Kapitel 1 -Alea (Zweites Zeitalter 912)
„Mist, ich bin schon wieder zu spät!“
Fluchend lief Alea durch die schmale, fast menschenleere Gasse in Richtung Marktplatz. Dort hätte sie sich vor kurzem mit Sheeriah treffen sollen. Eigentlich wäre sie pünktlich gewesen. Sie hatte der Versammlung der Gilde beigewohnt, wie es ihre Pflicht war und das übliche Gerede der anderen Gildenmitglieder über sich ergehen lassen. Wie schon das letzte Mal, sprachen sie über das Verschwinden einiger Bettler, Gassenkinder, sowie junge Frauen und Männer niederen Ranges. Alea hatte nur mit einem Ohr zugehört, es interessierte sie nämlich nicht. Sie war eines der jüngeren Mitglieder und man würde sie trotz der Tatsache, dass sie Olen’s Schützling war, nicht bitten, dies zu untersuchen oder sich daran zu beteiligen. Nachdem der Gildenmeister die Versammlung für beendet erklärt hatte, wollte Alea eigentlich auf schnellstem Wege zu Sheeriah gelangen, aber dann lief sie ausgerechnet Larkan in die Hände. Larkan dem, sobald er den Mund auch nur aufmachte, ein Wortschwall nach dem anderen entschlüpfte. Manche behaupteten, er würde sogar im Schlaf ununterbrochen reden, aber Alea konnte dies nur schwer glauben. Eigentlich mochte sie Larkan und seine Geschichten. Er konnte wunderbar erzählen, ließ die Darsteller aufleben, so dass man immer den Eindruck hatte, man würde sich selbst inmitten des Geschehens befinden. Aber diesmal hatte sie keine Lust seinen langen Monologen zuzuhören.
Nun, Larkan hielt sie auf und seine Geschichten sprudelten aus ihm hervor, ließen ihr kaum Zeit für ein flüchtiges "Nein, wirklich?" . Es gelang ihr erst nach der dritten -oder war es die vierte? -seinen Redeschwall zu unterbrechen und endlich konnte sie hastig das Gebäude in dem die Versammlung stattgefunden hatte, verlassen.
„Larkan, wieso kannst du nicht einmal deinen Mund halten?”, seufzte Alea und bog in die Straße ein, welche zum Markt führte. Inzwischen hatte sie ihre Geschwindigkeit gedrosselt und schritt nun zügig und mit weit ausholenden Schritten zum Treffpunkt mit Sheeriah.
Wenig später erreichte sie den mit Menschen überfüllten Marktplatz auf dem reges Treiben herrschte. Unzählige Stände waren aufgerichtet worden. Manche bestanden nur aus einem kleinen Holztisch, andere jedoch besaßen so viele Waren, dass mehrere Lehrlinge und Händler nötig waren, um alles im Auge zu behalten. Von weitem vernahm sie das Gackern der Hühner, zusammengepfercht in kleine Käfige, das Quieken der Schweine, Wiehern der Pferde und Muhen der Kühe, welche nebeneinander standen, meistens mit einem Seil an einen Balken angeleint. Gesprächsfetzen der Händler, die mit Kunden um den Preis feilschten, drangen an ihr Ohr, so wie die lauten Stimmen der Händler die ihre Waren anpriesen. Kritisch beäugten sie die an ihrem Stand vorbeigehenden Leute, um sich sofort auf potenzielle Kunden zu stürzen. Hausfrauen, Kinder Lehrlinge und Gesellen, Diener in Livree, wohlhabende Damen, alle schien es auf den Markt getrieben zu haben.
Alea schüttelte den Kopf. Warum auch mussten sie als Treffpunkt den Marktplatz wählen? Nun musste sie durch diese Menge gelangen, um die Statue in der Mitte des Platzes, welche den Schutzpatron Farnols darstellte, zu erreichen. Entschlossen mischte sie sich unter die Leute und versuchte schnellstmöglich zu Sheeriah zu gelangen, wobei sie sich auch nicht scheute ab und zu die Ellbogen einzusetzen. Doch stets hütete sie ihre Börse, denn sie wusste aus Erfahrung, dass der Markt ein beliebter Arbeitsplatz der Langfinger war. Eigentlich verlieh ihr die Mitgliedschaft in der Gilde einen gewissen Schutz vor anderen Dieben, schließlich war es verpönt andere Mitglieder auszurauben. Doch es gab noch Diebe, die nicht an die Gildengesetze gebunden waren und auch wenn niemand es zugeben würde, unehrliche Gildenmitglieder.
Plötzlich stutzte Alea. Mittlerweile hatte sie fast die Statue erreicht, doch vor ihr hatte sich eine neugierige, aufgeregte Menschenmenge versammelt und bildete einen Kreis um zwei sich streitende Personen.
„Nein!”, schrie eine ihr wohl bekannte Stimme, „ich war es nicht!”
Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend schlüpfte Alea durch die Menge zum Zentrum derer Aufmerksamkeit. Ihre Vermutung erwies sich als richtig: die Aufmerksamkeit der einen Kreis bildenden Zuschauer richtete sich auf Sheeriah und einen kleinen, dicklichen Händler der puterrot im Gesicht war.
„Dieses Luder”, schrie er und sein Zeigefinger, der einem Würstchen ähnelte, war auf Sheeriah gerichtet, „hat versucht eine wertvolle Brosche”, mit der anderen Hand hielt er eine schöne, silberne Brosche, welche einen Phönix darstellte, in die Höhe, „zu stehlen!”
„Das stimmt doch gar nicht!” widersprach Sheeriah. „Ich wollte sie mir nur ansehen...”
„Lüge!” Der aufgebrachte Händler fuchtelte wie wild mit seinem Armen in der Luft „Ich hab dich gesehen du kleines, dreckiges Biest! Du hast versucht sie zu stehlen!”
„Was ist hier los?” Zwei Soldaten traten in den Kreis der Aufmerksamkeit hinein. Beide trugen die für Wachsoldaten übliche Ausrüstung: eine gepolsterte Lederrüstung, sowie ein Kurzschwert an der linken Seite und Pfeil und Bogen auf dem Rücken. Beide vermittelten den gleichen Eindruck, der eines gelangweilten Soldaten. Alea erkannte aber an ihrem durch gestreckten Rücken, sowie an ihren wachsamen Augen, dass sie keinen Deut gelangweilt waren, sondern alarmiert.
„Die da!” keifte eine elterliche Frau, „hat ihre Hand nach der Brosche ausgestreckt! Sie hat versucht sie zu stehlen aber der Händler hat es rechtzeitig bemerkt und sie gefasst!”
„Verdammtes Elbenpack!” der Händler spuckte Sheeriah vor die Füße. Sheeriah verstand keine Spaß, wenn es um ihre Herkunft ging und schrie: „Verdammt noch mal, wie oft soll ich es denn noch wiederholen? Ich habe NICHT versucht die Brosche zu stehlen!”
Doch dieser Ausbruch ihrerseits schien die aufgebrachte Menge nur noch mehr anzustacheln, denn die Leute fingen an allesamt durcheinander zu schreien. Ängstlich ließ Sheeriah ihren Blick über sie wandern. Ihre Augen trafen die von Alea. Letztere blickte die Frau mit den blonden, schulterlangen Haaren und spitzen Ohren fragend an. Sheeriah verneinte und beide Frauen wandten sich voneinander ab.
„Hackt ihr die Hand ab!”, „Sperrt sie ein!”, „Verfluchte Diebin” riefen aufgebrachte Stimmen durcheinander. Die Menge war inzwischen auch immer näher gerückt, manche waren nur noch eine Armeslänge von Sheeriah und dem Händler entfernt.
„Ruhe!!!”, brüllte schließlich der größere der beiden Soldaten. „Diese junge Frau, wird vorerst wegen versuchten Diebstahls eingesperrt!” Mit diesen Worten beendete er die Auseinandersetzung, bevor die Menschen handgreiflich wurden. Seine Worte stellten die Leute zufrieden, denn das Geschrei nahm ab und zustimmende Rufe waren zu vernehmen.
„Aber...” protestierte sie schwach. Ihre Augen suchten noch einmal Alea und blickten diese flehentlich an. Doch bevor Alea auch nur reagieren konnte, wurde Sheeriah von beiden Soldaten an den Armen gefasst und abgeführt.
Sheeriah ließ sich gehorsam abführen, marschierte jedoch erhobenen Hauptes durch die Menge. Diesen kurzlebigen Menschen wollte sie nicht auch noch die Genugtuung eines Sieges geben. Auch wenn sie ungerecht behandelt wurde -höchstwahrscheinlich weil sie in deren Augen nur ein lügnerisches Langohr war -konnte und wollte sie nicht versuchen sich gegen das Gesetz und deren Repräsentanten stellen. Zwar kochte sie innerlich vor Wut, aber sie wusste ihr Gehorsam würde im Falle einer Verhandlung für sie sprechen.
Inzwischen hatten sich auf dem Platz fast alle Zuschauer verstreut und waren wieder ihren normalen Tätigkeiten nachgegangen, nur Alea stand noch wie versteinert da. Ihre beste Freundin war gerade abgeführt worden und wurde nun vermutlich für längere Zeit in ein Verlies eingesperrt und dies ohne angehört zu werden? Normalerweise waren die Soldaten fairer und ließen jedem das Recht Stellung zu den Anschuldigungen zu nehmen.
Da Passanten Alea seltsame Blicke zuwarfen, riss sie sich aus ihrer Starre und schlenderte langsam an den verschiedenen Marktständen vorbei -während sie versuchte sich einen Reim aus den Geschehnissen zu machen. „Konnte Sheeriah tatsächlich beim Stehlen erwischt worden sein?” Alea blieb stehen und befühlte die Beschaffenheit eines blauen Tuches aus
Leinen. Doch bevor ein eifriger Händler sie ansprach, wandte sie sich wieder ab. „Nein... sie ist zwar auch eine Diebin... aber doch mindestens genau so gut wie ich!” Da sie inzwischen den Marktstand erreichte von dem Sheeriah die Brosche stehlen wollte, beäugte sie das Objekt der Begierde im Vorbeigehen. „Nein, Sheeriah hat kein Interesse an Schmuck. Warum sollte sie versuchen eine Brosche zu stehlen? Dazu noch so eine... eine hässliche! Aber, was wenn sie einen Auftrag hatte?...” Energisch schüttelte Alea den Kopf, „Niemals konnte Sheeriah erwischt worden sein...” dachte Alea und öffnete ihre rechte Hand. Diese enthielt eine kleinere dennoch weitaus hübschere Brosche des gleichen Händlers.
