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In meinen Träumen bin ich oft dort. Hoch oben. Auf steinigem Grund.
Die Wellen peitschen zu meinen Füßen gegen die Klippen, und der Sturm tobt, wütet, als läute er den Weltuntergang ein. Als wolle er mich verschlingen, mich in die schäumende Gischt zerren. Es ist dunkel.
Und jedes Mal sehe ich mich, einem Zuschauer gleich, nur aus der Ferne. Mein beobachtendes Ich treibt über der fragilen Realität meines Traumes und erfasst die Situation aus allen erdenklichen Perspektiven –
Aus fast allen.
Denn einzig und allein meine eigene Sicht bleibt mir verborgen – was ich sehe, wie der Regen auf meiner Haut sich anfühlt, und vor allem der Schmerz. Dieser immense Schmerz, der in mir herrschen muss, während ich mit hektischem Blick die Augen über die tosenden Wellen gleiten lasse und nichts erkenne. Nur Wasser. Überall.
Mein auf der Klippe stehendes Ich muss sich erbärmlich fühlen. So als würde es versinken in den unerbittlichen Fluten. Als wäre es nicht er, der vom Sturm fortgerissen wird, sondern sie selbst.
Aber ich – ich spüre nichts davon, denn ich schaue ja nur zu. Observiere.
Und fühle nichts dabei.

„Hey, Carmen! Kommst du morgen mit zum Strand?“ Verwundert blicke ich auf.
Nicht, weil ich die Stimme, die mich mit ihren freundlichen, geradezu euphorischen Worten, aus meinen Gedanken gerissen hat, nicht kenne.
Nicht, weil die Worte an sich mich in Erstaunen versetzen.
Eher, weil ich nicht damit gerechnet hätte, von irgendwem angesprochen zu werden. Ich bin nur hier, weil alle hier sind. Es ist die Abschlussfeier.
„Strand?“, murmle ich in meine Cola und blicke weiter aus dem Fenster. Es ist Neumond und stockfinster, nur die Straßenlaternen werfen ein mattes Licht auf die Straße – und locken die Mücken an. Arme Viecher.
„Ja, so ’ne Art inoffizielle, zweite Abschlussfeier. Die meisten aus der Klasse kommen mit. Und dann noch welche aus der 11. Und irgendwelche Freunde von denen. Weiß nicht so genau. Na ja, kommst du?“ Sein Tonfall ist seltsam drängend. Ich bin zu geschockt, um zu antworten und zucke nur unschlüssig mit den Schultern. Mein Blick hängt wie festgeklebt an der Fensterscheibe.
Carmen ist dafür bekannt, Einzelgängerin zu sein.
Carmen geht nicht einfach so am Wochenende weg, um ihren Spaß zu haben.
Carmen hält andere Dinge für sinnvoller.
Und außerdem wurde Carmen seit mindestens einem Jahr zu keiner Party mehr eingeladen – schon gar nicht von einem Jungen.
„Heißt das jetzt Ja oder Nein? Oder darf ich’s mir aussuchen?“ Er grinst. Ich sehe sein dämliches Grinsen sogar aus den Augenwinkeln, während ich mit höchster Konzentration versuche, die Bäume zu erkennen, die eigentlich draußen vor der Fensterscheibe stehen müssten. Ist es bei Neumond immer so dunkel?
„Hey! Hab ich was Falsches gesagt?“ Erst jetzt bemerke ich den gequälten Gesichtsausdruck, den ich unterbewusst aufgesetzt habe. Ein Stirnrunzeln, eng zusammengezogene Augenbrauen, schmaler Mund. Irgendjemand meinte einmal, dass ich, wenn Blicke töten könnten, schon zig Menschenleben auf dem Gewissen hätte. Dieser Gedanke lässt mich noch finsterer dreinschauen.
„Ich geh nicht an den Strand“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und funkle ihn wütend an.
„Mann, beruhig dich! War nur ’ne nett gemeinte Frage.“
Ich fange an, auf der Unterlippe herumzukauen.
