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„Katharina!“



Als der rote Vorhang zur Seite geschoben wurde, schwebten Staubraupen in die Lüfte empor und tanzten im grellen Licht der Scheinwerfer, die von den Decken hingen. Wie kleine Balletteusen drehten sie um sich selbst, liefen ineinander, nur um wie grauer Schnee elegant zu Boden zu fallen und in tosendem Applaus unterzugehen.
Zwanzig Mädchen und junge Frauen verneigten sich wie junge Gazellen, ihre langen Haare zu Knoten an den Hinterköpfen streng zusammengebunden, lächelten sie mit perfekt gebleichten Zähnen in die jubelnde Menge. Die rosafarbenen Tüllröcke schmiegten sich um die knochigen Hüften, aus denen schlanke Beine ragten, die in weiße Schlaufenschläppchen endeten.
„Immer schön lächeln!“ Zischte Katharina neben mir durch die rotgeschminkten Lippen hervor.
Als ich zu ihr aufblickte waren auf ihrem bleichen Puppengesicht weder Schweißperlen zu sehen, die im Scheinwerferlicht wie Diamanten glänzten, noch die Anstrengungen der anderthalbstündigen Aufführung von „Elfenzauber“.
„Und bewahre deine Contenance!“ Flüsterte sie, während sie auf Zehenspitzen zur Seite huschte und sich anschließend mit überkreuzten Beinen zum Publikum verbeugte.
Ich versuchte mir meine Schmerzen nicht anmerken zu lassen, die in meine krampfende Wade kroch und sich in meinem Oberschenkel ausbreitete. Auch das knurrende Raunen meines Magens ließ ich außer Acht und überließ mich ganz dem Applaus der Besucher und dem Rausch der Gefühle, die die Musik und der Tanz in mir hinterließen. Es war unbeschreiblich, für all die Mühe, den Hunger, den Schmerz und die vielen Trainingsstunden mit Jubel und Beifall belohnt zu werden. Schon als kleines Mädchen wollte ich Ballerina werden und als mein Traum endlich wahr wurde, traf ich Katharina.
Katharina war damals wie ich dreizehn Jahre alt gewesen, doch ihren Ehrgeiz und ihren Übermut, besser als alle andere zu sein, waren schon zu jener Zeit stark in ihr ausgeprägt. Sie trainierte jeden Tag länger als alle anderen in der Ballettschule, hungerte wochenlang, nur um noch filigraner und flinker zu sein. Doch all ihre Mühe hatten sich ausbezahlt, denn sie durfte die Elfenprinzessin in „Elfenzauber“ spielen, und in den letzten vier Ballettaufführungen die Hauptrollen übernehmen. Alle mochten die anstrebsame Katharina, verehrten ihren Anmut, waren entzückt von ihrer Grazie, ihrer Geschicklichkeit, ihrem zarten Gehör Musik und Bewegung im Einklang zu bringen, die Musik durch den Tanz aufleben zu lassen. Wer sie nicht liebte, der hasste sie, weil ihr großartiges Talent auch viele Neider auf sich zog.
Und Katharina war meine beste Freundin!

„Katharina, kannst du mich hören?“



Der Vorhang fiel vor uns zusammen, bedeckte die Aussicht auf die zufriedenen und verzauberten Gesichter der Menschen, die mit Staunen der Aufführung zusahen und die fantastischen Darstellern ihren Respekt zollten. Die anderen Mädchen gingen stöhnend zurück in ihre Kabinen, die strahlenden Gesichter wie eine lachende Maske von sich werfend, erhielten sie ihre schmerzverzerrten und hässlichen Fratzen wieder. Nur Katharina blieb als Einzigste auf ihrem Platz stehen, schlug glücklich die Augen nieder und lauschte dem Klang des Beifalls, dem Lohn der harten Arbeit.
„Willst du denn nicht mitkommen, Katharina?“ Fragte ich sie im Vorbeigehen, während sie sich nach mir umblickte, den Knoten vom Hinterkopf löste und die blonden Locken wie Gold um ihre Schultern fallen ließ.
„Einen Augenblick noch!“ Sie atmete lächelnd ein, seit Beginn der Aufführung hatte sie nicht mehr damit aufgehört. Ihre Augen glänzten, als sie sie wieder öffnete. Eine funkelnde Träne hatte sich zwischen ihren dichten Wimpern verirrt und perlte von ihren geröteten Wangen.
Ja, Katharinas Leben war die Bühne, Ballett deren einziger Inhalt. Nie im Leben hätte sie etwas anderes tun wollen als zu tanzen.

