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INHALT



PROLOG


EINS


ZWEI


DREI


VIER




PROLOG



Das matte Licht der Abendsonne birgt etwas Beruhigendes, finde ich. Wenn die letzten Sonnenstrahlen sich golden über die Bäume des nahen Waldes ergießen, atme ich auf, fasst mein Herz wieder Mut.
Denn so erdrückend und unergründlich der Alltag auch erscheinen mag, können wir uns doch sicher sein, dass die Nacht ihre beruhigende Schwärze über die Geschehnisse legen und unsere Schmerzen zumindest für die Dauer eines Traumes lindern wird.
Und wenn wir zur Ruhe gekommen sind und das Licht eines neuen Morgens uns sanft weckt, beginnen wir, dem Leben wieder Vertrauen zu schenken, auf einen neuen Tag zu hoffen.
Diese Gewissheit gibt mir Kraft.



Fasziniert blickt das Mädchen auf die wenigen Zeilen. Die schwarze Tinte ist noch feucht, die Gedanken gerade eben erst notiert. Die Abendsonne färbt das helle Papier rötlich.
Sie hält den Füllfederhalter fest umklammert; ihre Fingerknochen treten deutlich hervor. Die vor Aufregung geröteten Wangen des Mädchens bilden einen seltsamen Kontrast zu der sonst so blassen Haut.
Die Worte tragen ihre Handschrift – etwas unsicher geführt, aber gut lesbar – und doch sind es die Gefühle einer anderen. Es sind nicht ihre eigenen Gedanken, die sie an ihrem Schreibtisch sitzend zu Papier bringt.




<<font;_bold_italic>EINS

Das Leben ist voller Farben, die uns wie eine Hülle aus Licht umgeben, die das Leben erst lebenswert machen.
Manchmal nehmen wir sie gar nicht wahr, haben in der Hektik des Alltags kein Auge für das strahlende Farbenmeer, das uns umgibt. Doch unbewusst genießen wir die verschiedenen Nuancen, die unsere Wahrnehmung in die Luft zeichnet – genauso wie unsere Lunge nach Luft lechzt, verspürt unsere Seele den Drang, tief durchzuatmen, den Anblick der bunten Welt, die uns umgibt, einzufangen, zu genießen.
Für mich hat jedes Gefühl einen eigenen Farbton, eine eigene, individuelle Färbung, die nicht jedem gefällt, aber durchaus ihre guten Seiten hat. Das Glück zum Beispiel ist von einem hellen Orange, einem strahlenden Gelb – den Farben der Sommersonne.
Würden die Leute die Augen weit öffnen und nicht blind durch ihre eigenen blassgrauen Welten laufen, wären die Straßen bestimmt auch an Regentagen voller lächelnder Gesichter, bräuchte es kein Sonnenlicht, den Menschen ein Lachen zu entlocken – würden wir doch das Licht, die Wärme der Sonne tief in unseren Herzen tragen…



Ich beobachtete das Mädchen schon seit einer Weile. Sie saß da, die Beine übereinander geschlagen und studierte mit hoch konzentriertem Blick das Buch, das sie sich dicht vors Gesicht hielt, so als könnte sie die Schrift nicht entziffern. Ihre Stirn war in nachdenkliche Falten gelegt und ich meinte zu erkennen, wie ihre Augen, die hastig über die Zeilen flogen, vor Erstaunen, Bewunderung und auch vor Neugierde von einem seltsamen Glänzen erfüllt waren.
Ich wäre gerne näher herangetreten, um zu sehen, was das für ein Buch war, das ihre Aufmerksamkeit so stark auf sich zog, doch ich konnte nicht – aus mehreren Gründen.
Die Straße war erfüllt von Leben – Menschen, die sich hastig aneinander vorbeidrängten, Kinder, die ihre Nasen an die mit buntem Spielzeug gefüllten Schaufenster pressten, Massen an Leuten, die die Frühlingssonne genossen, das schöne Wetter. Menschen, die mitten im Leben standen.
Und was machte ich? Ich beobachtete dieses blasse Mädchen, das auf der Bank an der Ecke saß, und die Wärme der Sonne, das Glück, das einem an diesen Tagen in riesigen Wogen entgegenströmte, nicht einmal wahrnahm.
Trotzdem sah ich sie heute zum ersten Mal.
In dem Moment, da sie dieses eigenartige Buch aufgeschlagen und mit gerunzelter Stirn die ersten Zeilen gelesen hatte, war mein Blick auf einmal ganz unbewusst in ihre Richtung gewandert. Als hätte es auf einmal einen Kurzschluss in meinem Kopf gegeben, wusste ich in diesem Augenblick, dass mein Suchen ein Ende hatte.
Ich war so lange durch die Finsternis gelaufen, hatte darauf gewartet, wieder Luft holen zu können – und da, ganz plötzlich, konnte ich wieder sehen. Plötzlich war da dieses Mädchen mit dem Buch. Plötzlich war ich wieder da –
Doch mein Glück währte nicht lange.
Auf einmal schreckte sie auf, ihr war etwas eingefallen. Sie blickte auf die Armbanduhr. Verdammt! Schon so spät? In der nächsten Sekunde war das Buch in der Tasche verschwunden. Und kurz darauf auch das Mädchen – ich natürlich ebenso.
Mein Fluchen wurde von der plötzlichen Dunkelheit verschluckt.
Wieder jenseits von Raum und Zeit…
Ich seufzte.

