Cover

Frostige Kälte umfasste meinen Körper. Wie unsichtbare Hände umschlangen sie meine Arme und meine Beine, rissen an meiner Kleidung und an meinen Haaren, bis der Schmerz, der durch mich hindurch schoss, mich zum Schreien zwang. Mein Schrei hallte und hallte durch die Einsamkeit des finsteren Raumes, der mich mit seiner Dunkelheit zu erdrücken schien…
… und hallte als seltsam verzerrtes Echo zu mir zurück.

„Miss Baker…“
Rasch riss ich die Augenlider auseinander und starrte in die gaffende Menge meiner Kommilitonen, die ihre Köpfe zu mir gewandt hatten und mich mit belustigenden Gesichtern süffisant angrinsten.
„Miss Baker!“
Professor Richfield stand in der Mitte des Pulks, mit einer Hand das Buch über Psychologie haltend, mit der anderen das riesige Vehikel von Brille von der Nasenwurzel nehmend, starrte er mich entgeistert an. „Miss Baker, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie offensichtlich langweile, aber Ihr Schnarchen stört meine Vorlesung!“
Peinlich berührt richtete ich mich auf dem unbequemen Holzstuhl auf. „Verzeihung!“ Murmelte ich vor mich hin und schob einzelne Strähnen meines kastanienbraunen Haares ins Gesicht, damit niemand die Schamesröte sah, die in diesem Moment in meine Wangen schoss.
„Wenn ich Sie nun Bitten dürfte, wenigstens leise zu sein, während Sie schlafen, damit Ihre Mitstudenten etwas von meiner Vorlesung mitbekommen, wäre ich Ihnen sehr dankbar, Miss Baker!“ Professor Richfield schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Blick verriet, dass er sich ärgerte, doch er machte seiner Wut keine Luft.
„Verzeihung!“ Murmelte ich noch einmal und beobachte den alten Richfield, wie er sich die dicke Hornbrille wieder auf die Nasenspitze setzte und weitere Anekdoten aus dem Psychologiebuch erläuterte.

„Was war eben mit dir los, Lesley?“
Auf dem Weg zu meinem Auto hielt mich meine beste Freundin Lya an. Demütig drehte ich mich zu ihr um, doch sie konnte die Peinlichkeit noch immer in meinem Gesicht lesen.
„Hast du wohl eine anstrengende Nacht gehabt, was?“ Sie spielte mit ihrem rostroten Haar und grinste über beide Ohren.
„Es ist nicht das, was du denkst!“ Verärgert warf ich meine Lernbücher auf die Rückbank und knallte die Wagentür geräuschvoll zu. „Ich schlafe eben in letzter Zeit nicht besonders!“
„Lenkt dich Sebastian etwa zu sehr ab?“ Lyas Grinsen erstreckte sich nun schon bis zur Haarwurzel.
„Nein!“ Stöhnte ich und rieb mir die müden Augen. „Es lässt sich nicht so leicht erklären. Verdammt, ich weiß es ja selbst nicht. Vielleicht wird mir einfach nur alles zu viel. Die Uni, der Job, die Krankheit meiner Mutter und dann auch noch der Stress mit Sebastian…“ Ich fuhr mir hilfesuchend durch das gelockte Haar. „Vielleicht brauche ich einfach nur mal eine Auszeit.“
Lyas Grinsen erstarb, als sie meine Sorgen in meinem Gesicht ablas und nickte mir zustimmend zu. „Du siehst wirklich nicht besonders entspannt aus. Vielleicht solltest du nach Hause fahren und dich ausruhen!“
„Du hast recht!“ Stimmte ich ihr zu, wobei ich ihr nicht erzählen konnte, dass da meine Probleme erst anfingen. Ich winkte ihr zum Abschied zu, als ich in meinen alten Golf stieg und nach Hause fuhr. Von Weitem sah ich Sebastian am Ausgang des Uni – Geländes stehen, der den Kopf zu mir wandte und mir verwundert nachschaute.

