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Jenseits aller Grenzen

 

»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Lucy Wallace stieg die Stufen zur gläsernen Balkontüre hinauf, wo ihre Nichte Erin sie schon erwartete.

Die zwölfjährige zog den Kopf zwischen den Schultern und nuschelte eine Entschuldigung ohne Lucy dabei anzublicken. Trotz des ausdrücklichen Verbotes ihres Großvaters versuchte sie einen Dämon herauf zu beschwören. Nichts Großes, sondern eher etwas von den Außmaßen einer Maus. Und dennoch viel zu gefährlich für eine Anfängerin.

»Dein Vater sollte dich über das Knie legen und dir den Hintern versohlen.« Mit dem Bannwirken war nicht zu spaßen. Lucy wusste wovon sie sprach, denn seid dem Tag vor acht Jahren, an dem ihre Welt aus den Fugen geriet, hatte sie eine andere Weltanschauung darauf. Wie ein Dornenstachel saß der Schmerz alles gewonnen und doch verloren zu haben noch immer tief in ihrem Herzen. Ohne Hoffnung auf Linderung litt sie tag ein, tag aus. Gefangen in einem gläsernen Labyrient, aus dem sie den Ausgang einfach nicht fand. »Eigentlich habe ich was anderes zu erledigen,« seufzend strich sie über die rechte Jackentasche und tastete nach den Konturen der kleinen Schachtel, ihrem Ausweg aus dieser Hölle.

»Lucy,« jammernd trat Erin zur Seite um sie herein zu lassen. »Hilf mir!« Direkt hinter ihnen schloss sie die Türe, zog die Vorhänge zu und seufzte, als läge all die Last der Welt auf ihren schmächtigen Schultern. »Bitte Lucy, und du darfst es nicht verraten.«

»Mach mal halblang,« sie strich ihr ermutigend über die Schulter. »Das kriegen wir schon hin.« Auch, wenn sie es nicht guthieß, dass Erin ohne Aufsicht herumbeschwörte, verübeln konnte sie es nicht. Der Reiz diese andere Welt mitsamt ihren Bewohnern zu ergründen lag schon immer tief im Wesen der Familie verborgen. Einige vermochten diesem zu widerstehen und andere, nun ja. Doch eines wussten sie alle, dank Lucy. Wer gegen die Regeln verstieß, verlor unwiderruflich seine Bannwirkerfähigkeiten. »Wo hast du deinen Dämon?«

»Im Bad,« seufzte Erin auf. »Ich habe ihn eingeschlossen, für den Fall, dass er weglaufen will. Aber er ist ganz ruhig, ich glaube er badet.«

»Er badet?« Kopfschüttelnd folgte sie ihr durch den hellen Flur. An den Wänden hingen dutzende Bilder von ihrem Bruder und seiner kleinen Familie und sogar vom Rest der Sippschaft. Alle zeigten sie fröhlich und ausgelassen. Nur von ihr hing dort keines.

»Ja. Ich habe gehört, wie er Wasser in die Badewanne hat laufen lassen. Du weißt schon, dieses Rauschen, das sich anhört wie ein Wasserfall. Und wenn man an der Türe vorbei geht, riecht es nach Papas teurem Badeschaum. Ich habe noch nie gehört, dass Dämonen Schaumbäder mögen,« plauderte Erin weiter. »Aber dieser schon. Aber er sieht auch nicht aus wie die anderen Dämonen, die ich mit Großvater gerufen habe.«

»Und wie sieht dieser aus?« So viele Dämonen konnte Erin noch nicht gesehen haben. Sie beschäftigte sich erst seit einem halben Jahr mit dem Bannwirken, und wie sie ihren Vater kannte, begnügte er sich in den ersten Ausbildungsjahren mit niederen Wesen, dessen Kontrolle für einen Anfänger keine Gefahr darstelle.

»Sehr menschlich, aber mit Klauen und leuchtenden Augen. Ich habe nicht so genau hingeschaut. Bin direkt davon gelaufen.«

»Das hast du gut gemacht.« Je näher sie dem Bad kamen desto stärker legte sich das prickelnde Gefühl von Gefahr auf sie nieder, gemischt mit einer sich verbreitender Anspannung zwischen ihren Schultern. Drei Meter vor der Türe blieben sie stehen und lauschten. Aus dem Raum drang keinerlei Geräusch, kein knurren oder plätschern, wie sie es erwartete. Sondern einfach nur - gar nichts.

»Gib mir den Schlüssel,« verlangte sie. »Ich werde mir den Dämon ansehen, und du geh und hol das Notizbuch deines Vaters. Dort müsste etwas drin stehen mit dem wir ihn zurück schicken können.«

»Sei vorsichtig,« als überreiche Erin ihr den heiligen Gral überreichte sie ihr den Schlüssel.

»Das werde ich. Jetzt verschwinde.« Sie wartet noch einen Moment bis ihre Nichte um die Ecke bog, bevor sie sich ihrem Problem widmete. Genauso langsam wie sie an die Türe heran trat bildete sich ein Klos in ihrer Kehle. Das erste Mal seit langer Zeit würde sie einem Dämon begegnen. Doch sie fürchtete sich nicht. Nicht mehr, denn einst zeigte ihr einer von ihnen, dass sie mehr waren, als nur die bösen Diener aus der Hölle. Der Preis für diese Erkenntnis war hoch gewesen und schließlich gab sie alles, was sie liebte, bereuen jedoch tat sie nichts. Sie würde vieles wieder gleich tun.

Lucy atmete ein letztes Mal tief durch, bevor sie den Schlüssel einsteckte und umdrehte. Bedächtig, nicht genau bewusst, was sie auf der anderen Seite erwartete, schob sie die Eichentüre auf.

Feucht und warm schlug ihre die Luft entgegen. Winzige Wassertröpfchen schaukelten als schwereloser Nebel bis zur Decke durch den Raum und schlugen sich auf die Wandfliesen nieder. Am blinden Spiegel rannen vereinzelte Tropfen herunter und sammelten sich auf der Ablage, während sich neue an den Parfümfläschchen ihrer Schwägerin bildeten.