Larkan saß in seiner kleinen Kammer am Schreibtisch, welcher gegenüber der Tür an der Wand stand. Eine dicke Wachskerze an der Mauer erhellte seinen spärlich eingerichteten Raum. Außer dem Tisch mitsamt Stuhl befanden sich nur noch ein Bett und eine verschließbare Truhe in seinem Zimmer. Alles war einfach gehalten und wirkte fast ärmlich. Ein winziges Fensterchen über dem Schreibtisch verlieh ihm einen Blick auf die nur ein Stockwerk tiefer gelegene Gasse, doch hatte er noch nie hinausgeschaut. Larkan starrte mit leerem Blick auf das geschriebene Blatt Pergament vor ihm auf seinem Schreibtisch. In seiner Rechten hielt er einen Gänsekiel, von deren Spitze blaue Tintentropfen auf den Tisch fielen.
Schließlich seufzte er, stellte die Feder zurück ins Tintenfass und griff nach dem Blatt. Er warf einen kurzen Blick darauf, fluchte und zerknüllte es. Dann flog es in hohem Bogen auf den Boden wo schon unzählige andere zerknüllte Pergamentstücke lagen. Heute gelang ihm einfach nichts! Er fuhr sich durch seine kurzen braunen Haare, stand auf und ging unruhig in seiner Kammer auf und ab.
Nach einer Weile setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, nahm einen neuen Bogen Pergament vom Stapel auf seinem Tisch, griff nach dem Gänsekiel und begann zu schreiben. Ein Blatt nach dem anderen füllte sich langsam mit Wörtern.
Plötzlich wurde er von einem Klopfen unterbrochen. Ruckartig hob er seinen Kopf und blickte zum Fenster über seinem Schreibtisch. Eine kleine, weiß-grau gefiederte Taube saß auf der Fensterbank und blickte ihn fragend an. Langsam erhob sich Larkan und öffnete das Fenster. Die Taube hüpfte gurrend auf den Fensterrahmen und er konnte eine Botschaft, welche an ihrem Bein befestigt war, ausmachen. Geübt löste er die Botschaft und entrollte sie. Abwesend streichelte er die Taube während er deren Inhalt las:
Hilf ihr!
Mehrmals las er sie, ehe er sie verbrannte. Stirnrunzelnd schloss er das Fenster, da die Botin wieder fortgeflogen war. Er hatte keine Ahnung wem er helfen sollte. Achselzuckend nahm er wieder Platz und schloss für ein paar Minuten die Augen. Schließlich stieß er einen Seufzer aus, dann machte er sich wieder an die Arbeit.
Gerade wollte er nach einem weiteren Stück Pergament greifen, da hörte er draußen im Flur die Schritte einer Person, die es sehr eilig zu haben schien. Sie kamen immer näher und nun tönte auch noch eine helle Stimme durch das eigentlich ruhige Gebäude.
„Larkan! Wo steckst du?”
„Es scheint, als könne ich heute wirklich nicht weiter arbeiten...” Genervt stand Larkan auf, war mit ein paar Schritten an der Tür und riss sie schwungvoll auf.
„Hier A...” Doch schon stürmte Alea in sein Zimmer. Er konnte ihr gerade noch ausweichen, sonst wäre sie mit voller Wucht in ihn hineingelaufen. Kopfschüttelnd sah er ihr zu, wie sie sich auf sein Bett warf, nach seinem Kissen griff und es zerknautschte. Das Bett quietschte bedrohlich doch hielt es stand.
„Sheeriah soll eine wie ein Phönix aussehende Brosche zu stehlen versucht haben, doch wurde sie gefasst und abgeführt!!” berichtete Alea außer Atem. Empört blickte sie ihn aus ihren haselnussbraunen Augen an.
„Nun mal langsam... Welcher Phönix hat Sheeriah abgeführt? Ich dachte Phönixe ...” Verwirrt starrte Larkan sie an.
„Nein, du hast alles verdreht!” unterbrach Alea ihn.
„Sheeriah hat einen Phönix abgeführt?” Larkan schüttelte ungläubig den Kopf. Da seine Kammertür sperrangelweit offen stand, schloss er diese damit sie ungestört reden konnten.
„Die gibt es doch gar nicht wirklich. Ich habe jedoch gelesen, das Buch habe ich übrigens von einem fahrenden Händler, dass...”
„Larkan!” warnend blickte sie ihn an, während er sich zu ihr aufs Bett gesellte.
„So, was ist nun mit Sheeriah und dem Phönix?” erkundigte er sich neugierig.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und ihre hellbraunen Haare flogen hin und her. Sie verdrehte die Augen. „SHEE-RI-AH -HAT -AN-SCHEI-NEND...”
„Stop! Jetzt nimm mal tief Luft und beruhige dich. Wenn du dich nicht beruhigst, kann es sein dass du einfach tot umfällst. Ich habe einmal von einem jungen ge...” Er warf einen Blick auf Alea, bemerkte ihre Ungeduld und brach ab.„ Danach berichte mir alles im Detail.”
Langsam setzte sie sich gerade auf, atmete ein paar Mal ein und aus. Dann begann sie ihm zu berichten was sich eben auf dem Marktplatz zugetragen hatte.
„Sheeriah wurde von zwei Soldaten abgeführt? Und das nur, weil sie -anscheinend versucht hat eine Brosche zu stehlen?” Larkans Gesicht spiegelte Ungläubigkeit.
„Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen! Ich verstehe auch nicht warum. Und sie haben Sheeriah nicht mal um eine Sicht ihrer Version gebeten!” empörte sie sich.
„Hatten sie denn kein Wahrheitsjuwel bei sich? Dann hätten sie ja sofort erkennen können wer lügt und wer nicht.”
„Nein, aber es waren auch nur einfache Soldaten, es war nicht mal ein Hauptmann dabei.”
Schweigen sengte sich herab. Alea musterte aus den Augenwinkeln Larkan, dessen Schweigen sie überraschte. Seine ins Leere starrenden Augen verrieten ihr jedoch, dass er überlegte und seine Gedanken nicht laut aussprach.
„Nun?” ungeduldig unterbrach Alea ihn schließlich nachdem etliche Minuten verstrichen waren.
„Wie?” verschreckt fuhr er aus seinen Gedanken hoch. Er räusperte sich. „Ich denke dass die Soldaten, da sie nicht die Möglichkeit hatten heraus zu finden wer die Wahrheit sagt, einfach beschlossen Vorsicht walten zu lassen und die vermutliche Diebin -also Sheeriah in Gewahrsam zu nehmen. Dabei haben sie vielleicht das Gesetz vergessen dass ein jeder ein Recht hat seinen Standpunkt darzulegen. Dennoch haben sie so nichts falsch gemacht. Wäre nämlich der Händler im Recht, haben sie eine Diebin festgenommen. Wäre Sheeriah im Recht, hätte sie zwar ein paar unangenehme Tage im Verlies über sich ergehen lassen müssen, aber das war sicherer als eine vermutliche Diebin frei zu lassen...”
„Aber, wann...”
Abwehrend hob Larkan eine Hand. Sein Bericht war noch nicht beendet. „Normalerweise sitzt Sheeriah jetzt eingesperrt in einem Verlies und wartet darauf, dass ein Bezirksrichter sich ihrer annimtund ein Urteil spricht. Soweit bewegen wiruns in den Gefilden der Gesetze. Jedoch sieht die Realität anders aus. Ihr Fall ist in den Augen der meisten Bezirksrichter so, hm, unwichtig, dass sie vermutlich länger im Verlies sitzen wird, wenn sie darauf wartet, als wenn sie einfach nur die Strafe wegen versuchten Diebstahls absitzen würde.”
„Das ist ja ... “ Alea hieb mit der Hand aufs Bett „...absurd!”
Mit einer hochgezogenen Augenbraue richtete Larkan seinen Blick auf Alea „Aber, jetzt kommt uns das Gesetz zugute: Wenn Sheeriah während ihrer, sagen wir mal Warterei, aus ihrer Zelle verschwindet, kann niemand verfügen dass sie wieder eingesperrt wird, da es keinen Beweis ihrer -äh -Machenschaften gibt und da sie noch nicht verurteil wurde.” Zufrieden grinste er.
Verwirrt griff sich Alea an den Kopf. „Das ist ja noch absurder! Was ist falls ein echter Mörder verhaftet wurde, im Verlies wartet und dann einfach abhaut? Und nachdem der erste verschwindet, würden die Gesetze dann nicht geändert werden?”
„Erstens ist normalerweise jede Patrouille mit einem Wahrheitsjuwel ausgestattet so dass die Soldaten zumindest feststellen können wer die Wahrheit sagt und wer nicht. Ich denke nicht dass es viele Fälle gibt wie Sheeriah einer ist. Zweitens, und das ist der springende Punkt, ist noch niemand aus den Verliesen geflohen. Nicht dass es nicht versucht wäre, aber es ist noch niemandem gelungen. Deswegen denke ich ist noch niemand auf die Idee gekommen die Gesetze zu ändern. Es ist ein langwieriger Prozess die Gesetze zu ändern. Der Stadthalter sowie der Rat der Adligen müssen einverstanden sein und es darf nicht mehr als ein Viertel Gegenstimmen geben. Es kann schon sein, dass einigen diese Lücke im Gesetz bekannt ist, aber wie schon gesagt : Niemand ist bis jetzt geflohen!”
„Habe ich dich jetzt richtig verstanden? Du behauptest dass niemand aus dem Verlies fliehen kann, aber du schlägst vor Sheeriah zu befreien?” Die Verwirrung stand Alea ins Gesicht geschrieben.
Kapitel 2 -Der Siegelring
Die "Schenke zum Löwen" war eine gewöhnliche und bescheidene Taverne. Etwa ein halbes Dutzend Tische sowie dazu passende Höcker standen im Raum, welcher durch ein paar Fenster und ein Feuer in der Mitte erhellt wurde. Ein Ferkel briet seit geraumer Zeit über dem Feuer und konnte bald verzehrt werden. Ab und zu tropfte Fett ins Feuer, was zischende Geräusche hervorrief und schon jetzt war der Raum mit einem Geruch erfüllt, der jedem das Wasser im Munde zusammen laufen ließ.