Er macht mich wahnsinnig. Ich habe auf einmal das dringende Bedürfnis nach draußen zu gehen, an die frische Luft, in die Dunkelheit. Nichts mehr zu sehen. Vor allem nicht meine zu Fäusten geballten Hände. Ich verspüre den starken Drang, auf irgendetwas einzuschlagen.
Er schaut mich mit zusammengekniffenen Augen an. Und mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann. Etwas zwischen Ärger, Empörung, Verwirrtheit und – ja, was? Irgendetwas ist da noch, aber ich finde den Zusammenhang nicht.
„Was starrst du mich so an?“ Ich zucke zusammen. Starre ich? Schnell blicke ich weg, aber er hört nicht auf mich zu mustern. Sein Blick macht mich nervös.
„Was willst du noch?“ Ich musste einfach irgendetwas sagen, damit er endlich aufhört mich so anzuschauen, aber meine Stimme ist wieder seltsam schwach und verunsichert. Und ich kann es nicht leiden, wenn meine Worte so kleinlaut, so unterwürfig klingen. Da sage ich lieber gar nichts.
„Ich frage mich nur, was in deinem ehrenwerten Gehirn wohl gerade vor sich geht, da Durchlaucht wohl keine Anstalten machen, einen Idioten wie mich aufzuklären. Es gibt Leute, die werden nicht gerne einfach so abserviert und gratis dazu noch dumm angemacht, weißt du?“ Was für ein Spott, was für ein rabenschwarzer Sarkasmus! Ich würde mich bei dem Versuch, ein solches Wortmonstrum loszulassen, wahrscheinlich tausendmal versprechen, aber aus seinem Mund klingt das Ganze ungewohnt selbstsicher. Ich kann nicht anders, als ihn im Stillen dafür zu bewundern.
Und jetzt erkenne ich auch, was da noch in seinem Blick versteckt ist – nicht nur Wut, auch eine leichte Kränkung und enorme Neugierde, Interesse.
„Tut mir leid“, sage ich schnell. Dann schiebe ich mich hastig an ihm vorbei, murmle noch ein schnelles „Ich muss mal raus an die frische Luft“, und schon eile ich zur Haustür. Öffne sie. Und die tiefe Schwärze der Nacht verschluckt mich.
Da bemerke ich, dass nicht er es ist, der mich wahnsinnig macht –
Ich bin es.
Und ich kann vor mir selbst nicht davon laufen.

In meinen Träumen stehe ich auch oft einfach nur neben ihr, neben meinem weinenden, verwirrten Ich, und mache mir Notizen auf einem kleinen Block.
Die Tinte ist schwarz und wasserfest, und auch das Papier durchweicht nicht, obwohl es in Strömen regnet.
Das ist meistens der Punkt, an dem ich bemerke, dass ich träume.
Und an dem ich versuche aufzuwachen, was mir nie gelingt.
Dann versuche ich ein weiteres Mal vergebens, in ihren Körper einzudringen – in meinen Körper –, und das einzige, was ich fühle, ist Verärgerung darüber, dass ich es nicht schaffe. Dass mir weiterhin nur die Möglichkeit bleibt, Notizen zu machen – über ihren Gesichtsausdruck, die Art, wie sie die Hände um ihren Körper schlingt, den Klang ihres Schluchzens, vermischt mit dem peitschenden Wind –, um diese dann später zu deuten.
Vielleicht presst sie die Arme ja so fest um ihren Körper, um ihr Herz, um nicht zu zerreißen? Innerlich.
Wahrscheinlich.
Und wieso zerreißt sie? Wieso weint sie? Wieso beruhigen sich ihre Schluchzer auch nicht, nachdem ich tausendmal diesen einen, selben Traum hatte?
Der Sturm tobt, Möwen kreischen, die Gischt spritzt durch die Luft, zischend, tosend – nass. Wie ihre Tränen.
Und ich kenne die Antwort auf meine Fragen, aber ich verleugne dieses Wissen. Jede Nacht. Immer wenn ich neben meinem verzweifelten Ich stehe, und so tue, als würde mich das alles kalt lasse. Als würde ich nicht fühlen, was ich fühle. Als könnte ich nur vollkommen teilnahmslos zuschauen. Ein gelogenes Gefühlsvakuum in meinem Herzen.