Es war, als erwache man aus einem tiefen Schlaf.
Nein, nicht ganz –
Eher als wäre man die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein gewesen, ohne es zu bemerken. Ohne zu erkennen, dass man wach war, nicht nur träumte.
Die Sonnenstrahlen schienen hell, warm auf mich herab. Menschen lachten. Eine Taube landete vor mir und pickte die Brotkrumen des kleinen Mädchens mit den blonden Zöpfen auf. Eine Mutter nahm ihr Kind lächelnd bei der Hand. Frühling.
Komisch, dass mir das alles erst in diesem einen kurzen Moment auffiel, da ich mich von den Buchstaben des handgeschriebenen Buches löste, das ich in den Händen hielt. Kurz bevor die angenehme Ruhe, die mich ergriffen hatte, schwand, als ich auf die Armbanduhr blickte.
Ich würde zu spät kommen. Schon wieder.
Sonst hatte mich das nicht gestört, war es mir egal gewesen, ob ich Ärger bekam, dass sie mir verboten, bei der Aufführung mitzutanzen. Doch jetzt, da mir der laue Frühlingswind ins Gesicht wehte und ich die stumme Euphorie der Menschen spürte, die das schöne Wetter genossen, wusste ich, dass es wichtig war.
Wichtig, dass ich hier war.
Wichtig, dass ich tat, was ich immer getan hatte.
Wichtig, dass ich mein Leben lebte.
Hastig warf ich das seltsame Buch in die Tasche und sprang auf.
Meine nachdenkliche Stimmung verflog sofort, gab mich der müden Nüchternheit zurück, aus der mein Leben bestand, die ich die ganze Zeit verbissen zu ignorieren versuchte. Die ich niemandem zeigte.
Meine Gesichtszüge versteinerten sich zu einem künstlichen Lächeln.
Das war ich und ich konnte nichts dagegen tun.

