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Eine Erzählung von Franz Josef Mundt




Wie ein Schlag hing der Knall der zerberstenden Whisky Flasche noch in der Luft, als der alte Lappe sich auf Tori stürzte und ihr das dolchspitze Ende des Rentier-geweihs in die Seite rammte.
Ein heller Aufschrei folgte – dann lag das Mädchen am Boden und krümmte sich wie ein wund geschossenes Tier. Und neben ihr hockte der Alte vor dem Granitblock, an dem die Flasche zerschellt war, wischte mit schnellen Handbewegungen die Scherben beiseite und begann, den Whisky von Stein und Moosflechten zu lecken.
Die Szene hatte mich gelähmt. Meine Augen irrten zwischen dem am Boden liegenden Mädchen und dem vor dem Stein kauernden Mann hin und her. Meine Gedanken wanden sich; ich begriff nicht; ich war unfähig zu handeln. Irgendjemand muss die Unfallstation in Alta erreicht haben. Vielleicht war ich es. Erst später, als ich neben Tori in dem Ambulanzwagen saß, begannen meine Gedanken sich zu entwirren.
„Sie haben den Notverband gut angelegt“, sagte jemand neben mir.
„Ich?“ schaute ich fragend zurück.
„Ja, ja, natürlich sie!“
Der Wagen raste über die Schotterstraße durch die baum- und strauchlose Landschaft Alta entgegen, dorthin zurück, von wo ich mit dem Mädchen wenige Stunden zuvor gekommen war. Die Stoßdämpfer fingen die Schlaglöcher nur ungenügend auf. Jede Erschütterung zeichnete sich auf Toris Gesicht ab. Ich hielt ihre Hand. Sie lächelte gequält durch den Schmerz hindurch. Auf dem Notverband bildete sich ein roter Fleck.
„Schneller“, schrie ich in das Führerhaus. „Fahren sie doch schneller!“

Einen Tag zuvor hatte ich sie an der Straße stehen gesehen. Es war an jener Gabelung, wo von der großen Nordkap Touristen Route die Schotterpiste ins Innere der Finnmark zum Samen Zentrum Kautokeino abzweigt.
Sie stand da, klein, fast zierlich neben ihrem großen Rucksack, wie ein Kind, das man ausgesetzt hatte, schmut- zige Bergschuhe an den Füßen, in dicken grauen Woll- strümpfen, die herunter gerutscht waren und ein paar Zentimeter der Unterschenkel bis zu den Kniebundhosen frei ließen. Ein viel zu großer Anorak hing um ihre schmalen Schultern, und nur das Kopftuch verriet mir, dass der erhobene Daumen einem Mädchen gehörte.
Ich befand mich auf dem Weg von einer halb beruflich halb privaten Exkursion zum Nordkap, wo ich einige Meter Film Material mit auf- und absteigender Mitternachtssonne belichtet hatte, zurück zu meinem Gefährten, der in Tromsö für einen Bericht über den hohen Norden recherchierte.
Als Fotograf habe ich einen Blick für Außergewöhnliches, und so winkte ich sie heran, während ich die Karte entfaltete, um mich über meinen Standort zu orientieren.
Es war ihr kurzer aber intensiv prüfender Blick durch die Windschutzscheibe, der mich verwundert hoch schauen ließ.
„Nach Süden?“ fragte sie auf Englisch. Ich hörte sofort, dass sie keine Norwegerin war, sondern in ihrer Mutter- sprache redete.
„Okay“, nickte ich, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Ehe ich zupacken konnte, schob sie meinen Zeltsack beiseite und schwang ihren schweren Rucksack in die frei gewordene Lücke.