Schwer rann sie um Atem, die Luft brannte in ihrer Lunge. Das Bad glich einem Dampfbad. Der Dämon musste stark sein, wenn er verhindern konnte, dass außerhalb des Raumes niemand vom Innenzustand Kenntnis erlangte. Dies veranlasste sie die Türe hinter sich zu schließen, während ihr Blick zur Wanne wanderte. Ein Berg aus Schaum bäumte sich in die Höhe und verbarg alles darin. Der Verursacher wollte nicht gesehen werden und dennoch wusste sie sehr wohl, dass er dort war. Seine Aura knisterte um ihn herum und fuhr aufreibend über ihre Haut.

»Zeig dich,« fordernd lehnte sie gegen die Türe. Ein dünnes Rinnsal lief kitzelnd ihren Rücken hinab, um sich sogleich im Saum ihrer Hose zu verstecken. Ihre Kleidung begann, bereits nach wenigen Minuten, zu durchfeuchten.

»Siall,« erklang es heiser, als raspele jemand Eisen auf einer Reibe.

Lucys Herz setzte einen Schlag aus. Diese Stimme, die sie selbst im Traum verfolgte und sie mit diesem speziellen Kosenamen rief, erkannte sie sofort. Aber er konnte nicht hier sein, nicht in ihrer Nähe. Dafür sorgte ihr Vater.

»Siall,« erklang es abermals mit mehr Nachdruck.

»Spiel nicht mit mir,« flüstere sie. Gleichzeitig ballte sie die Hände zu Fäusten und presste ihre Fingernägel in das weiche Fleisch ihrer Handballen. Wenn sie nur fest genug zudrückte, würde der Schmerz sie vielleicht aus diesem schrecklichen Traum heraus holen. Zurück in die Realität. Denn dies konnte nur ein Traum sein. Genau wie die anderen unzähligen Male, die sie in ein tiefes Loch aus Depression rissen.

»Habe ich das jemals?« Wasser plätscherte und aus dem Schaum erhob sich die alabasterfarbene Gestalt Halpas. Träge floss der Schaum in dünnen Rinnsalen über seinen flachen Bauch, verfing sich in den feinen silbernen Härchen, die von seinem Bauchnabel in einem dünnen Streifen abwärts liefen.

Mit den Augen fuhr Lucy die hervorstehenden Hüftknochen empor, die seinen Oberkörper zur Taille hin in einem V auslaufen ließen. Wanderte mit dem Blick weiter über die feine rote Narbe über seiner Brust. Die goldenen Ringe, die sich durch seine Brustwarzen zogen bis hin zu seinen Lippen, von denen die untere voller, als die obere war. Oh ja, sie kannte diesen Mann. Jeden seiner körperlichen Makel oder Verzierungen, wie er es nannte. Und sie liebte jede Einzelne davon. Die Erinnerung, wie sie seine Narben mit der Zunge nachzeichnete, malte sich sehr deutlich in ihrem Gedächtnis ab. Aber dies war nicht real.

»Jede verdammte Nacht,« flüsternd schüttelte sie sich und blickte ihm direkt in die schräg stehenden Katzenaugen. »Ich sehne mich so sehr nach dir, dass du mir nun selbst am Tag erscheinst.« Doch noch schlimmer als dieser Tagtraum quälte sie der Schmerz, welcher ihr Herz gefangen nahm und sie glauben ließ, dass auch der Rest nun in tausend Stücke zerbreche.

»Belüg mich nicht!« Seine Stimme kratzte wie Kreide über Schiefer und ließ Lucy unter Schmerzen zusammenschrecken.

»Niemals.« Sich über die Ohren reiben seufzte sie. Diese verfluchten Träume wurden immer realer. Bisher jedoch beschuldigte er sie in ihren gemeinsamen Traumstunden niemals der Lüge. Das musste eine Reaktion ihres Unterbewusstseins sein, dass sie daran erinnerte seid ihrer Bannung keinen einzigen Versuch unternommen zu haben ihn doch noch irgendwie zu kontaktieren.

»Vierhundert Jahre Siall.« Anklagend fixierte er sie mit seinen Augen, die an einen grauen Herbsttag vor dem Sturm erinnerten und nun genauso wirbelten wie Blätter im Wind. »Du hast mich verlassen, mit dem Versprechen zurück zukehren. Aber das hast du nie.«

»Weil ich es nicht konnte,« antwortete sie leise. Ihre Augen brannten und füllten sich mit den ersten Tränen. »Sie haben mir meine Fähigkeiten als Bannwirkerin genommen.« Vor einem Dämon in Tränen auszubrechen gehörte sich selbst im Traum nicht. Auch, wenn diese Höllenkreatur alles war, was sie je begehrte. »Ich darf dich nie mehr sehen,« zwei Schritte trat sie auf ihn zu. Betrachtete den leuchtend silbernen Vorhang aus Haar der an seinen Schultern klebte und sich in verspielten Locken um seine Hüfte kräuselte. »Nie mehr berühren, küssen oder mit dir streiten.« Am Wannenrand blieb sie stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt sah sie zu ihm auf, während ihre Hände sich auf seine glatte Brust legten. »Ich bin verloren. Alleine und Einsam. Alles haben sie mir genommen Halpas. Mein Herz ruht zertrümmert auf dem Grund des Phlegethon und findet nicht wieder zusammen.« Brennend rannen ihr die Tränen die Wange herab, verschwammen sein Bild, das sie trotzig in sich aufzusaugen versuchte. So klar würde er vielleicht nicht mehr lange in ihrem Gedächtnis bleiben. Höchstens noch ein Jahrzehnt, bevor es wie die meisten übrigen Erinnerungen begann sich in einen blinden Fleck aufzulösen.

»Siall,« seine schmalen Hände legte sich um ihre Wangen. »Niemand kann dir dein Herz nehmen.« Halpas beugte sich hinunter, hauchte seinen warmen Atem über ihre Lippen und sah ihr fest in die Augen. »Denn es gehört bereits mir.« Er überwand den letzten Zentimeter zwischen ihnen und presste seine Lippen hart auf die ihren.

Lucys Hand wanderte in seinen Nacken, zog ihn näher an sie heran, während sie dem drängendem Fordern seines Mundes nachgab und den Kuss erwiderte. Er schmeckte so verdammt gut, nach Anis und Rauch, fast wie eine Barbecue-Soße. Wie konnte sie das nur vergessen? All die Jahre erinnerte sie sich nur an seine brennenden Lippen und nicht an seinen Geschmack oder Geruch, der sich wie eine schützende Hülle um sie legte. Und sie alles um sich herum vergessen ließ. Könnte sie doch nur wirklich wieder bei ihm sein.