Der Himmel verdunkelte sich, als hätte jemand dunkelblaue Tinte in den Horizont gegossen und ihn dann mit kleinen, strahlenden Klecksen versehen. Die Zeiger der Standuhr wanderten kontinuierlich zur zwölf, jede Bewegung, jedes Ticken klang in meinen Ohren wie ein Trommelwirbel eines Orchesters. Ich bemühte mich, nicht einzuschlafen, denn wenn es passierte, wusste ich nicht, was mich in meinen Träumen erwartete. Schon seit Monaten verfolgten mich finstere Alpträume, und ich wusste nicht, wie ich mich dagegen wehren, mich davon befreien konnte.
Ich setzte mich auf das zerfledderte Sofa, mit dem geblümten Wollüberzug, schaltete den Fernseher an und versuchte mich wach zuhalten, indem ich mir unsinnige Talkshows und langweilige Serienepisoden reinzog. Irgendwann klopfte es an der Tür, doch es war schon halb eins und ich war zu müde, um die Tür zu öffnen…

Eiseskälte umfing mich, schien mein vor Angst pochendes Herz in der Brust erstarren zu lassen. Der Raum um mich herum schien sich zu verengen, so dass ich bloß die Arme ausstrecken brauchte, um beide Wände zu berühren. Ein leises Flüstern lockte mich durch die Dunkelheit, die dieser Raum einnahm und führte mich zu einer matten Scheibe am anderen Ende. Die Scheibe war silbern umrandet und mit Ornamenten verziert und erst, als ich eine milchigweiße Silhouette dahinter wahrnahm, erkannte ich, dass es sich um einen alten Spiegel handelte.
Die milchigweiße Oberfläche war kühl und frostig, als ich sie mit den Fingerspitzen berührte. Die verschwommene Silhouette dahinter zeigte mein herzförmiges Gesicht, mit den grünen Augen, doch die Haare, die bis zu den Schultern fielen, schimmerten wie rote Seide.
Sie war nicht ich, und ich nicht sie und dennoch starrte sie mir, als mein Spiegelbild entgegen…

Das blasse Licht der Leselampe war gerade hell genug, um die porösen Buchseiten zu erleuchten. Er war schon seit fünf Stunden damit beschäftigt, neuen Lernstoff für die nächste Vorlesung vorzubereiten, doch seine Augen schienen übermüdet und die Buchstaben tanzten Rumba vor seiner Nase.
Professor Richfield schloss das Buch über Traumatik und deren Einfluss auf die Psychologie und fuhr sich mit dem Zeigefinger und dem Daumen über die Nasenwurzel.
Er hatte seine Lieblingskommilitonin Lesley Baker noch nie so unkonzentriert erlebt, wie in der letzten Vorlesung. Er selbst und seine Mitprofessoren hielten große Stücke von ihr und ihrer Begabung. Sie hatte zum ersten Studiumsemester vor drei Jahren großes Potenzial mitgebracht und deshalb war es für ihn schwer zu verkraften, dass sie sich im Laufe der Jahre so drastisch verändert hatte, dass er sie selbst nicht mehr erkannte. Sie hatte sich von allen anderen Isoliert und abgesondert und suchte keinen Kontakt zu ihren Kommilitonen. Er wusste nicht viel von ihr oder über den Grund ihres Verhaltens, wusste nur von einem Kollegen, der seine Frau täglich im örtlichen Pflegehospital besuchte, dass Lesley dort mehrmals die Woche auftauchte, um ihre an Demenz erkrankte Mutter zu besuchen. Vielleicht könnte dies der Auslöser für ihre Probleme gewesen sein.
Professor Richfield ächzte mühselig und hielt sich eine Hand vor den Mund, als er einen Hustenanfall erlag. Als junger Mann hatte er viel Sport getrieben, doch im Alter plagten ihn Rheuma und Asthma. Dazu kam noch der stetige Verlust seines Augenlichts, den selbst seine dicke Hornbrille nicht korrigieren konnte.
Ein leises Poltern ließ ihn aufhorchen. Trotz seines hohen Alters von 61 Jahren litt sein Gehör keineswegs. Er hörte noch immer wie ein Luchs, doch neben seinem Gedächtnisverlust und seinem Muskelschwund war dies das Einzige, was ihn daran erinnerte, dass er noch längst nicht zum alten Eisen gehörte.
„Hallo?“ Rief Richfield und schaute auf zur verschlossenen Tür. „Ist da jemand?“
Ein weiterer Schlag ließ ihn so heftig zusammenzucken, dass die Brille in seiner Hand zu Boden fiel. Er versuchte sich danach zu bücken, um sie wieder aufzusetzen, doch da wurde schon die Tür aufgerissen und jemand war herein getreten.
Richfield kniff die Augen zusammen, um besser im Dämmerlicht seines Büros sehen zu können, doch ohne seine Brille konnte er nur verschwommene Schemen und eine dunkle, sich bewegende Silhouette wahrnehmen. „Wer ist da?“ Fragte er hilflos, denn er konnte die Person nicht erkennen, die sich ihm mit schnellen Schritten näherte.
Doch er bekam keine Antwort. Stattdessen hob die fremde Person einen undefinierbaren Gegenstand in die Höhe, den er jedoch nicht ausmachen konnte. Ängstlich wich Richfield einige Schritte zurück und umrundete den Schreibtisch.
„Hallo Professor!“ Ertönte die bekannte Stimme und sie klang so befremdet und unheimlich, dass Richfield vor Schreck zusammenzuckte.
„Du?” War seine letzte Frage, bevor er einen dunklen Schatten auf sich zuschnellen sah, bevor die Welt um ihn herum für immer in Dunkelheit versank.