Meine Augen hingen an dem sich ausbreitenden roten Fleck auf dem Hüftverband, während ich ihren prüfenden Blick auf mein Gesicht spürte. Es war derselbe intensive Blick, mit dem sie mich gestern durch die Windschutz- scheibe betrachtet hatte, nur noch eindringlicher und nicht mehr so verstehend. Ich wich ihren Augen aus.
Wir waren losgefahren und wenige Kilometer später wusste ich, dass sie Tori hieß, dass sie als Doktorandin der Anthropologie und Ethnologie zu Forschungszwecken mehrere Wochen bei einem Stamm der Samen zugebracht hatte und sich nun auf der Heimreise befand. Interessant!
In Alta machten wir Rast. Während wir Kaffee tranken, hörte ich ihrer etwas monotonen aber doch angenehmen Stimme zu, mit der sie vom Volk der Samen erzählte, die als Halbnomaden den äußersten Norden Europas mit ihren Rentierherden durchziehen. Ihre Erzählung wirkte auf mich wie ein Bericht aus einer anderen Welt, in der Friede und Eintracht herrscht und Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Ich schaute, während ich den letzten Schluck Kaffee trank, hinaus auf die Landschaft und sah ein pastellfarbenes Bild, komponiert aus weichen Grün-, Blau- und Grautönen. Wolken hingen über den Hügeln und ließen die Hänge dunkel und schwarzgrün erscheinen. Dort, wo etwas mehr Licht eindrang, bildeten sich hellere, zarte Schattierungen aus Grün bis hinunter zum Fjord, der sich milchig blau ausdehnte, begrenzt vom Dunkel der Bergwand am jenseitigen Ufer. Und aus der Bergwand erhoben sich schneebedeckte Zacken, die sich im Fjord spiegelten.
„Noch eine Tasse Kaffee?“ Tori hatte mich aus meiner Betrachtung gerissen.
„Ja, bitte.“
Mit schnellen Schritten ging sie an den Automaten. Der Kaffee floss in den Plastikbecher, und ich sah, wie sie ein Stück Zucker und viel Milch dazu gab.
„Woher weißt du, dass ich den Kaffee so trinke?“
„Du hast dir den ersten Becher so zurechtgemacht; und da dachte ich, dass du deinen Kaffee immer so trinkst.“
Sie lächelte; ich lächelte zurück und schüttelte den Kopf. Nicht, dass ich den Kaffee anders mochte; es war schon recht so, einfach aus Überraschung darüber, dass sie gleich beim ersten mal so genau hingeschaut und meine Gewohnheit aufgenommen hatte und mich nun entsprech- end bediente.
Mit unschuldigem Augenzwinkern erklärte sie, daran sei nichts Besonderes; die Wochen bei den Samen hätten ihre Sinne geschärft; bei diesem Naturvolk sei solches Verhalten natürlich. „Sie leben miteinander“, schloss sie ihre Erklärung, „sie helfen, ohne um Hilfe gebeten zu werden, sie lesen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen aus deren Gewohnheiten ab; das ist Alltag im Leben der Samen!“
Nachdenklich schlürfte ich meinen Kaffee. „So müssen unsere Vorfahren auch einmal miteinander gelebt haben!“ Es war, als würde ich laut denken. „Früher einmal, vor Jahrhunderten; und warum heute nicht mehr?“
Tori sah mich verwundert an. „Das ist unmöglich“, sagte sie, „unsere Völker sind zu groß geworden, zu zahlreich; bei uns leben zu viele Menschen auf zu engem Raum; deshalb rücken sie innerlich voneinander weg, bauen Mauern um sich und Zäune, lassen die Nachbarn nicht mehr in sich hineinschauen. Nein, bei uns ist ein Zusam- menleben, wie es die Samen noch kennen, nicht mehr möglich.“
Während wir weiterfuhren, gingen mir Toris Worte durch den Sinn. Die Straße führte über weite Kehren aus dem Tal hinauf auf eine kahle Hochfläche. Wie ein weites Meer lag die Landschaft vor uns, ein unendliches Auf und Ab von Hügeln und Senken, das sich in einer grauen Ferne verlor. Runde Rücken wechselten mit Mulden, die von Moorflächen ausgefüllt waren, und bisweilen lagen dazwischen eisblaue Wasserspiegel kleiner Seen. Darüber ein tiefblauer Himmel, dessen Unendlichkeit nach Westen hin von einem dünnen Schleier heller Federwolken unterstrichen wurde. Als breites Band legte sich die graue Asphaltdecke der Straße auf das Land, und daneben spannten sich die dünnen Striche der Telegrafenleitungen als Zeichen menschlichen Besitzanspruches über die siedlungsfeind- liche Weite.
„Das Land der Samen“, Tori deutete umher, „das ist ihr Lebensraum. Nur Straßen und Telegraf fehlen dort, wo sie leben – fehlen noch. Telegraf und Straße, dieses Netz der Zivilisation, das mehr und mehr ihr Land überzieht, es einengt, die Wanderungen ihrer Rentierherden beeinflusst und damit die Nabelschnur durchschneidet, die sie an diese Landschaft bindet, ohne die sie nicht leben können.“
Ich warf einen Blick zu Tori hinüber, sah glühende Augen und wie ein trotziges Kind warf sie eine Haarsträhne aus ihrer Stirn.