Im hinteren Teil des Schankraumes hatte man einen schmalen Tresen errichtet, hinter dem eine Tür zu der Unterkunft des Wirtes, Küche und zum Vorratsraum führte. Links neben dem Tresen führte eine kleine Treppe nach oben zu einigen einfachen, aber gemütlichen Kammern, welche oft vermietet wurden. Denn trotz der einfach gehaltenen Einrichtungen, war die Schenke eine viel besuchte Taverne und Olaf der Wirt war sehr stolz darüber. Seine Frau und seine beiden Töchter unterstützten ihn, sie hielten die Taverne sauber und bedienten die Kunden.
Doch jetzt hatten sie nicht viel zu tun. Alle Tische waren leer, bis auf einen an dem eine Gruppe durchreisender Söldner saßen. Sie hatten schon etliche Bierkrüge geleert und schienen die Nacht hier verbringen zu wollen. Olaf bedachte sie manchmal mit einem besorgten Blick. Angeheiterte Söldner standen im Ruf gerne etwas über die Stränge zu schlagen. Bald würde die Taverne sich füllen, denn in Kürze würden sich die ersten Kunden fürs Abendmahl einstellen. Olaf hoffte inbrünstig dass sie sich im Zaum halten würden.
Die Tür öffnete sich und ein junger Mann trat ein. Die Söldner wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu und verstummten. Er trug eine abgewetzte Lederrüstung und mehrere Dolche hingen an jeder Seite. Seine weiche, schwarze Leinenhose war jedoch in tadellosem Zustand.
Als muskulös konnte man ihn nicht gerade bezeichnen, doch bewegte er sich mit einer Leichtigkeit welche von extremer Körperbeherrschung zeugte. Seine silbergrauen Haare trug er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit wachsamen Augen sah er sich um, suchte sich einen Tisch nahe der Tür und setzte sich hin. Sogleich eilte eine von Olafs Töchtern herbei um ihn zu bedienen und die Söldner widmeten sich wieder ihrem Bier.
Nach und nach füllte sich der Raum und die drei Frauen liefen geschäftig hin und her, um den Wünschen der Gäste nachzukommen. Inzwischen war auch das Ferkel angeschnitten worden und die meisten saßen schmatzend, versorgt mit Bier, Wein oder Met um das Essen die Kehle runterzuspülen, an den Tischen.
Nur der junge Mann saß noch immer an seinem Tisch und hatte ein Glas vom besten Wein des Kellers vor sich stehen. Ab und zu nippte er daran und beobachtete weiterhin die Gäste der Schenke mit einem durchdringenden Blick. Niemand wagte es sich zu ihm zu gesellen.
Draußen dämmerte es und das geschäftige Treiben auf den Straßen ließ nach. Die meisten Bewohner Farnols waren entweder zu Hause oder aber in einer Taverne und verzehrten ihr Abendbrot. Vereinzelt traf man sie noch auf den Straßen und Gassen an. Auch ein paar Soldaten auf Patrouille waren noch unterwegs und sorgten für Ruhe. Der Mond war schon schwach am Himmel zu sehen und einige Sterne leisteten ihm hoch oben am Firmament Gesellschaft.
Ein kalter Luftzug wehte durch die Schenke, als Alea und Larkan eintraten. Beide trugen einen weiten, dunklen Umhang und darunter eine Lederrüstung und weiche Beinkleider.
Suchend ließen sie ihre Augen durch den überfüllten Raum wandern, bis Alea Larkan am Arm ergriff und mit sich zog. Zusammen traten sie an den einzigen Tisch an dem nur ein Gast Platz genommen hatte, den Tisch mit dem jungen Mann.
„Nefir! Schön dich mal wieder zu sehen.”, begrüßte ihn Alea und setzte sich auf einen der beiden leeren Höcker an seinem Tisch. Larkan nickte Nefir kurz zu und folgte Aleas Beispiel.
„Seid gegrüßt!” erwiderte Nefir, der gerade sein Weinglas zurück auf den Tisch stellte, sich hastig erhob und sich dann galant vor Alea verbeugte. „Ihr habt euch keinen Deut verändert, werte Alea.”
„Nefir, du auch nicht.” lachte sie und Larkan verdrehte die Augen. „Nefir alter Fuchs, wie lief denn dein letzter Auftrag? Man sagt, dass Baronin von Kandrel noch immer nicht versteht wie ihr kostbares Diadem aus einem verschlossenen Tresor verschwinden konnte. Wie hast du das nur geschafft?” erkundigte sich Larkan leise.
Sofort versteifte sich Nefir. „Es tut mir leid mein Freund, aber darüber will ich lieber nicht reden.”
„Na na, noch immer so verschwiegen?” zog ihn Larkan auf.
Alea verdrehte die Augen. Wenn man die beiden jetzt nicht unterbrach, würde es noch eine Weile so weitergehen, denn Larkan wollte unbedingt einmal Nefir eine Geschichte entlocken. Sie räusperte sich, was ihr sofort Nefirs Aufmerksamkeit schenkte. „Danke dass du Zeit für uns beide hast.”
„Für Euch habe ich doch immer Zeit.” lächelte er sie an. „Larkan hat mir berichtet dass Sheeriah in Schwierigkeiten ist und Ihr ihr helfen wollt?” fragte er sie leise.
„Ja, wir wollen sie aus den Verliesen der Kaserne befreien.”
Nefir verschluckte sich. „Ihr wisst doch, dass das bis jetzt noch niemandem gelungen ist? Abgesehen von den vielen Wachen sollen die Schlösser auch mit Magie verschlossen sein.”
„Magie? Niemand beherrscht doch heute noch Magie. Wie sollen die Soldaten die Schlösser mit Magie verschließen?” mischte sich Larkan ein.
Alea zuckte mit den Schultern.„ Ich denke, das ist nur ein Gerücht zur Abschreckung. Das Problem sind tatsächlich die vielen Wachen, denen wir begegnen könnten. Aber wir haben auch Glück. Wegen der vielen verschwundenen Leute, sind mehr Soldaten auf Patrouille als gewöhnlich. Wir müssten uns nur einteilen. Ich selbst werde allein ins Verlies hinuntergehen, brauche aber jemanden der unseren Fluchtweg überwacht, sowie jemanden der mich bis zum Kerker begleitet.”
„Entschuldigt mich, doch wäre ein Grundriss der Kaserne sicher hilfreich um in unserer Planung voranzuschreiten.” warf Nefir ein.
„Du weißt doch, dass der Statthalter der einzige ist, der Zugang zu den Plänen hat.” meinte Larkan. „Nicht mal meiner Wenigkeit ist es bis jetzt gelungen an die Pläne zu kommen!”
Mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht griff Alea in ihre Tasche und zog ein zerknittertes Blatt heraus, legte es auf den Tisch und strich es glatt. „Und was ist das hier?”
Ungläubig beugten sich die beiden Männer darüber. „Wie hast du es geschafft daran zu kommen?” „Ihr erstaunt mich immer wieder” Nefir nickte ihr respektvoll zu.
Die drei steckten die Köpfe verschwörerisch zusammen und planten ihren nächtlichen Streifzug.
Hastig winkte Larkan seine beiden Gefährten zu sich. Schnell huschten Alea und Nefir durch die Schatten zu ihm. Larkan half ihnen über die Mauer welche sich um die Kaserne zog. „Denkt daran wenn ihr zurück wollt ahmt den Schrei einer Eule nach. Antwortet euch eine Eule, so werfe ich euch ein Seil über die Mauer. Faucht jedoch eine Katze, so wartet eine Weile und versucht es dann erneut. Kisha sei euch hold!” Zustimmend nickte ihm Nefir zu, dann verschwand sein Kopf auch schon hinter der Mauer und Larkan bezog seinen Wachposten.
Sanft landeten Nefir und Alea auf dem Boden auf der anderen Seite der Mauer. Vor ihnen ragte eine zweistöckige Soldatenbaracke auf. Ein schwacher Lichtschein hinter den Fenstern verriet dass diese Baracke nicht leer stand. Rechts daneben erhob sich ein mehrstöckiger Turm, die Verliese.
Stets versuchten sie so lange wie möglich in den Schatten zu bleiben. So schlichen sie unbemerkt an den Wachen vorbei und näherten sich dem Turm. So lange sie hinter der Baracke versteckt waren, fühlten sie sich sicher, doch nun trennte sie eine Distanz von fast 5 Metern vor dem nächsten Versteck, welches Schutz vor Blicken bog : Der Schatten des Turms.
Gerade als Alea ansetzte um diese Distanz zu überbrücken legte sich eine starke Hand über ihren Mund und zog sie zurück in den Schutz der Schatten. Erschrocken stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite ihres Angreifers. Doch schon wurde sie herumgerissen und sie blickte in Nefirs warnende Augen. Alea entspannte sich und sie spürte wie zugleich die Anspannung in Nefir ein wenig nachließ. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit hinein. Es dauerte ein paar Augenblicke, doch dann konnte sie die Schritte einiger Soldaten ausmachen, die sich ihnen näherten.
Kurz danach traten zwei leich tangetrunkene Soldaten in ihr Blickfeld. Beide traten hinter den Turm und versuchten mit ungelenken Bewegungen ihre Hose zu öffnen.
„Ah. S’ist doch besser als auf ’ne Kloake zu geh’n.” Wenig später verschwanden die beiden Soldaten wieder in Richtung Baracke.
Mit hochrotem Gesicht befreite sich Alea aus Nefirs Griff. Ohne einen Kommentar abzugeben, wartete sie den rechten Augenblick ab und huschte blitzschnell zum Turm, gefolgt von Nefir. Schließlich blieben sie dahinter stehen und sahen sich um. Die Tür des Turms, höchstwahrscheinlich verschlossen, befand sich auf der Seite des Exerzierplatzes der Soldaten.
Alea zählte vier Stockwerke sowie einige kleine vergitterte Fenster auf jedem Stockwerk. Die Fenster waren zu klein für sie, sie mussten durch die Eingangstür in den Turm gelangen.
