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Wie ein Kaleidoskop glitzerte das Spiegelbild des Regenbogens auf der Oberfläche des Meeres. Die Farben schienen ineinander zu verlaufen, vermischten sich mit dem sanften auf und nieder der Wellen zu einem neuen Bild, nur um gleich darauf zu einer abstrusen Struktur zu verfallen. Sonnenstrahlen vertrieben die regenschweren Wolken, die noch eben den Himmel in ein graues, waberndes Gebilde geformt und der aufkeimende Wind türmende Wellen aus dem sanften Meer gelockt hatte. Nun lag das Riff wie ein sonnenumflutetes Ölgemälde harmonisch umgeben von den leuchtenden Farben des Regenbogens vor dem nähernden Bug der Purple Sky. Umso beunruhigender war deshalb die Tatsache, dass noch vor wenigen Minuten ein tosender Sturm über das Wasser getobt und die Hälfte der Besatzung des Schiffes über die Rehling gefegt hatte.
Mit ehrfürchtigem Blick hob der Captain des Schiffes den Kopf über die Brüstung und ließ die müden Augen über die herrliche lichtumflutete Landschaft schweifen. Noch eben hatte der Captain über die Besatzung seines Schiffes gebangt und musste über schwankendem Boden unter den Füßen feststellen, dass alles Beten und jegliches Fluchen vergeblich waren und der gierige Schlund des Meeres die besten Männer des Schiffes wie Würmer verschluckt hatte. Nun herrschte die Ruhe nach dem Sturm und das sonnengetränkte Riff lachte hämisch, als läge das Schlimmste noch bevor.
„Hey Captain!“ Eine tiefdröhnende Stimme drang vom Bug des Schiffes, gefolgt von donnernden Schritten, die über den aufgeschwemmte Holzboden polterten. „Wir sollten zum Festland zurück.“
Die junge Frau dreht sich von der Brüstung weg und wandte sich dem älteren Mann zu, der sie mit blauen Augen traurig ansah. Seine wettergegerbte Haut war von der Sonne faltig und ledrig geworden und aus seinen wässrigen Augen schien die Sehnsucht des Meeres zu fließen.
„Bist du der Captain dieses Schiffes, Maat?“ Fragte die junge Frau, doch als Antwort erhielt sie nur ein stummes Kopfschütteln.
„Wir haben durch diesen Sturm viele unserer Männer verloren und wir möchten einfach nur aufs Festland zurück, um uns auszuruhen und den Verlust zu beklagen.“ Der Alte sprach ruhig und gelassen, selbst dann, als die junge Frau sich vor ihm aufbaute.
„Und wer verlangt diese Anweisung?“ Dunkle Locken fielen unter dem breiten Hut hervor, als die junge Frau die Krempe anhob um dem Blick des Mannes zu erwidern.
„Die gesamte Besatzung, Captain!“ Antwortete der Mann vor ihr, diesmal zitterte seine Stimme vor Furcht. Hinter dem Rücken des Alten baute sich ein Trupp grobschlächtiger und breitschultriger Männer auf. Ihre abwehrende Körperhaltung neigte zur Gewaltbereitschaft, die verschränkten Armen vor der muskulösen Brust verhieß, dass sie keine Kompromisse eingingen. Die Frau warf einen verächtlichen Blick über die Schulter des Alten, vierzehn Augenpaare erwiderten ihn grimmig.
„Und warum schicken sie einen senilen, alten Mann vor, um mir das zu sagen?“ Der Captain drängte sich an dem Alten vorbei und ging vor der aufständigen Crew auf und ab.
„Weil Ihre Crew Angst vor Ihnen hat, Captain Mary-Rose!“ Ertönte die Stimme des Alten wie ein zittriger Aal.
Mary-Rose lachte vor Belustigung laut auf. Vierzehn hochgewachsene Muskelmänner, fünfzehn, wenn sie den gebrechlichen Alten mitzählte, fürchteten sich vor einem kleinen, schmächtigen Mädchen. ,Wenn nur Vater oder Derek hier wäre, um mir zur Seite zu stehen.’ Dachte sie und verbarg die zittrigen Hände hinter dem Rücken.
„Ich hatte Ihren Vater damals gewarnt.“ Begann der Alte weiter, diesmal etwas selbstsicherer, da er sich den Rückhalt seiner Mannschaft gewiss war. „Ich hatte Ihrem Vater gesagt, als er nach dem Tod Ihrer Mutter Sie aufs Schiff nahm, dass Frauen auf dem Meer nichts zu suchen haben.“
Zustimmendes Gemurmel war von der Crew zu hören, doch niemand wagte es, den Unmut des Captain auf sich zu ziehen.
