Joelle wandelte wie im Schlaf hinter dem Trupp her, der sich wie eine Kobra durch die Ruinen des einst prächtigen Dorfes schlängelte und den hohlen Worten des Chors hingab, die tief und monoton aus ihren eigenen stummen Kehlen drangen. Die Luft war kalt und wehte ihnen eisig wie Peitschenhiebe entgegen. Nebel hing wie ein grauer Schleier über dem Kopfsteinpflaster in den engen Gassen und fraß sich durch die ausdruckslosen Gesichter des treibenden Trupps.
Als die riesige Glocke im Kirchenturm ihre helle Melodie spielte, schaute Joelle mit trübem Blick zu ihr auf und atmete die faule Luft, die sie umgab, tief ein. Die feinen Glockenschlägen die sich durch die Lüfte schwangen, an den kühlen Wänden der verfallenen Häuser abprallten und sich zuletzt zu einer hinreißenden Melodie vereinigten, tauchten in ihr Bewusstsein ein und weckten in ihr ein eigenartiges Gefühl, dass sie etwas vergessen hatte.
Seitdem der Nebel aus den Sümpfen des Vergessens aufgezogen und durch das kleine Dorf geschlichen war, war gleich darauf die Langeweile und die Freudlosigkeit eingekehrt. Jegliche Erinnerungen waren wie Vögel frei von ihnen davongeflogen, die Lebensfreude aus ihnen herausgesogen und in den dicht drängenden Nebel eingetaucht, der sie wie gierige Klauen in seine gefräßige Masse einfing.
Als der letzte Takt des Glockenspiels verklomm, kehrte Stille auf den Straßen und in den Gassen ein. Die Menschen verschwanden in den Ruinen, der Nebel waberte um das kleine Dorf, das abseits in tiefsten Wäldern, vergessen hinter hohen Bergen, umgeben von kleinen Seen und Flüssen lag. Joelle trottete wie alle in die verfallenen Ruinen, die einst ihre Heimat gewesen waren und blickte auf den goldenen Reif an ihrer rechten Hand, der sich wie eine goldene Schlange um ihren Finger schlängelte. Etwas tief in ihr wollte sich beim Anblick des einfachen Goldringes erinnern, an dessen Reif sich viele Verschnörkelungen und Ornamente verschlangen. Auch die Melodie der Turmuhr weckte in ihr ein dumpfes Gefühl, dass sie sich erinnern sollte, doch sie hatte alle Erinnerungen verloren.
Die Sonne stand über den verdorrten Baumreihen und warf eine wabernde Silhouette durch den grauen Nebelschleier. Die Dorfbewohner drängten in die Ruinen ihrer Häuser und beobachteten schweigend, wie sich die Dunkelheit wie eine schützende Decke über ihre Köpfe ausbreitete. Der Mond stand als wiegende Sichel über den matten Sternen und zauberte den Nebel in einen silbernen Dunstreif.
Joelle kauerte auf dem Steinboden, den Rücken gegen die blanke Wand gedrückt, den schweren Kopf auf den angewinkelten Knien gelegt. Ihr verlorener Blick lag auf dem goldenen Ring, der im Mondlicht hell aufblitzte, als sie sich ihre von der harten Arbeit geschundene Hand vors trübe Gesicht hielt. Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit kam ihr beim Anblick des Schmuckstückes auf, eine fremde Stimme, die ihr Worte ins Ohr flüsterte. Waren all diese Gefühle Teil ihrer Vergangenheit an die sie sich nicht zu erinnern vermochte? Von wem war dieser Ring, den sie hütete, wie ihr eigenes Leben?
Das Mädchen stand auf. Ihr verwaschener Rock war schmutzig und staubig vom Dreck, der überall in den Ruinen lag. Ihr Blick fiel in die Dunkelheit, die sie wie eine düstere Umarmung umfing und wanderte entschlossen in seine Arme, bis sie vom Nebel umgeben in der schwarzen Nacht verschwunden war.
Ziellos wanderte sie durch die Finsternis, auf der Suche nach dem Nichts, das sie vergessen, nach den Erinnerungen, die sie verloren hatte. Selbst der Grund für ihre Reise war ihr entfallen, nur der Ring, der fest an ihrer Hand saß, ließ sie sich entsinnen, dass ihr Weg nicht umsonst war, sondern dass sie ein Ziel verfolgte, wo immer dieses auch liegen mochte.
