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Der Anfang

London im März 1851

 

Grau und schwer hing der Himmel von Gewitterwolken und die Gemüter der Menschen waren dem Wetter angepasst. Dunkel und träge drängte sich das Gros der Passanten durch die nassen, überfüllten Straßen. Damen in viel gerüschten Roben, deren Taille akkurat zurechtgeschnürt war, trugen ihre Hüte und reich geschmückten Zylinder mit erhobenen Häuptern. Jene gehören ebenso zur Mode, wie auch aufwendig gearbeitete und verzierte Taschenuhren oder Schmuckstücke. Und auch der betuchte Mann dieser Tage trug Frack oder den Uniformen der Armee nachempfundene Gehröcke. Seltener erblickte man auf den Straßen Tiere mit künstlichen, filigranen Implantaten, oder gar den Tieren nachempfundene Mechapets. Sie waren der oberen Schicht vorbehalten, denn allein ein Mechadetail, wie etwa ein künstliches Ohr oder Auge, kostete mehr, als ein normaler Arbeiter im Monat verdiente. Noch seltener waren mechanisierte Trams, die sich durch Dampfmotoren angetrieben, durch die Straßen schoben. Die günstigere Alternative waren Kutschen, die von anbarisch verstärkten Pferden gezogen wurden.

In dieser Zeit war das Königshaus längst durch Gilden abgelöst worden, die London mit einer Mischung aus Diplomatie und einem größeren Teil Diktatur regierten. Die größte Gilde bildeten die Jäger aus dem Hause Lunsford. Die Linie dieser Familie reichte bis in das Mittelalter zurück und ihre Söhne übten allesamt ausnahmslos das Amt des Jägers aus. Der Jüngste, Aiden Heron Lunsford, hatte seine Ausbildung vor knapp zwei Jahren abgeschlossen und war nun in ebendiesen Straßen unterwegs, um seinem Vater bei der abschließenden Initiationszeremonie gegenüberzustehen.

Zu Beginn seiner Ausbildung hatte man erste Teile seines anbarischen Waffenarmes implantiert, die nach und nach durch zahnradgetriebene Gelenke und Waffenzüge ersetzt worden waren. Alle Teile waren austausch- und entfernbar, sollte Aiden ein Upgrade oder Downgrade wünschen. Die Steuerung seines Waffenarmes geschah ausschließlich mental. Gab er in seinem Gedanken den Befehl zum Schießen, fingen tausende kleiner Zahnrädchen, Kolben und Gelenke an zu arbeiten, Äther zu kanalisieren und durch einen, in seiner Handfläche gebündelten Schuss entweichen zu lassen. Einen Großteil seiner Ausbildung hatte Aiden damit zugebracht, die Steuerung des Armes zu vertiefen und zu perfektionieren. Er, als Jüngster von drei Söhnen, war der Erste und auch Einzige der Kinder des alten Lord Thomas Blasco Lunsford, der seinen Arm nach kürzester Zeit, ohne großartige Unfälle, bedienen konnte. Dem ältesten Sohn, James, war durch einen eigenen Fehler der Arm amputiert und durch einen permanenten Mechaarm ersetzt worden, dessen Funktionen, durch die fehlenden Verbindungen zum Nervensystem, jedoch stark eingeschränkt waren.

Aiden schlängelte sich durch die dahertrottenden Leiber, die allesamt, bis auf ein paar Ausnahmen, vom Regen durchnässt worden waren. Kaum einer kaufte sich mehr einen Regenschirm. Der Mangel an Ressourcen und vor allem an finanziellen Mitteln machte die Menschen träge und vor allem wählerisch. Hinzu kam die ständige Angst vor den Myths. Wesen, deren Existenz bis vor ein paar Jahrhunderten als Hirngespenst und Märchen abgetan wurde, die aber nun zu einer realen Bedrohung geworden waren. Myth war der allgemein verwendete Oberbegriff für Wesen wie: Werwölfe, Vampire, Dämonen und anderer widerwärtiger Kreaturen, die dem Grabe entstiegen waren. Diese mischten sich nun, von ihren äußeren Merkmalen kaum von Menschen zu unterscheiden, unter die Bevölkerung und verbreiteten Chaos und Anarchie. Um dies zu verhindern, waren die Gilden gegründet worden. Sie sorgten für Ordnung auf ihren jeweiligen Gebieten.

