Heute: 18:07 Uhr
Der Tag an dem die Welt sich veränderte
„Und wiedereinmal hat der Todeskünstler zugeschlagen. An seinem damaligen Opfer Stella M, deren Gesicht er vor drei Jahren mit einer stumpfen Rasierklinge vom Kopf schälte, hat er sein Werk Freitagnacht zu einem Samstagmorgen vollendet. Die Polizei fand die entstellte Leiche der 35jährigen in einem geschützten Frauenhaus in Saarbrücken, wo sie sich neu niedergelassen hatte. Wie der Mörder hineingelangen konnte ist noch unklar, da alle Eingänge von Sicherheitsleuten bewacht wurden. Die Polizei fahndet nach dem Täter und bittet alle Bürger um ihre Mithilfe, den Wahnsinnigen zu fassen. Und nun zum Wetter...“
Robyn schaltete den Fernseher aus, bevor sie seufzend einen Blick auf die Digitalanzeige des Funkweckers schaute und sich ihrem riesigen Stapel Papier mit nordischen Hieroglyphen und altelbischen Runen zuwendete, die ihr Lehrer als Matheformeln bezeichnete. Es war kurz nach sechs Uhr und sie hatte keinerlei Motivation weiterhin für die Matheklausur am nächsten Tag zu büffeln.
Vor allem, weil die Welt da draußen sie zum Ablenken verführte, mit ihren Neuigkeiten und interessanten Berichten über ferne Länder, neue aufgestellte Rekorde, den aktuellsten Kinofilmen und dem schönen Sonnenuntergang, der sich in den Eiskristallen an ihrem Zimmerfenster brach und in Tausend Facetten seine roten Strahlen warf. Alles war plötzlich ansprechender als ihre dämlichen Mathehieroglyphen. Wenn sie diese doch nur entschlüsseln könnte, dann würde ihr das Lernen viel leichter fallen!
„Ach, verdammt!“ Zornig warf sie den Mienenstift auf den Holzboden, wo er geräuschvoll unters Bett kullerte. „Warum bekomme ich diese blöden Formeln nicht in meinen Schädel?“ Sanft massierte sie ihre Schläfen, die heftig zu pochen begonnen hatten und öffnete das Fenster, an dem sich die letzten Sonnenstrahlen in den Eisblumen seitlich am Glas brachen. Kühle Luft umwirbelte ihre Gedanken, wusch sie frei von jeglichem Stress und Anspannung. Sie durfte sich nicht verrückt machen, nicht jetzt kurz vor ihrer wichtigen Klausur.
In der frühen Dämmerung des Abends blickte sie in die Ferne. Der Himmel war von rosafarbenen Wolken behangen, die in einem Purpurschleier über den schattenhaften Bäumen hingen. Vögel flogen als schemenhafte Silhouette dem Sternenglanz entgegen, der wie kleine Diamanten über ihren Flügeln aufleuchtete.
Eine flinke Bewegung drüben am nackten Eichenbaum, dessen buntes Laub vor seinem Stamm zu einem Haufen zusammengekehrt dalag, erhaschte Robyns Aufmerksamkeit. Erst versuchte sie mit zusammengekniffenen Augen etwas in der Dämmerung auszumachen, doch sie konnte nichts erkennen.
,Der Todeskünstler!’ Schoss es ihr durch den Kopf, doch schalt sich gleich darauf selbst, als eine grau getigerte Katze aus dem Gebüsch hervortrat und mit ihren langen Krallen das aufgetürmte Laub zerstreute. „Maja!“ Seufzte sie belanglos und wandte sich an ihre Matheformeln. Wie konnte sie annehmen, dass ein gesuchter Mörder vor ihrem Zimmerfenster stand und sie als sein nächstes Kunstwerk auserkor? Der Ort, an dem diese arme Frau sein Opfer wurde, war weit genug von ihr weg, als dass sie sich Sorgen hätte machen müssen, die Nächste zu sein. All die Gewalt, der Terror, Mord und Tod, das alles, lag weit jenseits ihrer Haustür. Das alles, würde sie niemals erreichen, denn sie fühlte sich sicher in ihrem eigenen Zuhause.