Langsam zählte ich auf drei. Dann öffnete ich erneut die Augen, blinzelte gegen das helle Sonnenlicht und blickte mich ungläubig um –
Ich war wieder da.
Und dort war das Mädchen.
Es hatte keine Sekunde gedauert, da hatte sich der dichte, kalte Nebel schon wieder verzogen und mir von neuem den Blick auf die mit gut gelaunten Menschen gefüllte Einkaufsstraße eröffnet.
Ich versuchte, die Hoffnung zumindest ein klein wenig zu unterdrücken. Ohne Erfolg.
Da war das Mädchen. Da war die Sonne. Da war ich.
Die Euphorie ließ sich nicht unterkriegen.
Zielstrebig schlängelte ich mich durch das Meer aus lachenden Gesichtern, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Wichtig war nur eine Person – das blonde Mädchen mit dem Buch. Ich durfte sie auf keinen Fall verlieren.
An der Ecke bog sie rechts ab und blieb vor einer großen, verglasten Tür stehen. Das Gebäude war hoch – drei Stockwerke –, hatte einen verblichenen gelben Anstrich, sah aber im Vergleich zu den umstehenden Häusern relativ einladend aus. Neben dem Eingang prangte ein eisernes Schild, auf dem die Unternehmen vermerkt waren, die sich hier niedergelassen hatten.
Ich wartete, bis sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte und ich ihre Schritte vernahm, die hastig durch einen breiten Flur eilten. Dann trat ich näher ans Haus heran und ging die Liste der Bewohner durch. Gleichzeitig lauschte ich.
Das Erdgeschoss schien dem gegenüberliegenden Restaurant zu gehören. Vielleicht ein Lagerraum.
Das Mädchen stoppte. Ich hörte den Fahrstuhl, der ankam.
Im ersten Stockwerk befand sich dem Schild nach zu urteilen ein Fotostudio. Jetzt entdeckte ich auch den Ausstellungskasten, der neben der Eingangstür mit Hochzeitsfotos für sein Unternehmen warb.
Ich runzelte die Stirn. Die Bilder waren zu perfekt. Das schneeweiße Kleid der Braut. Die Pose des Bräutigams, der seinen Arm um die Frau legte. Gestellt. Die lächelnden Gesichter der Heiratenden, die für mich vollkommen fehl am Platz wirkten. Künstlich – wie der Rest des Bildes.
Ich wand den Blick ab und lauschte wieder den Schritten des Mädchens.
Sie war jetzt in den Fahrstuhl eingestiegen, der sich rasch nach oben bewegte. Doch sie stand nicht still, sondern trat unruhig von einem Bein aufs andere. Nervös. Ich vernahm den Atem eines anderen, sie war nicht allein.
Etwas beunruhigte mich, doch ich wendete meine Aufmerksamkeit wieder dem Eisenschild zu. Die Beschriftung für den zweiten Stock überflog ich. Ich war mir jetzt sicher, dass das Mädchen ins Obergeschoss wollte.
Ballett also.
Ich war äußerst zufrieden mit meinen Nachforschungen. Das passte zu ihr.
Plötzlich hörte ich ein lautes Poltern.
Dann war da nur noch ein helles Blau, das um mich herumwirbelte, mir die Sicht nahm, schmerzhaft von mir Besitz ergriff.
Bevor auf einmal alles schwarz war.
Und kurz darauf genauso plötzlich wieder heller wurde.
Ein kleiner Raum – die Fahrstuhlkabine.
Da lag das Mädchen. Daneben ein dunkelhaariger Typ, der sie schüttelte, ihr Dinge zurief, geschockt guckte. Verwirrt. Vollkommen verwirrt. Genauso wie ich.
Der Fahrstuhl hielt mit einem unangenehmen Ruck, und der Kerl, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, verzog das Gesicht. Übelkeit.
Doch ich schenkte ihm keine Beachtung, denn mein Blick streifte das Buch, das sich mit einer Wasserflasche und anderen Dingen über den Boden verteilt hatte, als das Mädchen gestürzt war. Es lag aufgeschlagen da, und meine Neugierde war größer als jeder Drang, auf meinen Schützling aufzupassen. Ich beugte mich herab.
Gerade als ich die erste Zeile gelesen hatte – die mir aufgrund des fehlenden Zusammenhangs leider später nicht wieder einfallen wollte –, machte mir das Mädchen jedoch einen Strich durch die Rechnung, indem es schlicht und einfach wieder aus seiner Ohnmacht erwachte.
Ich sah nur noch die Erleichterung auf dem Gesicht des Jungen.
Dann den überraschten, verwirrten Blick des Mädchens.
Ein schwaches Lächeln.
Und es war wieder schwarz.
Danach die Straße. Menschen. Sonne. Dazwischen meine Hoffnung.
Und schließlich nur noch mein Fluchen in der plötzlichen Dunkelheit.
Nebel.
Kälte.
Ich.

Ich war wie in Trance die Straße entlang gerannt, automatisch rechts abgebogen, und schließlich vor dem Eingang des vertrauten, dreistöckigen Gebäudes an der Ecke stehen geblieben. Schwer atmend stieß ich die Tür auf und der vertraute Geruch nach Putzmittel wogte mir aus dem weiten, aber recht spärlich beleuchteten Flur entgegen. Ich wäre in meiner Eile fast auf dem frisch gewischten Boden ausgerutscht, doch ich konnte mich gerade noch mit einer Hand an der Wand abstützen.
Am anderen Ende des Ganges leuchteten die Knöpfe des Fahrstuhls. Ich stutzte.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, irgendwann einmal jemanden den alten Aufzug benutzen gesehen zu haben. Die meisten nahmen die Treppe, so viele Stockwerke waren es ja nicht.
Doch ich war spät dran, und so hastete ich, erstaunt über mein Glück, der sich gerade öffnenden Fahrstuhltür entgegen. Die Kabine war natürlich nicht leer.
Der Typ darin war groß. Und dunkelhaarig. Und auf eine gewisse Weise auch ziemlich gut aussehend. Nur seine Sonnenbrille störte mich, sie machte mich nervös. Er sah damit irgendwie unheimlich aus. Kalt. Unnahbar.
Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während der Fahrstuhl träge nach oben glitt. Ich versuchte, den Reißverschluss meiner Tasche zuzuziehen, den ich vorher in der Eile vergessen hatte. Er klemmte. Und meine Hände zitterten.
Dann ging alles ganz schnell.
Ich blickte wieder auf, um zu sehen, in welchem Stock wir uns befanden. Doch ich nahm die Anzeige nur am Rande war, denn als ich den Kopf drehte, um mich wieder meiner Tasche zuzuwenden, trafen meine Augen auf die des Jungen neben mir.
Wann hatte er seine Sonnenbrille abgenommen?
Ich erstarrte.
Es war alles ganz zufällig geschehen, sein Blick zeigte Überraschung. Meiner Verwunderung.
Das war das letzte, was ich mitbekam, bevor da nichts mehr war.
Nur Blau.
Ein Ziehen in meiner Brust.
Ein unbeschreiblicher Schmerz.
Als würde jemand einem Herz und Lunge zusammenpressen.
Keine Luft. Ich keuchte.
Alles drehte sich, ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Ich fiel. Immer tiefer und tiefer. Ich wollte, dass es aufhörte. Jemand rief nach mir, doch ich wollte nicht, dass er meinen Namen in die Nacht schrie, er sollte mich lieber von dieser Dunkelheit befreien. Doch ich wusste, er würde es nicht tun. Und ich fror und war allein.
Stille.