An jeder Ecke des Platzes leuchtete eine große Fackel und erhellte die Umgegend. Niemand war zu sehen, doch wussten sie dass im Stundentakt eine Patrouille den gesamten Bereich überprüfte zusätzlich zu den Wachen auf ihrem Posten. Die letzte Patrouille hatte gerade ihre Runde beendet, so dass ihnen eine knappe Stunde blieb und die Wachen die dem Turm am nächsten waren, befanden sich mindestens gute hundert Meter entfernt.
Vorsichtig schlich Nefir, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, zum Eingang des Turmes und zog seine Dietriche aus einer Tasche. Sorgfältig suchte er sich einen aus und schob ihn langsam ins Schloss. Es dauerte nicht lange und schon konnte er das unverkennbare Geräusch der Riegel die einrasteten vernehmen. Zögernd öffnete er die Tür einen Spalt und blickte hinein. Es war finster im Raum und seine Pupillen nahmen einen purpurnen Farbton an. Außer einem ungenutzten Schreibtisch, sowie einem Schrank befand sich nichts im Raum. Rasch öffnete er die Tür und beide schlüpften hinein. Geräuschlos schlossen sie die Tür.
Nefir verschloss die Tür wieder von innen. Beide blickten sich nun genauer um. Alea konnte fast nichts erkennen, doch Nefir konnte an den kargen Wänden Fackelhalter ausmachen. Schwarze Rußflecken ließen vermuten dass sie regelmäßig benutzt wurden. Ein schweres Eisengitter versperrte den Weg nach oben.
Da Nefir weitaus geschickter im Öffnen von Schlössern war, ließ Alea ihm den Vortritt. Zufrieden nickte er und nahm das Schloss genauer unter die Lupe.Er stieß einen verächtlichen Seufzer aus. Im Handumdrehen hatte er das Schloss mit Hilfe eines Dietrichs geöffnet. „Zu einfach!” flüsterte Alea, doch Nefir hatte schon die Klinke in die Hand genommen und drückte sie hinunter. Ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen und sein rechter Arm hing schlaff an seiner Seite. „Verflucht! Die müssen das Schloss tatsächlich mit Magie belegt haben!” Besorgt kniete sie sich neben Nefir. „Wie geht es deinem Arm?” „Nur betäubt, bitte sorgt Euch nicht. Ich denke nicht dass es lange anhalten wird.” „Und nun? Wie wollen wir das Schloss öffnen?” Alea wirkte enttäuscht.
Nefir schloss die Augen und wartete ab bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Mit seiner linken Hand versuchte er etwas aus seiner Tasche zu ziehen. Alea beobachtete ihn, als er einen schwarzen ledernen Handschuh herauszog und ihn ihr hinhielt. Vorsichtig ergriff sie ihn und begutachtete ihn, er schien aus gewöhnlichem Leder zu sein, doch war er ausgezeichnet verarbeitet, denn er fühlte sich weich und geschmeidig an. Nachdem sie ihn einer kurzen Musterung unterzogen hatte, reichte sie ihn wieder Nefir. Dieser schüttelte den Kopf. „Ich kann ihn mit diesem Arm nicht anziehen. Es tut mir leid. Ihr müsst ihn anziehen.” Sie zögerte nur ein paar Sekunden dann strich sie den Handschuh über ihre rechte Hand.
Erstaunt sog sie die Luft ein. „Der Handschuh kribbelt.”, bemerkte sie, was ihr einen noch erstaunteren Blick von Nefir einbrachte. Ohne weitere Worte wandte sie sich wieder dem Eisengitter zu und unsicher streckte sie die Hand nach der Klinke aus. Ein ermutigender Blick von Nefir und entschlossener griff sie danach und öffnete die Tür, ohne jeglichen Schmerz zu spüren. Verwirrt wandte sie sich wieder Nefir zu, eine Frage stand ihr ins Gesicht geschrieben. Nefir winkte ab und drängte sie nun zur Eile. Zusammen stiegen sie die Treppe hinauf.
Systematisch arbeiteten sie sich nach oben. Jedes Stockwerk war nach dem gleichen Muster erbaut. Zuerst musste sie das Gitter aufsperren und mit dem Handschuh die Tür öffnen. Dann stiegen sie die Treppe hinauf und traten in einen kurzen Flur an dem links und rechts jeweils zwei Türen waren. Jede hatte eine kleine vergitterte Öffnung auf Augenhöhe durch die sie in die Zellen blicken konnten. Nefir nahm die linken unter die Lupe, während Alea in die rechten spähte. Am Ende des Flurs war dann wieder ein verschlossenes Gitter. Auf den ersten zwei Stockwerken hatten sie ein paar eingesperrte Bettler erblickt, Sheeriah war jedoch nicht unter ihnen.
Gerade als sie sich auf der Treppe zum dritten Stock befand stutzten sie und spitzten ihre Ohren. Von oben drangen Geräusche zu ihnen hinunter. Jemand war dabei etwas, oder jemand hinter sich zu ziehen. Alea vergewisserte sich dass ihre Dolche in Reichweite waren, deutete Nefir zu warten, dann stieg sie langsam und vorsichtig nach oben. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb sie stehen und lauschte angestrengt. Tatsächlich konnte sie die leisen Schritte zweier Personen ausmachen.
Sie warf einen Blick um die Ecke in den Flur hinein und konnte gerade noch sehen, wie zwei in rote Roben gehüllte Personen Sheeriah in die zweite Zelle auf der rechten Seite zogen. Erschrocken schlug Alea ihre Hand vor den Mund, um jegliche verräterischen Geräusche zu unterdrücken. Sie zögerte ein paar Augenblicke, dann huschte sie lautlos zur Zellentür und lauschte. Nichts.
Sie entschied sich einen Blick hineinzuwerfen auch auf die Gefahr hin gesehen zu werden. Doch als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und durch die vergitterte Öffnung schaute, war niemand mehr zu sehen.
„Wie ist das möglich? Magie?” Stirn runzelnd wog Alea ihre Möglichkeiten ab. Sie konnte versuchen die Tür aufzusperren und in die Zelle hineingehen. Doch, wenn die beiden sie gehört hatten und nun hinter der Tür, versteckt vor ihrer Sicht, ihr auflauerten? Oder sollte sie so tun, als würde sie wieder gehen um abzuwarten ob jemand wieder die Zelle verlässt? Sie konnte auch... „Verdammt.” Sie brauchte nicht länger nachzudenken. Sie wusste dass nur ein Blick in die Zelle sie zufrieden stellen würde.
Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter, seltsamerweise war die Tür nicht versperrt. Geräuschlos schwang die Tür auf und sofort sprang Alea den Dolch angriffslustig in ihrer Rechten in die Zelle hinein. Doch bis auf ein Bündel Stroh in einer Ecke war die Zelle leer.
Sie trat wieder aus der Zelle und winkte Nefir zu sich, welcher auf eine Erklärung ihrerseits wartete.
„Ich habe Sheeriah gesehen, wie sie von zwei Personen in roten Gewändern in diese Zelle geschleppt wurde. Doch jetzt ist sie leer!” flüsterte sie ihm zu. Nefir wartete keinen Augenblick und trat leise in die Zelle hinein. Dann begann er die Mauern mit seiner linken abzutasten, seine rechte Hand hing noch immer schlaff an seiner Seite. Alea machte sich auf der gegenüberliegenden Seite ans Werk und suchte nun auch nach einer versteckten Tür.
Nichts! Obwohl sie den Raum dreimal absuchten, abklopften und abhorchten, konnten sie keine Geheimtür finden. Alea wollte eigentlich den Raum einer vierten Durchsuchung unterziehen, doch Nefir drängte sie wieder von hier zu verschwinden. Bald würde der nächste Wachgang stattfinden und eine Kontrolle der Verliese stand an erster Stelle.
Ebenso lautlos und schnell, stiegen sie wieder die Treppen hinunter und vergaßen auch nicht jedes Mal das Eisengitter zu verschließen. Die Soldaten sollten ja nicht bemerken dass sie Besuch gehabt hatten. Vielleicht verriet die Magie, dass jemand in den Turm eingedrungen war, aber vielleicht auch nicht. Magie war heutzutage nicht mehr allgegenwärtig und Magier, die einzigen die das Wissen innehatten, gab es nicht mehr. Da Magier ihr Wissen nicht aufgeschrieben hatten, war diese eine verlorene Kunst.
Bevor sie jedoch aus dem Turm traten, versperrte Nefir ihr den Weg. „Ich würde Euch nicht darum bitten, wenn es mir nicht am Herzen läge, aber könntet Ihr wohl...” Alea unterbrach ihn. „Ich werde Larkan nichts von deinem Handschuh erzählen, doch erwarte ich eine Erklärung von dir.” Zustimmend nickte er.
Problemlos und unbemerkt konnten sie das Verlies wieder verlassen, huschten zurück zur Mauer und pfiffen nach Larkan. Sogleich erklang ein Eulenschrei und ein paar Augenblicke später fiel ein Seil zu ihnen. Inzwischen konnte Nefir seinen Arm wieder teilweise gebrauchen und mit Aleas Hilfe gelang es ihm über die Mauer zu klettern. Flink wie ein Eichhörnchen erklomm Alea die Mauer und die drei Freunde ließen eilig die Soldatenquartiere hinter sich.
Ihre Schritte führten sie zurück zur Schenke "zum Löwen". Als sie dort eintraten, strömte ihnen heiße, stickige Luft entgegen, die nach Schweiß und Alkohol roch. Das Ferkel war mittlerweile vom Feuer genommen worden, doch konnte man noch immer den Geruch eines saftigen Bratens riechen. Die vielen Besucher lärmten und schienen guter Laune. Alle Tische waren besetzt, so dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich an den Tresen zu stellen, da dort noch etwas Platz war.
Olafs Schürze war noch ziemlich sauber, was unter diesen Umständen eine große Leistung war. Man merkte ihm den Stress und die Hektik an, denn ein paar Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und bahnten sich einen Weg nach unten.
Eifrig trat er zu ihnen. „Guten Abend die Herrschaften. Wünscht ihr noch etwas zu essen? Ich habe noch etwas...”
„Nein, danke!” unterbrach ihn Alea etwas unwirsch. „Ich möchte nur etwas trinken. Ein Glas Wein bitte.”
„Für uns beide auch.” fügte Larkan hastig hinzu.
