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Die undemokratische Demokratie?



Grundrechte hätten, so Alexander Hamilton, einer der Väter der Amerikanischen Verfassung, „nichts mit Verfassungen zu tun, die erklärtermaßen auf der Macht des Volkes beruhen und von seinen direkten Vertretern und Diener ausgeführt werden“.
In seinem 2001 veröffentlichtem Buch stellt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert A. Dahl nun die entscheidende Frage : 'How democratic is the American Constitution?'
In der Nation, die wie keine andere ihre Verfassung als eine Art unantastbares Heiligtum betrachtet, ist allein diese Frage schon recht kontrovers. Die Antwort, die Dahl gibt oder besser, die er zu ergründen sucht steht dabei der kontroversen Frage in nichts nach, weist die Amerikanische Verfassung, 1816 entstanden und bis heute ohne viele Veränderung gültig, doch aus Dahls Sicht etliche Lücken auf. Zugrunde seiner Antwortfindung liegt Dahl dabei die eigene Arbeit im Bereich der Demokratietheorie. Nach Dahls Maximaldefinition muss eine vollkommene Demokratie aktives und passives Wahlrecht garantieren, dazu müssen die Wahlen fair und frei ablaufen. Sie muss das Recht auf Koalition, Assoziation, Information und freie Meinungsäußerung gewährleisten, sowie das Recht der politischen Eliten miteinander um Stimmen zu konkurrieren. Zuletzt müssen Institutionen vorhanden sein, die eine Abhängigkeit schaffen zwischen der Präferenz der Bürger und ihrer Wählerstimmen, und der Politik der gewählten Regierung.
Das keiner der heutigen bestehenden Staaten all diese Kriterien erfüllt, ist in Dahls Arbeit eher nebensächlich und ändert auch nichts an seinen Kritikpunkten an der Amerikanischen Verfassung.
Er ist sich dabei durchaus seiner Position bewusst, die eines später Lebenden mit Erkenntnissen und Erfahrung der folgenden Geschichte und meint deshalb auch: „Judged from later, more democratic perspectives...“, weise die Verfassung der 'Framers', der Verfassungsväter, sieben erhebliche Schwachstellen und kritikwürdige Lücken auf.
Erstens das weitere Tolerieren der Sklaverei, einer Institution, die für die Kooperation der Südstaaten, welche diese als wirtschaftliche Notwendigkeit betrachtete, unerlässlich war und die erst nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg endgültig geächtet wurde.
Dahls zweiter Kritikpunkt ist mit dem ersten eng verbunden, so stellt er doch fest, dass durch die Wahlbestimmungen die Hälfte der Bevölkerung des Landes von den Wahlen ausgeschlossen blieb. Unter ihnen Frauen, Menschen indianischer Abstammung und eben Schwarze, einschließlich der Sklaven. Erst Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts war alle Diskriminierung bei der Wahlbeteiligung aus den Gesetzen getilgt.
Die folgenden drei Punkte beziehen sich auf fehlende Repräsentation und das Problem des Verhältnisses von Bevölkerungsanteil und deren Ausdruck in dieser Repräsentation.
So kritisiert Dahl, dass die Wahl des Präsidenten über die so genannten Wahlmänner erfolgt, die die Verfassungsväter als die „klugen und tugendhaften Männer“ bezeichnen, “die unbeeinflusst sind von der bürgerlichen Meinung“, und welche eigentlich von den Bürgern gewählt werden um wiederum ihre Stimme dem Kandidaten ihrer Wahl zu geben. Dabei folgen sie ihrer eigenen Überzeugung und nicht unbedingt dem Willen der Wähler.
Ein weiteres Problem stellt dabei die Repräsentation dar. Um sich weiter die Kooperation der schwächer besiedelten Staaten zu sichern, bestimmten die Verfassungsväter, dass jeder Bundesstaat,
unabhängig von seinem Bevölkerungsanteil, jeweils durch zwei Senatoren im Senat vertreten ist.