»Halpas,« murmelte sie in den Kuss, bevor sie sich von ihm löste. Ihre Augen brannten und ihre Lippen schmerzten aufgrund des Verlangens nach ihm. Aber war dies wirklich real? Konnte Erin ihn wirklich versehentlich beschworen haben? Nein, seufzend entzog sie sich seiner Nähe. Ein Dämon wie er, reagierte nicht auf den Ruf einer Anfängerin. Kein zweites Mal.

»Du glaubst immer noch zu träumen?«

»Eine Anfängerin soll dich gerufen haben? Wie wahrscheinlich ist das? Nach unserer Geschichte.« Lucy wich zurück, bis sie die Türe im Rücken spürte. Erleichtert lehnte sie sich dagegen. Ihre Beine fühlten sich schwach und leer an, ganz so, als würden sie jeden Moment den Dienst verweigern.

»Ihr Ruf ist dem deinem sehr ähnlich. Nicht so golden und Funken sprühend, aber ähnlich,« lächelte er und entblößte dabei eine Reihe Haifisch-ähnlicher Zähne. Der Dämon bemühte sich in ihrer Gegenwart menschlich zu wirken, doch sie wusste sehr wohl, dass dies nicht seine wirkliche Gestalt war. »Ich musste diese Chance ergreifen. Wie ich dir schon damals sagte, wenn du nicht freiwillig zu mir zurückkehrst, komme ich dich holen.«

»So einfach ist das nicht.« Lucy rieb sich über den Nasenrücken. Vielleicht war dies doch kein Traum und er stand wirklich leibhaftig vor ihr. Doch wenn dies der Wirklichkeit entsprach, so würde Oskar dies spüren und sich auf den Weg zur ihrer Errettung machen. Dass diese für sie ein Leben in Einsamkeit und Selbstqual darstellte, bedeutete für den obersten Bannrufer ihrer Familie nichts. Ein Mensch durfte keinen Dämon lieben. Und ein Dämon war seiner Ansicht nach nicht in der Lage dazu. Festgefahren in seinem Irrsinn zerstörte er schon vor vielen Jahren ihr Leben.

»Doch ist es.« Wasser plätscherte und schwappte über den Beckenrand, während er herausstieg und sich ihr näherte. »Ich werde dich mit mir nehmen und du wirst bei mir bleiben. So wie es schon vor Jahrhunderten hätte sein sollen.«

»Er wird mich nicht gehen lassen,« flüsternd streckte sie die Arme nach ihm aus. Wenn er wirklich hier war, um sie heimzuholen, so konnte sie beginnen an ein Happy End zu glauben.

»Niemand kann uns im Weg stehen. Er hat es vielleicht einmal geschafft,« unwirsch packte er sie und zog sie zurück an seine Brust. Gefesselt von stahlharten Armen barg sie ihr Gesicht an seinem Schlüsselbein. »Aber ein zweites Mal wird er uns nicht trennen.« Seinerseits vergrub er das Gesicht in ihrem Haar, zog ihren Duft in sich auf und drückte sie an sich, als fürchte er ebenfalls, aufzuwachen und festzustellen, dass er nur träumte.

»Ich wünschte ich könnte dir glauben.« Lucy erfuhr am eigenen Leib, wie mächtig Oskar war. Diese Macht spielte er gnadenlos gegen seine Gegner aus. Auch, wenn diese aus den eigenen Reihen stammten. Man fügte sich ihm oder trug die Konsequenzen. Für Lucy bedeutete dies nicht nur den Verlust ihrer eigenen Magie, sondern auch die Liebe zu ihrem Vater. Als Kind vergötterte sie ihn und als Bannwirkerin eiferte sie ihm nach. Sie liebte ihn, wie niemand anderen zuvor. Doch heute empfand sie keinerlei Gefühle mehr für ihn. Selbst Hass konnte sie Oskar gegenüber nicht mehr aufbringen. Das Einzige was sie noch an Gefühlen besaß vergrub sie tief in ihrem Inneren, bestimmt für den Dämon, den sie glaubte nie wieder zu sehen.

»Habe ich dich jemals belogen, Siall?«

Lucy beugte sich ein wenig zurück und sah ihn mit gehobener Augenbraue an.

»Heute!« Ein listiger Ausdruck huschte über das markante Gesicht. Beide wussten, dass er log, oft sogar, dies gehörte zu seiner Natur. Doch Lucy hatte gelernt damit umzugehen und die Wahrheit hinter seinen Lügen zu erkennen. Eine ihrer Fähigkeiten, die er an ihr schätze und sogleich hasste. In ihrer Gegenwart hatte er das Gefühl ihr alles sagen zu wollen, was auf ihn lastete und ihn beschäftigte. Eine Eigenart, die selbst er nicht zubegreifen vermochte.

»Ich weiß es nicht,« Müdigkeit überfiel sie, all die mühsam zusammengerafften Kräfte rannen von dannen, wie der Sand eines Stundenglases. »Doch ich will dir glauben.«

»Siall,« hauchte Halpas. Er nahm ihre Hand und legte sie auf genau jene Stelle seiner Brust, wo sein Herz schlug. »אתה לבדך שייך הלב שלי, כל עוד זה לא יכה.« Seine Augen begannen silbrig zu leuchten, während er ihre Handinnenfläche fest auf seine Haut presste.

Sofort erkannte Lucy die Worte. Sie wurden nicht oft gesprochen, schon gar nicht in Abaddon. Und nur ein einziges Mal vernahm sie diesen schlichten hebräischen Satz bisher in ihrem Leben. Kurz bevor sie Halpas verließ, um ihrem Vater mitzuteilen, dass sie bei dem Dämon bliebe. Halpas schenkte ihr sein Herz. In der Welt der Dämonen war dies mehr als nur eine Handvoll hüllenloser Worte. Es verband sie miteinander und wurde sehr wörtlich und ernst genommen. Dass er dies nun wiederholte, bedeute ihr sehr viel. In ihrer Brust hüpfte ihr eigenes Herz viel zu schnell auf und ab während erneut Tränen der Rührung ihre Wange hinab rannen. Wie konnte sie nur aufhören an ihn zu glauben? »Auch in tausend Jahren noch?«

»Bis ans Ende der Ewigkeit.«

 

»Lucy!« Die Stimme ihres Bruders Logan trat gedämpft durch die Türe zu ihnen hindurch. Gefolgt vom Versuch mit der Klinke die Türe zu öffnen und gleichzeitig durch kräftige Klopfgeräusche auf sich aufmerksam zu machen. »Lucy!«

»Wie haben keine Zeit mehr.« Regungslos verharrte sie in seinen Armen, nicht in der Lage sich zu rühren. Die Zeit entrann ihnen und holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Oskar wird bald hier sein.«

Er würde weder Lucy jemals freiwillig gehen lassen und ihre Seele aufs Spiel setzen, noch den Dämon, welcher er für ihren Fall verantwortlich machte, davon kommen lassen. Bisher jedoch gelang es ihm nicht, den Abaddonbewohner heraufzubeschwören und zur Rechenschaft zu ziehen.