Es dauerte nicht lange und Olaf stellte jedem ein Glas roten Weines auf die Theke. Sofort griff Alea danach und nahm einen tiefen Schluck. Sie schloss die Augen um innerlich zur Ruhe zu kommen.
„Nun, ich muss feststellen dass ich Sheeriah nicht erblicke, außer natürlich sie hat inzwischen die Kunst der Unsichtbarkeit gemeistert und ihr versucht mir einen Drachen aufzubinden.” versuchte Larkan die trübe Stimmung in der Nefir und Alea zu versinken schienen aufzuheitern.
„Es lief fast alles nach Plan, außer dass ich fast in ein paar Soldaten gelaufen bin. Doch das konnte Nefir rechtzeitig verhindern.” Larkan starrte sie mit erhobenen Augenbrauen an. Das sah ihr gar nicht ähnlich. „In den Turm zu gelangen war genauso schwierig wie erwartet. Alle Türen waren versperrt und die Schlösser zu knacken war nicht gerade ein Leichtes. Aber es ist uns beiden gelungen und wir konnten die Zellen durchsuchen. Gesehen habe ich Sheeriah, aber nur als sie gerade von zwei Mönchen in roten Roben verschleppt wurde. Ich versuchte ihnen zu folgen, doch sind sie mir irgendwie entwischt.”
„Sie sind dir entwischt? Wie ist das in einem Turm möglich?” wunderte sich Larkan.
Alea zuckte nur mit den Schultern.
„Wir haben, muss ich zu meiner Schande gestehen, leider keine Ahnung wie das möglich war. Sie sind aus einer Zelle verschwunden, doch wir standen vor dem einzigen Ausgang. Es gibt natürlich noch die Möglichkeit einer Geheimtür, doch haben wir keine gefunden...” erklärte Nefir.
„Dass sie vor zwei Dieben verschwunden sind... höchst seltsam!” murmelte Larkan geistesabwesend.
Alea kramte in einer ihrer Taschen und beförderte einen schweren goldenen Siegelring zutage. Sie legte ihn auf den Tresen. „Da, das habe ich zwischen dem Stroh gefunden.”
Larkan nahm den Ring in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. „Der Ring ist zu groß für eine Frauenhand und da wir wohl alle ausschließen dass er Sheeriah gehört, denke ich dass mindestens einer der beiden "Roten" ein Mann ist.” Er führte den Ring näher ans Gesicht um das Siegel genauer zu untersuchen. „Das Siegel, zeigt ein Dreieck, in dessen Mitte ein seltsames Zeichen eingraviert ist... es ähnelt unserem Symbol einer Flamme, mehr kann ich nicht erkennen.” Zögernd legte er den Ring zurück. Nachdenklich blieb sein Blick an ihm haften.
Alea seufzte „Es scheint, als wäre unser Problem noch immer nicht gelöst. Um Sheeriah zu finden, müssen wir wohl mehr über dieses Siegel herausfinden.”
Kapitel 3 -Gefangen!
Sie erwarte frierend in einem dunklen und kalten Raum. Man hatte sie auf eine einfache Pritsche gelegt, doch ohne eine wärmende Decke über sie zu ziehen. Verwirrt blickte sie um sich und musste feststellen, dass sie sich nicht mehr in der kleinen Zelle befand, in die die Wachen sie eingesperrt hatten. Benommen griff sie sich an den Kopf, stöhnte leise und versuchte sich zu erinnern. Egal wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nur daran erinnern in die Zelle gebracht worden zu sein, danach etwas Wasser getrunken zu haben und sich anschließend erschöpft auf das Stroh gelegt zu haben.
„Schon seltsam, dass ich so müde wurde. Es war ja erst Mittag... Man muss mir etwas ins Wasser untergemischt haben... aber wieso? Ich bin ja nur eine einfache, unabhängige Diebin.” sie konnte sich keinen Reim aus der ganzen Situation machen, doch griff Entschlossenheit von ihr Besitz. „Ich sollte mir zuerst einen genaueren Überblick über meine Situation verschaffen... niemand ist durch abwarten klüger geworden.”
Schwungvoll richtete sie sich im Bett auf, um sich sofort wieder hin zu legen, denn alles um sie herum drehte sich. Langsam zählte sie bis zehn, dann versuchte sie es auf ein Neues, aber diesmal gemächlicher. Der Raum drehte sich zwar, doch nach ein paar Sekunden legte sich dies wieder, so dass Sheeriah sich nun umblicken konnte.
Man hatte sie, wie sie schon erwartet hatte, wieder in ein Verlies gesteckt, doch dieses Mal war ihre Unterkunft besser. Sie hatte statt Stroh eine Pritsche, eine leicht größere Zelle, sowie einen Tisch und einen Schemel. Auf dem Tisch lag eine alte Decke aus Wolle.
Da es hier feuchter und kälter war, warf sie sich diese um die Schultern, nachdem sie sich mit einem Blick vergewissert hatte, dass sie einigermaßen sauber war.
Es roch hier, wie in einer Quellhöhle, nach frischem Wasser und angenehm überrascht nahm sie einen tiefen Luftzug. Vorsichtig berührte sie die Mauern, welche aus hartem, dunklem Fels bestanden. Deren Oberfläche war glatt und feucht.
Gegenüber von ihrer Pritsche, befand sich die Tür der Zelle, welche nur aus Gitterstäben bestand. Dafür waren diese aber so dick wie ihr Oberarm. An diesen Stäben hing zusätzlich zum Türschloss eine Eisenkette mit einem Schloss. Leider musste Sheeriah feststellen, dass man sie gründlich durchsucht hatte, dann man hatte ihr jegliche Dietriche abgenommen. Jetzt konnte sie nicht mal mehr versuchen, dass Schloss zu knacken und es blieb ihr nichts anderes übrig als hier zu verharren und zu warten, dass sich jemand blicken ließ.
Sie warf einen Blick hinaus in den Flur. Ihre Vermutung bestätigte sich, denn sie konnte durch den Schein der im Flur angebrachten Fackeln erkennen, dass alle Mauern aus dem gleichen Fels bestanden, wie ihre Zelle. Sie befand sich in einer Felshöhle. Ihr gegenüber war ebenfalls eine Zelle, und bei näherem Hinsehen, erkannte sie, dass dort ein paar lumpige Gesellen lagen oder saßen.
„He! Ihr da!” rief ihnen Sheeriah leise zu, doch nichts rührte sich. „Hört ihr mich? Haaaaallooooo?”
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung in der gegenüberliegenden Zelle. Eine der Gestalten stand langsam auf und näherte sich dem Gitter. Es war eine armselige Gestalt mit zerrissenen Kleidern und zerzaustem Haar, die sich ihr näherte. Entsetzt sog Sheeriah die Luft ein, als sie eine junge Frau erkannte, kaum älter als sie selbst. Die junge Frau war gramgebeugt und in ihrem Gesicht konnte Sheeriah Trauer und Resignation sehen. Sheeriah schluckte.
„Ich bin Sheeriah. Kannst du mir bitte sagen, wo wir hier sind?”
„Niemand von uns weiß, wo wir sind. Wir wissen nur dass wir hier sterben werden.”
„Warum glaubt ihr das?” erkundigte sich Sheeriah entsetzt.
„Niemand der von den Wächtern abgeholt worden ist, kommt zurück.”
„Warum versucht ihr denn nicht zu fliehen?”
„Fliehen? Wie denn?” Die junge Frau deutete nach hinten.„Wir sind alle schwach und wir haben Kinder.”
„Kinder?”Sheeriah erbleichte und schwieg einen kurzen Moment. „Ich werde es trotzdem versuchen. Noch gebe ich mich nicht geschlagen!”
„Kindchen, lass das lieber bleiben.” mischte sich ein älterer Mann ein. Steif erhob er sich von seinem Platz und hinkte zum Gitter. Er war abgemagert und seine Kleider wiesen, ebenso wie die der Frau, Löcher auf und waren in einem erbärmlichen Zustand.
„Vor kurzem war ein junger Mann hier. Der wollte hier fliehen. Kam aber nur ein paar Schritte weit.” Der alte Mann blickte abwesend an Sheeriah vorbei. „Wir konnten hier unten seine Schreie hören -tagelang!”
Sheeriah lief ein Schauer über den Rücken. Wenn der Mann sie einschüchtern wollte, so war es ihm gelungen. „Aber, ich muss...”
„Lass es sein.” unterbrach der Alte sie unwirsch, „oder willst du etwa, dass wir deinetwegen bestraft werden?” Er wandte ihr den Rücken zu und hob sein zerrissenes, hinten am Rücken blutverschmiertes Hemd etwas in die Höhe. Der Anblick ließ Sheeriah aufkeuchen. Er trug gräßliche rote Striemen auf seinem Rücken, nicht älter als ein Paar Wochen alt.
Irgendjemand hier, musste ein enormes Vergnügen daran finden, andere Menschen zu quälen und ihnen schreckliche Schmerzen zuzufügen.
„Kurz nachdem seine Schreie verstummt waren, kamen ein paar Wachen zu uns. Wahllos namen sie einige von uns mit nach oben. Was die erwartete, hast du ja gesehen.” berichtete der Mann.
Sheeriah war vollkommen sprachlos und blickte völlig entsetzt die junge Frau an, doch die hatte den Kopf abgewandt. Trotzdem vermochte Sheeriah ein paar Tränen zu erblicken, die ihr die dreckige Wange hinunterliefen.
„Ja, ihre Tochter war unter den Opfern. Ist sogar vor Schmerzen gestorben.” beantwortete der Mann ihre unausgesprochene Frage.
„Es... es tut mir leid.” stotterte Sheeriah.
„Nun, Kindchen. Ich rate dir, bleib in deiner Zelle und falle nicht auf. So lebst du vielleicht etwas länger.” Der Mann hinkte wieder zu seinem Platz, auf den er sich keuchend hinsetzte.
„Aber, ihr... ihr könnt doch nicht hier unten euer Ende abwarten?”
„Doch, das können wir. Viel Glück Sheeriah.” auch die Frau kehrte zu ihrem Platz zurück und ließ eine fassungslose Sheeriah zurück.