Das diese Ordnung, wie Dahl feststellt, nicht dazu beitrug die Interessen der benachteiligten Minderheiten zu schützen, sondern eher die der privilegierten Minderheiten, zum Beispiel den Sklavenhaltern, förderte die Diskriminierung der Ersteren nur noch immenser.
Die Senatoren wiederum, werden im Abstand von sechs Jahren, von der Legislatur gewählt und sind somit kaum angewiesen, die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung erfüllen zu müssen.
Große Gefahr sieht Dahl auch in der weiten Kompetenz und der quasi grenzenlos durchführbaren Gewaltausübung der Judikative, sprich dem Supreme Court.
Dadurch, dass die Richter des höchsten amerikanischen Gerichts nicht gewählt, sondern auf Lebenszeit ernannt werden und es kaum möglich ist sie abzusetzen, erhalten sie eine Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung und gar der Regierungspolitik wie kaum eine andere Institution in demokratischen Gemeinwesen.
Noch kritikwürdiger fällt dabei für Dahl die Tatsache aus, dass die Richter durchaus verfassungswidrig über Gesetze und Vorschriften walten können, ganz gleich ob diese von der Legislatur und dem Präsidenten abgezeichnet wurden. Diese derartige Machtfülle habe der Supreme Court, nach Dahl, oft ausgenutzt um nationale Politik durch judikale Gewalt durchzubringen; sei also sein eigentlich berechtigtes Veto-Recht zu weit ausgedehnt worden.
Außerdem entbehre diese Macht der viel geringeren des Kongresses, welcher in Form der Regierung kaum Kontrolle und Regulationskompetenz in der Wirtschaft besaß.
Letztendlich meint Dahl, dass auch wenn die Amerikanische Verfassung im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts entstanden sei, ihre Lücken aus heutiger demokratischer Sicht kaum noch hinnehmbar seien. Auch will Dahl mit der Annahme aufräumen, die Verfassung sei allein eine Kopfgeburt großer Männer beziehungsweise Juristen gewesen und stellt klar, dass ohne den Rückhalt und die Annahme von republikanischen Prinzipien und der Fähigkeit eines Volkes sich selbst zu regieren, die Verfassung und deren Idee kaum die Zeit überdauert hätte.
Nicht unerwähnt bleiben sollen in diesem Zusammenhang, die im Laufe der Jahre und Jahrhunderte der Verfassung hinzugefügten Amendments, neutral als Änderung oder wahlweise normativer als Verbesserung übersetzbar; Zusätze der Verfassung, deren bekanntesten ersten zehn 'The Bill of Rights' darstellen und die 1789/90 gerade einmal von elf Staaten unterzeichnet wurde. Dahl erinnert dabei, dass diese bereits Teil der Verfassung gewesen war jedoch von der Mehrheit der Delegierten abgelehnt wurde.
Bis Mitte des zwanzigsten Jahrhundert ließen die weiteren Amendments sowohl die Macht des Kongresses wachsen und ermöglichten Frauen und Nicht-Weißen Amerikaner die Wahl. Der vorerst letzte Amendment setzte 1971 das Wahlalter auf achtzehn Jahre.
Wie also sollten diese Probleme gelöst, diese Lücken gefüllt, diese Schwachstellen behoben werden?
Dahl schlägt vor erst einmal das Denken über die Verfassung an sich zu verändern, wobei der Gedanke nahe liegt den Verfassungspatriotismus der Amerikaner an zu prangern und die lange Zeit der Unantastbarkeit und Glorifizierung einem zwar stolzen, aber trotzdem kritischen Blick weichen zu lassen.
Er ist sich auch durchaus im Klarem, dass allein eine Verfassung niemals eine Demokratie weder im luftleeren Raum noch in einem Land etablieren kann, welches nicht bereits Voraussetzungen für ein derartiges System bietet und so auch nicht unbedingt im Vordergrund stehe die Verfassung neu zu ordenen oder zu verändern, sondern jene Voraussetzungen zu verbessern.
