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Einst lebte ein König in einem großen Schloss am Rande des finsteren Waldes. Allein hinter kalten Mauern und eisigen Zinnen schaute er Tag für Tag aus dem Fenster auf das nahe stehende Dorf und verhasste die Menschen, die dort lebten. Denn sein Herz war so schwarz, wie das Gefieder einer Rabe und so ward er von jedem nur Rabenherz genannt.

So kam es, das des Dorfschmieds Nichte zu Pferd durch den Wald irrte, auf der Suche nach dem Dorf ihres Onkels und streifte die Grenze des schwarzen Königs. Als dieser dies sah, befahl er das arme Mädchen zur Strafe für drei Tage und drei Nächte in den Kerker zu werfen.

Doch schon am nächsten Morgen, als der dunkle König das verletzliche Klagen, das das Mädchen vor Kälte ausstieß, hörte, sprach er zu seinen Dienern: „Ehe die Sonne untergegangen und der erste Tag vergangen ist, will ich dem Kind ein Rätsel stellen. Findet sie die Lösung, will ich ihre Gefangenschaft erleichtern.“

So kam es, als die Sonne untergegangen und der erste Tag und die erste Nacht der Gefangenschaft vergangen war, dass der dunkle König in den Kerker hinab schritt und vor das weinende Mädchen trat. „Willst du mein Rätsel lösen, welches ich dir stelle, so werd ich mich gnädig erweisen und dir eine wärmende Decke gegen die eisige Kälte geben!“ Sprach er. „Löst du es nicht, so wirst du frieren. Denke weise!“
Das Mädchen hörte auf zu weinen, blickte in des Königs eisige Augen und nickte.
„Ich bin scharf, wie ein Schwert,
aber schneide nicht.
Mein Stich schmerzt,
aber nicht körperlich.
Ich bin eine Waffe,
aber du nimmst mich nicht in die Hand.
Was bin ich?“
Das Mädchen überlegte kurz, doch die Antwort kam ihr rasch in den Sinn. „Die spitze Zunge. Sie ist scharf wie ein Schwert, sie ist eine Waffe und fügt keinerlei körperlichen Wunden zu.“
Des Königs Gesicht blieb ausdruckslos, er nickte kurz und warf ihr einen Mantel zu, damit sich das Mädchen wärmen konnte und verschwand.

Am zweiten Morgen weinte das Mädchen vor Hunger und ihr Klagen erreichte des dunklen Königs Ohren. Da sprach er erneut zu seinen Dienern: „Ehe die Sonne untergegangen und der zweite Tag vergangen ist, will ich dem Kind ein Rätsel stellen. Findet sie die Lösung, will ich ihre Gefangenschaft erleichtern!“

Als die Sonne am Abend unterging und der zweite Tag und die zweite Nacht der Gefangenschaft vergangen waren, stieg der dunkle König die vielen Stufen zum Kerker hinab und öffnete die schwere Eisentür hinter der das Mädchen gefangen gehalten wurde. „Wenn du mein Rätsel lösen willst, welches ich dir stelle, so werd ich mich gnädig erweisen und dir etwas zu Essen gegen den Hunger geben.“ Sprach er. „Löst du es nicht, so wirst du hungern. Denke weise!“
Die Nichte des Dorfschmieds schluchzte jämmerlich, doch sie horchte auf, als Rabenherz sprach.
„Wer sagt, ich sehe dich,
aber du mich nur am Tage.
Ich bin dein Ebenbild,
doch nachts geh ich verloren!“
Das Mädchen hatte die Lösung rasch auf der Zunge. „Der Schatten. Er sieht genauso aus, wie man selbst und nachts kann man ihn nicht sehen.“
Grimmig, über die Klugheit des Mädchens, warf er ihr ein Laib Brot zu und verschwand.

Als am darauf folgenden Morgen abermals das Klagen des Mädchens vor Heimweh erklang, erbarmte sich König Rabenherz erneut und erwägte, am Abend dem Mädchen ein weiteres Rätsel zu stellen.
Kaum war die Sonne untergegangen und der dritte Tag und die dritte Nacht der Gefangenschaft vorüber, ging der König zum Kerker hinunter und trat mit eiserner Miene vor das das Mädchen.
„Willst du mein Rätsel lösen, Kind, so bist du frei! Denke weise!“ Sein Gesicht wirkte hart, wie aus Stein gemeißelt.
„Ich bin dein ständiger Begleiter,
doch kannst du mich nicht sehen.
Ich spreche zu dir in weiser
Oder zwiespältiger Zunge,
denn hören kannst du mich.
Ich bin mal gut, mal böse,
doch mein Wort lenkt dich in eine andere Richtung!“
„Das Gewissen! Es spricht mit guter oder mit böser Zunge und beeinflusst das Denken eines Menschen.“ Sagte das Mädchen und stand vom Boden auf, als Rabenherz ihm den Weg aus dem Kerker freigab.
„Du bist frei, es ist dein freier Wille zu gehen, wohin du willst.“ Sprach er.
„Doch bevor ich gehe, erlaubt mir, Euch ebenso ein Rätsel stellen zu dürfen.“
Rabenherz schnaubte, willigte dennoch ein.
„Was ist lieblich und treu ergeben,
spendet Wärme und Freude.
Was spricht stets die Wahrheit
und ist bedingungslos und ewig?“
Rabenherz überlegte kurz, bevor er sprach. „Für dieses Rätsel gibt es keine Antwort. Das, was du suchst, gibt es nicht!“
Obwohl das Mädchen hungrig, müde und erschöpft war, lächelte es und sagte: „Die Liebe!“
Da sah der König die Freude in ihren Augen, die Wärme in ihrem Herzen, hörte, wie sie die Wahrheit sprach mit der Lieblichkeit in ihrer Stimme. Da ging ein Ruck durch seinen Körper und ein Rabe entsprang aus seiner Brust und flog in die Nacht hinaus.
So war er dem Mädchen ewigen Dank verpflichtet, denn er empfand wieder Liebe. Sofort wurde Hochzeit gefeiert und alle Raben aus dem Königreich verbannt.
Und wenn sie nicht vergessen sind, so lieben sie noch heute…

Impressum

Texte: Arwen
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Schwester, die mir beim träumen half.

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