»Wirst du mich in mein Reich begleiten?« Halpas drückte sie ein Stück von sich fort und blickte ihr forschend in die Augen.

»Sag mir wie?« Sie war bereit für diesen Schritt. Auf dieser Ebene gab es nichts mehr, was sie hielt. Verschmäht und bemitleidet fristete sie ein freudloses und zurückgezogenes Leben. Lucy machte sich nichts vor. Halpas behandelte sie nicht immer so zuvorkommend wie gerade und sicherlich würden sie sich oft streiten und sich die schlimmsten Verwünschungen an den Kopf werfen. Doch wenn sie sich eines sicher war, dann, dass er sich nicht von ihr abwendete, egal was sie anstellte.

»Bring ihn dazu dich in den Limes zu verbannen.«

Lucy schreckte zusammen. »Den Limes? Bist du verrückt geworden?« Einmal im Limes gab es kein Entrinnen mehr. Der Grenzbereich zwischen den Ebenen konnte nicht einfach nach Belieben betreten und wieder verlassen werden. Er fungierte nicht nur als natürlicher Schutzwall, um die die Kreaturen in ihren eigenen Welten zu halten und sie vor fremden Eindringlingen zu schützen, sondern auch als eine Art Universalgefängnis. Dort landete der Abschaum, unwillkommen in der eigenen Welt und in jeder anderer. Verdammt auf einer trostlosen, dürren und von der Zeit verschmähten Ebene zu überleben.

»Nur dort bist du wirklich frei von ihm,« raunte er heiser, während das Klopfen an der Türe durch unterschiedliche Stimmen unterbrochen wurde.

»Halpas,« Lucy trat von ihm zurück und betrachtete den Dämon. »Du kannst den Limes nicht betreten, wenn du nicht dorthin verband wurdest. Und Oskar wird den Teufel tun uns gemeinsam dadurch auf eine Ebene zu bringen. Abgesehen davon, woher soll ich wissen, dass du nachkommen wirst?« Zitternd schlang sie ihre Arme um sich. »Ohne dich überlebe ich dort nicht.«

»Siall,« seufzend strich er sich eine Haarsträhne zurück. »Wie ich sehe, verstehst du immer noch nichts vom Bannwirken. Was in die eine Richtung fließt, fließt auch in die andere.«

»Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Dämon einen Menschen oder einen Bannwirker nach Abaddon beschwören hat.«

»Wir haben keinen Nutzen von euch. Außerdem können es ebenso wie bei den Menschen nur wenige Dämonen. Und jene sind auf ihrer eigenen Ebene gegen die Beschwörung der jeweils anderen Seite immun,« erklärte er. »Nur das hielt mich davon ab, dich rufen zu lassen.«

»Aber ich bin keine Bannwirkerin mehr.«

»Und dennoch fließt dessen Blut durch deine Adern.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Ich weiß, dass macht dir Angst. Doch nur vom Limes aus gibt es eine freie Zukunft für uns.«

Nachdenklich betrachtete sie die dargebotene Hand. Durch den Limes würde ihr Band zu Dumhain, wie die Dämonen die Menschenwelt nannten, zerschnitten und mit dem der Zwischenebene neu verbunden. Oskar konnte sie zwar dann noch rufen, folgen musste sie diesem jedoch nicht mehr. Die Kreaturen im Limes waren wahrhaftig frei von jeglichem Bannwirken oder Zwängen. Dennoch fürchtete sie sich vor diesem Schritt. »Woher weißt du, ob ich dort bin und noch lebe?«

»Wir sind miteinander verbunden. Ich finde dich überall, egal wo du bist. Vertrau mir, es wird funktionieren.«

»Ich hoffe du hast recht.« Sie ergriff seine Hand und flüchtete sich zurück in seine schützenden Arme. Was hatte sie schon zu verlieren? Ein Leben hier oder im Limes, beides konnte nicht schlimmer sein, als den Rest ihres Lebens ohne ihn zu verbringen.

 

 

***

 

 

»Er war es, nicht wahr?!« Oskars Faust schlug auf die lackierte Holzplatte des Tisches auf und brachte den zierlichen Kristallkerzenhalter zum Erzittern. Die Wut brannte rot auf seinen Wangen, als er auf Lucy einredete. »Sag mir die Wahrheit Lucy. Ist er zurück?«

Sie saß ihm gegenüber und ließ stumm seine Worte über sich ergehen, so wie es ein Reh auf weiter Flur mit dem Regen tat.

Natürlich spürte er Halpas auftauchen, und auch noch ausgerechnet im Haus seines jüngsten Sohnes. Zudem lieferte Lucys Anwesenheit ihm den Beweis dafür, dass er richtig damit lag, sich sofort auf den Weg zu machen. Doch er kam zu spät. Als Lucy endlich die Türe zum Bad öffnete, deutete nur noch der schwache Schwefelgeruch auf den Dämon hin. »Lucy, verdammt noch mal rede mit mir! Du spielst hier mit deiner Seele. Willst du wirklich ewige Verdammnis riskieren?«

»Jetzt lass sie doch erst einmal in Ruhe,« Logan stellte eine Tasse grünen Tees vor ihr ab. »Siehst du nicht, wie durcheinander sie ist.« Seine große schwielige Hand fand den Weg auf ihre Schulter. Mit kaum merklichem Druck gab er ihr zu verstehen, dass er für sie da war.

In Lucy zog sich alles zusammen, ganz so, als wolle sich ihr Inneres nach außen kehren. Logan war schon immer der sanftere und ruhigere der Geschwister, doch in der Vergangenheit hielt ihn das nicht davor zurück, sie ebenfalls wie eine Schwerkriminelle zu behandeln. Sein plötzliches Verständnis irritierte sie und sie wurde den Verdacht nicht los, dass er so versuchte an Informationen heran zukommen.