Verfassungen haben für ihn bestimmte Grenzen, die allein den Bürgern ermöglicht nach ihren Rechten und Pflichten zu handeln, ohne in Tyrannei oder Anarchie zu verfallen.
Aber er ist auch der Meinung, dass es Strukturen im amerikanischen System gibt, die sich kaum oder nur mit Mühe ändern lassen. Dies begründet er mit der langen Geschichte dieser Strukturen, die zu sehr im öffentlichen und politischem Bewusstsein verfestigt wären.
Zum einen sei es das föderale System der Bundesstaaten und deren Rolle im Verhältnis zur Regierung und zum anderen das starke Festhalten am präsidentialen System, welches die U.S.A. und deren Bürger so verinnerlicht hätten, dass Dahl eine Veränderung für beinahe unmöglich hält.
Da das Präsidialsystem sich durch Mehrheitswahlrecht auszeichnet, stellt die Tatsache, dass das amerikanische System sich selbst, bei näherem Blick, als eine wirre Mischung, ein Hybrid wie Dahl es nennt, aus Mehrheits- und Konsensusprinzip entpuppt, eigentlich eine Demontage des so verteidigten und viel beschworenen amerikanischen Präsidentialismus dar.
Dahl wünscht sich dabei, obwohl Anhänger des Konsensussystems, die Politik oder künftige Verfassungsreformer mögen sich wenigstens auf eines der Systeme einigen, anstatt die wenigen Vorteile durch immense Nachteile bei der Kombination zu zerstören.
Die Wahl der Senatoren durch die Legislative sucht Dahl mit einer öffentlichen Bürgerwahl zu ersetzen, an deren wahrscheinlichem Erlass er aber selbst zweifelt.
Auch das Repräsentationsproblem, welches der bereits erwähnten Ordnung zugrunde liegt, jeder Staat sei, gleich ob bevölkerungsstark oder nicht, nur von zwei Senatoren vertreten, hält Dahl für beinah unüberwindbar, muss doch damit gerechnet werden, dass keiner der kleineren Staaten der eigenen Beschneidung des Einflusses im Senat zustimmen würde.
In diesem Falle muss natürlich gefragt werden ob eine Demokratie immer nur strikt hingenommen als Regierung der Mehrheit gesehen werden soll, in dem Fall wäre eine Änderung angemessen, oder ob nicht die bestehende Ordnung einen Pluralismus fördert, der nicht die Diktatur einer Mehrheit hinnimmt, sondern einem freiheitlichen Klima der Partizipation eher entgegenkommt? Was hätten schließlich die kleineren Staaten noch für ein Interesse an der Regierungspolitik, die allein durch ihre Quantität nur die eigenen Bedürfnisse verfolgen würde. Um im Sinne der damaligen Federalists zu antworten, seien die „klugen und tugendhaften Männer“ nicht sklavisch dem Willen des Volkes unterworfen, aber mit solcher Vernunft gesegnet, die ihre Entscheidungen immer am Gemeinwohl der Bürger orientiere. War und ist das nicht vielleicht ein wenig zu idealistisch?
Dahl schaut hierbei auf Staaten wie die Schweiz oder Schweden, deren Konsensusprinzip Fuß gefasst hat in einer bereits entwickelten politischen Kultur, die die U.S.A. bereits im Bürgerkrieg vermissen ließ als die Südstaaten ihr Veto-Recht gebrauchten um den Schutz von Bürgerrechten schwarzer Amerikaner zu blockieren. Er spricht also dem amerikanischen System ausreichende Konsensfähigkeit ab, aber das reine Mehrheitsprinzip wiederum birgt natürlich die Möglichkeit sich über Interessen von Minderheiten hinweg zu setzen, so fern diese für eine mehrheitliche Entscheidung keine Rolle spielen. Wenn Amerika also die politische Kultur für den Konsens fehlt und eine reine Mehrheit zu angsteinflößend scheint ist dann nicht am Ende doch der bestehende Hybrid die vorerst geeignetste Lösung?