Wieso betrüge ich mich selbst? –
Ich glaube, man nennt es Überlebensinstinkt.

„Carmen? Was machst du denn allein hier draußen?“ Ihre Gesichter blicken tadelnd auf mich herab, als hätten sie mich bei etwas Verbotenem erwischt.
Dabei sehe ich ihre von sich selbst überzeugten Blicke, die genau zu wissen meinen, wie ich bin. Dass ich mit niemandem auskomme und auch niemand mit mir auskommen kann. Weil ich einfach viel zu andersartig bin. Nicht so, wie man jemanden gerne hätte. Und weil ich mir auch nicht die Mühe mache, mich zu ändern.
Das denken sie. Ich sehe es genau in ihren Augen, jedes Mal, wenn sie mich mit heuchlerischer Freundlichkeit ansprechen, in ganzen Gruppen, Cliquen, immer mindestens zu viert, um ihren riesigen Freundeskreis zu demonstrieren.
Ich habe kein Problem damit, anders zu sein.
Jetzt stellen sie sich in die hinterste Ecke des Gartens. Wo die Nachbarn sie nicht sehen.
Ich weiß trotzdem, dass sie heimlich ihre Zigaretten anstecken und sich dabei extrem toll vorkommen. Ihr Lachen dringt zu mir vor. Irgendjemand muss einen blöden Witz gerissen haben. Ich verdrehe die Augen.
„Du bist ja immer noch draußen!“ Schon wieder schrecke ich beim Klang seiner Stimme auf. Schleicht er sich jedes Mal an, damit ich nicht weglaufe, bevor er überhaupt etwas sagen kann, oder bin ich einfach zu unaufmerksam? Letzteres, nehme ich an. Denn er ist kaum zu übersehen mit seinen monströsen dunklen Locken und dem breiten Grinsen.
Ich nicke nur und gähne. Strecke mich demonstrativ, nur um dann wieder in meine zusammengesunkene Haltung zurückzufallen und meine Haare zu Zöpfen zu flechten. Irgendetwas muss man ja tun.
Doch anstatt mich in Ruhe zu lassen und zu den anderen zu gehen – was meine abweisende Handlung wohl unmissverständlich befürwortet –, lässt er sich neben mir auf den Stufen der breiten Eingangstreppe nieder. Und fängt an mich zuzutexten.
Ich seufze. Was er ignoriert – bewusst oder unterbewusst.
„Riesiges Haus, was? Die müssen irre reich sein. Ich hab gehört, Yvonnes Vater ist –“
„Sag mal, hast du eigentlich nichts Besseres zu tun, als einem unschuldigen Mädchen hinterher zu rennen, das offensichtlich kein Interesse an deinem Geschwätz hat? Dir muss echt langweilig sein!“
Ich stocke. Ihn unterbrochen zu haben, ist ein seltsames Gefühl.
Ich korrigiere mich: Überhaupt irgendjemanden zu unterbrechen, fühlt sich komisch an. Außerdem kann ich mich nicht daran erinnern, innerhalb des letzten Jahres derartig viele Wörter am Stück gesagt zu haben.
Ich senke den Blick.
„Tut mir wirklich extrem Leid, dass ich dein einsames Gesicht nicht mehr ertragen kann!“ Schon wieder dieser Sarkasmus, und –
Ich stocke in meinen Überlegungen. Was hat er gesagt? Ich brauche einen Moment, um mich wieder zu fassen, meinen Mund aufzumachen – ihn wieder zuzuklappen.
Dann schaue ich ihn an. Er guckt verlegen zu Boden, kneift die Lippen fest zusammen.
Eigentlich hatte er das nicht sagen wollen.
Ich bin verwirrt. Schlinge die Arme ganz fest um mich. Mein Herz pocht wie wild. Aber nicht wegen seinen Worten, sondern wegen –
Ich stocke schon wieder. Ich darf nicht daran denken! Ich darf nicht! Und das Gefühlsvakuum in meinem Herzen füllt sich stetig. Unaufhaltsam. Mit Sehnsucht.