Jede Gilde war einer Familie unterstellt worden, deren Hauptanliegen meist in der Vernichtung der Myths lag oder in der Unterstützung, wie Waffenbeschaffung sowie finanziellen Dingen.

Aidens Familie war eine der Ersten gewesen, die sich der Jagd auf Dämonen und anderer mythischer Kreaturen verschrieben hatte und seit etwa zweihundert Jahren stand der Name Lunsford für professionelles Dämonentöten. Die Ausbildung zum Jäger dauerte in der Regel fünf Jahre, von denen drei mit theoretischem Training zugebracht wurden und Zwei der praktischen Ausübung des Gelernten dienten. Am Ende jeder Ausbildung wurde ein Initiationsritus abgehalten, bei dem der Gildenälteste den Lehrling als vollwertiges Mitglied der Gilde akzeptierte.

 

Der junge Jäger versuchte sich so unbemerkt zu bewegen, wie es ihm möglich war. Er sollte auf keinen Fall als Mitglied der Gilde erkannt werden. Deshalb verbarg er seinen Mechaarm wohlgeschützt im Mantel und hatte sich, zur Sicherheit, einen ledernen Handschuh über die rechte Hand gezogen. Sicher war sicher ...

Seinen Blick gesenkt, merkte er zu spät, dass ihm ein großes, nasses Hindernis den Weg versperrte. Vor Überraschung taumelte er einen Schritt zurück, als er den Koloss im Ledermantel erkannte. Aidens Blick wanderte von den schwarzen, Stahlkappen besetzen Stiefeln über die schmutzigen Hosenbeine, hinauf zum Gesicht des Fremden in den er fast hineingerannt wäre. Dunkle Gläser verdeckten die Augen des Mannes und auf seinem Kopf saß ein riesiger Zylinder. Doch auch diese Accessoires täuschten nicht über die wahre Identität ihres Trägers hinweg. Der Jäger spürte die dunkle Aura seines Gegenübers und konnte sie, auch ohne seine Mythgoggles fast sehen.

„Aiden“, grollte es aus der Brust des Fremden. Tief und unmenschlich, jedoch eine Stimme.

Ein leichtes Lächeln stahl sich über das Gesicht des Jägers, als er zu dem Mann aufblickte. Er überragte Aiden um gut anderthalb Köpfe.

„Guten Abend Baka“, erwiderte der Jäger. „Du bist doch nicht etwa auf Ärger aus?“

Baka war Aiden wohl bekannt. Er, als Einziger Myth in ganz London, wurde von den Gilden in Ruhe gelassen, da er ihnen als Informant diente. Er war ein Praetor, ein Kriegsfürst der Hölle und entstammte ursprünglich dem vierten Zirkel. Luzifer selbst hatte ihn, die Gründe hatte Baka Aiden nie genannt, aus der Hölle auf die Erde verbannt, wo er nun sein unsterbliches Dasein fristete. Und Baka war tatsächlich nicht totzukriegen. Oft genug hatten die Jäger versucht ihn zu pfählen, köpfen oder zu verbrennen, doch immer wieder war er nach ein paar Tagen zurückgekehrt. Somit arrangierte sich der Dämon mit den Jägern und gab Tipps, um wenigstens seine, weniger langlebigen, Artgenossen zurück zu ihrem Meister zu verfrachten.

Baka atmete einige Male ein und aus. Weiße Dampfwolken stießen dabei aus Nase und Mund und wurden vom Regen aufgelöst. Der Dämon senkte seinen Kopf, nahm seine Brille ab und starrte Aiden nun mit seinen rot glühenden Augen direkt ins Gesicht. Er musterte ihn lange, schien ihn abzuschätzen und setzte dann zum Sprechen an:

„Du wählst die falsche Seite. Aiden.“ Das tiefe Grollen fuhr durch den Körper des Jägers. Doch er spürte weder Angst noch Zweifel.