Das war gestern, und nun lag sie vor mir auf der Trage – festgeschnallt. Sie schien eingeschlafen zu sein, doch auf jede Erschütterung des Autos reagierten die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern mit heftigen Bewegungen.
Ich forschte in ihrem blassen Gesicht. Die schmalen blutleeren Lippen waren aufeinander gepresst, während die Mundwinkel unentwegt zuckten. Ihr Blutverlust war groß. Ohnmächtig musste ich mit ansehen, wie das Blut immer stärker durch den Verband drang. Ich konnte diesen roten nassen Fleck nicht mehr ertragen. Meine Augen glitten über der kleinen zierlichen Gestalt hin und her und vermieden es ängstlich, am völlig durchbluteten Verband Halt zu machen. Dabei beschlich mich das beklemmende Gefühl, alles falsch gemacht zu haben; ich glaubte sie schon lange zu kennen und doch spürte ich, nichts von diesem Menschenkind zu wissen.

Meine Gedanken wanderten einige Stunden zurück bis dorthin, als wir von der Hochebene ins Tal des Altafjords hinab fuhren. Am Horizont hatte sich eine dunkle Wolkenwand aufgebaut. Irgendwo war die Sonne. Sie sandte ihr Licht zu den hoch schwimmenden Federwolken und ließ sie rot erglühen. Zugleich drangen ihre Strahlen unter der Wolkenwand hindurch und überzogen das ferne Ufer des Fjords mit einem ockergelben Lichtband. Die hohen Federwolken spiegelten sich zartrosa auf dem Wasser, das unendlich ruhig vor uns lag.
Als wir den Fjord erreichten, brach die Sonne unter der Wolkenschicht hervor und tauchte alles rings umher in eine solche Fülle von Licht, als wolle sie auch den letzten Winkel dieser Urlandschaft erfassen und ausleuchten. Wir machten Halt. Ich wollte die Landschaft genießen und einige Aufnahmen machen.
Wie lange war sie nun bei mir? Zwei, drei Stunden, länger nicht. Sie hatte viel erzählt; ich glaubte ein dickes Buch über das Leben und die Kultur der Samen gelesen zu haben, mitsamt Interpretation und Kommentar.
Ich ging mit meiner Kamera zwischen den großen Granitblöcken am Ufer umher. Immer wieder schaute ich durch den Sucher. Das eingesetzte Teleobjektiv bot prachtvolle Bildausschnitte. Wohin ich auch schaute, jedes Bild schien mir lohnend. Immer wieder drückte ich den Auslöser. Ich schwenkte am Ufer entlang, stellte auf die glatt gewaschenen Granitblöcke scharf und dann kam Tori ins Bild.
Am Rand des Wassers hockte sie sich nieder, zog Schuhe und Strümpfe aus, streifte den Pullover und das Hemd ab und wenig später sah ich durch das 200 mm Tele ihre knabenhafte Gestalt, ihre weiße Haut und die kleine sparsame Bewegung, mit der sie den Slip über die Füße streifte. Sie trat ins Wasser, bückte sich, wischte mit den Händen darüber, so als wolle sie etwas vertreiben, bevor sie schöpfend hinein griff und begann, sich mit dem eiskalten Wasser zu waschen. Ich hörte sie laut prusten und schnaufen; die Kälte schien ihr den Atem zu nehmen. Doch immer wieder griff sie ins Wasser, verteilte es mit schnellen kreisenden Bewegungen über ihren Körper, wusch die Arme, die Brust, den Leib – sie war ein herr- liches Motiv, diese kleine im Eiswasser sich waschende Nymphe mit ihrer schneeweißen Haut, dem lang herab- hängenden aufgelöstem Haar, eine Erscheinung von solchem Kontrast zu der sie umgebenden Urlandschaft, wie er größer nicht denkbar war.
Mein Finger lag auf dem Auslöser, aber ich betätigte ihn nicht. Ich drückte den kleinen Knopf nicht hinunter aus Angst, sie könnte das Geräusch des Verschlusses hören, aufmerksam werden und verärgert sein. Und so betrach- tete ich nur das Bild vor mir und ihre Gestalt, die das Teleobjektiv greifbar nah vor mein Auge zog.
Sie stieg aus dem Wasser, schüttelte sich und lehnte sich gegen den schräg aufragenden Granitbuckel, der, von der Sonne beschienen, Wärme abstrahlte. Sie hob ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen, und ich sah, wie die wärmenden Strahlen ihren Körper trockneten. Wie Tau hingen noch eine Weile winzige Tröpfchen an den Haaren ihres Körpers und einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, als umspielten sie die Farben des Regen- bogens.
Ich ließ die Kamera sinken, steckte sie in die Tasche und machte mich auf den Weg zu ihr hinüber. Ich tat möglichst unbefangen, als ich auf sie zuschritt. Sie sah mich mit hellen Augen an. „Na, schöne Bilder gemacht?“ Ein hintergründiges Lächeln lag in ihrem Gesicht und während ich antwortete, „mal sehen, ich hoffe“, griff sie ihre Sachen und zog sich mit ruhigen Bewegungen an. Dabei plauderte sie munter. „Ein herrliches Bad, das erste seit nahezu vier Wochen; und die Luft und die Sonne auf dem Körper – einfach wunderbar.“
„Du brauchst dich meinetwegen nicht anzuziehen“, warf ich etwas hilflos dazwischen.
Ein tadelnder Blick streifte mich. „Oh nein, ich ziehe mich nicht deinetwegen an; es wird kühl.“ Sie schaute suchend umher. „Machen wir ein Feuer!“
Es klang halb wie eine Frage, halb wie ein Befehl und sofort begann sie, Holz zu suchen. Wir fanden ein wenig Treibholz, das hinreichend trocken war, schichteten es zwischen den Felsbrocken in einer Mulde zurecht und mit Hilfe einer Feuerpaste, die ich auf solchen Touren immer im Gepäck hatte, knisterte nach einiger Zeit ein ansehnliches Feuer. Die Sonne war hinter die Bergwand gesunken, aber ihr Licht erhellte noch alles ringsumher und wir wussten, dass es die Nacht über so bleiben würde, da es zu dieser Jahreszeit im hohen Norden nie richtig dunkel wird.
Später schliefen wir, jeder in seinem Schlafsack, dicht neben dem Feuer, wie vom Spielen müde Kinder. Tori hatte Moos und Flechten auf die Glut geschichtet. „Das ist gut gegen die Moskitos“, hatte sie gesagt, „so schützen auch die Samen sich und ihre Rentiere, wenn die Plage im Sommer überhand nimmt.“ Der weißgraue Rauch hing ruhig über unserem Lager.