Ich erwachte schweißgebadet aus meinen finsteren Träumen. Ich wusste nicht, wieso sie kamen oder wie ich sie loswerden konnte. Genauso wenig, wie ich ahnte, wie ich in mein Schlafzimmer gekommen war. Ich erinnerte mich, dass ich auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen war und dass es an der Tür geklopft hatte. Doch was war dann geschehen?
„Guten Morgen, Lesley!“ Grüßte mich eine dunkle Stimme, als ich neben mich blickte, sah ich meinen Freund Sebastian, der mich aus dunkelbraunen Augen freundlich anblickte.
„Morgen!“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. „Wie bist du hierher gekommen?“
Sebastian lächelte. „Weißt du das denn nicht mehr? Du hast mich doch gestern Nacht rein gelassen.“
Ich nickte unbeholfen, natürlich wusste ich es nicht mehr! Als ich mich aus den Decken schälte, um in meine Pantoffeln zu schlüpfen, war ich zu meinem Erstaunen nicht im Neglige, sondern in Jeans und Bluse schlafen gegangen. „Hatte ich mich gestern vorm Schlafen gehen nicht ausgezogen?“
„Nein!“ Sebastian lachte, zog mich dicht an sich und küsste meinen Nacken. „Das habe ich schon getan!“
Unsanft stieß ich ihn von mir weg. „Und wieso habe ich noch meine Klamotten von gestern an?“
Unwirsch hob Sebastian die Schultern. „Keine Ahnung! Vielleicht gehst du Schlafwandeln!“ Er lachte, doch in meinem Kopf tummelten sich zu viele Fragen, als dass ich seine Bemerkung hätte lustig finden können. Doch da ich schon mal angezogen war, konnte ich auch genauso aufstehen und mir eine Tasse Tee aufbrühen, bevor Lya mich zur ersten Vorlesung bei Richfield abholte.