»Ach komm schon, als würdest du sie nicht selbst am liebsten darüber ausquetschen, was dieser Bastard jetzt schon wieder im Schilde führt.« Mit großen Schritten umrundete Gavin, ihr Halbbruder aus Oskars erster Ehe, den Tisch und gesellte sich zu seinem Vater. Neben dem gut zwei Meter großen und mit dicken Muskelsträngen bepackten Mann wirkte selbst ihr nicht gerade schmaler Vater klein. Für gewöhnlich reichte seine körperliche Anwesenheit aus, um Lucy einzuschüchtern. Doch dieses Mal war es anders. Sie hatte einen Plan, ein Ziel, für das sie bereit war alles aufzugeben und niemand, nicht einmal Gavin, konnte sie davon abbringen.

»Woher glaubst du, dass er das tut? Vielleicht war es wirklich nur ein Versehen,« konterte Logan. Selbst nach allem, was geschah, glaubte er immer noch an Zufälle.

»Sie war eine geschlagene Stunde mit dem Vieh im Bad,« fauchte Gavin, bevor er sich an Lucy wendete. »Verrat uns doch mal was du mit ihm solange dort drinnen getrieben hast. Wenn alles nur ein Versehen ist, wie Logan behauptet!«

»Es war kein Versehen.« Entschlossen nicht mehr zurückzuweichen hielt sie seinem Blick stand. »Er kam, um mich zu sehen.«

Im Raum wurde es still.

»Ihr habt mir meine Magie genommen und mir das Leben zur Qual gemacht. Aber das, was zwischen Halpas und mir ist, könnt ihr mir nicht nehmen. Eines Tages werden wir beisammen sein, egal wie sehr ihr euch auch bemüht uns zu trennen, es wird immer einen Weg für uns zueinander geben. Das habe ich heute erkannt.« Innerlich wappnete sie sich gegen den Sturm, welcher ihr bei diesen Worten entgegen brechen würde, und legte sich im Geist die sprichwörtlich dicken Felle um.

»Nicht schon wieder,« stöhnend schüttelte Logan den Kopf. »Hast du denn immer noch nichts gelernt?«

»Beisammen sein! Ihr wollt beisammen sein,« schnauzte Gavin. »Lucy dieses Vieh will nicht mit dir zusammen sein, das kann es gar nicht! Er ist ein Dämon und du bist ein Mensch! Das funktioniert nicht und das weißt du.«

»Ich habe dir deine Fähigkeiten nicht genommen, um dich trotzdem an diesen Halpas zu verlieren,« schrie Oskar und fuhr sich durch das silberne Haar. »Was ich damals sagte, gilt auch heute noch. Du wirst ihn nie wieder sehen, das werde ich verhindern. Ich lasse nicht zu, dass du deine Seele wegwirfst für etwas, das keinen Bestand hat!«

»Das kannst du nicht. Niemand kann das. Denn selbst du kannst nicht trennen, was zusammen sein will. Vier Jahrhunderte Oskar. Vierhundert Jahre hat er auf dieses eine Wiedersehen gewartet. Das tut kein fühlendes Wesen nur aus reiner Langeweile.«

»Lucy er spielt nur mit dir. Einem Dämon darfst du nicht trauen. Aber du warst schon immer naiv genug zu glauben selbst Dämonen hätten etwas Gutes an sich.« Bei all seinen Worten blickte Oskar sein Kind kein einziges Mal in die Augen. Er vermied es regelrecht sie anzublicken. Seid damals fürchtete er sich davor Traurigkeit und Einsamkeit in ihrem Blick zu finden. Denn er wusste ebenso wie sie, dass ihr Leben seitdem den Bach hinunter ging. Und was unternahm er dagegen? NICHTS!

»Vater spar dir das, sie kapiert es einfach nicht!« Gavin wandte sich zum Fenster, die Hände zu Fäusten geballt starrte er hinaus und strafte Lucy ein weiteres Mal mit Missachtung. Selbst Logan floh in seiner Hilflosigkeit aus dem Raum. Einmal mehr wandten sie sich von ihr ab und ließen sie alleine mit ihrem zerrütteten Leben.

»Was habe ich nur falsch mit dir gemacht? Nach dem Tod deiner Mutter hab ich dir alles versucht zu geben, und so dankst du es mir? Dass du dich mit dem Feind verbündest? Ein zweites Mal?«

»Sag mir Vater, nachdem du mir alles genommen hast und du es abermals tun willst, was soll mich noch in diesem Leben halten?« Lucy erhob sich. Oskar war sehr religiös, wenn er nur fest genug daran glaubte, sie sei bereit ihre unsterbliche Seele zu opfern um allem zu entrinnen würde er eine Maßnahme zu ihrer Erhaltung einleiten. Für ihn fuhren Selbstmörder direkt in die Hölle. Und somit ins Reich der Dämonen.

Kopfschüttelnd nahm Lucy ihre Schlüssel vom Tisch. »Du hast mich noch nie verstanden und wirst es vermutlich auch nie. Und auch wenn dir, nein euch allen, die wahre Liebe fremd ist, lasst euch sagen, dass sie nicht einfach zu unterdrücken ist. Glaubt mir, ich hab es versucht. Doch es funktioniert nicht. Mein Herz und meine Liebe gehören Halpas.«

»Und die Liebe zu deiner Familie? Zu mir,« fragte Oskar, den Blick müde auf ihren Schlüssel gerichtet.

»Die hast du schon vor langer Zeit getötet.« Damit wandte Lucy ihnen den Rücken zu und ging.

 

***

 

Drei Tage vergingen seid ihrem Wiedersehen mit dem Dämon. Tage, in denen sie nicht Unnütze daheim herumsaß und sich den Kopf darüber zerbrach, wie es nun weiter ging. Nein, sie begann stattdessen mit den Vorbereitungen.

Ihr Vermögen teilte sie auf ihre Brüder und Erin auf, wobei ihre Nichte den größten Anteil mit circa fünfunddreißig Tausend erhielt. Ihre Wohnung kündigte sie zum nächstmöglichen Zeitpunkt und jene Kleidung und Gegenstände, die sie nicht mehr brauchte, spendete sie der Wohlfahrt. Lucy löste ihr Leben auf, bereit dieses zu beenden und ein Neues in einer fremden Welt zu beginnen.