Ungelenk fischte sie den Mienenstift unterm Bett hervor und begann sich zugleich an die nächste Übungsaufgabe. „X ist eine Zufallsgröße, die jedem Ergebnis eines n-stufigen Bernoulli – Experiments die zugehörige Trefferzahl k zugeordnet wird.“ Begann Robyn von Neuem und nahm sich vor, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen. „Wenn p die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer in jeder Stufe des Bernoulli – Experiments ist, dann gilt für die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse X=k. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung einer Zufallsgröße heißt Binomialvert...!“
Ein Schrei hallte durch die Nacht, zerfetzte die Stille, die sich mit der aufkeimenden Dunkelheit über das Dorf legte. Robyn horchte kurz auf, doch sie hatte sich geschworen sich durch nichts mehr ablenken zu lassen. Irgendwelche Jugendliche fanden es wohl witzig laut durch die Nacht zu plärren, während kleine Kinder in ihren Betten lagen und vor Angst kaum einschlafen konnten.
„Verdammt!“ Rief Robyn zornig aus. „Verdammt! Verdammt!“ Der Schrei hallte in ihren Ohren wider, echote wie ein Hilferuf durch ihren Kopf. „Verdammt!“ Wie sollte sie sich bei diesem Lärm konzentrieren können?
...Peng...
Die Schreie verstummten, was nun durch das verschlafene Dorf hallte, war ein Schuss aus einer Pistole. Robyn wusste, wie sich ein Schuss anhörte, schließlich war ihr Freund jahrelang Mitglied im Schützenverein.
Das Mädchen winkte ab und vertrieb rasch den aufkeimenden Verdacht, der sie beschlich. ,Sicherlich hat Nachbar Willems wieder den Fernseher zu laut gestellt. Wäre nicht das Erste mal für diese Woche!’ Dachte sie und spielte unbekümmert mit ihren braunen Locken, die ihr wie eine Ansammlung von Sprungfedern auf ihre Schultern fiel.
...Peng...
Abermals erklang der laute Knall durch die Nacht.
Dieses mal war er zu echt, zu nah, zu realistisch, um aus einer Flimmerkiste zu erklingen.
Robyn stürzte zur Haustür und zertrümmerte fast das Glas in deren Einfassung, als sie mit enormer Wucht gegen die Wand donnerte. Stille erfüllte die Nacht, kein Vogel pfiff auf einem Ast, kein aufhastender Motor eines startenden Wagens erklang. Nichts.
Eine grau getigerte Katze kam rasch über die kalten Stufen der Treppe ins warme Innere des Hauses gehuscht, als Robyns Blick ihr folgte, sah sie blutige Pfotenabdrücke auf den weißen Kacheln des Flurs, die die Katze hinterließ. Geschockt blickte sie sich um, Nachbar Willems Fenster blieben unerleuchtet, sein Haus stand gespenstig still inmitten einem Meer aus buntem Laub. „Maja!“ Rief Robyn schockiert und verstummte abrupt, als das blau-rote Licht eines Krankenwagens ihr blasses Profil erhellte.
Damals: 23:17
Der Tag an dem die Angst sich zeigte
Laut dröhnte die Musik aus den Stereoboxen über der Theke und beschallte den überfüllten Raum mit Bässen und kreischenden Melodien. Fahles Licht drang nur spärlich durch den dichten Rauch von qualmenden Zigaretten und abgebrannten Stummel, der tief im überheizten Raum lag und die freie Sicht zum Gegenüber vernebelte.
Robyn saß mit verschlungenen Beinen auf einem dreibeinigen Hocker an der Bar. Unzählige Armreifen klirrten an ihrem Handgelenk, als sie den Arm hob und nach dem pinkfarbigen Cocktail griff, den der Barkeeper vor ihr auf die Theke stellte.
„Sex on the Beach!“ Der Barkeeper lächelte matt und steckte eine gespaltene Ananasscheibe an den Glasrand.
Robyn schüttelte verwirrt den Kopf, ehe sie begriff, dass er den Cocktail meinte. Ihre Stimme klang kühl, als sie den Strohhalm zwischen die Lippen presste und ein kaum hörbares „Danke!“ zwischen den Zähnen hervorzischte.
