Vor einem Jahr ging sein größter Wunsch in Erfüllung. Er selbst bezeichnete sich als glücklichsten Mann auf der Welt. Es war der Tag, an dem Leon dachte, sein Glück für immer gefunden zu haben. Es war der Tag seiner Hochzeit.
Mit Laura wollte er den Rest seines Lebens verbringen, sie beschützen, lieben und ehren, bis dass der Tod sie scheiden würde.
Doch es kam alles anders.
Sechs Monate nach ihrer Trauung geschah etwas Unvorhersehbares.
Etwas Schreckliches.
Etwas, was sich Leon in seinen kühnsten Träumen nie hätte vorstellen können.
Ein Unfall. Ein Unfall, der alles veränderte.
Ein Unfall, der ihr gemeinsames Glück zerstörte.
Dieser Tag brach wie ein unerwarteter Sturm in sein Leben, was ihn seither nicht mehr klar denken ließ. Schuldgefühle, Schmerz und Hass waren seine ständigen Begleiter seit dieser einen Nacht, in der ihm das Liebste genommen wurde, was er jemals hatte.
Warum? Warum wurde ihm das angetan? Was hatte er falsch gemacht, um so bestraft zu werden? Fragen über Fragen, auf die Leon selber keine Antwort finden konnte.
Jede endlos scheinende Nacht kam ihm wie ein Jahrhundert vor, welche er allein und verlassen zu Hause verbrachte, sich im Ehebett niederließ, nur um noch einmal daran zu denken, wie es wäre, wenn Laura neben ihm liegen würde. Stets hatte er ihren Duft in seiner Nase und jedes Mal, wenn er auf die leere Matratze blickte, lag sie schlummernd und mit einem Lächeln in ihrem Gesicht seitlich und den Arm um seine Hüften geschmiegt.
„Mein Liebster“, flüsterte sie leise.
Leon rückte näher an sie heran, legte sachte seinen Arm um ihre Taille und lauschte ihrem sanften Atem und schloss die Augen.
„Mein Liebling“, hauchte er und strich liebevoll über ihren Rücken. „Ich liebe dich so sehr.“
„Ich liebe dich auch, Leon“, entgegnete sie, öffnete ihre Augen und blickte ihren Liebsten an.
Leon spürte ihre Blicke und erlaubte sich, ebenfalls die Augen wieder zu öffnen, um in ihr hübsches Gesicht zu sehen.
„Warum? Warum hast du mich verlassen?“, sprach er zu ihr und konnte seine Blicke nicht von ihr lassen. „Ich liebe dich so sehr… Ich wollte mit dir mein ganzes Leben verbringen!“
„Aber ich habe dich nicht verlassen!“ sprach sie ruhig, führte ihre Lippen zu den seinen und küsste ihn zärtlich.
Dann fuhr sie fort: „Ich habe dich nicht verlassen, Leon. Ich bin hier, ich bin nun hier bei dir und ich werde nicht mehr von dir gehen!“
„Du hast mich verlassen“, schluchzte er. Seine Lippen bebten und mit jedem Verlust der warmen Tränen, die seine weichen Wangen befeuchteten, zitterte er immer mehr am ganzen Körper.
Laura hielt ihn fest umschlungen, tröstete ihn mit lieben Worten und küsste gelegentlich seine Stirn.
Bis sie wieder verschwand, sich in Luft aufgelöst hatte und Leon allein ließ. Das geschah nach ihrem Tod jede darauf folgende Nacht. Doch Leon machte sich keine besonderen Gedanken darüber. In jenem benommenen Zustand in dem er sich befand, war dies kein Wunder… Und der Alkohol spielte dabei auch eine große Rolle.
Er konnte es einfach nicht lassen, seine Trauer mit Alkohol zu unterdrücken, was ihm sein bester Freund stets versuchte auszureden. Doch vergebens.