„Gehört das schon zum Ritus?“ Aiden stellte die Frage ohne Emotion. Bei Baka musste er vorsichtig sein. Auch wenn er den Jägern als Informant diente, war er trotz alledem ein Dämon, der sich mit Vorliebe von Menschenfleisch ernährte. Meist jedoch reichte ihm das Fleisch frisch Verstorbener. Aiden war einmal, unfreiwillig, dabei gewesen, als Baka sich nährte. Es war eine Erfahrung, die er zu gerne wieder aus seinen Gedanken verbannt hätte. Jedoch ließ ihn die Stimme des Dämons aufblicken, als dieser antwortete:

„Glaub mir, Junge. Das geht nicht gut für dich aus. Da gibt es Dinge, die du noch nicht einmal ahnst.“ Er rang sichtlich nach Worten. „Du wirst danach nicht mehr der Gleiche sein.“

„Aber geht es nicht genau darum?“, fragte Aiden. „Geht es nicht darum, sich vom Rest der Menschen und Myths zu unterscheiden?“ Baka nickte resigniert und setzte die dunklen Gläser wieder auf die Nase. Dann wandte er seinen Blick einmal um und schob den Schoß seines Mantels zur Seite. Riesige hautbespannte Flügel schoben sich unter dem Leder hervor. Die Gelenkknochen mit riesigen Krallen besetzt und die Membranen mit dutzenden Adern durchzogen, boten sie einen imposanten Anblick. Dann sah Baka, etwas länger, in den wolkenbehangenen Himmel. Ein Zepelin schob sich gerade über den Dächern der mehrstöckigen Gebäude hindurch. Der Dämon schätzte offensichtlich seine Flugrute ab, um dem Koloss aus Stahl, Stoff und Gas nicht zu nahe zu kommen.

Ein letztes Mal sah er Aiden an und begann träge aber kraftvoll mit den Flügeln zu schlagen. Etwa zwei Meter über der Straße hielt er inne und streckte seinen Arm aus.

„DAS gehört zum Ritus ...“

Aiden drehte sich herum, um die neue Situation zu erfassen: Mehrere Myths hatten sich ein paar Meter entfernt zwischen den Passanten positioniert.

Langsam, ohne große Eile zog der Jäger seinen Lederhandschuh von seiner Hand. Nahm jeden Finger des Handschuhs in seine Finger und zog behutsam am Leder. Als seine Mechahand von dem Kleidungsstück befreit war, bewegte er jeden einzelnen Finger, um sich von der einwandfreien Funktionalität der anbarischen Ausrüstung zu überzeugen. Dann sah er sich seine Gegner genauer an: Es waren vier. Mindestens zwei von ihnen waren geborene Myths, zwei von ihnen noch sehr jung, oder verwandelt worden.

Es bestand ein großer Unterschied darin, ob ein Myth einer Blutlinie entstammte, oder von einem anderen Wesen infiziert worden war. Geborene Myths brauchten keine Ausrüstung. Sie zierten ihre Körper nicht mit anbarischer Ausrüstung und verließen sich voll und ganz auf ihre mentalen sowie körperlichen Fähigkeiten. Verwandelte Myths waren sehr viel schwächer, als ihre reinblütigen Artgenossen und hatten sich den Vorteil ihrer Mechaausrüstung zunutze gemacht. Oft besaßen sie implantierte Verstärkungsmechanismen, Sicht- oder Wahrnehmungsgeräte anderer Art. So auch die zwei Exemplare vor Aiden. Es waren junge Vampire. Sein geschulter Blick verriet es ihm an der Art, wie sie den Passanten hinterher blickten und sich von ihrem Geruch ablenken ließen, ohne auf ihren Gegner zu achten. Sie würden, trotz ihrer Waffen, schnell auszuschalten sein. Die beiden anderen, ein gehufter Dämon und ein Formwandler, der sich in der Gestalt einer zweibeinigen Echse vor ihm aufbaute, waren um einiges schwieriger zu bekämpfen, jedoch nicht unbesiegbar. Die Passanten waren vorsorglich auf die andere Straßenseite gewechselt. Ihnen waren ähnliche Situationen nicht unbekannt, sodass sie sich aus Konfrontationen dieser Art lieber heraushielten.