Kapitel 4 -Karina und Olen
Alea saß auf einem kleinen Schemel, den Rücken gegen ein Bücherregal gelehnt und hatte die Augen geschlossen. Auf einem Tischchen vor ihr, lagen einige aufgeschlagene Bücher und daneben stand ein Stapel Bücher die sie schon überflogen hatte.
In der Bibliothek der Lana-Kleriker war es kühl und still. Die wenigen Anwesenden, meist Lehrlinge, welche irgendwelche Bücher abschreiben mussten, schwiegen und arbeiteten fleißig. Seit Tagen hatte sie erfolglos die Stadt nach Hinweisen zum Siegelring durchkämmt.
Schlussendlich hatte sie sich dazu entschlossen die Bibliotheken der verschiedenen Orden zu durchsuchen. Als erstes Ziel hatte sie den Orden Kishas aufgesucht, doch ergebnislos. Die zweite Bibliothek auf ihrer Liste war die der Göttin Lanas, Göttin des Friedens und der Fruchtbarkeit.
Alea öffnete wieder ihre Augen und setzte ihre Suche fort. Lustlos durchblätterte sie einige Bücher und legte sie danach auf den Stapel. Die kleine Kerze auf ihrem Tisch brannte und wurde kleiner, aber noch immer hatte sie nichts Brauchbares gefunden.
Plötzlich stutzte sie und blätterte eine Seite in dem Buch "Siegel -erstes Zeitalter" zurück. Auf der Seite befand sich tatsächlich eine Zeichnung, die ihrem Siegelring glich wie ein Ei dem andern. Um sich ganz sicher zu sein, nahm sie den Ring aus ihrem Beutel und verglich beide. Sie waren identisch! Ihr Herz klopfte vor Aufregung und Freude schneller, als sie den kurzen Text unter der Abbildung lies.
Mir ist wenig über dieses Siegel bekannt. Es tauchte in einigen unseren Schriftstücken auf, doch die waren in einer heute vergessenen Sprache verfasst. Die Kleriker welche versuchten die Schriftstücke zu entziffern kamen allesamt in einem fürchterlichen Brand ums Leben. Dabei gingen auch noch die Schriftstücke verloren, so dass es heute kaim mehr als eine vage Erinnerung ist. Sicher ist nur, dass dieses Siegel das Emblem eines religiösen Kultes darstellt.
Über den Kult ist nichts bekannt, aber es wird vermutet, dass die Anhänger eine längst vergessene Gottheit anbeteten. Es gibt keine mir bekannten Hinweise über die Interessen des Kultes, genauso wenig ist bekannt, ob der Kult noch existiert oder nicht.
„Ha, das weiß ich auch selber.” Sicherheitshalber las sie auch die vorherigen und nachfolgenden Seiten gründlich durch, doch weder das Siegel, noch der Kult wurden wieder erwähnt.
Enttäuscht über die spärlichen Informationen stand Alea auf und streckte sich. Sie massierte sich ihren verspannten Nacken ein wenig, dann setzte sie sich wieder hin und starrte die aufgeschlagene Seite des Buches an.
Wenigstens war sie jetzt davon überzeugt dass Sheeriah von Anhängern dieses Kultes gefangen genommen wurde.
Die Glocke des Klosters läutete zum Gebet und Alea erinnerte sich dass Olen sie bald zum Abendmahl erwartete. Noch einmal las sie den Text, um ihn sich einzuprägen, dann räumte sie schnell die Bücher und verließ die Bibliothek.
Draußen regnete es in Strömen und Alea eilte zu den Ställen, wo man ihr Pferd untergebracht hatte. Da sich inzwischen alle zum Gebet eingefunden hatten, musste sie ihr Pferd selbst satteln. Wenigstens hing ihr Sattel über dem Gatter der Pferdebox, in der ihr hellbrauner Hengst stand, so dass alles schnell von statten ging. Sie führte ihr Pferd am Halfter durch den Innenhof zum Holztor. Ein Wächter ließ sie passieren. Außerhalb das Klosters stieg sie mit Schwung in den Sattel und gab ihrem Pferd die Sporen um rasch zu Farnol, ihrer Heimatstadt zurück zu kehren.
Es war ein kurzer Ritt, denn das Kloster lag nicht weit von der Stadt entfernt. Sie kam gerade rechtzeitig am Stadttor an, bevor dieses für die Nacht geschlossen wurde. Sie stieg vom Pferd hinunter, weil sie lieber zu Fuß ging, da es nicht sehr weit bis zu Olens Haus war.
Als sie das Haus erreichte, regnete es noch immer und sie war bis auf die Knochen durchnässt. Ein Dienstbote erwartete sie bereits und öffnete das Tor, ehe sie anklopfen konnte. Er führte ihr Pferd in den Stall und kümmerte sich um es während Alea bereits den kleinen Hof überquerte und zum Herrschaftsgebäude ging. Es war ein einfaches zweistöckiges Haus, nicht sehr nahe am Zentrum der Stadt gelegen, was darauf hinwies dass Olen zwar wohlhabend aber nicht reich war.
Olen selbst öffnete die Eingangstür. Es war ein älterer Mann, Ende Dreißig, doch seine Bewegungen zeugten von seiner hervorragenden Körperbeherrschung. Er galt trotz seines Alters als attraktiv, was wohl seinem athletischen Körper zuzuschreiben war. Seine dunkelbraunen Haare begannen zu ergrauen und auch in seinem Gesicht konnte man etliche Falten erkennen. Heute trug er braune Kleidung, die zwar einfach geschnitten und ohne Verzierungen war, doch wiesen die feinen Nähte auf eine ausgezeichnete Qualität hin.
„Willkommen Alea! Ich freue mich wie immer dich zu sehen!” Olen schloss Alea herzlich in seine Arme und drückte sie fest, dabei presste er eine Unmenge Wasser aus ihrer Kleidung, welches sich mit den Pfützen vermischte.
Strahlend erwiderte sie seine Umarmung und lachte: „Ich freue mich auch, dich zu sehen. Es ist lange her seit ich zuletzt hier war, nicht wahr?”
„Ich denke schon.”
„Olen, jetzt lass sie doch herein! Das arme Ding ist ja komplett durchnässt und braucht jetzt mal ein warmes Bad. Nicht wahr Liebes?” Olens Frau Karina trat näher und schüttelte genervt den Kopf. Entschlossen drängte sie sich an ihrem Mann vorbei und entwendete Alea seinem Griff.
„Folge mir, Alea. Olen, sag den Dienstboten, sie sollen eine Wanne mit warmen Wasser füllen und diese in das Gästezimmer bringen. Und sie sollen ja nicht dabei trödeln, sonst werde ich ihnen mal ordentlich die Meinung sagen.” bestimmte Karina energisch.
Ohne zu warten, fasst sie Alea am Arm und zog sie ins Haus hinein. Ihren völlig überrumpelten Mann ließ sie ohne eines Blickes zu würdigen an der Eingangstür stehen. Alea schmunzelte. Karina kommandierte jeden herum, ob es ein einfacher Angestellte, ihr Mann oder hoher Besuch war. In ihrer Umgebung lief alles sehr hektisch ab, doch ohne dass es chaotisch war, denn Karina besaß gleichzeitig zu ihrer übersprühenden Energie, ein ausgezeichnetes Organisationstalent. Herrisch gab sie von morgens früh bis spät abends ihre Befehle und in ihrem bescheidenen Haus lief alles wie am Schnürchen. Obwohl sie viel von ihren Angestellten erwartete und verlangte, wurde sie von allen respektiert und geschätzt, denn sie hatte ein gutes Herz und verlangte nie Unmögliches.
Alea musste sich beeilen um mit Karina Schritt zu halten, welche zielstrebig durch en Flur ging. Mit einem Seitenblick bemerkte Alea, dass das lange beigefarbene Kleid, welches Karina trug, bei jedem ihrer Schritte um ihre Füße wehte. Eine sehr geschickte Schneiderin musst es angefertigt haben, denn Karina sah schlank und anmutig im Kleid aus, obwohl sie eine eher üppige Figur hatte.
„Was hast du nur gemacht, dass du so durchnässt hier ankommst? So weit ist es ja doch nicht von deiner Wohnung bis zu uns.” Karina riss sie aus ihren Gedanken und verwirrt überlegte Alea was sie wohl gefragt worden war.
„Nun, ich glaube es ist besser, du erzählst es uns später beim Abendessen. Sonst musst du alles zweimal erzählen... So, da wären wir auch schon.” Alea bejahte und wandte sich der Tür zu, vor der sie angehalten hatten. So weit sie sich erinnern konnte, musste sich dahinter das Gästezimmer befinden.
Karina öffnete die Zimmertür und bat Alea herein, welche auch sofort eintrat und sich umblickte. „Es hat sich hier seit meinem letzten Besuch nichts geändert.” erwähnte sie.
Tatsächlich war das Zimmer noch immer im gleichen Zustand, als vor ein paar Monaten. Das schwere Eichenbett stand an der linken Wand und hatte so gar noch den gleichen Überzug -eher wohl wieder den gleichen, denn Karina hatte sicherlich nicht versäumt das Bett frisch beziehen zu lassen. Der schöne Schreibtisch, ein Erbstück von Olafs Eltern, stand hinten und sah wie immer unbenutzt aus. Eine Schreibfeder samt Tintenfass und Blättern lagen darauf. Sogar die grässliche Kommode aus schwarzem Holz, die wie ein grober Klotz aus schwarzem Gestein aussah, an deren Rändern ein paar goldene Verzierungen, Blumen und Blätter, waren stand noch immer an ihrem angestammten Platz, obwohl sie offensichtlich nicht zu der restlichen Ausstattung passte. Alea fragte sich zum x-ten Mal, warum diese noch immer nicht abgeschafft worden war, denn eigentlich besaßen Olen und Karina einen sehr guten Geschmack. Und diese Kommode störte die sonst passende Einrichtung.
„Natürlich hat sich nichts verändert! Das Zimmer sieht doch gut aus, da gibt es nichts zu ändern”
Karina winkte Alea in die Mitte des Raumes und beäugte sie kritisch. Kopfschüttelnd untersuchte sie die Kleider, die tropfnass an Alea hinunter hingen und gänzlich ihre Form verloren hatten. Es schien als hätte sich Alea in einen nassen Kartoffelsack gekleidet.