Laura war bei ihm, Tag und Nacht lag sie wie gewöhnlich neben ihm, küsste und liebkoste ihn. Und für Leon war dies real, alles für ihn war real. Er konnte sie hautnah spüren und anfassen. Ihm überkam ein bekanntes Frösteln, das ihm über den Rücken lief, wenn er ihre zarten Lippen auf den seinen spürte. Es war für Leon ein unbeschreibliches Gefühl, sie bei sich zu haben, obwohl sie tot war!
Wie konnte es sein, dass er sie sehen und spüren konnte, obgleich sie tot und bereits beerdigt war?
Aber dies war nur ein Blitzgedanke, der ihm widerfuhr, er verdrängte ihn schnell und gab sich ganz und gar ihrer Liebe hin. So wie zu damaligen Zeiten, als sie noch ein Mensch war.
Die Tage vergingen, selbst die Jahre schwanden dahin. Und Leon lebte sein Leben weiter.
Ohne Laura. Doch in seinen Träumen war sie immer bei ihm; wie gewöhnlich besuchte sie ihn jede Nacht, ließ sich neben ihn nieder und beschenkte ihren Liebsten mit zahlreichen Küssen.
Leon war dem Alkohol entkommen, musste aber feststellen, dass Lauras nächtliche Besuche keine Träume waren. In all ihrer Pracht zeigte sie sich vor ihm, lächelte sanft und sagte: „Ich liebe dich, Leon.“
Das war wahrhaft kein Traum und auch keine Einbildung.
Es war Realität.
Die Zeit flog dahin und eines Nachts geschah es dann. Leon hatten keinerlei schlechte oder misstrauischen Gefühle geplagt, aber doch spürte er dieses seltsame Gefühl in seinem Bauch. Er mochte es nicht gar als unheimlich oder böse beschreiben, doch auch nicht gut. Es war mehr mittendrin. Dachte er zumindest so.
Es war nach Mitternacht. Es war die Zeit, wo Laura immer kam. Sie würde diesmal wieder zu Leon kommen und sagen, wie sehr sie ihn lieben würde und sie immer bei ihm sein werde.
Doch in dieser Nacht ward es anders.
Leon ließ sich in den schweren Sessel fallen, sah gespannt auf die Uhr und erhoffte Lauras baldigen Besuch. Er beobachtete konzentriert den Zeiger, der in regelmäßigen Abständen um das Zifferblatt wanderte.
Zwei Uhr vorbei.
Keine Laura.
Die Wanduhr schlug drei Uhr.
Keine Laura.
Die Minuten zogen dahin und Leon hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
Er wusste, sie würde kommen! Seine Liebe und sein Glaube waren stark genug, ihren Besuch sehnsüchtigst zu erhoffen und in die Realität umzusetzen…
Leon musste kurz eingenickt sein, denn als sein Wunsch in Erfüllung ging und Laura hoch gewachsen und in einem leicht bekleidetem Gewand vor ihm stand, war es kurz vor Morgengrauen.
„Meine Liebste“, flüsterte er erfreut, stand auf und umarmte sie. „Ich wusste, du würdest kommen! Ich wusste es.“
Laura schwang sanft ihre Arme um seine Hüften und seufzte. „Mein Liebster, ich komme immer zu dir. Allein deswegen, um dich sehen zu können. Aber es ist Zeit.“
„Zeit? Für was ist es Zeit?“ fragte er erstaunt und küsste ihre Stirn.
„Für mich ist es Zeit, von dir zu gehen, Leon.“
„Von mir zu gehen?“ wiederholte er verwirrt. „Aber, aber… warum solltest du von mir gehen? Ich liebe dich! Du kannst nicht von mir gehen!“
Sie löste sich aus seinen Armen und blickte traurig zu Boden. „Doch Leon“, nickte sie und wandte sich um. „Es ist Zeit zu gehen. Ich verweile nun schon eine ganze Weile auf Erden. Allein wegen dir, weil ich dich nicht vergessen kann und ich dich immer noch liebe…“
Leon seufzte und gestikulierte mit seinen Händen. „Wie meinst du das – du weilst nun schon eine ganze Weile auf Erden? Ich kann dir nicht ganz folgen!“
Laura atmete lautlos und zog ihren Mantel zurecht. Sie drehte ihren Kopf in seine Richtung und obgleich Leon es glauben konnte oder nicht – das, was er sah war beängstigend! Es war, als würde innerlich sein Blut zu glühen beginnen; sein Herz pochte wild und er starrte regungslos auf die schöne Laura.