Der Formwandler machte den ersten Schritt. Trotz des Regens schimmerten seine Schuppen im Licht der Gaslampen, die in regelmäßigen Abständen auf dem Trottoir verteilt waren. Aiden ahnte seinen Angriff und wich der Attacke des Wesens geschickt aus. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er sich unter den Klauen des Wesens hindurchgeduckt und war hinter der strauchelnden Kreatur in Position gegangen. Seine Hand bewegte sich fast automatisch. Seine Gedanken formten sich zu Energie, dann zu heißer Wut und kurbelten die winzigen Mechanismen seines Armes an. Auch wenn alles nur wenige Momente dauerte, währte die Empfindung für Aiden weitaus länger an. Er spürte, wie sich Äther ausgehend von seinem Mittelfinger, auf dem ein gebranntes Tigerauge die Energie seiner Gedanken bündelte, hin zu seiner Handfläche suchte, um dort als ein kompakter Strahl Energie zu entweichen. Diese Energie entwich bei allen Anwendern anders. Bei seinem Bruder James war es ein Eisstrahl, der Gegner festfrieren oder ihnen großen Schaden zufügen konnte. Seine eigene Waffe war gebündelte Hitze. Es war im eigentlichen Sinne kein Feuer, welches seinen Körper verließ, es war heißer und um einige Grade zerstörerischer, als etwa die Flamme einer Gaslaterne. Dieser Strahl vermochte einen Myth in zwei Hälften zu teilen, ohne dass dieser auch nur eine Chance zur Gegenwehr hatte.

So auch das Echsenwesen vor ihm. Durch den Schwung, den der Myth aufgebaut hatte, lief sein toter Körper noch einige Meter weiter, bevor er auf den nassen Pflastersteinen aufschlug. Ein faustgroßes, qualmendes Loch prangte in Brusthöhe und die drei anderen Kreaturen wechselten ängstliche Blicke.

Die Vampire versuchten es mit ihren eigenen anbarischen Waffenelementen. Es waren Patronengeschütze, deren Feuerkraft kaum an die Durchschlagskraft von Aidens Arm heranreichten. Dennoch nutzten sie ihren Vorteil, nicht in Aidens Nähe kommen zu müssen und versuchten ihn vom Vorhaben des dritten Angreifers abzulenken. Dieser hatte sich von hinten angenähert und versuchte Aiden nun aus dem Rückhalt zu überwältigen. Dennoch war der Jäger auch auf diese Taktik vorbereitet und schaltete die beiden Vampire mit gezielten Schüssen aus, um sich dann dem Dämon zu widmen.

Doch die Reaktion des Gehörnten ließ Aiden stocken. Anstatt sich auf ihn zu stürzen und von hinten anzugreifen, war er stehen geblieben und musterte Aiden aus rot glühenden Augen. Er hob die Arme um seine Kapitulation zu signalisieren und sah ihn an. Seine Züge waren glatt und jugendlich. Der Jäger schätzte ihn kaum älter als sechzehn. Ein Beben durchfuhr den Körper des Dämons, als Aiden seine Hand auf ihn richtete. Tränen sammelten sich in seinen Augen und seine Beine begannen unkontrolliert zu zittern. ‚Das dauert entschieden zu lange‘, dachte Aiden und konzentrierte seine Gedanken auf den Schuss. Der junge Myth war auf die Knie gegangen und verbarg sein Gesicht in den Händen. Ein Schluchzen drang durch das Rauschen des Regens zu Aiden durch und Bakas Worte wirbelten für einen Moment in seinen Gedanken:

‚Du wählst die falsche Seite ...‘ Er schüttelte seinen Kopf. Schuldgefühle durfte man sich in seinem Beruf nicht leisten. Dann sah er den Jungen wieder an und hob seine Hand genau auf Kopfhöhe des Dämons.

„Wird es wehtun?“ Der Junge war im Stimmbruch und seine Worte kaum mehr als ein leises Krächzen. ‚Er ist noch so jung ...‘, drängte ein leiser Gedanke in Aidens Hinterkopf. ‚Kein Mitleid für Myths‘, ein anderer, lauterer. Es war die Stimme seines Vaters.

Dann schoss er ...

 

Der Weg durch die Straßen Londons, vorbei an den alten Herrenhäusern der, ehemals herrschenden, royalen Oberschicht, verlief ohne weitere Vorkommnisse. Wenn diese Auswahl an unausgebildeten Kämpfern seine Gegner für den Ritus sein sollten, dann hegte er einige Zweifel am Sinn der Sache. Doch wie er seinen Vater kannte, hatte dieser sicher noch einige Asse im Ärmel. Der Regen hatte nicht aufgehört und Aiden bis auf die Knochen durchnässt. Er versuchte das kalte Ziehen, dass durch seine Muskeln fuhr zu ignorieren, als er stoppte und die riesige hölzerne Tür zur Residenz der Lunsford Familie aufstieß.