Dahl meint ja, wenn er denn nur in die Richtung verändert würde, die die Vorteile beider weiter herausstellt, was er aber am Repräsentationsproblem im Senat schon wieder scheitern sieht, in dem Minderheiten Gesetze blockieren, die die Abgeordneten gewählt von einer mehrheitlichen Bürgerschaft auf den Plan setzen. Hier einen Konsens zu erreichen mag, nach Dahl, einigen Senatoren von Minderheiten geradezu erpresserische Optionen bieten.
Er schlussfolgert, das die Verfassungsväter von 1787 bereits in ihrer Verfassung dieser Verwirrung Vorschub lieferten, dass sie das amerikanische Regierungssystem in eben jenen Hybrid drängten aus dem es nun keinen Ausweg mehr zu finden scheint.
Das Fehlen von annehmbaren Mittel, von Dahl Resources genannt, ist ein weiterer negativer Markstein im Lücken-Katalog der Verfassung. Damit spielt er auf die Probleme, gerade in früheren Zeiten, an, die auftraten, weil Wahllokale hunderte Meilen weit weg von den großen Bevölkerungsschichten waren, so beschneide man unterschwellig die Teilhabe ohne sich vorwerfen lassen zu müssen keine demokratischen Wahlen abgehalten zu haben.
Was den Supreme Court betrifft bestreitet Dahl nie dessen Wichtigkeit als verfassungsgerichtliche Instanz, aber fordert, die Judikative nicht zu einer nicht vom Volk gewählten, zweiten Legislative sich ausweiten zu lassen, die über Gesetze entscheidet, die bereits von dem vom Volk gewählten Vertretern der Legislative unterzeichnet und abgesegnet sind. In diesem Punkt sollte die Macht des Supreme Court zugunsten der Legislative beschnitten werden, also seiner eigentlichen Aufgabe gerechter werden.
Trotz der sichtbaren Lücken und Möglichkeiten diese zu beseitigen, bleibt Dahl Skeptiker.
Die mögliche Verwirklichung der meisten Lösungen oder Veränderungen läuft seiner Meinung sogar gegen null. So bedingen viele der Lücken und deren Lösung einander in unentwirrbarer Weise, was es zusätzlich schwer macht sie zu realisieren. So ist beispielsweise eine Direktwahl des Präsidenten unmöglich, wenn der Senat weiterhin unter ungleicher Repräsentation leidet.
Wie Dahl selbst über die sagt, die die Verfassung weiterhin kritiklos als Heiligtum ansehen:
„my pessimism is the mirror image of their optimism.“ Was dem einen sein Zweifel, ist dem anderen seine Sicherheit.
Könnte man den Verfassungsvätern trotz allem immer noch nachsehen, dass sie Kinder ihrer Zeit waren, kann man doch aber nicht entschuldigen warum die heutige amerikanische Politik wider besseren Wissen diese scheinbar überkommene Tradition weiterführt.
So wird auch am Ende die Frage wie demokratisch denn nun die Amerikanische Verfassung ist nicht konkret beantwortet. Es findet sich keine Kategorie wie 'sehr demokratisch', 'weniger demokratisch' oder 'überhaupt nicht demokratisch' und dies ist wohl auch nicht im Sinne Dahls, dem es eher darum zu gehen scheint aufmerksam zu machen, zum Nachdenken anzuregen und die eigene Sicht zu hinterfragen was hinter dem Mythos steht und ihn in die Wirklichkeit zurück zu holen, wo seine angestaubte Attitüde gesäubert wird, denn eines ist doch klar geworden:
Wie demokratisch ist die Amerikanische Verfassung?
In jedem Fall (noch) nicht demokratisch genug.

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Tag der Veröffentlichung: 02.02.2009

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