Die ganze Zeit durchdrang nur ein einziger Wunsch die Schwärze in meinem Kopf.
Blau.
Ich wollte dieses Blau wieder sehen.
Blau wie die Sehnsucht.
Blau wie die Hoffnung.
Blau schien mir in diesem Moment die Farbe der Liebe zu sein. Die Farbe einer schmerzenden Liebe.
Wo bist du nur?

Ich stöhnte und schlug die Augen auf.
Fast sofort war ich wieder vollständig bei Bewusstsein.
Mein Herz schlug wie wild, schnell und holprig, mein Atem ging stoßweise. Mein Mund war trocken. Und der Boden war hart.
Aber da war dieses Blau. Direkt vor mir. In seinen Augen.
Ich lächelte.


ZWEI



Die meiste Zeit unseres Lebens suchen wir etwas – Glück, Freunde, Menschen, die wir lieben können, Menschen, die uns lieben… Doch ist das der Sinn des Lebens? Auf ständiger Suche zu sein, unermüdlich auf Dinge zu hoffen, die vielleicht gar nicht so wichtig sind, wie wir annehmen?
Das Leben hat mehr zu bieten als dieses Verlangen nach genau den Dingen, die wir nicht besitzen.
Die Welt ist so bunt, so farbenfroh. Man muss sich doch nicht genau die Farbtöne heraussuchen, von denen man weiß, dass man sie nicht sehen kann – was ist mit all den anderen Farben, von denen jede einzelne ihren eigenen Reiz hat?
Seine kostbare Zeit mit dieser ewigen, ermüdenden Suche zu verbringen, finde ich verrückt; man sollte sich aufs Finden beschränken – finden, was man rein zufällig entdeckt, die Farben genießen, die man zufällig aus dem Alltag heraus erkennt.
Und vor allem sollte man das Leben selbst, das Glück nicht suchen. Es lässt sich nicht finden, und es streckt die Arme ganz von alleine nach denen aus, die gelernt haben, alle Farben des Lebens zu schätzen…



Finsternis.
Ich suche etwas, jemanden.
Obwohl ich weiß, dass ich sie hier nicht finden werde.
Ich bin es leid, durch die Dunkelheit zu irren, ihr hinterherzulaufen. Doch es ist das einzige, was einen Sinn für mich ergibt. Das einzige, was ich tun kann in dieser Einöde.
Ganz zu Anfang habe ich die Schritte gezählt, die ich durch den Nebel gegangen bin, aber mittlerweile habe ich es aufgegeben. Es deprimiert mich zu sehr.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich manchmal das Sonnenlicht, spüre ich die wärmenden Strahlen auf meiner Haut, legt sich mir ganz unbewusst ein Lächeln aufs Gesicht, atme ich auf – bis mir die Ausweglosigkeit meiner Situation bewusst wird und ich einfach weiter schreite.
Immer weiter.
Keine Rast.
Und auch kein Ziel.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man.
Meine Hoffung vergeht in dieser Kälte, in dieser Einsamkeit.
Und vielleicht bin ich ja tot – getötet von einer Wahnsinnigen mit einem Buch.
Ich weiß es nicht.

