben?“ Mit erstickter Stimme sagte Tanja: „In oder bei Bazin, schätz ich. Oh, wie gern würd ich sein Grab besuchen, aber ich trau es mir nicht. Der Kronprinz hat mich auf dem Kieker seit er mich mal mit Blumen und einem Spaten erwischt hat…!“

Clara ballte verkrampft ihre rechte Faust: „Er muss jedem das Leben schwer machen! Das mit deinem Bruder tut mir unendlich leid.“ Tanja zuckte mit den Schultern: „Ach, ist schon okay. Meine Familie braucht ja das Geld, das ich hier verdiene. Meine Eltern sind arm und unfähig zum Arbeiten.“ Xenia platzte ohne Vorwarnung herein: „Aha, da bist du ja! Was hast du denn in dem Zimmer einer Bediensteten verloren und … wie siehst du aus?!“

Die Prinzessin zerrte die Angebetete ihres Bruders aus dem Raum und stieß die Tür zu: „Mein Bruder erwartet dich bereits!“, fauchte sie aggressiv. Xenia schubste Clara in ihr Gemach, wo der Prinz im Abendmantel vor dem Bett stand. Gelassen sprach er: „Willkommen zurück. Ich habe dich vermisst!“ Clara wollte wieder fliehen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen – Xenia hatte eine große Kommode, die draußen im Gang stand, davor gestellt.

Callidus öffnete langsam das Band and seinem Mantel: „Du willst sicher nicht sterben. Darum solltest du dich mir lieber fügen!“ Verschmitzt grinsend ließ er sein Abendgewand an seinem Körper hinuntergleiten, dann stand er vollkommen nackt vor der nervlich erledigten Clara. Sie hielt sich die Augen zu und quiekte: „La- lass mich, lass mich in Ruhe!“

Unterdessen redete die Prinzessin mit hoher Lautstärke auf Tanja ein: „Wenn du weiterhin im Dienste unserer Familie arbeiten willst, hältst du dich in Zukunft von Clara fern! Die Kleine ist doch es nicht wert, dass du und deine Eltern hungern müssen, oder?!“

Weil Xenia müde war, brach sie das „Gespräch“ ab und ließ Tanja allein. Das Dienstmädchen schaute auf das Bild ihres Bruders und seufzte: „Hach, Viktor, es ist so schrecklich! Ich würde dem Fräulein Clara so gerne helfen, aber mir wird alles Mögliche verboten. Was soll ich tun?“ Für eine Weile schwieg sie, sah danach jedoch umso entschlossener auf und sprach: „Jawohl, das werde ich machen!“ Flüchtig zog sie sich ihre alte löchrige Jacke an.

Sie ging aus ihrem Zimmer, schlich sich die Treppe hinunter, verließ das Schloss und lief in den Schlosspark. Es regnete stark, aber das störte sie nicht. Nach einiger Zeit erreichte sie den Grenzzaun, auf dessen anderen Seite Montanien sich befand, und kletterte mühselig darüber. Sie sagte immer wieder zu sich: „Ich muss Clara helfen, ich muss es tun!“

Die Einladung

Am nächsten Morgen wachte Clara in den Armen des Prinzen auf, aus denen sie sich leise zu befreien versuchte, was der Thronfolger jedoch bemerkte und sie festhielt: „Na, na, wo willst du denn hin?“ Verkrampft lächelnd suchte Clara nach einer Ausrede: „Äh, ich wollte nur zum Fenster rauskucken – es ist doch so ein schönes Wetter draußen.“ Callidus sah hinaus: „Ha, es schüttet wie sau! Das nennst du `schön´? Veräppeln kann ich mich selbst.“

Es klopfte an der Tür – es war Klementine, welche rief: „Calli, komm runter zum Frühstück!“ Callidus rief zurück: „Ja, Mama, ich komm gleich!“ Er flüsterte Clara ins Ohr: „War die letzte nicht wunderschön?!“ Clara: „Auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, ist viel angenehmer.“ Das hörte der Prinz nicht gern – er verpasste ihre eine gepfefferte Ohrfeige.

Wenig später unten im Speisesaal: Callidus führte seine Geliebte wie ein echter Gentleman zu ihrem Tischplatz. Wendelin bewunderte die Höflichkeit seines Erben: „So einen netten jungen Mann findet man nicht überall. Stimmt’s, Clara?“ Die Kronprinzessin in spe nickte verlegen. Ein Diener betrat den Saal und gab sich verbeugend dem König einen Brief.

Wendelin las diesen und sagte dann: „Malvin lädt mich zum Staatsbesuch ein, um den Frieden zwischen unseren Reichen zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Astrid Schreier
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2013
ISBN: 978-3-7309-3688-7

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