„Na also, der Alte beweist Mut.“ Mary-Rose klang selbstbewusst. „Schön. Eine Meuterei unter der eigenen Besatzung. Auf euch kann jeder Captain Stolz sein. Besonders mein Vater.“ Sie stockte und schluckte, beim bloßen Gedanken an ihren geliebten Vater, aufkeimende Tränen herunter. „Ihr habt ihm die Treue geschworen.“ Wütend und enttäuscht schritt Mary-Rose vor den schwergewichtigen Männern auf und ab und blieb vor jedem stehen, um ihm fest in die Augen zu sehen. Die meisten konnten ihrem Blick nicht Stand halten und sahen in die entgegengesetzte Richtung oder einfach über sie hinweg. „Und nun prägt euch meine nächsten Worte gut ein.“ Sie zog das langgeschwungene Schwert aus dem Halfter an ihrem Gürtel heraus und betrachtete die scharf zulaufende Klinge. Ihr Vater, Captain Hornigold, hatte ihr vor seinem Tod sein Schwert und die ihm damit verbundene Bürde überreicht. Sie hatte seine Hand gehalten, während sein zerfetzter und erkalteter Körper den letzten Atem aushauchte. Piraten hatten die Purple Sky kapern und Mary-Rose entführen wollen, doch ihr Vater hatte sich ihnen mutig entgegengestellt und sie alle in die Flucht geschlagen. Doch dafür hatte er einen zu hohen Preis zahlen müssen. Sein Leben.
Die junge Frau schwang das Schwert in die Höhe, damit sich jedes Crewmitglied dessen Bedeutung ins Gedächtnis rufen konnte. Dabei sah sie aus, wie ein kleines Kind, das unbeholfen mit einem scharfen Messer spielte. Instinktiv wünschte sie sich Derek oder ihren Vater herbei, doch niemand war da, um ihr zur Seite zu stehen. Sicherlich hätten die Männer auch auf Derek gehorcht, weil er selbst einer war, doch sie, Mary-Rose, musste sich erst einmal als Frau und als Captain beweisen. „Ich lasse jeden über die Flanke springen, der sich mir und der Entscheidung meines Vaters, mich nach seinem Tod zum Captain der Purple Sky zu machen, widersetzt. Darüber hinaus steht es jedem Crewmitglied zu, frei zu gehen. Solang er Kraft genug besitzt, bis zum Festland zu schwimmen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Ein leises, zustimmendes Gemurmel war von der Besatzung zu hören. Doch genauso gut hätten sie nichts erwidern können. Mary-Rose wusste bereits, dass ihre Worte einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Auch wenn die gesamte Mannschaft sich über Nacht heimlich vom Schiff aufs Festland stehlen würden, so war dies kein besonderer Verlust zu verschmerzen. Ihr blieb immer noch Derek und ihr gemeinsamer Traum, zusammen die Welt zu umsegeln.
Seufzend steckte Mary-Rose das Schwert ihres Vaters zurück in den Halfter, während die versammelte Mannschaft wie Ameisen auseinander stob und sich über das Deck der Purple Sky verteilte. „Lockert das Segel!“ Rief sie den Männern auf dem Mast zu und beobachtete, wie das violette Segeltuch der Purple Sky losgelassen und vom Wind aufgebauscht wurde, so dass es aussah, wie violette Wolken, die über den Himmel zogen.
Während sich Mary-Rose wieder dem markelosen Antlitz des Riffs und des azurblauen Meeres zuwandte und in Erinnerungen an die smaragdgrünen Augen ihres Geliebten Dereks schwelgte, spürte sie erneut die raue Anwesenheit des Alten, der sich zu ihr an die Brüstung gesellte.
Sein ergrautes Haar versteckte er unter einem purpurfarbenem Tuch, welches er an der Seite zu einem Knoten gebunden hatte um somit sein Haupt vor den kräftigen Sonnenstrahlen zu schützen, die ihm sonst die Haut vom Kopf ätzen würde. „Ihr werdet ihn nicht finden, Captain!“
„Und habt Ihr nicht etwas zu tun, Maat?“ Bellte Mary-Rose den Alten an, denn sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, denn ihre Hoffnung würde das Letzte sein, was in ihr sterben würde.
