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„Es gab Kaninchen, die hatten lange Ohren. Manche von ihnen besaßen Stehöhrchen, andere wiederum Hängeöhren, die seitlich von ihren Köpfen herabhingen und wie Zöpfe aussahen.“ Die ältere Frau wippte auf dem Schaukelstuhl hin und her, während sie in tiefen Erinnerungen schwelgte. „Sie waren bedeckt von samtig, weichem Fell in den unterschiedlichsten Farben. Schwarz, weiß, rot, grau, braun…“
Syrah lag auf dem Boden vor dem Kamin, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, versuchte sie mit geschlossenen Augen den Erzählungen ihrer Großmutter Form und Gestalt einzuverleiben. Wie mochte sich wohl das Fell eines Kaninchens anfühlen? Wie schnell schlug sein Herz, wenn man es auf dem Arm trug und seine Hängeöhrchen kraulte?
„Einige Kaninchenrassen waren einfarbig, mache hatten farbige Tupfen auf ihren filigranen Körper. Doch sie alle hatten den friedlichen und unbeschwerten Charakter eines Teddybären!“ In den strahlenden Augen glitzerten Tränen, die im flackernden Schein des Feuers im Kamin wie blaue Saphire glänzten. Das verträumte Lächeln im gealterten Gesicht der Frau wirkte fremd, als hätte sie dies das letzte Mal vor langer Zeit getan, während die trüben Augen starr ins Leere blickten, als hielten sie die Erinnerungen fest, die durch ihre Erzählung in ihr aufkamen. „Als kleines Mädchen besaß ich ein Kaninchen. Ich wollte immer ein Haustier haben und doch waren meine Eltern strikt dagegen. Am Weihnachtsmorgen erwachte ich vom Duft von Anis und Zimt. Meine Mutter war in der Küche und backte Plätzchen und Kuchen für den Weihnachtsabend.“ Die ältere Frau zog tief die Luft ein und behielt sie einige Sekunden in den Lungen, ehe sie sie wieder ausspie, als läge der Geruch von Zimt und frischgebackenen Keksen in der Luft. „Mein Vater saß auf seinem Lieblingssessel und las die Morgenzeitung. Er sah strahlend zu mir auf, als ich ins Wohnzimmer eintrat und sagte mir, dass der Weihnachtsmann schon früher bei mir gewesen sei, weil er noch viele Kinder zu besuchen hatte und bis zum Abend nicht mehr rechtzeitig alle seine Geschenke verteilen konnte. Vater führte mich zum Weihnachtsbaum, den meine Mutter und ich am Abend zuvor mit roten Kugeln und goldenem Lametta geschmückt hatten. Unter dem Baum saß ein weißes Kaninchen mit einer roten Schleife um den Hals. Es war so klein, dass es in meine Handfläche passte. Ich nannte es Flöckchen, denn es war so weiß, wie die Schneeflocken, die an diesem Mittag vom Himmel fielen.“
Syrah schmunzelte betrübt, drehte sich zur Seite und stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Boden ab, während sie den Kopf auf ihre ausgebreitete Handfläche bettete. Mit der freien Hand tastete sie nach dem lodernden Feuer, welches als Hologramm zwischen den Metallblöcken des Kamins bläulich schimmerte. Es fühlte sich kalt und unwirklich an und flimmerte, wie eine defekte Neonröhre. Wie fühlte sich wohl Wärme an? Wie sahen Farben aus? „Sag mal, Nana, was vermisst du am Meisten?“
Die Denkfalte, die über der Nasenwurzel erschien, wurde neben den Altersfalten, die sich wie feine Furchen in ihr Gesicht gegraben hatte, kaum wahrgenommen. Die ältere Frau lächelte bekümmert und blickte auf ihre Hände hinab, die sie in ihrem Schoß, wie zu einem Gebet ineinander verharkte. „Weißt du, Syrah, ich bin alt und an vieles kann ich mich nicht mehr erinnern. All diese schönen Dinge sind in meinem Gedächtnis verblasst, wie Aquarelle im Sonnenlicht. Als ich hierher kam war ich siebenunddreißig Jahre alt und ich wurde nur von der Regierung zu diesem Projekt zugelassen, weil ich jung und gesund war und lebensfähige Kinder hatte. Deine Mutter war zwei, als ich mit ihr und ihrem Bruder Martin vor der Katastrophe geflohen bin. Deine Mutter hat die Strapazen überlebt, Martin jedoch starb beim Übergang. Vielleicht sind es Martin und dein Großvater, die ich am Meisten vermisse. Oder einfach nur der Gesang von Vögel, der blumige Geruch des Frühlings, das Lachen von spielenden Kinder…“ Nana stockte, um den dicken Klos hinabzuwürgen, der wie ein Geschwür in ihrem Hals heranwuchs. „Im Exil habe ich noch nie Kinder lachen gehört und Kaninchen gibt es hier auch keine. Es ist ein trauriges Leben hier im Exil, Syrah. Aber ändern können wir an diesem Zustand wenig. Wir Menschen haben damals unser eigenes Schicksal besiegelt und ihr, du und deine Generation Syrah, die hier im Exil geboren wurdet, müsst unter unseren Fehlern leiden!“
„Du kannst doch nichts dafür, Nana!“ Versuchte das Mädchen ihre Großmutter zu trösten und beobachtete, wie sie den Kopf auf die mit Schaumgummi überzogene Kopfstütze legte und sachte die Augen schloss. Die feine Mechanik im Schaukelstuhl wurde von Gedankenkraft gesteuert und wippte gleichmäßig vor und zurück. „Es ist nicht deine Schuld, was passiert ist!“
„Aber wir alle hatten es vorausgesehen! Es ist das eingetreten, was früher oder später geschehen musste. Die Katastrophe, hervorgerufen durch Menschenhand.“ Sie schüttelte schnaubend den Kopf. „Welch eine Ironie. Wir Menschen glaubten, wir seien die Krone des Schöpfers und wir könnten mit unseren Händen unser eigenes Paradies erschaffen, welches wir mit denselben Händen in unsere eigene Hölle verwandelt hatten.“
Syrah schwieg. Sie hatte nicht nur vieles über die Alte Welt erfahren, sondern auch über deren Untergang. Der Mensch war nicht Gottes höchste Schöpfung, sondern deren Krankheit, mit der er die Welt bestrafen wollte. Der Mensch war ein Parasit, eine Plage, der Vorbote zum jüngsten Gericht!