Ungeduldig tippte sie mit den Fingerkuppen auf die polierte Holzplatte des Tresen, während sie immer wieder entnervt auf das leuchtende Display ihres Handys schaute. Paige konnte nie pünktlich sein! Ständig verspätete sie sich und hatte Tausend Gründe dafür, warum sie es nicht rechtzeitig zu Treffen schaffte. Was wohl diesmal ihre Ausrede war?
„Kommt Paige wieder einmal zu spät?“
Als Robyn aufschaute, blickte sie in das freundliche Gesicht einer schönen Frau. Flammendrotes Haar umgab ihr schmales Gesicht aus dem zwei leuchtendblaue Augen wie Saphire herausstrahlten. „War sie denn jemals pünktlich in ihrem Leben, Alyssa?“
Alyssa schmunzelte und fischte sich eine flammende Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nein, wohl nicht!“ Sie lehnte sich von der anderen Seite gegen den Thekenrand und stützte das spitze Kinn auf den ausgebreiteten Handflächen ab. „Ich kenne Paige schon seit sie klein war. Und ständig kam sie abends zu spät nach Hause!“
„Ja, das weiß ich noch!“ Robyn grinste bei dem Gedanken an damals, als sie noch ein kleines Kind war. „Und ich kam mit ihr zu spät.“ Alyssa wohnte direkt in ihrer Nachbarschaft, die Straße entlang, das letzte Haus links.
„Ihr wart eine schlimme Bande!“ Alyssas schöne Augen verschleierten Traurigkeit und Einsamkeit. Stumm blickte sie in die Neonröhre an der Decke. „Und heute treibt deine Katze ihr Unwesen in meinem Garten!“
„Maja!“ Stöhnte Robyn. Wie konnte sie ihre Katze lehren, sich von fremden Grundstücken fern zu halten?
Alyssa winkte ab. „Ach was, dann hat wenigstens unser Kater Mowgli Gesellschaft!“ Traurig senkte sie ihren Blick und knetete verlegen die Hände unterm Tresen.
„Liegt dir was auf dem Herzen, Alyssa?“
Als sie ihren Namen hörte, schreckte die ältere Frau auf, als hätte sie jemand geschlagen. Betrübt spielte sie mit dem Anhänger der goldenen Halskette auf ihrer Brust.
„Stimmt etwas nicht mit dir, Alyssa?“ Robyn schaute sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen an. Erst letzte Woche hatte sie mitangehört, als sie am frühen Morgen auf dem Balkon saß und frühstückte, dass Alyssas Schwiegervater sie vor ihren Kindern, die sie in die Schule bringen wollte, übel beschimpfte. Ihr Familienverhältnis war zerrüttet oder soweit sich Robyn zurückerinnern konnte, war es nie anders gewesen.
Alyssa druckste herum, doch die Tränen, die über ihre eingefallenen Wangen liefen, waren eindeutige Anzeichen dafür, dass sie etwas auf dem Herzen trug. „Weißt du Robyn, ich habe Angst davor, nach Hause zu gehen. Klingt verrückt oder?“
Die Offenbarung traf das dunkelhaarige Mädchen wie ein Fausthieb. „Wovor hast du denn solche Angst?“
„Ach, Robyn...“ Seufzte Alyssa und wischte sich mit beiden Händen die nassen Perlen aus dem schönen Gesicht. „Wenn du wüsstest, welche Erniedrigungen und Beschimpfungen ich mir zuhause von meinen Schwiegereltern anhören muss...“
„Warum ziehen du und dein Mann mit euren Kindern nicht aus und sucht euch eine andere Wohnung?“ Schlug Robyn vor und griff nach Alyssas Hand. Nur der innere Zweifel hinderte sie daran, Alyssa in den Arm zu nehmen, denn das könnte sie in ihrer Furcht nur noch bestärken.