„Niemand anderes kann diesen schlimmen Sturm außer uns überlebt haben. Das wir teils unbeschadet aus diesem Unwetter kamen, grenzt schon an ein Wunder!“
Die junge Frau erwiderte nichts. Es stimmte, dass selbst sie nicht zu glauben wagte, dieses schwere Unwetter zu überleben und dennoch segelte ihr Schiff, mit zwölf Mann weniger, über das azurblaue Meer und suchten das Riff nach Überlebenden ab. Derek war Captain der Red Flag, einem Handelsschiff, welches vor ihnen auf dem Weg nach England war, um dort teure Seide und Gewürze aus Indien zu verschiffen. Dies sollte seine letzte Amtshabung sein, denn gleich danach wollten er und Mary-Rose gemeinsam die Welt umsegeln.
„Wenn es Eure Liebe wäre, die Ihr aus dem Meer fischen müsstest, dann würdet Ihr auch nicht so leicht aufgeben…“ Mary-Rose’ Ansprache wurde jäh unterbrochen, als der Ruf des Obermaats auf dem Korbmast all ihre Sinne benebelte.
„Rote Flagge gesichtet!“ Der Obermaat, ein stämmiger, glatzköpfiger Bursche, klappte das Fernrohr ein und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den roten Fleck einpaar Hundert Meter vor ihnen auf dem Meer.
Mary-Rose zitterte am gesamten Körper, abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. Übelkeit stieg in ihr hoch, während ihr wildpochendes Herz sich an ihren Rippen aufzuspießen drohte. Eilig rannte sie die Stufen zum Oberdeck hinauf, schnappte sich das Steuerruder und hielt Kurs auf den dahintreibenden roten Punkt in der Ferne. Noch immer trug sie die Hoffnung in sich, dass die violetten Segeln der Purple Sky sie nicht in ein Meer aus verlorenen Seelen trieb, deren Schiff durch den Sturm ans Riff geschleudert wurde und gekentert war, sondern dass irgendwo zwischen all den Trümmern Überlebende auf Rettung warteten. Doch als das Schiff sich der roten Flagge näherte und das steilliegende Bug zwischen Trümmern und leblosen Leichen dahintrieb, verspürte Mary-Rose die Hoffnung in sich sterben.
„Captain!“ Rief eine raue Stimme vom Unterdeck. „Wir haben ihn gefunden!“
Mary-Rose überschlug sich fast, als sie die Treppe zum Unterdeck hinabrannte und schleuderte sich beinahe selbst über die Rehling, als diese sie aufhielt, um die grausige Entdeckung des Maats mit eigenen Augen zu sehen. Ein bleicher Körper, trieb aufgedunsen inmitten des Meeres, seine smaragdgrünen Augen blickten so hilflos und flehend, so dass Mary-Rose in Starre verfiel und nichts anderes tun konnte, als den Körper im Meer der verlorenen Seelen weitertreiben zu lassen und ihm traurig hinterher zusehen. Lange sah der junge Captain ihrem Geliebten hinterher, bis er als kleiner Punkt in der Ferne verschwand. Erst dann schluckte sie all ihre Traurigkeit hinunter und löste sich aus ihrer Starre. „Zum Festland!“ Barschte sie die Mannschaft an, die sich im Halbkreis um sie herum versammelt hatten. „Seid ihr taub? Das ist doch das, was ihr wolltet!“
„Es tut mir Leid um Derek, Captain.“ Die Stimme des Alten ertönte in einem sanften Ton und als Mary-Rose sich zu ihm umdrehte, schenkte er ihr mitleidvolle Blicke. „Es tut mir ehrlich leid!“
Einen Moment schwieg Mary-Rose, um die Wut in sich zu bändigen, die in ihr aufkam. Dann ballte sie die Hände zu Fäusten und murmelte: „Über Bord!“ Tränen brannten in ihren Augen, als sie die Worte aussprach. Sie wollte keinen Mitleid. „Über Bord mit ihm. Und jeder, der sich meinen Befehlen widersetzt, kann gleich hinterherspringen!“
Zornig rannte sie in die Kabine, kramte in den Kisten nach einer Flasche Rum, mit der sie den Kummer und den Schmerz, der in ihrem Innern selbst wie ein Orkan tobte, herunterzuspülen und betrachtete aus dem Fenster den herrlich geschwungenen Regenbogen und das sonnenumflutete Riff, welches sie hämisch anlachte.

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010

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