Wie er es erwartet hatte, hatten sich in der Einganshalle einige Myths positioniert. Aiden konnte nur mutmaßen, mit welchen falschen Aussichten sie hier hergelockt worden waren. Denn jeder Myth mied das Lunsford Anwesen und jeder, der es trotzdem wagte zu betreten, kehrte nie wieder Heim. Die Kreaturen, alle vier ebenso jung und unerfahren, wie ihre Vorgänger, lungerten angriffsbereit auf den wenigen Stufen, die in die Empfangshalle führten.

„Das ist er ...“ Hörte Aiden eines der Wesen flüstern und fand sich augenblicklich in einem Kampf wieder. Alle vier bewiesen Mut, das musste Aiden ihnen lassen. Sie waren gleichzeitig auf den Jäger zugestürmt und hatten ihn eingekreist. Doch Aiden gelang es, mit mehreren gezielten Tritten und Schlägen die Myths auszuschalten und sich Luft zu verschaffen. Doch auch dieser Kampf schien durch die Unterlegenheit der Angreifer unausgeglichen zu sein. Was bezweckte sein Vater mit diesem Test? Selbst in der Zeit seiner Ausbildung hatte Aiden um Welten stärkere Gegner kennengelernt und ausgeschaltet. Er ließ die Myths liegen und drückte die Türen zur Halle auf.

 

Der Raum war leer, bis auf einen reich verzierten Stuhl, den Aiden als Kind immer für einen Thron gehalten hatte. Auf diesem Stuhl saß sein Vater. Seine Hände ruhten auf den glänzenden, ledernen Lehnen. Als Aiden den ersten Schritt in den riesigen Raum tat, sah Lord Lunsford auf und lächelte. Seine grünen Augen glitzerten, als er seinen Sohn erkannte. Diese Augen, die auch Aiden geerbt hatte. Eines der wenigen Merkmale, die er mit seinem Vater gemein hatte. Der alte Lord Lunsford erhob sich und hob die Hände zum Gruße:

„Aiden, schön dass du es geschafft hast.“ Der junge Jäger blieb auf der Hut, schaute sich um und lauschte. Thomas Blasco Lunsford war fünfundsechzig und bewegte sich wie ein Greis, doch er hätte als Aidens Bruder durchgehen können. Sein Verhalten jedoch verriet sein wahres Alter, die Art, wie er sich aus dem Stuhl erhob und seinen Jüngsten begrüßte. Langes, dunkelblondes Haar fiel über seine Schultern und in seiner Weste steckte ein goldenes Monokel, dass der Lord zum Lesen benötigte.

„Es erwartet dich noch eine letzte Prüfung, mein Sohn“, begann der Ältere und trat neben seinen Stuhl.

Hinter Aiden wurden die Türen geöffnet und etwa fünfzehn Männer traten herein. Der junge Jäger hatte sich herumgedreht und die Situation schnell abgeschätzt. Mit ein wenig Glück konnte er sie überwältigen, doch ausnahmslos alle blieben stehen und rührten sich nicht. Einige ihrer Gesichter kannte Aiden aus seiner Lehrzeit, sie waren in den Dienst der Gilde Lunsford getreten und hatten sich, so wie er, zu Jägern ausbilden lassen. Doch nur den direkten Nachkommen des Lords war es möglich weiter aufzusteigen und zu ihrem Kommandanten zu werden. Mit einem fragenden Blick über die Schulter sah Aiden zu seinem Vater. Dieser stand, ungerührt, an Ort und Stelle und lächelte wissend.

Ein weiteres Mal wurden die Türen geöffnet und Aidens Brüder traten herein. Jedoch waren James und Denis nicht allein. In ihrer Mitte hielten sie eine junge Frau. Sie war in Ketten gelegt, ihre helle Haut fleckig vom Weinen und die dunklen, einst fließenden, Haare verfilzt und starrten vor Schmutz. Sie trug dieselbe Korsage, in der er sie, vor Tagen, das letzte Mal gesehen hatte.