Die Zeiger der Standuhr rangen sich hinüber bis zur Acht. Eigentlich hätte ich gemeinsam mit Lya in meinem Golf sitzen und uns über unsere Kommilitonen lustig machen sollen, doch ich saß noch immer auf dem Sofa und starrte wartend die Zeiger der Uhr an, als erwarte ich, dass sie sich rückwärts drehten.
Das Handy piepte, als ich gerade in meiner Tasche danach kramte, um Lya anzurufen und las die vertröstende Nachricht, die Lya mir geschickt hatte: ,Vorlesung mit Richfield fällt aus, komme später!’. Ich ließ das Nokia Music in meiner Hand sinken und musterte Sebastian, der aus der Küche trat und sich mir gegenüber auf das Sofa setzte.
„Kommt deine Freundin nicht?“ Fragte er kauend, während er ein weiteres Mal in sein Schinkenbrötchen biss.
Ich schüttelte den Kopf. Woher wusste Lya das Richfields Vorlesung ausfiel, noch bevor sie überhaupt auf der Uni war?
„Wann lerne ich denn endlich die sagenumwobene Lya kennen?“
Eine kleine Falte hatte sich zwischen meinen Augen gebildet, als ich die Stirn runzelte. „Wie kennen lernen? Du hast sie doch schon längst kennen gelernt! Damals auf meiner Geburtstagsfeier am See. Lya sagte, sie hätte sich dir vorgestellt und mit dir gesprochen!“
Sebastian schüttelte abwehrend den Kopf. „Nein, das wüsste ich!“
„Doch!“ Protestierte ich. „Sie war da gewesen und hat mir dir gesprochen!“
„Nein!“ Widersprach Sebastian heftig. „Nein, ich kenne viele Leute von deinen Kursen, eine Lya wäre mir da sicherlich aufgefallen, aber das ist sie nicht!“
„Sie war aber da und hat mit dir gesprochen, das hat sie mir gesagt, warum sollte sie also lügen?“
Der junge Mann schüttelte widersetzlich den Kopf. „Was weiß ich. Aber eine Lya wäre mir sicherlich aufgefallen, so viel, wie du mir von ihr erzählst.“
Ich hob abwehrend die Hände und wandte mich von ihm ab. „Da waren so viele Leute von meinen Kursen und Vorlesungen, kann sein, dass du da den Überblick verloren hast!“
Mein Freund sah mich mit zusammengekniffenen Augen scharf an. „Kann sein!“
„Und gestern nach den Vorlesungen waren Lya und ich an meinem Auto gewesen. Ich weiß, dass du uns von der Tür aus gesehen hast.“
„Nein, Lesley, da war sonst niemand gewesen!“ Sebastian stand auf, packte seinen Rucksack und ging zur Tür. „Du warst da alleine!“ Dann verschwand er und schlug die Tür geräuschvoll hinter sich zu.

„Denkst du Richfield ist krank?“ Fragte Lya auf dem Weg zum Hörsaal. Es war bereits nach elf Uhr und wir drohten zu spät zur Vorlesung zu kommen.
„Keine Ahnung!“ Ich klemmte eine dunkle Strähne hinters Ohr. „Aber in den drei Jahren, die ich hier bin, hat Richfield noch kein einziges Mal gefehlt.“
„Irgendwann ist doch immer das Erste Mal, oder?“ Sie lächelte, wobei sie zwei Reihen markeloser weißer Zähne zeigte. An ihrem linken Eckzahn funkelte ein blauer Strassstein, den hatten wir beide uns vor drei Monate zusammen machen lassen. Meiner war auch am linken Eckzahn.
„Kann sein!“ Ächzte ich und ließ meine grünen Augen über die verblasste Wiese und über die Bäume schweifen, deren Blätterkleid sich in vielen Farben präsentierte.
„Stimmt etwas nicht mit dir, Lesley?“ Lyas wache Augen fixierten mich. Sie sahen meinen so ähnlich, dass man meinen könnte, sie hätte sie mir aus den Höhlen gerissen und sie sich in ihren Schädel eingesetzt.
„Ich hatte eine heftige Auseinandersetzung mit Sebastian heute Morgen!“ Meine Stimme klang gebrochen. Schon seit vier Jahren waren wir ein Paar gewesen und ich wusste, dass ich ihn über alles liebte. Streitigkeiten und Auseinandersetzung hatte ich noch nie gemocht, noch war ich der Mensch dafür, der Ärger suchte.
„War es schlimm?“ Wollte Lya wissen. „Um was ging es denn?“
Unbeholfen schüttelte ich den Kopf. Lya sollte nicht erfahren, dass sie der Brennpunkt unserer Auseinandersetzung war. Lya spürte, dass ich nicht über den Streit sprechen wollte und wechselte rasch das Thema.
„Hast du heute Mittag schon was vor, wir könnten ins Kino gehen? Oder durch die Stadt schlendern, Schaufenstern anschauen und von den teuren Designerteilen schwärmen, die wir uns sowieso nie leisten können!“
„Nein!“ Wehrte ich ab. „Ich habe heute keine Zeit. Ich wollte meine Mutter im Pflegeheim besuchen und danach einige Erledigungen machen!“
Lya nickte beklommen. Traurigkeit machte sich in ihrem Gesicht breit, das meinem so sehr ähnelte.