„Nun zieh aber hurtig deine Kleider aus, sonst erkältest du dich noch.” Seit jeher wurde Alea von Karina bemuttert und lächelnd ließ sie es mit sich geschehen. Unglücklicherweise war Karinas Ehe nicht mit Kindern gesegnet, so dass sie in Alea eine Ziehtochter gefunden hatte. Inzwischen war Alea zwar alt genug um nicht mehr so umsorgt zu werden zu müssen, doch Karina konnte das gluckenhafte Benehmen einfach nicht ablegen.
Entschlossen griff sie an en Saum von Aleas Hemd, doch bevor sie ihre Worte in die Tat umsetzten konnte, klopfte es stürmisch an die Tür. Beide Frauen blickten zur Tür, welche gerade schwungvoll geöffnet wurde. Zwei spitzbübisch grinsende Jungen standen im Flur.
Beide trugen einfache Kleider aus Leinen. Der linke war etwas größer als der andere, doch besaßen beide die gleichen feuerroten Haare. Zudem trug der größere der Jungen ein Bündel Tücher auf dem Arm.
„Thom und Kyle. Habt ihr SCHON WIEDER vergessen dass man erst eintritt, nachdem man hereingebeten wurde?” Karina näherte sich ihnen kopfschüttelnd. Das Grinsen wisch nicht wirklich aus ihren Gesichtern, obwohl sie wenigstens genug Anstand besaßen und versuchten beschämt und demütig aus zusehen. Beide senkten den Kopf und schielten aus den Augenwinkeln zu Alea und Karina.
„Kyle!” Der größere der Jungen zuckte beim Klang seines Namens zusammen. „Wenigstens du, als Ältester, könntest doch versuchen deinem Bruder ein gutes Vorbild zu sein, Du wirst bald fünfzehn Jahre alt und benimmst dich noch immer wie ein Lausebengel!”
„Es tut mir leid, Herrin.”
„Was wollt ihr?” seufzte Karina nach einer kurzen Pause.
„Wir bringen Euch trockene Tücher. Es wird auch nicht mehr lange dauern, bis das Wasser genug erhitzt ist, damit Fräulein Alea baden kann. Außerdem lässt die Köchin fragen, wann sie das Essen auftischen soll.” eifrig wiederholte Kyle seine Botschaft.
„Nun, ich denke in einer guten Stunde, ist Alea fertig gebadet und frisch eingekleidet.” Karina nahm Kyle die Tücher ab. „So, nun macht dass ihr runter in die Küche kommt und trödelt nicht mit dem Wasser!” Sofort eilten beide den Flur entlang und Karina schloss die Tür. Das Poltern der beiden, die die Trappe hinuntereilten und zur Küche liefen drang bis ins geschlossene Gästezimmer.
„Irgendwann bringen die beiden mich noch um den Verstand!” stöhnte Karina und legte die Tücher aufs Bett.
Inzwischen hatte Alea begonnen ihre nasse Kleidung auszuziehen und auf den Boden zu legen. Dort lagen bereits ihre Hose und ihr Hemd, während sich um sie herum eine Pfütze bildete. Aleas Unterhemd fiel mit einem lauten Klatschen darauf.
Als sie schließlich nackt dastand brachte Karina ihr eines der trockenen, sauberen Tücher.
„Hier, wickle dich in dieses Tuch bis die Jungen dir die Wanne bringen.” Mit einem wohligen Seufzer schlang Alea es um sich. Inzwischen hob Karina die nasse Kleidung vom Boden auf.
„Ich gehe nur kurz weg um deine Kleider zum Trocknen aufzuhängen. Warte hier, es wird nicht lange dauern, Liebes.” Eilig schritt Karina mit Aleas Sachen beladen aus dem Gästezimmer.
Alea gähnte und ließ sich auf den Stuhl fallen. Seit Tagen war sie rund um die Uhr beschäftigt und hatte kaum noch Gelegenheit sich auszuruhen. Erschöpft schloss sie die Augen.
Erschreckt fuhr Alea hoch und blinzelte. Ein Geräusch hatte sie aufgeweckt. Trotz ihrer Müdigkeit funktionierten ihre geschultenen Sinne genauso gut wie immer. Sie spitzte die Ohren. Ein leises Kichern drang vom Flur zu ihr. Langsam stand sie auf, mit einer Hand hielt sie das Tuch fest, in das sie sich gewickelt hatte und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
Kaum war sie angelangt, da vernahm sie Thom und Kyles leise Stimmen. Ein Lächeln schlich sich in Aleas Gesicht und lautlos huschte sie zurück zum Stuhl.
Nur Sekunden nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, klopfte es stürmisch an der Tür, welche auch sofort schwungvoll aufgerissen wurde. Grinsend standen die beiden Jungen im Türrahmen und blickten erwartungsvoll in den Raum. Hinter ihnen stand auf dem Boden eine dampfende Holzwanne und einen kleineren Eimer.
„Es tut mir leid Jungs, aber Karina ist noch nicht zurück.”
Enttäuschung breitete sich auf den Gesichtern der Brüder aus. „Oh... Äh... wir haben Ihnen die Badewanne gebracht.” Mit diesen Worten drehten sie sich um, griffen ächzend nach der Wanne und schleppten diese in den Raum. Dabei schwappte etwas Wasser über als sie diese nieder stellten. Der jüngere der beiden brachte noch schnell den Eimer ins Zimmer, während der Ältere zu Alea trat.
„Ähm... Fräulein Alea... die Wanne steht bereit.”
„Danke Jungs.” Alea lächelte ihn verschmitzt an. Sie beugte sich etwas vor und flüsterte : „Karina wird bald wieder hier sein. Ihr könntet mir doch noch etwas... Seife bringen?”
Kyles Gesicht erhellte sich. „Sicher, Fräulein Alea.” Er verbeugte sich linkisch vor ihr und eilte nach draußen, gefolgt von seinem Bruder.
Erheitert verfolgte Alea sie mit ihrem Blick, als Thom’s roter Schopf wieder auftauchte. Ein ’Tschuldigung’ murmelnd schloss er die Tür und huschte davon.
Was für Rabauken! Alea näherte sich der Wanne und tauchte ihre rechte Hand vorsichtig ins Wasser. Noch zu warm...
„Alea? Darf ich eintreten?”
„Natürlich.”
Mit einer Unmenge an Kleidern beladen trat Karina wieder ins Gästezimmer. Vorsichtig legte sie diese aufs Bett und sah sich um.
„Nanu? Noch nicht am Baden?”
Alea schüttelte den Kopf. „Vorhin war das Wasser noch zu warm.”
„Ich habe dir ein paar trockene Kleider mitgebracht. Ich hoffe es ist eins dabei, das dir passt.”
„Kleider? nicht Kleidung?” misstrauisch beäugte Alea den Kleiderstapel auf dem Bett.
Eifrig nickte Karina und griff nach einem der Röcke. „Schau nur, gefällt es dir?” Sie hielt ein violettes bodenlanges Kleid vor sich und vollführte eine Umdrehung. An sich war das Kleid nicht auffällig, es war züchtig geschnitten und keine Stickereien verzierten es, aber am Saumende sowie an den Ärmeln blitze eine weiße Spitze hervor. Erstaunt stellte Alea fest, dass es keines von Karinas Gewändern war, denn es war für eine schlankere und größere Person genäht worden als Karina.
„Hast du etwa schon wieder...?” Stirn runzelnd blickte Alea zu ihr. „Du weißt doch, dass ich keine Kleider oder Röcke trage. Sie sind soooo unpraktisch.”
„Es ist alles nur eine Frage der Gewohnheit.” Sie legte das Kleid wieder aufs Bett und griff nach einem anderen. „Wenn dir violett nicht gefällt, wie wär’s denn mit diesem hier? Grün steht dir doch und es passt so gut zu deinem Haar.”
Alea verdrehte die Augen. „Karina, ich will nur ein paar bequeme Hose, ein einfaches Hemd und ...”
Stürmisches Klopfen unterbrach ihre Diskussion und wieder einmal wurde die Tür so heftig aufgerissen, dass sie fast aus den Türangeln flog. Zum dritten Male standen die beiden Brüder im Türrahmen und grinsten. Mit einem Seitenblick auf Karina bemerkte Alea, dass diese ärgerlich die Stirn runzelte. Sie verkniff sich ein Lachen.
„Wir bringen Fräulein Alea nur die Seife, die sie sich gewünscht hat.” strahlte Kyle und stellte ein kleines Stück Seife auf den Boden.
„Die Köchin braucht unsere Hilfe, Herrin.” Rasch verbeugten sie sich und schon flitzten sie wieder davon, ohne diesmal zu vergessen die Tür zu schließen.
„Mit euch rupfe ich später noch ein Hühnchen.” ärgerte sich Karina.
Alea konnte sich nicht mehr beherrschen und kicherte laut, was ihr einen wütenden Blick von Karina einhandelte.
„Nicht böse sein... Sie tun das doch nur um dich zu necken. Sie wissen sehr wohl, wie sie sich zu verhalten haben.” Erstaunlicherweise wich der ärgerliche Ausdruck auf Karinas Gesicht einem milderen.
„Ich weiß das sehr gut, Alea. Ich nehm es ihnen ja nicht wirklich übel, denn sie bringen Leben ins Haus. Dennoch...” traurig blickte Karina abwesend an Alea vorbei. Schweigen breitete sich aus.
„Ich denke das Badewasser müsste jetzt genau die richtige Temperatur haben.”
Olen stand im Esszimmer und drehte nachdenklich sein Weinglas in der Hand. Neben ihm flackerte ein Feuer im Kamin und verströmte ein wohlige Wärme, während der Feuerschein den Raum in ein warmes und freundliches Licht tauchte. In der Mitte stand ein großer schwerer ovalförmiger Eichentisch samt gepolsterten Stühlen der für drei Personen gedeckt war. Öllampen an den Wänden erhellten den Raum. Die Wände waren zudem mit ein paar Gemälden geschmückt auf denen Landschaften abgebildet waren. Um den großen Raum aufzufüllen standen auch ein paar niedrige Tischchen und Sessel zum Entspannen herum, sowie ein großer schwerer Schrank an der hintersten Wand.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Grübeleien. Vorsichtig öffnete eine Dienstmagd die Tür, trat leise ein und knickste. „Verzeiht gnädiger Herr. Eure Frau Gemahlin sowie Fräulein Alea sind fertig.”