Nur nachts, wenn sie alleine in der leeren Wohnung wach lag beschlichen sie Zweifel darüber, ob sie das Richtige tat. Würde sie Oskar wirklich dazu bringen können sie in den Limes zu verbannen? Hielt Halpas sein Wort, sie zu finden? Geschweige davon, wie lange sie im Limes überleben konnte. Und was kam danach? Würde sie sich wirklich an der Seite des Dämons behaupten können?

In diesen Momenten rief sie sich Halpas Lächeln ins Gedächtnis und verscheuchte die dunklen Gedanken der Angst erneut enttäuscht zu werden. Alles würde gut werden, sie musste nur fest daran glauben. Und an ihre Liebe.

 

»Was glaubst du, tust du da?« Kaum öffnete Lucy ihre Wohnungstüre nach dem Klingeln stürmte Logan herein. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen ließ er Blitze auf sie niederregnen. In seiner Hand hielt er einen zusammengeknüllten Kontoauszug und schüttelte ihn, wie einen Shaker. »Drehst du jetzt völlig durch?«

»Wenn du das nicht willst, gib es Erin.« Sie schloss die Türe. Äußerlich völlig gelassen zwängte sie sich an dem Riesen vorbei Richtung Küche. »Magst du einen Kaffee?«

»Scheiße Lucy, das sind zwanzig Tausend! Was soll dieser …,« er hielt inne und ließ den Blick durch die leere Küche schweifen. »Verdammte Rattenklöten, deine Wohnung sieht aus, als wäre sie ausgeräumt worden.«

»Das ist sie auch.« Sie nahm eine der letzten Tassen aus dem Schrank und groß ihm ein. »Das meiste ist an die Wohlfahrt gegangen. Den Rest kann später Erin haben oder ihr entsorgt es, das ist mir gleich.«

»Lucy,« in Logans Blick leuchtete Erkenntnis auf. »Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Und wie es das ist. Glaubst du wirklich, ich habe es nur so dahin gesagt, als ich meinte, dass mich in diesem Leben nichts mehr hält? Was habe ich denn schon? Oskar hat mir alles genommen, was mir etwas bedeutet hat. Wenn er mir wirklich alle Möglichkeiten zu Halpas verwehrt, bleibt mir nur noch ein Weg. Und ich bin bereit ihn zu gehen.«

»Du hast uns,« der Kontoauszug segelte zu Boden. Logan packte sie und zwang sie dazu ihn anzublicken. »Wir sind deine Familie und du gehörst zu uns, nicht zu irgendeinem dahergelaufenen Dämon.«

»Ja das seid ihr,« seufzend lehnte sie ihre Stirn gegen seine Schulter. »Ich weiß, ihr wolltet immer nur das Beste für mich. Doch damit habt ihr mich in ein farbloses, tristes Tal verbannt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Denn dort unter all den Splittern und dem Schutt liegt mein Herz begraben und weigert sich zu schlagen. Logan, ich bin nur noch eine leere, zerbrochene Hülle.« Bei diesen Worten wurde ihr das Herz in der Brust schwer. Zum ersten Mal erklärte sie einem ihrer Brüder gegenüber was sie empfand, ohne sofort von ihnen unterbrochen zu werden. Wenn sie ihr nur schon vor Jahren zugehört hätten, wäre ihr Leben vielleicht etwas erträglicher gewesen.

»Heimgesucht von einem Dämon,« seine Arme schlangen sich Halt suchend um ihre Mitte.

»Nein, von der Liebe.« Er verstand es genauso wenig wie der Rest ihrer Familie. Wie sollte er es auch, wo Oskar ihnen seit Kindesbeinen beibrachte, dass Dämonen böse, gewissenlose Kreaturen waren. Immer nur auf ihr eigenes Wohl bedacht. Dieser Glaube saß so fest in ihren Köpfen verankert, dass selbst die Wahrheit ihnen nicht die Augen öffnen konnte. Noch heute fragte Lucy sich, wie sie aus diesem Teufelskreis ausbrechen und Halpas wahres Wesen erkennen konnte.

»Ist die Liebe zu ihm wirklich so stark, dass du dein Leben dafür geben willst?«

»Welches Leben,« zwang sie sich zu lächeln und sogleich Logans Umarmung zu genießen. Sie erinnerte sich nicht daran, wann jemand aus ihrer Familie sie das letzte Mal so hielt. Es war Ewigkeiten her. »Irgendwann wirst du es vielleicht verstehen.«

»Dafür kommst du in die Hölle,« er ließ sie los und brachte einen Meter Abstand zwischen ihnen. »Aber das weißt du sicherlich, nicht wahr?«

»Es gibt Schlimmeres als die Hölle.« Die Wärme des anderen Körpers fehlte ihr und erinnerte sie daran, wie distanziert die Geschwister miteinander umgingen.

»Unsere Familie, das Leben, die Liebe, das hast du jetzt oft genug erläutert.« Seufzend schüttelte er den Kopf. »Dir ist klar, dass ich Vater darüber informieren werden?«

»Was sollte er schon dagegen tun können? Es gibt im Prinzip nur zwei Optionen. Ich töte mich und werfe meine Seele fort oder ich kehre lebend zu Halpas zurück, womit allerdings meine Seele ebenso in Gefahr ist.«

»Und was ist mit der dritten Option?« Logan nahm die Tasse vom Tresen. Mit zwei großen Schlücken leerte er den Kaffeebecher und blickte sie abwartend über den Rand hinweg an.

»Was soll das für eine Option sein? Das ich mein Leben wie bisher weiter friste und am Ende alt und einsam sterbe? Nur damit meine Seele in einen Himmel kommt, von dem niemand weiß, ob er überhaupt existiert? Geschweige davon abgesehen, dass wir überhaupt nicht wissen, was mit uns nach dem Tod geschieht.«

»Lucy, lass dir von uns helfen,« er knallte die Tasse neben die Kaffeemaschinen und einer ungeöffneten Packung Schlaftabletten. »Wir können das wieder in Ordnung bringen. Und in ein paar Wochen oder Monaten wirst du nicht mehr an ihn denken und froh über deine Entscheidung sein.«

»Ich habe acht Jahre gebraucht, um beim Gedanken an ihn nicht sofort in Tränen auszubrechen. Und du glaubst in ein paar Monaten wäre alles erledigt.« Freudlos lachte sie auf. »Ihr wart damals nicht für mich da und werdet es heute auch nicht sein. Und du bist doch auch nur wegen dem Geld zu mir gekommen. Sei ehrlich Logan, wie oft hast du in den letzten drei Tagen an mich gedacht? An mich selber, als Person. Daran was ich durchmache und nicht daran, was Halpas im Schilde führen könnte.«

Die Lippen fest aufeinander gepresst senkte er den Blick.