Ihre Augen brannten wie Feuer, was ihrem Blick einen unheimlichen und geheimnisvollen Ausdruck verliehen. Ihr sonst so strahlendes Gesicht glänzte weiß und schimmerte hell, während das Licht der Kerzen einen leblosen Schleier über ihre Wangen warf.
Und noch etwas hatte sich an ihr verändert. Leon konnte es nur schwach erkennen: Aus ihrem blass roten Mund ragten an der Oberlippe zwei winzige, aber spitzige Zähne hervor.
Um sich genauer ein Bild davon zu machen, schritt er näher an sie heran. Laura wich aus, begründete es nur rar: „Nicht mein Liebster“, sprach sie ruhig. „Ich will nicht, dass du mich in meinem Zustand siehst. Es ist auch so schlimm genug für mich.“
Leon verstand die Welt nicht mehr; er war zutiefst geschockt. Ihm fehlten regelrecht die Worte.
„Du musst nichts sagen. Ich spüre deine Angst… daher ist es besser für dich, wenn du nichts von dir gibst. Sag nichts, was dich noch mehr in Schmerzen hüllen würde, mein Liebster.“
„Laura“, wisperte er und beobachtete Laura, die geschmeidig zum Fenster ging.
„Ich liebe dich! Bitte geh nicht fort.“ flehte er greinend.
Laura schüttelte heftig ihren Kopf. „Nein Leon! Die Zeit ist vorbei, ich muss gehen. Du lebst dein Leben weiter und ich meines. Du bist ein Mensch, ich aber bin kein Mensch mehr… ich bin tot. Das weißt du.“
„Laura bitte tu mir das nicht an!“ flüsterte Leon, sackte zusammen und kniete weinend auf dem Boden. Seine Schultern zuckten auf und ab, sein Weinen ertönte in den schwersten Tönen. Es hörte sich an, als würde es ihm schwer fallen, seine Trauer nur mühsam auszudrücken. Leon erlitt erbärmliche Qualen, was sein Herz fast entzwei zu brechen schien.
Laura zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Noch einmal wandte sie sich zu Leon. „Ich liebe dich Leon. Bitte vergiss das nicht.“
„Nein“, unterbrach er ihre Worte und blickte auf. Sein Gesicht war mit Tränen übersät, die Augen rot angeschwollen. Jeglichen Glanz hatten sie verloren. „Wenn du mich lieben würdest, würdest du bei mir bleiben… für immer.“
Laura verneinte kopfschüttelnd und kniete sich auf das Fenstersims. „Die Zeit ist gekommen, Lebewohl zu sagen. Aber wir werden uns wieder sehen, bevor deine Zeit gekommen ist, vom Leben Abschied zu nehmen. Dann… kurz davor werde ich kommen und dich zu mir holen. Und ich kann dir eins sagen Leon: Es ist nicht mehr lange hin. Wir werden uns bald wieder sehen.“
Sie beendete ihren Satz und schwebte in die Dunkelheit hinaus…
Und was sie sagte, geschah auch – zwei Jahre später nach ihrem letzten Besuch. Es war an Leons 30. Geburtstag.
Bevor er in die dunkle Welt überschritt, versprach sie, ihn von seinen Schmerzen zu befreien.
Mit ihr würde er auf ewig glücklich werden. Ihre Liebe sei nun unendlich.
Zwar war Leon unsterblich und konnte jede freie Minute mit Laura verbringen, doch quälte ihn alldem ein unerträglicher Schmerz. Der Schmerz, auf ewig leben zu müssen und – zu töten, um zu überleben.
Es waren Tage voller Trauer und Schmerz,
Die sein Herz zerreißen.
Und ihn in eine tiefe Schlucht der Sehnsucht und des Verlangens stürzen,
Wo ihn die Tiere der Dunkelheit und Einsamkeit in Stücke reißen…
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2010
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