Das junge Dienstmädchen trat zur Seite und gab den Blick auf Karina und Alea frei. Erstaunt starrte Olen seinen Schützling an. SO hatte er Alea noch nie gesehen. Ihre Haare waren zur Abwechslung mal nicht wirr und zerzaust, sondern glatt gekämmt, dass es im Licht der Lampen glänzte. Ihre Männerkleidung hatte sie gegen ein dunkelgrünes langes Kleid ohne Stickereien getauscht, welche ihre schmale Taille betonte. Die weiten Ärmel des Kleides reichten knapp über den Ellbogen. Obwohl sie nicht geschminkt war und obwohl sie ein einfach geschnittenes Kleid trug, wirkte sie wie eine verzauberte, überirdische Schönheit. Wehmütig dachte Olen, dass es sie nicht kümmerte ob sie fraulich wirkte oder nicht. Er wäre bereit sein gesamtes Vermögen darauf zu verwetten, dass sie sonst jedem jungen Mann, nein jedem MANN der Stadt den Kopf verdrehen würde.
Fragend warf er seiner Frau einen Blick zu. Diese stand neben Alea und strahlte zufrieden, da sie seine Reaktion bemerkt hatte.
„Siehst du, Kleider stehen dir wunderbar!” freute sich Karina. „Du solltest öfters welche tragen.“
Alea fühlte sich unwohl in ihrer Haut und schaute unsicher zu Boden, die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt.
Karina trat in den Raum ein und Alea blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen. Trotz ihrem veränderten Äußeren hatte sich ihre burschikose Art und Weise zu gehen nicht verändert, was ein schiefes Grinsen bei Olen hervorlockte.
Olen riss sich vom Bild seines veränderten Schützlings los und eilte an den Tisch. Er ließ sich am Kopfe nieder und Alea nahm gegenüber Karina Platz. An die Dienstmagd gewandt rief er : „Ihr könnt auftragen!”
„Alea, du siehst bezaubernd aus!” Olen musterte sie bewundernd. „Ich glaube, dass es nicht mal am Hofe des Königs so hübsche, junge Frauen wie dich gibt.”
Alea errötete.
„Ich freue mich, dass das Kleid, das ich für sie habe nähen lassen, ihr so gut passt. Wenn sie die anderen auch nur einmal anziehen würde...”
„Trotzdem sind sie unpraktisch, nicht wahr Olen?” warf Alea ein.
„Nun, ...” Olen zögerte „sie sind schon unpraktisch... aber wenn du SO in der Stadt gesehen würdest, hättest du eine gute Tarnung.”
„Ich brauch keine Tarnung. Als deine Tochter, die dir bei deinem Handel hilft, habe ich schon genug Tarnung.” antwortete sie störrisch und reckte das Kinn hervor.
Inzwischen tischten Thom, Kyle und das Dienstmädchen das Essen auf. Es gab ein gefülltes Huhn, sowie eine Schüssel mit Gemüse und ein paar Scheiben Brot. Hungrig langte Alea zu und das Essen stapelte sich auf ihrem Teller, was ihr einen tadelnden Blick von Karina einhandelte.
Niemand sprach während dem Essen. Alea genoss es, endlich mal nicht mehr die faden Gemüsebrühen aus den kleinen Tavernen zu essen. Das Fleisch war zart und köstlich, das Gemüse frisch vom Markt und die Brötchen sogar noch ein bisschen warm.
„Nun Alea, was hast du denn wieder getrieben? Hast du mal wieder jemanden beschattet, oder warum bist du so pitschnass bei uns angekommen?” brach Olen schließlich das Schweigen.
„Nein.” seufzte sie „Ich war außerhalb der Stadt im Kloster.”
„Im Kloster? Was hast du denn da gemacht?”
„Nun, es ist eine längere Geschichte, aber ich werde mich kurz fassen: Sheeriah wurde anscheinend beim Stehlen erwischt und eingesperrt. Larkan, Nefir und ich wollten sie befreien, aber als wir bei den Verliesen waren, habe ich gesehen wie sie von seltsamen Gestalten in Roben entführt wurde. Diese ließen einen Siegelring fallen und nun bin ich auf der Suche nach Informationen über den Ring.”
„Das arme Kind.” Karina schlug die Hände zusammen. „Ich hoffe dass du sie bald findest.“
„Seltsam...” murmelte Olen nachdenklich. Er streckte die Hand aus. „Kann ich den Ring einmal sehen? Vielleicht kann ich dir helfen?”
„Klar.” Alea griff an ihre Seite und musste feststellen dass sie den Beutel mit den Dietrichen und dem Ring oben im Gästezimmer gelassen hatte. Karina hatte sich geweigert ihr den abgenutzten Lederbeutel zu geben, denn er passte nicht zum Kleid.
„Ich habe ihn jetzt nicht bei mir... aber... ich kann ihn dir trotzdem zeigen.” Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, rief sich in ihrem Inneren ein Bild des Siegelrings vor Augen.
Langsam entstand mitten über dem Esstisch ein vergrößertes Bild des Rings auf dem man deutlich das Siegel erkennen konnte. Vor Überraschung verschluckte sich Karina an einem Stück Brot und Olens Augen weiteten sich während er seine Gabel fallen ließ. Karina hustete und trank einen Schluck Wein.
„Lass das!” Der wütende Unterton durchbrach ihre Konzentration und das Bild verflog.
Verwirrt öffnete Alea die Augen.
„Wie OFT habe ich dir schon gesagt, dass du diese Fähigkeit NICHT öffentlich zur Schau stellen sollst??” Olen schien sichtlich erbost, denn er stand so schnell auf, dass der Stuhl mit einem lauten Krachen umkippte.
„Ich habe dies doch schon öfters bei dir getan?” wehrte sich Alea. Olens Oberlippe zitterte leicht und er war erbleicht. „Du weißt nie, wer dies mitbekommt.”
„Aber dein Haus ist doch gut bewacht...”
„Du hast KARINA vergessen!” schrie er jetzt fast.
Schuldbewusst blickte Alea zu Karina. Diese starrte sie ängstlich an, doch als sie Aleas Blick bemerkte rang sie sichtlich um Fassung. „Ich denke, ich lasse dich jetzt besser mit Karina allein...” meinte sie und stand langsam auf. „Es tut mir leid, Karina. Ich wollte dich nicht... erschrecken. Und Olen... es... es tut mir leid.” Sie verabschiedete sich und verließ das Zimmer.
Kapitel 5 -Nefir
Alea lag ausgestreckt auf ihrem Bett und starrte die Decke an. Zum xten Male verfluchte sie sich selbst für ihre unbedachte Handlung am Vorabend. Sie hatte Karinas Anwesenheit komplett vergessen und verraten dass sie Magie beherrschte. Nun hoffte sie dass Olen Karina beruhigen konnte und alles wieder ins Lot kam.
Seit dem ersten Zeitalter gab es in Nafaril keine Magie mehr. Damals verursachten die Blutzauberer einen Krieg, der den gesamten Kontinent betraf. Heutzutage wusste niemand mehr, aus welchem Grund der Krieg ausbrach, doch jeder kannte die verheerenden Folgen.
Die Blutzauberer hatten ein riesiges Heer auf die Füße gestellt. Nicht nur dass es Zehntausende, nein Hunderttausende Soldaten zählte, aber die Zauberer hatten zudem auch noch Dämonen aus der Hölle beschwört. Ihr Vormarsch war relativ langsam, doch nur weil sie sich die Zeit nahmen alle Städte und Dörfer niederzureißen die sie einnahmen.
Jeder der sich ihnen nicht anschloss wurde von den Dämonen gnadenlos gejagt und grauenvoll gefoltert. Abends konnte man das Kreischen und Heulen der Dämonen hören, die sich ein Vergnügen daraus machten ihre Widersacher zu quälen. Doch noch schlimmer waren die verzweifelten Schreie der gefangenen Soldaten. Am Schluss ließen sie die Leichen liegen, so dass andere sie finden mussten. Dies diente wirkungsvoll als Abschreckung, denn die Spuren die die Folter hinterlassen hatte, die abgetrennten Gliedmaßen sowie die Bisswunden auf dem gesamten Körper schüchterten ihre Gegner ein. Ein jeder hatte abends Alpträume und die meisten Soldaten brachten sich nach einer verlorenen Schlacht lieber um, als solch ein Schicksal zuzulassen.
Die wenigen noch existierenden Schriften aus dieser Zeit geben keine Hinweise wie der Krieg schlussendlich beendet wurde. Aber sie zeugen von der Existenz anderer Völker wie Elben, Zwerge,Drachen... die sich jedoch entschlossen die Menschen allein zulassen in diesem Krieg, da Menschen, die ihre Macht missbrauchten den Krieg entfesselten und in eine andere Welt auswanderten.
Nach dem Krieg beschlossen alle überlebenden Menschen, die Magie aus Nafaril zu verbannen, denn mit ihrer Hilfe wurden die schrecklichsten Taten während des Krieges begangen. Sie war es, die den Blutzauberern erlaubten die Dämonen zu beschwören, sie half ihnen Reich um Reich zu unterjochen und binnen weniger Stunden eine gesamte Stadt auszulöschen.
Alea seufzte und drehte sich auf den Bauch. Und nun hatte sie Karina verraten, dass in ihr Magie wohnte. Es war jetzt gut fünfzig Jahre her, dass der letzte Mensch mit magischen Fähigkeiten auf Nafaril geboren wurde. Damals wurde der Junge knapp achtzehn Jahre alt, bis die Dorfbewohner herausgefunden hatten, was es mit ihrem Mitglied auf sich hatte. Den nächsten Morgen erlebte der nicht mehr. Und an die Art seines Todes zu denken, verursachte ihr Übelkeit.
Die andern noch lebenden Magier, falls man die überhaupt so bezeichnen konnte, hatten sich einem Königshaus verdingt. Genossen deren Schutz aber ihre Fähigkeiten waren Besitz der Herrscher. Freiheit war für die ein unbekanntes Wort.
Innbrünstig hoffte sie, dass Karina es gut auffassen würde. Heute Abend würde sie selbst noch einmal zu Karina gehen um ihr Rede und Antwort zu stehen. Aber vorher hatte sie noch einiges zu erledigen und entschlossen richtete sie sich auf.
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2010
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