»Siehst du. Ich interessiere dich nicht wirklich.« Lucy trat vor ihn. Sanft legte sich ihre Hand auf seine unrasierte Wange. »Das ist schon in Ordnung, es belastet mich nicht mehr. Ich kann dich nur um eines bitten Logan. Lass mich meinen Weg gehen, mein Leben so gestalten, wie ich es möchte. Und drück mir nicht ein Leben auf, nur weil du dein Gewissen damit beruhigen willst.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Versuch es einfach. Mehr will ich nicht.« Lucy hob den Auszug zu ihren Füßen auf und reichte ihn ihm. »Nimm das Geld und verwende es für deine Familie. Oder für Erins Ausbildung.«

»Du lässt dich nicht mehr umstimmen?«

»Nein.« Sie wollte Halpas sosehr. Mehr noch als jemals zuvor, nun wo sich eine Möglichkeit für ihre Liebe aufgetan hatte. Ein zurück kam nicht infrage.

»Ich habe dich immer geliebt,« abermals nahm er sie in den Arm und drückte sie fest an sich. »Daran darfst du nie zweifeln.«

»Sei für Erin ein besserer Vater als Oskar es für mich war,« flüsterte sie über seine Worte hinweg.

 

 

***

 

 

Lucy saß im Schneidersitz auf dem Bett. Im Schein der zwei Dutzend Kerzen glitzerte der silberne Riegel der Schlaftabletten schwach in ihrer Hand. Die Heizung ausgeschaltet und das Fenster weit geöffnet wehten die bodenlangen Seidenvorhänge sanft unter dem hereinfließendem Wind ins Zimmer hinein. Im Raum herrschte eine Temperatur unter zehn Grad. Würde sie sich tatsächlich durch die Schlaftabletten versuchen umzubringen, würde die eisige Kälte, welche sich immer tiefer in ihren Körper fraß, ihr dabei helfen schnell den kritischen Punkt zu erreichen.

Auch, wenn sie dies nicht beabsichtigte, wollte sie es so authentisch wie möglich für Oskar gestalten. Denn nur so konnte sie ihn von ihrer Ernsthaftigkeit überzeugen. Für Oskar ging ihr Seelenheil über alles. Selbst über ihre Selbstbestimmung.

Die Bourbonflasche zwischen den Beinen wagte sie sich kaum zu rühren, um sie am Umfallen zu hindern. Der Deckel lag irgendwo auf dem Boden und die ersten Schlücke des Gebräus sammelten sich bereits in ihrem Magen, um sich wie eine Katze dort zusammenzurollen, um Wärme zu verbreiten und sogleich die aufkeimende Nervosität zu vertreiben. Einmal den ersten Schritt gesetzt, würde sie auch den nächsten gehen.

Die Türklingel läutete zwei Mal, bevor sie wummernd aus dem Schloss brach. Oskar erwartete nicht, dass ihm geöffnet wurde, und verschaffte sich sogleich selbst Zutritt zu ihrer Wohnung. Auf keinen Fall durfte er Zeit verschwenden und zu spät kommen.

Schwere und eilige Schritte ertönten und näherten sich dem Schlafzimmer.

»Lucy!« Ertönte Oskars Ruf. »Lucy, wo bist du!«

Sie drückte die erste Tablette aus der Packung und warf sie aus dem Fenster. Runter spülte sie das ganze Geschehen mit einem kräftigen Schluck Bourbon. Brennend suchte sich der Alkohol seinen Weg ihre Kehle hinab, um sich zum Rest zu gesellen.

»Lucy!« Oskar riss die angelehnte Schlafzimmertüre auf. Sofort erfüllte ein kräftiger Windzug den Raum, ließ die Kerzenlichter protestierend aufflackern und nahm die Ruhe mit sich davon. Nun galt es, alles zu geben. »Tu es nicht.« Langsam, mit ausgestreckter Hand näherte er sich dem Bett. Sein azurblauer Blick erfasste sofort die Tabletten. »Das ist es nicht wert. Leg die Tabletten weg.«

Unbeeindruckt nahm sie eine zweite Pille und führte sie zu ihren Lippen. Der beste Bluff funktionierte nicht, wenn sie nicht bereit war ans äußerste zu gehen.

»Gavin,« schrie er nach seinem Sohn und hielt erstarrt inne. »Tu es nicht, Lucy. Ich bitte dich, wir bekommen das wieder hin. Du musst deine Seele nicht für diesen Bastard opfern.«

Sogleich erschien der Gerufene hinter ihm und erfasste die Situation. »Sie meint es ernst. Bist du bereit zu tun, was nötig ist?«

Der Alte nickte und richtete sich auf, sein wettergekerbtes Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Lucy sei vernünftig. Du riskierst ewige Qualen und Schmerzen.«

Ihr Magen zog sich zusammen. Ewige Qualen und Schmerzen waren nichts Neues, diese erlitt sie tagtäglich. Die Tablette wanderte in ihren Mund, eingeklemmt unter der Zunge hüllte sie Lucys Gaumen in ihren Schleier aus pappiger Bitterkeit ein.

»Wenn du nicht nachgibst, werde ich dich in die Zwischenebene verbannen. Dort hin, wo deine Seele sicher vor dem Dämon ist.«

»Ich werde keinen Tag im Limes überleben,« erklärte sie ihm. Das erste Mal seid Langem sah sie ihn direkt und offen an.

»Mag sein. Aber das ist der einzige Weg, wie ich dich retten kann.« Sogleich wandte Oskar seinen Blick von ihren Augen ab.

Lucy erkannte, um wie viel tiefer die Falten um Augen und Mund mit den Jahren wurden. Und wie sehr er mit sich kämpfte, sie nicht einfach loszulassen. Vielleicht gab es in seinem Inneren doch noch einen Funken, der sie liebte, der noch für sie brannte und nicht wie alle anderen erloschen auf dem schwarzen endlosen Grund der Wut und Enttäuschung lag. Doch dieser einzelne Funke bedeutete nichts im Vergleich gegen das Feuer der Inbrunst und des Glaubens ihre Seele retten zu müssen. Aber was bedeutete der Ewige Frieden schon, wenn sie dafür ihre große Liebe opfern musste?