Die Luft roch nach Medikamenten und Desinfektionsmittel, als ich den langen, weißgestrichenen Flur betrat. Unzählige Bilder hingen zu beiden Seiten und beschrieben den Weg bis zum anderen Ende, wo eine offen stehende Tür mich zum Eintreten bat.
Der kleine Raum war ebenfalls weiß gestrichen, doch keine Bilder zierten die kahlen Wände und nur die nötigen Möbel bestückten das Zimmer. Auf dem aufgewühlten Bett saßen zwei Frauen. Die eine hatte schütteres, graues Haar, die andere einen dicken, schwarzen Pferdezopf. Als ich eintrat, sahen beide zu mir auf.
„Lya?“ Fragte die alte Frau mit dem schütteren Haar vor mir, die ich als meine Mutter wiedererkannte. Nach ihrer schweren Demenz nach einem Hirnschlag konnte sie mich nicht einmal mehr von dem Pflegepersonal unterscheiden.
„Nein, Mutter, ich bin Lesley!“ Erklärte ich ihr und legte meine Tasche auf die blanke Kommode ab, ehe ich ums Bett ging und wenige Meter davor stehen blieb. „Du hast keine Tochter namens Lya. Lya heißt meine beste Freundin, ich habe dir einmal von ihr erzählt, Mutter!“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Baker!“ Die Frau mit dem dicken Pferdezopf sah mich mit ihren wässrigen Fischaugen träge an. „Ihre Mutter kann noch nicht einmal mehr Tag von Nacht unterscheiden. Leider wird es mit der Zeit nicht mehr besser mit ihrer Erkrankung, sondern eher schlimmer. Eines Tages, wird sie niemanden mehr erkennen!“
Ich nickte beklommen und schaute auf die unzähligen Fotografien und Bilder, die auf der Matratze verteilt lagen und runzelte fragend die Stirn. „Was tut ihr hier?“
„Wir sortieren alte Bilder aus, die wir hier aufstellen werden, um das Zimmer Ihrer Mutter zu verschönern.“ Die Pflegerin lächelte mit ihrem breiten Maul. „Sie waren als kleines Mädchen wirklich süß!“
Ich schmunzelte. Viele Dinge aus meiner Kindheit hatte ich bereits vergessen, selbst Bilder von meiner Familie besaß ich keine. Ich setzte mich zwischen meine Mutter und der Pflegerin und nahm die ersten drei Bilder, die aussortiert am Rande lagen, in die Hand. Das erste Bild zeigte einen jungen Mann, der ein kleines Mädchen mit braunen Locken auf dem Arm trug. Das zweite Bild war ein Ultraschallabzug. Neugierig betrachtete ich das seltsame schwarz-weiß Gebilde und die unförmige Statur eines kleinen Babys, das nur unscharf zu erkennen war. Zärtlich strich ich mit den Fingerkuppen über das Ultraschallbild. Das kleine unscharfe Wesen war ich. Nach längerer Zeit, als ich freudig das kleine Wesen betrachtete, fiel mir auf, dass neben den kleinen unförmigen Füßchen ein zweites Paar nebenan lag. Und bei genauem Hinsehen erkannte ich auch zwei winzige Beinchen, ein kleiner Kopf, ein schmaler Rumpf aus denen zwei winzige Ärmchen ragten. Ungläubig betrachtete ich das Bild ein zweites, ein drittes Mal, stierte es mehrere Minuten lang an, doch es bestand keinerlei Zweifel.
Der Ultraschall zeigte eindeutig zwei Babys.
Rasch legte ich das Ultraschallbild hinter das erste Bild und stierte das nächste Foto ungläubig an. Es war ein Familienportrait meiner Eltern und mir gewesen, damals war ich ungefähr zwei Jahre alt gewesen. Ich saß auf dem Arm meiner Mutter, doch mein Vater hielt ebenfalls ein Kind auf den Armen. Auf diesem Bild war ich doppelt zu sehen…

Als ich zu Hause ankam schwirrten mir viele Fragen durch den Kopf, die ich nicht zusammenfügen konnte. Wieso waren zwei Embryonen auf dem Ultraschall zu erkennen? Und wer war das andere Kind auf dem Familienfoto? Hatte ich eine Zwillingsschwester von der ich nichts wusste oder an die ich mich nicht mehr erinnern konnte? Und was war mit ihr geschehen? Müde fiel ich ins Bett und merkte nur noch, dass sich irgendwann Sebastian neben mir unter die Decke schlich.