Tori öffnete die Augen. Der Ambulanzwagen hatte einen Schlenker gemacht, um einem Schlagloch auszuweichen. Der Schmerz hatte sie geweckt. Ich sah, dass sie Mühe hatte, die Augen geöffnet zu halten. Ich drückte ihre Hand. Weit konnte es nicht mehr sein bis Alta. Ich sagte es ihr. Sie lächelte schwach. „Wir schaffen es“, sagte ich. In meiner Stimme lag wenig Überzeugungskraft.
„Warum hast du das getan?“, hauchte sie. Dann schlossen sich ihre Augen wieder.

„Nein!“, hatte dieser kleine Mund gerufen, „keinen Whisky für ihn – gib ihm keinen Whisky! Schnaps ist ihr Verderb!“
Zornig war sie mit dem Rentiergeweih in den Händen hinzugekommen, als sie hörte, wie ich mit dem alten Mann verhandelte.
Ich hatte das kleine Lager weit voraus am Straßenrand gesehen, gar nicht lange, nachdem wir von der Rast am Fjord aufgebrochen waren. Die drei Zelte, mit ihren an der Spitze zusammen gebundenen Birkenstämmen, um die die Tierhäute gebunden waren, standen wie zufällig am Wegesrand; und davor das Holzgestell mit den darüber gespannten Rentierfellen, den ärmellosen Jacken mit ihren bunten Stickereien und den kleinen Beinschnitzereien.
Tori hatte mich fragend angeschaut, als ich den Wagen an der kleinen Souvenir Station stoppte. „Mal sehen, was deine Samen uns zu bieten haben“, hatte ich lachend gesagt.
„Das sind keine Samen“, hatte sie erwidert, „das sind Küstenlappen vom Stamm der Vidda. Sie leben vom Fischfang und mehr und mehr von diesem kleinen Souvenirhandel mit den Nordkap Touristen. Ihre Felle beziehen sie von den Samen!“ So hatte sie mich wieder einmal ins Bild gesetzt, hatte mir mit wenigen Worten die Zusammenhänge erklärt. „Well“, hatte sie hinzugefügt, „kaufe ein Fell, wenn es dir gefällt.“
Ein kleiner alt und krank aussehender Mann kroch aus einem der Zelte. Sein breites Grinsen unter den hervor- stehenden Wangenknochen rückte die schmalen Augen- lider noch enger zusammen, während er mit unsicherem o-beinigem Gang auf uns zukam. Zwei Zahnstümpfe steckten noch in seinem oberen und einer im unteren arg geschundenen Zahnfleisch. Der Mann war nahe an uns herangetreten und hielt ein großes graubraunes Fell in die Höhe. Aus der Nähe sah ich, dass er längst nicht so alt war, wie es auf den ersten Blick schien; allenfalls 30 Jahre mochte er sein.
Der Reihe nach ließ ich mir alle Felle zeigen, während Tori bestickte Gürtel durch ihre Hände gleiten ließ, Taschen in die Hand nahm und die ausliegenden Beinschnitzerein betrachtete. Der Mann raunte in einem undeutlichen Englisch Preise. Sie lagen erheblich unter denen in den Touristenzentren des Nordens, in Tromsö oder in Bodö, schienen mir aber dennoch zu hoch zu sein, wahrscheinlich, weil ich gar keine ernsthaften Kaufab- sichten hatte.
Der kleine Mann in seiner blauen, rot-weiß bestickten Jacke bemerkte meine Unschlüssigkeit und ich sah Resignation in seinen Augen. Ich zuckte entschuldigend die Schultern, wollte mich gerade abwenden, da hörte ich gepresste Worte:
„Whisky, have you Whisky?“
Ich schaute in sein Gesicht, sah aschgraue Haut und eine Zunge, die breit über seltsam rote Lippen glitt.
Tori, die einige Meter entfernt stand, ein Rentiergeweih in den Händen, warf beim Wort >Whisky< den Kopf herum. Der Mann streckte mir ein prächtig gemustertes Fell entgegen, während er gurgelnde Laute hervorstieß, dazwischen immer wieder das Wort „Whisky“.
„Fantastisch!“ rief ich zu Tori hinüber, „dieses Fell für eine Flasche Whisky, wenn das kein Geschäft ist!“
Sie kam langsam mit dem Geweih in der Hand auf mich zu.
„Tue es nicht, bitte nicht, gib ihm keinen Whisky!“
„Warum nicht, - ein besseres Geschäft gibt es gar nicht!“
„Schau ihn dir an; er ist ja schon ein Wrack; was meinst du, was er mit dem Whisky macht?“ Ihr ausgestreckter Arm deutete auf den Lappen, während sie mich eindringlich ansah. „Er trinkt die Flasche aus; auf der Stelle wird er sie austrinken; und dann wird er völlig betrunken herum- liegen, ein zwei Tage lang. Er wird nichts verkaufen! Vielleicht stiehlt man seine Felle und seine Familie muss hungern!“
Ich zuckte die Schultern. „Aber es ist ein zu gutes Geschäft, meine Liebe; sag ihm, er soll die Flasche langsam trinken!“ Damit drehte ich mich um, ging zum Wagen und holte aus dem Kofferraum die Flasche.
„Bitte nicht“, kam es noch einmal flehend von ihren Lippen und dann stieß sie mit Zorn in der Stimme hervor: „Hast du denn gar nichts gelernt, seitdem wir zusammen sind?“
Der Lappe hatte die Auseinandersetzung verfolgt und offensichtlich verstanden. Mit zwei Schritten war er bei Tori, riss ihr das Geweih aus den Händen und schob sie mit verächtlich aufgeworfenen Lippen beiseite. Beim Anblick der Whiskyflasche richtete er seine Gestalt hoch auf, kam zu mir herüber, in der einen Hand das Geweih, in der anderen das Rentierfell. Er legte mir das Fell über den Arm und griff die Flasche, während seine Zunge hörbar schnalzte. Flink drehte er den Verschluss ab und hob die Flasche an den Mund.
Da sprang Tori herbei, entriss ihm die Flasche und schleuderte sie mit einer kurzen heftigen Bewegung zu Boden. Ehe ich eingreifen konnte, stürzte sich der Lappe mit dem Geweih auf das Mädchen.

Wie ein Alptraum lastete die Szene immer noch auf mir, während ich in einem weißen Raum der Krankenstation von Alta saß und meine Augen an der Tür hingen, hinter der Tori auf der Trage verschwunden war.
Nach einer Ewigkeit kam ein Mann im weißen Kittel. „Wir haben Glück gehabt; wir hatten Konserven ihrer Blutgrup- pe im Depot; sie wird durchkommen; sie muss aber so schnell wie möglich in ein Hospital. Der Hubschrauber aus Tromsö ist schon unterwegs.“
Als ich sie zwei Tage später im Hospital besuchte, war da wieder dieser intensiv prüfende Blick. Dann schüttelte sie langsam den Kopf und sagte: „Es war von Anfang an nicht richtig!“

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Tag der Veröffentlichung: 30.03.2009

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