Nach einer Weile stieß Joelle in eine Felslandschaft. Hügelige Steinberge und staubige Wüstenstriche erstreckten sich zu beiden Seiten und in der Länge in die Ferne. Ein orange-gelber Schimmer tauchte den Horizont in der unendlichen Weite in einen breiten Streifen aus Licht, das den Wüstensand rötlich erglühen ließ. Wie eine Marionette pirschte sich das Mädchen in den fruchtlosen Abstrich vor, aus der verdorrte Sträucher und welke Pflanzen auf der staubigen Erdschicht sprossen. Kein Ton erklang, kein Anzeichen von Belebung zeigte sich ihr, nirgends fand sich eine Spur von anderem Leben in dieser Einöde. Müde und träge schleppte sie sich weiter über den roten Sand, die starre aufgehende Sonne trocknete sie von innen heraus aus. Sie wollte aufgeben und sich hinlegen, sich den aasfressenden Geiern, die über ihr greisten, ausliefern, doch der goldene Ring an ihrem Finger hielt sie davon ab.
Ein lautes Krachen ließ Joelle vor Furcht erstarren. Erst glaubte sie, der Felsen neben ihr wäre zusammengebrochen, doch als sie den müden Blick vom eintönigen Sandboden hob und aufschaute, ragte vor ihr ein riesiger Python in die Höhe auf. Die Schlange legte den Kopf schräg und schaute das vor Angst erstarrte Mädchen neugierig an. „Wer bist du und was willst du?“
Joelle erschrak über ihre eigene Stimme, die sie selbst lange nicht mehr wahrgenommen hatte. „Mein Name ist Joelle und ich bin auf der Suche nach Etwas!“
„Nach was suchst du denn, Joelle?“ Die Schlange rückte ihren gigantischen Kopf vor, um das winzige Mädchen genauer betrachten zu können.
„Ich weiß es nicht!“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich habe es vergessen!“
„Und warum schreitest du durch mein Reich, Joelle?“
„Ich ging, wohin mein Herz mich trug!“
„Aber ich kann dich nicht durch das Felsenland hindurch lassen!“ Der Python zischte mit gespaltener Zunge und bleckte die hellen Schuppen um sein breites Maul. „Erst musst du ein Rätsel lösen, aber ich warne dich und bekehre dich umzukehren, Joelle. Beantwortest du das Rätsel falsch, so muss ich dich fressen, sagst du die richtige Lösung, kannst du mein Reich passieren und dir wird nichts geschehen. Aber bedenke gut, du kannst auch umkehren und einen anderen Weg gehen!“ Die Schlange schnellte in die Höhe. „Wähle Menschenkind!“
Joelle überlegte nicht lange, sondern sagte rasch: „Stell mir dein Rätsel!“
Der Python stieß ein zischendes Grollen aus, Joelle glaubte ihn Lachen zu hören: „Ich sage es dir nur einmal und wiederhole mich nicht, Menschenkind:
Was ist größer als Gott?
Was ist böser als der Teufel?
Die Armen haben es!
Die Glücklichen brauchen es!
Und wenn du es isst, stirbst du!
Wähle deine Worte gut, nur eine Antwort hast du, Joelle!“
Das Mädchen überlegte wohl gut, doch die Antwort kam schnell und für die riesige Schlange unerwartet: „Nichts!“
Die schwarzen Augen des Riesentieres verengten sich.
„Nichts ist größer als Gott, nichts ist böser als der Teufel, nichts haben die Armen, nichts benötigen die Glücklichen und wenn du nichts isst, stirbst du! Nichts ist die passende Antwort!“ Selbstsicher richtete sich das Mädchen auf.
Argwöhnisch beäugte die Schlange das Mädchen, doch rückte zur Seite und ließ es zischend durch die Felslandschaft passieren.
Als Joelle die Felslandschaft und die riesige Schlange hinter sich gelassen hatte, kam sie in eine sumpfige Moorlandschaft. Träger Nebel hing tief in den Büschen und riss sich an den verdorrte Sträucher in unregelmäßige Fetzen. Moos und Schimmel überwucherten morsche Baumstümpfe und Äste, die unter Joelles Füßen entzwei brachen und reglos und vergessen unter der feuchten Schicht aus Schlamm liegen blieben. Jeden Schritt verfolgte sie mit ihren grünen Augen, denn nur ein Ausrutscher in die ewigen Abgründe des Moors konnte sie das Leben kosten.
Endlich kam sie an einen Hügel, der vollkommen von Einsamkeit und Traurigkeit eingenommen wurde. Warum war sie an diesen Ort gekommen? Woher wusste sie, dass sie das Richtige tat? Und woher wusste sie, dass sie es tun musste?