„Katharina, so wach doch auf!“



Ein blumiger Duft wehte uns entgegen, als wir den Theatersaal verließen und hinaus auf die Strasse traten. Der Frühling war Mitte April erwacht und ließ die triste, graue Stadt in einem bunten Feuerwerk aus schillernden Blüten und farbenreichen Blätter erstrahlen.
„Kommst du mit mir und den anderen Mädels noch etwas trinken?“ Ich lehnte an einem Laternenpfosten und rieb mir die schmerzende Wade.
Katharina schüttelte den Kopf und beobachtete mich wehleidig. „Ich muss nach Hause, Mandy, und üben. Beim Übergang in den zweiten Akt habe ich bemerkt, dass ich noch zu zäh und ungelenk bin und in der morgigen Vorstellung will ich es besser machen!“
„Du bist zu selbstkritisch! Versuche doch einfach mal lockerer zu werden, Katharina!“
„Aber davon werde ich auch nicht die Beste!“
„Du bist die Beste!“ Ich versuchte das schmerzende Bein zu belasten, doch als ich mich darauf gewichtete, knickte ich lächelnd zur Seite. Als Ballerina hatte ich gelernt, Schmerzen mit einem Lächeln zu kaschieren.
„Das solltest du untersuchen lassen!“ Katharina klang besorgt und griff mir unter den Arm, um mir aufzuhelfen. „Du weißt doch, dass Tänzerinnen beide Beine brauchen. Wenn du dich am Fußgelenk verletzt oder sogar den Unterschenkel brichst, wirst du niemals mehr tanzen können!“
Ich winkte ab. „Ich weiß. Aber es wird schon nichts Schlimmes sein. Wenn ich nämlich jetzt zum Arzt gehe, dann sagt er mir, dass ich das Bein schonen soll und morgen ist der letzte Auftritt für diese Woche, da kann ich doch nicht so einfach fehlen!“
Katharina lächelte und schritt zur Straße. Die Ampel am Fußgängerüberweg strahlte grün auf und eine Horde Menschen glitt von der einen Straßenseite zur anderen. „Du weißt nie, was morgen ist, Mandy!“
Und schließlich war sie im Strom der Menschen verschwunden.
Quietschende Reifen ertönten, als ein dunkler Wagen über den holprigen Asphalt schlitterte und in der wogenden Menschenmasse zum Stehen kam.

„Katharina, kannst du mich hören?“



Das stetige Piepsen der kantigen Maschine, an der Katharina angeschlossen ist, klingt wie ein entferntes Echo in den Ohren. Wenigstens habe ich somit Gewissheit, dass meine beste Freundin noch am Leben ist. Wie eine leblose Marionette liegt sie vor mir auf dem Krankenbett, das blasse Gesicht eingefallen, die Wangen hohl und ausgezehrt, der rote Lippenstift bis zum weichen Kinn verschmiert, sieht es aus, wie geronnenes Blut.
Stunden sind seit diesem schlimmen Unfall vergangen, als der angetrunkene Jugendliche in die Menschenmenge raste und Katharina mit sich über die Strasse riss. Stunden seit der Ballettaufführung, doch es kommt mir vor, als lägen bereits Jahre dazwischen.
„Katharina kannst du mich hören?“ Tränen kullern über meine geröteten Wangen. „So wach doch auf!“
Das Laken ist bis über den Nabel gezogen, die Hände darüber wie zum Beten gefaltet.
„Katharina!“ Seufze ich tränenüberströmt und versuche den Schmerz in mir mit einem gekonnten Lächeln zu überspielen. Doch wie viel von dem Schmerz ist in diesem Lächeln zu sehen?
Ein leises Stöhnen erregt meine Aufmerksamkeit. Als ich zum Bett aufblicke, schlägt Katharina die Augen auf und schaut mich freundlich an. „Was schaust du so traurig, Mandy? Ist etwas passiert?“
Meine Kehle fühlt sich wie ausgetrocknet an. „Nein, es ist alles in Ordnung, Katharina!“ Ich lächele, während ich lüge, denn die Wahrheit bringe ich nicht über die Lippen. Wie soll ich der zarten, zerbrechlichen Gestalt vor mir sagen, dass sie nie wieder Tanzen kann? Wie soll ich es über mich bringen ihr die Träume zu zerstören, die sie seit ihrer Kindheit begleitet hatte?
„Du lügst!“ Katharina hebt müde den pochenden Schädel und streckt einen dürren Arm nach mir aus, um meine tränenbedeckte Wange zu streicheln. „Du hast Schmerzen, dass sehe ich dir an. Du vergisst, dass auch ich Ballerina bin, ich durchschaue dieses Lächeln.“
Ich öffne den Mund, um ihr tröstende Worte zu sagen, als sich die Tür öffnet, und ein junger Arzt in den Raum eintritt. „Guten Tag, Frau Terrel, ich bin Doktor Kingsley, Ihr leitender Chirurg!“
Verwirrt schaut Katharina zu ihm auf, seine Gesichtsmimik und die Sorgenfalten auf der Stirn verheißen nichts Gutes. „Guten Tag!“ Röchelt Katharina, zu schwach um zu sprechen.
„Ich habe leider keine gute Nachricht für Sie!“ Doktor Kingsley nimmt die Hände aus den Kitteltaschen und krallt sich am Bettpfosten fest, als suche er Halt, um nicht jeden Moment umzukippen. „Sie hatten einen Autounfall mit schweren Verletzungen. Ihr linkes Bein war fast völlig vom Körper abgetrennt. Wir mussten eine schnelle Entscheidung treffen...“ Der Doktor stockt, fährt sich verlegen durch das dichte, schwarze Haar, ehe er weiterspricht. „Wir mussten Ihnen das Bein amputieren. Es tut mir leid, Ihnen keine erfreulichere Nachricht zu überbringen, ich weiß, Sie sind Tänzerin und...“
„Keine Sorge!“ Spricht Katharina mit tränengetränkter Stimme. „Ich komme schon damit klar.“ Und während sie innerlich vor Schmerzen schreit, setzt sie ihr schönstes Lächeln auf.

Impressum

Texte: © Text by Arwen © Bild by www.art-prints-on-demand.de 6. Platz beim 7. Wortspiel: "Der Tag, an dem mein Bein verlorging!"
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle, deren Träume wie der Frühling gestorben sind. Beitrag zum 7. Wortspiel: "Am Tag, als mein Bein fortging!"

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