„Das Beste an meinem Schicksal ist,“ sprach Nana mit ruhiger und belegter Stimme. „dass ich alt bin und bald sterben werde. Nach meinem Tod kann ich dorthin zurückkehren, wo ich hergekommen bin. Für mich kann es kein schöneres Himmelreich geben, als in mein altes Zuhause zurückzukehren. Aber dir, Syrah, bleibt nur noch ein Leben in Trostlosigkeit übrig. Ich bedauere dich sehr dafür, meine Kleine! Ich habe mir für meine Nachkommen ein besseres Leben gewünscht.“
Lange starrte Syrah in das zuckende Hologramm im Metallkamin und dachte über die Worte ihrer Großmutter nach. Sie kannte nur diese Welt, ein Leben im Exil, gefangen in einer Glaskuppe, die ihr aller Überleben bedeutete. Nana war der letzte lebende Mensch, der sich an die Alte Welt erinnerte, der letzte Mensch, der das Unglück von damals überlebte und darüber berichten konnte, als wäre es erst gestern geschehen. Sie wusste über die Jahreszeiten Bescheid, über Tiere, die im Wasser lebten, Bäume, deren Wipfel bis in den Himmel ragten. Viele Male hatte sie versucht, sich diese Objekte in den Erzählungen bildlich vorzustellen, doch ihre Fantasie reichte gerade nur soweit, wo die Glaskuppe anfing und wo sie endete.
Das Mädchen stand auf, schaltete das Hologramm aus, in dem sie in die Hände klatschte und fuhr noch einmal mit der Hand über die Stelle, in der noch vor wenigen Sekunden das Feuerhologramm geleuchtet hatte.
Kalt!
Keine Wärme, kein anderes Gefühl. Nur Kälte! Ihre Großmutter fand Syrah friedlich im Schaukelstuhl schlummern. So viele Fragen lagen ihr auf der Zunge, sie wollte ihren Durst mit Wissen stillen, doch es musste bis zum nächsten Tag warten. Zärtlich fuhr sie mit dem Handrücken über die faltige Wange Nanas und küsste sie auf die Stirn. „Träume schön von Flöckchen.“ Dann ging sie zu der rechteckigen Erhebung in der grauen Stahlwand, die sich zu beiden Seiten wie ein riesiges gefräßiges Maul weit ausstreckte und ging durch die Öffnung, die sich durch Bewegungsmelder gesteuert, zur Seite in die Wände schob und von selbst wieder schloss, nachdem Syrah aus dem sterilen Raum passiert und ein Stück den Flur entlang gegangen war. In diesem Flur gab es keine Fenster, nur das flackernde Licht der Neonröhren an den Decken wurde von den grauen Stahlwänden reflektiert und ließ der Finsternis keine Chance, dunkle Löcher hineinzufressen.
In regelmäßigen Abständen tauchten Türen zu beiden Seiten des Flurs auf, die an Syrah unbeachtet vorbeisausten, als sie zielstrebig ihren Weg zum Außenbereich fand. Die Räume, die sich hinter den Türen befanden, das wusste Syrah, waren gleich groß, besaßen dieselbe Ausstattung und dieselbe tristlose Farbe: Grau. Eine andere Farbe gab es im Exil nicht. Von einst sieben Milliarden Menschen auf der Alten Welt, fanden nur zwölfhundertfünfunddreißig im Exil ein neues Zuhause. Die Zahl sank von Jahr zu Jahr, denn immer weniger neue Menschen wurden geboren, während doppelt so viele bereits vor ihrem vierzigsten Lebensjahr starben.