„Mirelle ...“, brachte er tonlos hervor.

 

Aiden hatte sie vor etwa drei Monaten auf einem Ball der McAllisters kennen und auch lieben gelernt. Unter all‘ den schönen Frauen, war sie ihm durch ihre Einzigartigkeit aufgefallen. Sie trug keinerlei Körperverzierungen und auch keine Mechateile, was in ihrem Stand ungewöhnlich, aber dafür umso anziehender war. Ihre silberne Robe hatte sich perfekt an ihre schlanke Gestalt angeschmiegt. Die Haare waren geflochten und zu einer kunstvollen Frisur gesteckt worden. Doch das Aufregendste an ihr waren die Augen gewesen. In ihrem zarten Gesicht stachen sie heraus, wie zwei Edelsteine. Gelbgolden, wie die Bernsteine, die in seiner anbarischen Ausrüstung verbaut worden waren. Ebendiese Augen verfolgten ihn. Auf dem Ball hatte er kaum ein Wort mit der wunderschönen Fremden gewechselt, hatte sich krampfhaft von ihr ferngehalten und war nach Hause geeilt, um dann von ihr in seinen Träumen heimgesucht zu werden. Sein Vater hatte ihn immer vor Frauen gewarnt, hatte ihm geraten, ihnen fern zu bleiben und vor allen Dingen, sich nicht zu verlieben. Doch er war besessen von ihr. Und er musste sie wieder sehen. Dies erwies sich schwerer, als gedacht, denn Mirelle hatte ihm weder ihren Namen noch ihre Adresse genannt. Doch Lord McAllister kannte die junge Dame und nannte Aiden den Weg. Mit zitternden Knien war er vor ihrem Haus angelangt und hatte seine Finger lange über dem Türklopfer verweilen lassen. Die Entscheidung sich bemerkbar zu machen, wurde ihm schließlich von der Hausherrin persönlich abgenommen, die ihn lächelnd hereinbat.

„Aiden Lunsford, wie schön euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen“, begann sie ungeniert und Aiden blieben die Worte im Halse stecken.

Aus diesem ersten Besuch wurden zwei, dann drei und schließlich besuchte er sie regelmäßig. Er genoss die intimen Momente, in denen sie nebeneinander lagen, er mit seinen Fingern über ihre perfekte Haut glitt und ihre seidenen Haare durch seine Hände rinnen ließ. Er kannte jede Stelle ihres Körpers, jede, noch so kleine Falte ihres Gesichtes, wenn sie lachte und ihre Küsse machten ihn rasend. Bei ihr vergaß er sich selbst, legte seine Verpflichtungen ab und war einfach nur Aiden.

 

Alles schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Mirelle wurden die Hände nach oben gedreht und an einer Kettenvorrichtung festgemacht, sodass sie wehrlos in der Mitte des Raumes stand. Aiden sah, dass sie zitterte. Nicht nur vor Kälte, auch vor Angst, die sich in ihren feuchten Augen spiegelte.

„Was hat das zu bedeuten?“ Aidens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch sein Vater und auch seine Brüder blickten auf.

Der alte Lunsford ignorierte die Frage jedoch und ging langsam auf die hilflose Frau zu. Kurz vor ihr hielt er inne und betrachtete sie mit einem Blick, der lüstern, aber auch tödlich zugleich wirkte. Aiden ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass er seine Knöchel knacken hörte. Er zitterte vor unterdrückter Anspannung und Wut.

Der Lord war noch näher an die halb nackte Frau herangetreten und hob nun eine Hand um sie zu berühren. Langsam fuhren seine Fingerspitzen von ihren Fesseln hinab zur Schulter und verweilten kurz an ihrem Schlüsselbein und kamen dann an ihrer Wange zum Stehen. Mirelles Atem ging schnell und ihre Angst war fast greifbar geworden. Eine kleine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel, doch sie unterdrückte krampfhaft jedes weitere Anzeichen von Schwäche.

Dann hob der Lord seine zweite Hand und hielt Mirelles Gesicht, sanft, jedoch mit Nachdruck in seiner kalten Umklammerung. Er beugte ihren Kopf und küsste sie auf die Mitte der Stirn. Als er seine Hände von ihrem Gesicht löste, waren ihre angsterfüllten Augen auf seine Hände geheftet. Dann wandelte sich ihr Blick in greifbare Panik, als Lord Lunsford plötzlich einen Dolch in seinen Fingern hielt. Mit einer schnellen Bewegung, zu schnell für sein Alter und selbst für Aidens Blick, zog er die Klinge über ihre Wange und trat dann zurück.