Wut erfasst mich. Immenser Zorn – auf ihn. Wie kann er es wagen, meine Mauer zu durchbrechen? Sie war so mühsam zu errichten! Was glaubt er eigentlich, wer er ist?
„Du Idiot! Sag so was nicht!“ Ich bin nicht mehr zu bremsen. Sehe nicht mal sein gekränktes Gesicht.
„Ich brauche niemanden! Dich schon gar nicht. Außerdem habe ich einen Freund! Es reicht, wenn er für mich da ist, wenn ich ihn liebe –“ Ich fange an zu stottern, verschlucke Worte. Ich frage mich, warum meine Stimme so schwach ist.
Da erst bemerke ich die Tränen. Sie rinnen nass über meine geröteten Wangen.
Auch das fühlt sich seltsam an. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr geweint. Mühsam unterdrücke ich ein Schluchzen.
Ich will aufstehen, wegrennen, fliehen. Ihm entfliehen. Der Wahrheit entfliehen, wie ich es immer getan habe. Aus jenem einen Überlebensinstinkt heraus. Aber das Maß ist voll, komplett. Da ist kein Vakuum mehr, mit dessen Hilfe ich meine Sehnsucht verstecken könnte.
Ich schluchze laut auf, nur ein klarer Gedanke existiert in meinem überfüllten Kopf: Ich will hier weg. Der Rest scheint mir so diffus, dass ich ihn in meinem Zustand nicht geordnet bekomme.
„Carmen? Weinst du?“ Da sind sie schon wieder. Ich rieche den üblen Zigarettenrauch. Und ich weiß, was sie vorhaben. Sie kommen, um mich zu begaffen, saugen meine Tränen gierig mit ihren großen, übermäßig geschminkten Augen auf, um sich dann später ihre ebenso bepinselten Münder über mich zu zerreißen. Ich kenne ihr Spiel, ich habe es unzählige Male miterlebt.
Aber er beschützte mich ja immer vor ihnen. Er beschützte mich sogar, obwohl ich keinen Schutz nötig hatte, denn ich war stark genug, selbst mit so etwas klarzukommen. Und ich war immer aufgeweckter, gieriger nach nervenaufreibenden Situationen gewesen als er. Ich hatte die Aufregung genossen, dieses Knistern in der Luft. Ich glaube, ich war auch ziemlich streitlustig. Das Leben konnte einen ja so schnell langweilen.
Ich war so verdammt naiv gewesen!
„Carmen geht’s nicht gut. Sie hat Probleme mit den Augen. Ich bring sie heim.“
„Okay, mach das, Jacob. Und pass gut auf sie auf.“
Ich sehe ihre spöttischen Blicke förmlich vor mir. Und ich höre ihr albernes Kichern. Aber sie gehen.
Er hat ihnen eine Lüge erzählt. Er ist nicht besser als ich, die täglich alles und jeden betrügt – am meisten sich selbst. Aber er tut es nur für mich, fällt mir ein.
Ich stehe auf. Es fließen noch immer Tränen, aber ich sehe wieder etwas. Ich mache einen Schritt.
„Hey, wo willst du hin? Beruhig dich erstmal!“
Müde schüttle ich den Kopf. Drehe mich nicht einmal zu ihm um.
„Nein, ich will nach Hause.“
„Ich hab aber gesagt, dass ich dich heimbringe; ich halte meine Versprechen!“
Ich will allein sein. Ich muss dringend nachdenken, die Gefühle, die sich in mir aufgestaut haben, wieder in den kleinsten Winkel meines Herzens verfrachten – mein Vakuum wieder finden. Sonst sterbe ich. Ich bräuchte dazu nicht einmal das tosende Meer, das Wasser, das die Finger nach jedem auszustrecken scheint, der ihm zu nahe kommt. Die Wellen, die über einem zusammenbrechen, einen verschlingen wollen…
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen –
Und spüre, dass er hinter mir steht, die Arme um mich legen will.
Ich springe schnell zur Seite und drehe mich um. Zornig. Mit blitzenden Augen. Wenn Blicke töten könnten… Er hatte das damals zu mir gesagt.