„Ja, das wollten wir...“ Ihre Stimme bebte vor Angst und vor Zorn. „Und letzte Woche konnte die gesamte Nachbarschaft hören, was dieser Mistkerl von Schwiegervater von dieser Idee und von mir hielt...“ Alyssa atmete zur Beruhigung tief ein und presste die rauchige Luft nur langsam wieder aus den Lungen heraus. „Ich habe solche Angst, dass etwas Schlimmes geschieht!“
Robyn beugte sich weiter über den Tresen und blickte in Alyssas tränenüberfüllte Augen. „Was soll denn schon geschehen? Du ziehst mit deiner Familie aus dem Haus aus und du hast den Rest deines Lebens Ruhe vor diesen terrorisierenden Senioren!“
Alyssa schmunzelte und richtete sich auf. „Du hast Recht! Was sollen diese Alten gegen uns schon ausrichten?“ Sie lachte bitter auf. „Etwa erschießen?“ Doch ihre Augen verloren an Glanz, als sie diese Worte aussprach. „Ich muss nun weiterarbeiten, Robyn! Wir sehen uns!“
Lange schaute Robyn der hübschen Alyssa hinterher, bis sie letztendlich in der Küche und aus Robyns Blickfeld verschwand. Gedankenverloren griff sie nach ihrem Cocktail. Das rosafarbene Getränk schmeckte süß und glitt ihr wie flüssiges Fruchtgummi die Kehle hinab.
„Hey, Robyn!“
Das Mädchen schreckte auf und verschüttete wenige Tropfen des Cocktails auf ihr weißes Oberteil. „Verdammte Schei...“ Doch sie sprach ihren Fluch nicht weiter aus. „Du kommst wie immer zu spät, Paige!“
„Reg dich nicht auf, Rob!“ Paiges Lippen formten ein breites Grinsen. „Du rätst nie, was mir eben passiert ist!“
Morgen: 07:55
Der Tag an dem die Engel fliegen lernten
Kaffee dampfte in der quietschgelben Tasse mit der Aufschrift: „Good Morning“ und verbreitete in der Küche einen angenehmen Duft von frisch gemahlenen Bohnen. Normalerweise trank Robyn keinen Kaffee, doch an diesem Morgen, hatte sie etwas Stärkeres wie ihren ungesüßten Tee gebraucht. Zitternd legte sie die Zeitung nieder und schob die Tasse angewidert von sich weg.
„Whis...Whiskey!“ Murmelte sie leicht stotternd. „I...Ich brauche Whiskey, u...um m...meine Nerven zu beruhigen!“
Jede Bewegung, jegliche Handlung, die sie tat, kam ihr unrealistisch und unlogisch vor. Warum noch mal hatte sie sich Kaffee aufgebrüht? Und wieso verlangte es ihr nach Alkohol am frühen Morgen? Musste sie nicht schon längst auf der Uni sein und ihre Matheklausur schreiben, für die sie tage- und nächtelang wie eine Wahnsinnige gebüffelt hatte?
Kälte überlief sie wie ein eisiger Schauer. Hastig schlang sie die Arme um ihren Körper und sank tief in ihrem Stuhl zusammen, als hätte sie das dringende Bedürfnis, sich klein machen zu wollen, unsichtbar für diese schreckliche Welt zu sein. Obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, spürte sie die Veränderung, spürte, einen Teil in sich brechen, spürte, dass nichts mehr so war, wie früher, spürte, dass die Engel fliegen lernten.
Engel flogen immer, wenn die Kirchenglocken läuteten, wenn ein Herz aufgehört hatte zu schlagen, Lungen das Atmen eingestellt hatten.
Das Telefon läutete hektisch, doch Robyn ignorierte das aufdringliche Klingeln und schaltete das Radio lauter, als die Rockmusik unterbrochen wurde und der Nachrichtensprecher deutlich die Schreckensmeldung verkündete:
„Gestern Nacht richtete ein 65jähriger Rentner seinen eigenen Sohn durch einen Kopfschoss hin, bevor er seine Schwiegertochter, die als Kellnerin in einer Bar arbeitete, auf offener Strasse erschoss und anschließend sich selbst. Grund dieser Tat war ein langjähriger Streit um das Familienhaus, das die junge Familie verlassen wollte. Die 41jährige Frau und ihr 45jähriger Mann hinterließen zwei Kinder und eine trauernde Nachbarschaft…“
Und die Engel breiteten ihre Flügel aus und lernten zu fliegen.
Texte: © Text by Arwen
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An alle Engel, die das Fliegen erlernten.
Nach einer wahren Begebenheit!