„Sieh‘ sie dir genau an, mein Sohn.“

Mirelle hielt ihren Blick gesenkt, selbst als Aiden auf sie zugeeilt war, um die Wunde zu untersuchen. Mit zitternden Fingern hielt er ihr Gesicht, versuchte ihr mit seinen Berührungen zu signalisieren, dass er bei ihr war. Er strich schwarze Strähnen hinter ihr Ohr und betastete vorsichtig den Schnitt. Doch mitten in der Bewegung stockte er. Als er die Wunde berührte, begann sie sich bereits zu schließen. Innerhalb weniger Sekunden war von dem tiefen, blutenden Schnitt nichts mehr zu sehen. Doch in diesem Moment, als er Mirelle als Myth erkannte und wusste, dass seine Aufgabe darin bestand, das einzige Wesen in London zu töten, dass er jemals wirklich geliebt hatte, tat er nichts. Er ignorierte jede Regel, jeden Absatz der Gildengesetze, die er auswendig gelernt hatte und küsste Mirelle. Er konnte die tödlichen Blicke seiner Brüder und die unterdrückte Rage seines Vaters spüren, kümmerte sich aber nicht darum.

„Ich hole dich hier raus“, hauchte er atemlos an ihr Ohr. Doch sie schüttelte nur den Kopf:

„Ich werde dieses Haus nicht mehr verlassen. Töte mich, oder wir sterben beide.“

„Das werde ich nicht zulassen!“ Mit diesen Worten hatte er seine Hand gehoben und an die Ketten gesetzt, doch James hatte schneller reagiert und einen Schuss auf Aidens Waffenhand abgefeuert. Betäubt von Kälte und Schmerz ging der junge Jäger auf die Knie und sah nun verzweifelt, wie sich das Eis seinen Weg von den Fingern bis zur Schulter fraß. Eine Berührung ließ ihn herumfahren.

„Mein Sohn. Ich denke, ich brauche dir die erste Regel der Gesetze der Gilde Lunsford nicht noch einmal rezitieren.“ Die Stimme des Alten war zu einem drohenden Flüstern geworden.

Aiden kannte die Regel, wie er alle Gesetze der Familie in seinem Kopf abgespeichert hatte:

Regel Nummer eins – Vertraue niemals einem Myth!

„Siehst du, was es dir gebracht hat? Du hättest unser bester Jäger werden können. Doch du gibst dich mit diesem Abschaum ab.“ Er spie Aiden diese Worte voller Verachtung entgegen. Nichts von dem Vater, der er einst gewesen war, nichts von seiner einstigen Zuneigung, spiegelte sich im Gesicht des alten Mannes wieder.

„Du kennst die Strafe für dein Vergehen! Du hast die Regeln des Kodex gebrochen und hast dich mit einer Myth eingelassen. Aiden Heron Lunsford, du wirst hiermit aus der Gilde ausgeschlossen!“ Die Augen des Alten waren dunkel vor Zorn und die Mundwinkel angespannt verzogen. Mit fast übermenschlicher Kraft griff er Aiden mit seiner linken Hand am Kragen und zog den Jungen auf die Beine, blickte ihn noch einmal in das Gesicht und setzte seine Rechte auf Mirelles Brust. Stumm musste Aiden mit ansehen, wie sich dunkler Äther in den Edelsteinen der Hand seines Vaters sammelte, um dann in einer gebündelten Kugel zu entweichen. Sie hinterließ keine Wunde, als sie in die Brust der Frau eindrang, doch Aiden konnte den Weg der Energie verfolgen. Ausgehend von der Hand des Alten zogen sich schwarze Adern über die helle Haut Mirelles, krochen bis in die Fingerspitzen und färbten ihre goldenen Augen schwarz. Noch einmal kurz verkrampfte ihr Körper, dann war es vorbei. Ihre Beine erschlafften und ein Wasserfall schwarzer Haare verdeckte ihr Gesicht, als es nach vorne fiel.