„Ich warne dich! Fass mich nicht an! Nur er darf das! Ihn liebe ich nämlich!“
Ich würde die Worte so gerne noch tausendmal wiederholen: Ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Er war mein bester Freund und ich habe ihn mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Aber ich war so verunsichert. Und dann sein Auslandsjahr, von dem er mir nichts erzählt hatte. Und zu dem es nicht einmal kam, weil –
„Sei still!“, zische ich der Stimme in meinem Kopf zu. Immer wieder. Aber es hilft nichts. Und dann kann ich nichts mehr denken außer diesem einen Satz: Warum konnte ich ihm nicht mehr sagen, dass ich ihn liebe?! Warum nur?
„Carmen…“ Seine Augen sind vor Angst und Verunsicherung geweitet. Er flüstert. Langsam kommt er auf mich zu.
„Hör auf, dich selbst zu belügen. Du kannst nicht davon laufen, nicht vor dir selbst.“
Er weiß es! Er wusste es die ganze Zeit! Meine Fäuste sind schon wieder geballt. Ich würde am liebsten auf ihn einschlagen, solange bis ich vor Erschöpfung umkippe, in einen traumlosen Schlaf falle. Ohne diese Zweifel, ohne meine Gefühle auch im Traum verdrängen zu müssen.
„Sei still!“, schreie ich jetzt ihn an. Kreische ich hysterisch. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie sie drinnen ihre Nasen gegen die Fensterscheiben pressen und glotzen, aber ich ignoriere es. Der Schmerz ist so gewaltig, so bezwingend.
„Carmen“, setzt er noch einmal an.
Dann macht er einen schnellen Schritt auf mich zu, und ich kann mich nicht mehr wehren. Nicht gegen seine starken Arme.
„Dein Freund ist tot, Carmen, das weißt du.“

In meinen Träumen suche ich auch meistens nach etwas. Etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Nur, dass ich es finden muss.
Und dann wird der Regen noch unerträglicher, noch drückender, aber ich bleibe auf der Klippe stehen und lasse die Augen weiter über das wütende Meer gleiten. Während meine Hand schreibt, Dinge auf den kleinen Notizblock kritzelt, den er mir damals geschenkt hat. Als er meinte, ich solle meine Wut nicht immer an ihm auslassen, sondern das blassviolett getönte Papier damit quälen. Er sagte es mit einem Lächeln.
Auch der Blick meines sich die Seele aus dem Leib weinenden Ichs gleitet über die Wellen. Immer noch.
Ich würde sie gerne trösten, kommt es mir in den Sinn. Aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst, ihr zu nahe zu kommen.
Sie hat Sehnsucht, so immense Sehnsucht. Und dieses Verlangen nach ihm erdrückt mich fast, obwohl ich nur neben ihr stehe.
Denn es ist ja meine Sehnsucht. Und ich vermisse ihn so sehr.
„Ich liebe dich!“, schreie ich in den Sturm hinaus, wissend, dass mich niemand hört. Ich schluchze laut auf. Und ich bemerke, dass ich nicht mehr neben mir stehe.
Ich bin ich.
Und ich weine, weil ich traurig bin.

„Was ist das?“ Seine Worte reißen mich aus meinen Gedanken, aber ich bin ihm nicht böse dafür. Ich habe keine Kraft mehr, irgendwem böse zu sein.
Wir sind mit dem Fahrrad ans Meer gefahren. Es ist mitten in der Nacht.
Ich wollte nicht, aber sein Wille war stärker als meiner. Oder ich war einfach nur zu schwach.
Seit damals war ich nicht mehr am Meer – schon gar nicht auf dieser Klippe, auf der wir jetzt stehen, dicht beieinander, weil ein kalter Wind über die unruhige See fährt. Es ist die Klippe aus meinen Träumen.
Ich drehe die Postkarte in meinen Händen hin und her. Betrachte sie von allen Seiten. Vorne ein Leuchtturm in unnatürlichen, am Computer bearbeiteten, zu hell strahlenden Farben.
Hinten seine saubere Handschrift. Er wollte Schriftsteller werden – deshalb auch das Auslandsjahr. Er wollte die Welt kennen lernen. Von all ihren Seiten.