»Du kannst mich nicht retten und auch nicht von ihm fernhalten.« sie lehnte sich zurück in die Kissen, bereit zu gehen. »Aber du könntest mir noch ein letztes Mal in die Augen schauen,« wisperte sie leise mit angespanntem Herzen. Nun gegen Ende ihres irdischen Daseins wünschte sie sich, das er sie noch einmal als seine Tochter, als sein Kind, ansah und nicht als fehlgeleitete Kreatur, die es zu retten galt.

»Er kann weder den Limes noch das Himmelsreich betreten. Du wirst dort vor ihm sicher sein,« Oskar ließ sich seinen Lederbeutel mit den Utensilien reichen. »So ist es das Beste.«

»Für dich oder mich?« Mit der Flasche in der Hand deutete sie auf Gavin, den Stich seiner Engstirnigkeit ignorierend. Was erwartete sie auch schon von ihm? »Und du Gavin? Denkst du ebenso?«

»Ja,« antwortete er einsilbig und sah dabei zu, wie ihr Vater Kreide und eine kleine Messingschale aus dem Beutel hervor holte.

»Das habe ich mir gedacht. Aber du könntest wenigstens danke für das Geld sagen.« Das war typisch Gavin. Kein Wort zu viel und schon gar nicht des Dankes. Immerhin bat er sie nicht um das Geld, sondern bekam es von ihr aufgezwängt. Egal ob sie es noch brauchte oder nicht.

»Du kannst es wieder haben. Ich will es nicht.«

»Dann gib es Erin.« Lucy nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und versuchte den ekelhaften Geschmack der sich auflösenden Tablette davon zu spülen.

Währenddessen zog Oskar ohne die geringste Gefühlsregung zu zeigen seinen Kreis und die entsprechenden Symbole auf den Paketboden. Dies war überflüssig und sollte einzig dem Zweck dienen sie einzuschüchtern. Doch Lucy blieb ruhig, der Gedanke an ihren Liebsten nahm ihr die Angst und erfüllte sie mit einer inneren Wärme. Halpas, bald waren sie wieder vereint.

»Gavin, in den Kreis mit ihr.« Noch immer sah Oskar ihr nicht in die Augen. Auch, wenn dies das letzte Mal sein würde, schaffte er es nicht.

Ihr Halbbruder trat vor, packte sie am Arm und zog sie mit sich, ohne dass sie die Schnapsflasche losließ, um sie im Kreis zu positionieren. »Das ist deine letzte Chance. Lucy sei nicht dumm, noch ist nichts zu spät..«

»Du hast es immer noch nicht verstanden. Für mich gibt es keine Rettung mehr,« als sie dieses Mal vom Gebräu in ihrer Hand nippte, ließ sie es zu, dass der Bourbon die Reste der Tablette mit sich spülte. Gewärmt durch den Alkohol stemmte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste Gavin auf die Wange. »Ich wünsche dir, dass du aufwachst und die Wahrheit erkennst. Und wenn es soweit ist, denk an mich.«

Gavin gab ein Grunzen von sich und trat aus dem Kreis heraus.

»So soll es sein.« Oskar stimmte den fremdsprachigen Gesang für die Zeremonie an. Sogleich flammte der Kreis zischend in leuchtendem Gelb auf, wie die Zündschnur einer Silvesterrakete. Nun konnte sie nicht mehr aus dem Kreis heraus treten.

Lucys Inneres zog sich erwartungsvoll zusammen und überflutete ihre Sinne mit einer Vorfreude, wie sie diese zuletzt bei ihrer ersten eigenen Beschwörung spürte. Und doch konnte sie es nicht verhindern, dass ein kleiner Teil ihres Herzens in schwermütigem Schweigen verfiel. Sie wollte nie, dass alles so zerbrach. Doch all ihre Bemühungen zum trotz kam sie nicht gegen die Sehnsucht ihres Herzens an. Wie war, was sie war. Hoffnungslos der Liebe ins Netzt gegangen.

Oskars Gesang wurde lauter und die Flammen des Kreises höher. Der Boden unter ihren Füßen begann zu vibrieren und zu wirbeln wie ein Tornado, wurde er von oben betrachtet. Zeitgleich stieg ein warmer, körniger Wind vom Wirbel auf und schleierte sie in seine Liebkosungen ein. Riss an ihren Haaren, ihrer Kleidung, ihrem Sein und hüllte sie ein in den Geruch heißen Sandes. Lucy verspürte den Wunsch sich fallen und vom Wispern davon tragen zu lassen. Hinweg in ein neues Leben.

Doch noch war es nicht soweit. Durch die Flammen hindurch blickte sie Gavin an, welcher nun in den Singsang mit einstimmte. Sie waren nie wirklich warm miteinander geworden und meistens ließ er das Arschloch heraushängen. Und doch glaubte sie zu wissen, dass tief in ihm ein guter Kern schlummerte, welcher auf seine Erweckung wartete. Sie wünschte ihm, dass er bald erwachte und seinen Blick aufklarte. Denn dann würde er erkennen, wie falsch sie mit ihrem tun lagen.

Der Wind wurde stärker, übertönte den Gesang und begann ihren Blick zu verschwimmen. Bevor sie sich jedoch dem Sog hingab, warf sie einen letzten Blick auf ihren Vater. Selbst jetzt sah er in ihr nicht sein Kind. Hoffnungslos verstrickt in einem Muster, dessen Maschen er viel zu eng beisammen legte.

Mit geschlossenen Augen stand er da. Die Arme weit ausgebreitet und sang für sie. Er wusste es nicht, doch letztendlich machte er seine Fehler wieder gut, indem er ihr ein neues, ungebundenes Leben ermöglichte. Denn im Limes konnte sie frei sein und selbst wählen, wen sie liebte.

Ein letzter leiser Seufzer entwich ihren Lippen, gefolgt von einem Lächeln, bevor sie sich dem Wind hingab und sich von ihm davon tragen ließ.

 

 

 

*** Ende ***

Impressum

Texte: Askare
Bildmaterialien: Askare
Lektorat: Askare
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2014

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