Ihre Gedanken kreisten um so viele Dinge, dass sie den haarigen Zweig übersah, der unter ihren Füßen davonhuschte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sich vor ihr ein baumhohes Wesen aufbaute, dessen unzählige Augen wie blind durch die Dunkelheit huschten und sich die acht Arme und Beine wie gebogene Äste um den massigen Leib krümmten.
Keuchend atmete Joelle die feuchte Luft ein.
„Was willst du? Was ist dein Begehren, Mensch?“ Eine donnernde Stimme ließ die faule Erde des Moors erbeben.
„Ich bin auf der Suche und weiß nicht nach was!“ Antwortete das zitternde Mädchen ehrlich.
„Ihr Menschen seid keine logischen Wesen, doch dies ist mein Reich und ich lasse dir Einlass gewähren, wenn du mein Rätsel lösen kannst!“ Ein unheimliches stotterndes Keuchen ließ die riesige Spinne zusammenzucken. „Aber kannst du mein Rätsel nicht lösen, so wirst du in die ewige Vergessenheit meines Moors gestürzt!“
Joelle nickte beklommen. Was konnte sie verlieren, was sie nicht schon längst verloren hatte?
„Ich bin du selbst, ein Abbild deines Wesens und dennoch bin ich nicht du. Bei Tage stehe ich neben dir und in der Nacht bin ich ganz verschwunden. Was bin ich?“ Die Spinne zitterte vor Keuchen, anscheinend lachte sie über ihre eigene Gewitztheit.
Joelle dachte kurz nach, dann stand ihre Antwort fest. „Ich bin der Schatten!“
Die Spinne bebte vor Zorn, doch schritt sie flink zur Seite, so dass Joelle an ihr vorbei schreiten konnte.
Am Ende ihres Weges gelang Joelle erschöpft und ausgelaugt an eine ewige Eiswüste. Die Beine fühlten sich dumpf und schwer an und in ihrem Kopf schwirrte die Leere. Die Kälte des Eiswindes schlug ihr wie ein Fausthieb ins Gesicht, legte sich auf ihre glühende Haut, an die der Frost wie eine Ratte an faules Aas nagte. Als Joelle sich umblickte, breitete sich Glitzerndes Weiß zu allen Seiten in eine unendliche Facette aus dichtem Eis und Schnee aus.
Die Wolken über ihr hingen grau und schwer am Himmel und ließen schwere Flocken wie Puder zur Erde rieseln und bedeckten ihr braunes Haar und ihre verschmutzte Schürze. Geformte Skulpturen aus milchigem Eis ragten schützend links und rechts neben einem silbernen Spiegel aus der weißen Decke hervor. Ihre Köpfe bedeckte ein glitzernder Hut aus Schnee, während ihre erstarrten Körper wie eisige Tierleiber stolz und ehrfurchtgebietend vor ihr aufrichteten.
Zaghaft näherte sich Joelle dem Spiegel, deren Oberfläche so starr und leblos war, wie die einer stillen See. Leise Stimmen drangen aus dem Innern hervor, doch als sie sich dem Flüstern hingab und ihre Fingerspitze das kühle Glas berührten, so erkannte sie, dass sich nichts außer verschneite Bäume und eine in Schnee gehüllte Landschaft auf der matten Scheibe spiegelte.
Plötzlich donnerte der Boden, eine Fontäne aus weißem Pulver sprühte hoch in die Luft und sank geräuschlos auf Joelle nieder. Das Donnern verdoppelte sich und als das Mädchen aufsah, erkannte sie zwei Eisskulpturen, die den Schneehut von ihren Köpfen geschüttelte hatten.
„Was willst du? Was ist dein Verlangen, Menschenkind?“ Der Atem der linken Skulptur war feurig, so dass das Eis, welches davon berührt wurde zu Schmelzen begann.
„Ich bin auf der Suche!“ Antwortete Joelle und duckte sich vorsichtig hinter der Sicherheit des Spiegels, um nicht von der sengenden Hitze des Wesens verkohlt zu werden.
„Egal, was du suchst!“ Sprach das rechte Wesen, dessen Atem die geschmolzene Stelle wieder mit Eiskristallen bedeckte. Das Wesen hatte menschliche Gesichtszüge, doch zwischen seinen Augen wuchs ein spitzer Schnabel in die Länge. „Deine Reise wird hier enden!“
„Alles endet hier!“ Sagte der Linke, dessen Menschenkopf auf einem felllosen Löwenkörper saß und zog mit seinem Atem eine schmale Spur in den hohen Schnee.