„Er hat sie mir damals geschickt“, sage ich, „von einem Souvenirladen in der Stadt aus. Nachdem wir uns gestritten hatten, weil er mir nichts von seinem Auslandsjahr gesagt hatte. Eigentlich wollte ich ihm an diesem Nachmittag meine Liebe gestehen.“
Ich lächle gequält. Warum erzähle ich ihm das?
„Ich hab’s von ’nem Freund erfahren. Er wollte in den Ferien mit Lukas und ein paar anderen nach Südfrankreich fahren.“
Sein Name brennt sich in mein Bewusstsein, und meine Gedanken kreisen nur um jenen Tag.
Wie meine Mutter ins Zimmer kam, sich zu mir aufs Bett setzte und mich ganz fest in den Arm nahm.
Kurz darauf brach ich zusammen, als sie mir die schlimme Nachricht verkündete: Lukas war mit dem Boot seines Vater aufs Meer raus gefahren und nicht mehr zurückgekehrt.
Am Tag darauf lag die Karte im Briefkasten.
Es stand nicht viel auf ihr.
Er entschuldigte sich. Und er schrieb, dass er mich lieben würde, dass er es deshalb nicht über sich gebracht hätte, mir von seinem Auslandsjahr zu erzählen. Er würde mich so sehr vermissen.
Und jetzt vermisse ich ihn. Und er wird nicht zurückkommen.
„Carmen, lass los.“ Ich schluchze schon wieder, die Erinnerungen, die ich ein ganzes Jahr lang verdrängt habe, sind zu viel für mich. Er nimmt mich schon wieder in den Arm. Ich lasse es geschehen.
„Er ist tot, Carmen. Und du lebst! Meinst du, er hätte gewollt, dass du dich deshalb quälst?“
Ich starre aufs Meer hinaus. Hätte er das gewollt?
„Er hat dich immer geliebt. Schon von Anfang an. Ich weiß es von einem Freund.“
So schnell die Erinnerungen auf mich eingeströmt waren – jetzt verblassen sie allmählich. So lange ist es her. Über ein Jahr.
„Er ist tot, aber du lebst!“ Schon wieder diese Worte.
Ich betrachte die Postkarte in meinen Händen, die mich an die Vergangenheit zu binden scheint.
„Es gibt auch noch andere Dinge, für die es sich zu leben lohnt.“ Seine Stimme klingt so verzweifelt!
Und auf einmal weiß ich, was ich im Traum suchte, nach was ich Ausschau hielt.
Es ist das Licht des Leuchtturms, sein Leuchtfeuer. Nicht das des künstlich aussehenden Leuchtturms auf meiner Postkarte, sondern das Licht dessen, der seine Signale durch den Sturm schickt. Und ich sehe es. Am Horizont. Ein schwaches Leuchten in der Nacht.
Leuchttürme sollen die Seefahrer auf den richtigen Kurs bringen.
Ich schreite aufs Ende der Klippe zu, die Postkarte fest in meinen Händen.
„Nein, Carmen! Bist du wahnsinnig?“
Ich drehe mich nur kurz um und lächle schwach.
Dann hebe ich die Hand und –
Werfe die Postarte über den Rand der Klippe.
Er hätte gewollt, dass ich lebe.
Vielleicht war es auch besser, dass er ums Leben gekommen war und nicht ich. Ich war immer stärker gewesen als er.
„Ich liebe dich!“, flüstere ich in den Wind hinaus und es kommt mir so vor, als würde er antworten.
Und wieder merke ich, dass jemand die Arme um mich schlingt, und ich lasse es geschehen. Weil ich weiß, dass man so etwas besser zu zweit durchsteht.
Es ist kalt. Ich bemerke, dass ich zittere. Aber er hält mich ganz fest.
Und gemeinsam schauen wir übers Meer, über die tosenden Wellen, und ich genieße es.
Es ist ein Gefühl von Neustart, das mich erfüllt.
Lass einfach los, denke ich – und sinke noch tiefer in seine schützenden Arme.

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Tag der Veröffentlichung: 24.05.2009

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