Als das Mädchen das Exil verließ und in den Außenbereich trat, fand sie wüste Sanddünen und Dunkelheit hinter der anderen Seite der Glaskuppel vor. Chemische Prozesse und atomarische Moleküle hatten bewirkt, künstlicher Sauerstoff herzustellen ohne deren Erfindung ein Leben unter der Glaskuppel nicht möglich gewesen wäre. Denn hinter der Glasmauer befand sich nichts, womit ein menschlicher Organismus hätte überleben können. Selbst Wasser wurde synthetisch hergestellt und in Gel – Form an die Menschen durch Spritzen verabreicht, damit sie nicht verdursteten oder gar austrockneten.
Syrah lehnte sich gegen die Glaswand und presste die Stirn gegen die kühle Scheibe. Von Weitem konnte sie die Lichter der Raum – Cruiser sehen, die nach möglichen Leben auf fremden Planeten erforschten oder gar nach Überbleibsel in der Alten Welt. Doch bisher ohne Erfolg! Seit der Flucht vor achtunddreißig Jahren verdoppelte sich die Geschwindigkeit modernster Techniken und wissenschaftlichen Entdeckungen, um das Leben im Exil durch ständigen Fortschritt zu vereinfachen. Doch man konnte keine Tiere herstellen, keine Bäume, keine Pflanzen oder gar Feuer. Nichts, wonach das Herz eines jeden sehnte, war chemisch oder synthetisch herstellbar. Das Leben im Exil und unter der riesigen Glaskuppel blieb trostlos und einsam.
Als Syrah den Kopf etwas anhob, um zur Unendlichkeit oder wie Nana es nannte, zum ,Himmel’ zu schauen, zauberte ein funkelnder Sternenteppich ein müdes Lächeln in ihr Gesicht. Da es keine Atmosphäre über der Glaskuppel gab, sondern direkt die dunklen Weiten des Weltraumes, leuchtete das Sternenlicht ungefiltert durch das dunkelgetönte Glas der Kuppel. Man konnte diesen Zustand auch ,Nacht’ nennen, auch wenn keine Uhrzeit das Leben der Menschen im Exil bestimmte. Auch herrschte nach Nanas Zeitberechnung die Jahreszeit Winter und das Mädchen stellte sich in Gedanken vor, wie Schnee aus den Sternen fiel und die sandigen Dünen mit einer glitzernden Decke aus ebenmäßigem Weiß bedeckte.
Die Raum – Cruiser brausten aus der Ferne zur Kuppel heran, sanken tiefer zu Boden und landeten auf einer Plattform aus purem Mondgestein. Nach den hängenden Köpfen und den betrübten Gesichter der Piloten zu urteilen, die unbeholfen aus den Flugschiffen stiegen, war ihre Mission auch diesmal erfolglos gewesen.
Schwerenherzens machte sich das Mädchen auf, um zurück zu Nana zu kehren, als ihr Blick einen düsteren und tristen Planeten streifte, deren Antlitz sie zutiefst trübte. Den einst so schönen Ball, den Nana ,den blauen Planeten’ nannte, wirkte kühl und verloren inmitten der Dunkelheit des Weltalls. Atombomben hatten tiefe Krater in die Oberfläche gerissen, Meere und Seen waren durch die darauffolgenden Trockenzeitperioden ausgetrocknet, Fische und Meerestiere qualvoll verendet. Bäume wurden aufgrund des Wassermangels morsch, Pflanzen gingen ein, Tiere verdursteten oder starben an den Folgen der Atomstrahlungen. Durch Hungersnöte aßen die Menschen das verseuchte Aas toter Tiere oder nährten sich von dem faulen Gras, das auf den Feldern dahinvegetierte. Seuchen und Viren rafften Millionen Menschen binnen Tagen dahin, ohne Chance auf Rettung. Metallschrott, den der Mensch bei Monderkundungen im Weltall zurückgelassen hatte, war mit irrer Geschwindigkeit auf die Erde zurückgedonnert. Die Erschütterungen lösten Erdbeben in allen Teilen der Welt aus. Vulkane hatten ihre feurige Lava aus dem Innern gespukt und in die Zivilisation geschleudert, wo alles verging, was sie berührte.
Während des dritten Weltkrieges bekämpften die Menschen nicht nur sich selbst, sondern auch ihren gesamten Planeten. Der Planet rächte sich dafür an den Menschen und zurückblieb eine trostlose Einöde, ein Abbild von menschlicher Zerstörungswut. Als ihnen jedoch diese Erkenntnis wie ein Fausthieb ins Gesicht traf, war es bereits zu spät. Die Erde war nur noch ein wüster, unrettbarer Planet.
Die Verantwortlichen dieses Krieges und der Umweltbelastung lebten längst nicht mehr, doch die Folgen lastete auf Hunderte Unschuldiger, die unter der Schutzatmosphäre der Glaskuppel im Exil auf dem Mond leben mussten. Eine neue Zeitrechnung begann.
Es war das Jahr 38 A. E, 38 Anno excidium, 38 Jahre nach der Zerstörung der Erde.

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Texte: © Text by Arwen1606
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2010

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