„Und alles wird hier anfangen.“ Der spitze Schnabel des Eisvogels eiste die Schneise, die der Löwe hinterlassen hatte, wieder zu.
Verwirrt schüttelte das Mädchen den Kopf und spielte mit dem Goldring an ihrem Finger. „Und wie komme ich hier wieder heraus?“
„Indem du findest, was du suchst!“ Sprachen beide Skulpture im Chor und zauberten ein wunderbares Spiel aus schmelzendem Eis und aufzüngelndem Feuer, das wiederum vom Eis eingeschlossen und versiegelt wurde.
„Aber wie kann ich etwas finden, wenn ich nicht einmal weiß, was ich suche?“
„Aber das ist doch ganz einfach!“ Sprach der Eisvogel. „Du bist hier im Königreich der Gedanken und suchst eine Erinnerung. Erst musst du das Rätsel lösen, dann wirst du die Erinnerung finden!“
Joelle legte den Kopf schief und sah die beiden Eistiere nacheinander an. „Wie lautet das Rätsel?“
Die Eistiere sahen sich gegenseitig an, ehe sie nacheinander das Rätsel preisgaben. „Wir sind mal kalt, wir sind mal heiß!“
„Und drehen beständig uns im Kreis.“
„Wir sind zu viert und doch allein!“
„Denn wo die eine ist – kann keine andre sein.“
„Wir sind zutiefst verschieden und doch sind wir verwandt!“
„Wir gehen nie gemeinsam und gehen doch Hand in Hand.“
„Wir sind nicht immer freundlich und auch nicht immer schön!“
„Und können furchtbar launisch sein!“
„Doch sicher wirst du stets dich freuen!“
„Auf unser Wiedersehen.“
Joelle überlegte kurz, doch die Antwort kam rasch von ihren blau gefrorenen Lippen. „Die Vier Jahreszeiten!“
Die Erde bebte, die Eistieren schenkten dem Mädchen ein verklärtes Lächeln, ehe ihre harte Materie von ihnen bröckelte und in den Schnee fiel, bis nichts mehr außer Splitter von ihnen übrig blieb. Joelle schritt zum Spiegel, deren leise flüsternde Worte sie zu sich lockte, sie dazu verführte, durch ihn hindurchzugehen. Die glatte Oberfläche zeigte weder ihr eigenes Spiegelbild, noch eine dunkle Silhouette ihrer selbst. Nur die weiße Schneelandschaft hinter ihr spiegelte wider, als besäße sie kein Spiegelbild. Zitternd streckte sie ihre Fingerkuppen nach der flüsternden Scheibe aus, deren Worte sie nur undeutlich und leise vernahm. Als sie die glatte Oberfläche berührte, schoss Eiseskälte durch ihren bebenden Körper hindurch, ergriff ihren Leib, lähmte ihren Verstand und offenbarte ihr eine längst vergessene Erinnerung.
Unsichtbare Hände schoben sich von der anderen Seite durch den Spiegel, griffen nach dem Mädchen und zogen sie durch die kalte Oberfläche. Tausend kleine Nadel stachen auf sie ein, jede so kalt, als würde sie von Eiskristallen durchbohrt. Ängstlich schloss sie die Augen und ließ sich von dem eisigen Wind aufnehmen, der sie umwirbelte, sie mit sich in seinem Innern nahm, nur um sie dann wieder auszuspucken. Als Joelle die Augen öffnete und sich verwirrt nach allen Seiten umsah, erkannte sie den Sternenklaren Nachthimmel über ihr, deren Sternenmeer so klar und leuchtend ihr Profil erleuchtete. Die raue Steinwand an die sie lehnte, bohrte sich in ihren Rücken und als das Mädchen aufstand, verließ sie die verfallene Ruine, die einst ihr Zuhause war.
Liebäugelnd bewunderte sie den goldenen Reif um ihren Finger und lächelte, so wie damals, als Ryan ihr ihn damals schenkte und sie im Glockenspiel der Turmuhr bat, seine Frau zu werden. Doch diese Erinnerung schien ihr weit entfernt, wie das Lächeln, das ihr das liebenswerte Gesicht ihres Verlobten schenkte, bevor er, wie all ihre Erinnerungen im Nebel des Vergessens verschwand.
Von Weitem hörte sie den Wind säuseln, spürte, wie er sie umgab, ihr einen Kuss auf die Wange hauchte und dann wie diese liebevolle Erinnerung, die ihr Herz mit Liebe erfüllte, in der Vergessenheit verendete.
Texte: Text by Arwen 1606
Photo by Fotowelt.de
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum Märchen Wettbewerb.