Rasend vor Trauer und Zorn, aber unfähig sich aus dem Griff seines Vaters zu befreien musste er mit ansehen, wie James und Denis die Frau aus den Ketten hoben und ihren leblosen Körper aus dem Saal schafften. Auch die Beobachter hatten sich entfernt, sodass der junge Mann und Lord Lunsford alleine waren. James Schuss hatte die rechte Hälfte von Aidens Körper taub werden lassen und er spürte, dass sich die Kälte ihren Weg weiterhin durch seine Muskeln bahnte. Er spürte, dass sie nur noch wenige Minuten brauchen würde, um sein Herz zu erreichen. Der Griff seines Vaters lockerte sich und im Gesicht des alten Mannes erkannte Aiden, dass es ihm gleichgültig war, ob der daraus resultierende Sturz für seinen Sohn schmerzhaft würde.

Eisige grüne Augen blickten auf ihn herab und eine Stimme, die vor Verachtung troff, erreichte Aidens Herz, aber kaum seinen Verstand:

„Du weißt natürlich, dass ich mit dieser Schmach nicht leben kann. Dein Ausschluss aus der Gilde und vor allem deine Liaison mit einer Myth. Ganz London würde sich das Maul zerreißen.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr:

„Ich werde allen sagen, dass sich das Eis nicht mehr aufhalten ließ, dass mein teurer Sohn durch einen Unfall bei seinem Initiationsritus ums Leben kam. Keiner wird es anzweifeln. Es passiert ständig.“ Der Lord war während dieser Worte vor Aiden auf und ab gegangen und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt gehalten, doch nun stoppte er und sah seinem Sohn in die Augen.

„All‘ meine Hoffnungen zerstört, durch deine Triebe. Ich habe dich gewarnt Aiden ... Leb‘ wohl.“

Die Hand des Lords deutete auf die Brust des jungen Mannes und wie in Zeitlupe sah er sich den Äther durch die Edelsteine winden, in einer Kugel sammeln und schließlich in seine Richtung entweichen. Das Letzte, was Aiden wahrnahm, bevor seine Welt von Schmerz und Dunkelheit aufgelöst wurde, war das Splittern von Glas und die Überraschung im Blick seines Vaters ...

 

London im April 1851

 

Stetig prasselte der Regen. Auf seine Kapuze, seinen Mantel und auf die Menschen weit unter ihm. Im letzten Monat hatte es nicht einen Tag gegeben, an dem die Sonne es geschafft hatte, durch die dicke Wolkenschicht zu drängen. Ein Vorteil für ihn, konnte er doch unerkannt und vor allem unbeschadet durch ihre Mitte streifen, um die zu suchen, an denen er sich rächen wollte. Sie hatten ihm alles genommen an das er geglaubt und dass er geliebt hatte und am Ende nahmen sie ihm sein Leben.

 

Baka war gekommen. Baka der Myth, den jeder fürchtete, dem keiner vertraute, den jeder hasste, aber dessen Rat immer jemand brauchte. Baka der Heerführer der Hölle, der Oberste der Wiedergänger, hatte die tote Hülle, die einmal sein Körper gewesen war, aus dem Haus seines Vaters geholt und seine Seele in seinen zerschmetterten Körper zurückgerufen. Doch es hatte seinen Preis. Der Jäger, der einst den dunklen Wesen aufgelauert hatte, war nun selbst Eines geworden.

Langsam griff er in eine der Taschen seines langen Ledermantels und holte eine metallene Maske hervor. Langsam und bedacht jede Anschlussstelle mit seinem Gesicht zu verbinden, setzte er sie auf. Schläuche beförderten eingeatmete Luft durch mehrere Öffnungen gefiltert in seine Lungen und abgeatmete Luft zur Seite aus der Maske heraus. Eine Seite seiner Maske war mit seinem neuen Clanzeichen besetzt. Einem schwarzen Wolf. Baka hatte ihm dieses Zeichen verliehen, hatte gesagt, dass Aiden durch seinen Mut, seine Fähigkeiten und seine Hingabe zu einem neuen Führer der Myths werden konnte.

Die Kapuze tief in das Gesicht gezogen, konnte man nur noch Aidens rot glühende Augen erkennen. Dann verließ er seine Deckung auf dem Big Ben und sprang ...

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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2013

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