Eiseskälte umfing mich, schien mein vor Angst pochendes Herz in der Brust erstarren zu lassen. Der Raum um mich herum schien sich zu verengen, so dass ich bloß die Arme ausstrecken brauchte, um beide Wände zu berühren. Ein leises Flüstern lockte mich durch die Dunkelheit, die dieser Raum einnahm und führte mich zu einer matten Scheibe am anderen Ende. Die Scheibe war silbern umrandet und mit Ornamenten verziert und erst, als ich eine milchigweiße Silhouette dahinter wahrnahm, erkannte ich, dass es sich um einen alten Spiegel handelte.
Die milchigweiße Oberfläche war kühl und frostig, als ich sie mit den Fingerspitzen berührte. Die verschwommene Silhouette dahinter zeigte mein herzförmiges Gesicht, mit den grünen Augen, doch die Haare, die bis zu den Schultern fielen, schimmerten wie rote Seide.
Lya lächelte mir hinter der anderen Seite zu, streckte mir die Arme entgegen und zog mich auf die andere Spiegelseite.

Am anderen Morgen erwachte ich früh. Schweißgebadet und zitternd versuchte ich mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen, doch meine Angst lähmte mich. Mit bebenden Händen schob ich die Bettdecke zur Seite und entdeckte mit geweiteten Augen das blutbeschmierte Messer auf der roten, blutgetränkten Matratze. Ich schaute nach links, dort lag Sebastian. Oder das, was von ihm übrig geblieben war…

Die Polizei verfolgte die junge Frau schon seit Längerem. Klar hatten sie von ihr Fingerabdrücke auf der Tatwaffe gefunden, schließlich war es ihre Wohnung gewesen in dem Sebastian McKenneth ausgeweidet aufgefunden wurde. Für sie stand sofort fest, dass sie fliehen musste. Irgendwo ins Ausland, wo sie niemanden kannte, wo sie für den Rest ihres Lebens ein angenehmes Leben führen konnte.
Sie löschte Lyas Nummer vom Handy. Die von Sebastian würde sie wohl auch nicht mehr brauchen, schließlich war er tot.
Das Mädchen fuhr sich durch die rotgefärbten Haare und verließ den Friseursalon Kennedy & Hailey mit einem verschmitzten Lächeln. Schon immer war sie eine andere gewesen, schon immer lebten zwei Persönlichkeiten in ihrem Körper. Sie selbst musste durch einen blöden Unfall im süßen Alter von drei Jahren sterben, als sie und ihre Schwester Lesley auf der Couch saßen und miteinander spielten. Dabei fiel sie vom Kissen hinab und brach sich beim Aufprall an der Tischkante das Genick.
Lesley hatte jede Erinnerung an ihre eigene Schwester vergessen, sie sich regelrecht als ihre beste Freundin eingebildet. Dabei waren sie ein und dieselbe Person gewesen.
Doch sie hatte Rache geschworen und vor drei Jahren war sie einfach zurückgekehrt, um durch Lesley zu leben, die für immer verschwinden musste.
Sie winkte nach dem vorbeifahrenden Taxi, das sofort neben ihr hielt. Als das rothaarige Mädchen eingestiegen war und dem Fahrer die Adresse vom Flughafen nannte, drehte sich dieser zu ihr um: „Kenne ich dich nicht?“ Fragte der junge Mann und strahlte sie mit seinen dunkelbraunen Augen an. „Du bist doch Lesley Baker, aus meinem Psychologiekurs!“
Das rothaarige Mädchen lächelte zurück und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, da musst du mich verwechseln. Mein Name ist Lya, Lya Baker. Ich kenne keine Lesley. Habe sie nie gekannt.“

Impressum

Texte: © Text by Arwen© Photo by Arwen8. Platz beim Wortspiel: "Die Doppelgängerin!"
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum 10. Wortspiel: "Die Doppelgängerin." .......................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................

Nächste Seite
Seite 1 /