Ich versuchte vergebens mein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Atmete tief durch, immer wieder. Machte noch einmal kurz die Augen zu – und wieder auf. Ein heftiges Pochen, ein ziehender Schmerz in meiner Brust.
Jemand sagte etwas. Aus dem Blau heraus.
Es war, als hätte man mir die Seele aus dem Leib gerissen, ich fühlte nichts. Die Schmerzen waren mir vollkommen egal. Aber ich wollte nie wieder aufhören dieses Blau, diese strahlend blauen Augen, die mich von oben herab anlächelten, zu betrachten, in ihnen zu versinken.
Es war ein süßer Schmerz, der mir nichts ausmachte, obwohl ich wusste, dass das nicht gut war, dass irgendetwas nicht stimmte.
Der Jemand redete beharrlich auf mich ein, doch ich befand mich zu weit entfernt von der Wirklichkeit, um zu antworten, geschweige denn den Sinn seiner Worte auch nur zu erahnen. Ich schwieg.
Jetzt rüttelte er mich an den Schultern, seine Berührungen brannten wie Feuer auf meiner Haut. Ich konnte mich nicht bewegen.
Da war einfach nichts in meinem Kopf außer diesem Blau, nichts außer Sehnsucht – ohne dass ich jedoch wusste, nach was mein Herz schrie.
„Jetzt sag doch endlich was!“
Nur Worte. Einzelne, aneinander gereihte Buchstaben. Hatten sie eine Bedeutung? –
Eine weitere Berührung.
Kälteschauer ergriffen mich und ich fing an zu zittern.
Blau ist eine eisige Farbe. Lieblos.
„Wo bist du?“
Wieder nur Worte, einzelne Silben. Ich fand keinen Sinn in ihnen, wurde durch ein Farbenmeer aus Emotionen – Verzweiflung, Leid, Verwirrtheit – getrieben. Allen voran die Farbe seiner Augen.
„Wo bist du?“
Wie oft wollte sie denn noch fragen? Merkte sie nicht, dass ihr niemand eine Antwort darauf geben würde?
„Wo bist du?“
Endlich verstand ich: Das Mädchen, das unermüdlich diese eine Frage wiederholte, war niemand anderes als ich selbst…
Ich schwieg.

Es war ein komisches Gefühl, zwischen Nichts und dem Hier und Jetzt herumgewirbelt zu werden.
Zuerst war da noch Finsternis, dann auf einmal blasser Sonnenschein. Ein Lachen.
Ich fühlte mich hin und her gerissen – auf zwei Arten. Zum einen machte mir der Wechsel zwischen Zeit und Raum zu schaffen. Zum anderen fragte ich mich, was mir lieber war: diese ständige Ungewissheit, die es mir aber ermöglichte gelegentlich die Wärme des Sonnenlichts zu spüren, oder lieber doch die Sicherheit der ewigen Schwärze –
Ich hatte sowieso keine Wahl.
Unermüdlich rissen gewaltige Kräfte an mir, zerrten mich in die Gegenwart, nur um mich dann kurz darauf wieder von sich zu stoßen.
Das war mir noch nie passiert.
Nebel.
Dann Licht.
Dunkelheit.
Dann Wärme –
Das Mädchen.
Ich riss überrascht die Augen auf. Mein Körper hatte sich endlich wieder in einer Dimension verankert – in der, die mir lieber war.
Dort saß sie, in einem Café, und starrte ins Leere.
Ich sah sie nur von weitem, konnte nicht näher herantreten.
Die Welt schien sich blau verfärbt zu haben – sogar das Sonnenlicht wirkte seltsam verzerrt.
Aber immerhin konnte ich etwas sehen – eine Farbe –, nicht diese ewige, gefühllose Schwärze.
Die Menschen lachten immer noch. Glück.
Nur einer lachte nicht – der Typ, der ihr gegenüber saß. Er wirkte besorgt.
Interessant.
Ich fuhr mit meinen Beobachtungen fort.

Als ich endlich wieder vollständig zu mir gekommen war, kniete jemand über mir, den ich nicht kannte. Ich erschrak.
Alles drehte sich, und alles war blau – aber ich war wieder bei Bewusstsein.
„Bitte, sag was!“ Worte, deren Bedeutung ich endlich verstand.
Ich versuchte zu antworten, aber mein Mund schien wie versteinert, ich brachte keinen Laut hervor.
Verzweiflung.
„Hey! Nicht weinen! Was ist los?“
Die Tränen liefen mir in großen Strömen über die Wangen, ließen sich nicht zurückhalten. Ich kannte ihren Grund nicht, doch die Trauer, die immense Sehnsucht, die mich ergriffen hatte, fühlte sich unglaublich richtig an. Als wären diese Tränen all das, was ich seit Ewigkeiten unabsichtlich unterdrückt hatte, als bräche endlich meine sorgfältig errichtete Welt zusammen, die die ganze Zeit eine Lüge gewesen war.
Ein Schluchzen verließ meine ausgetrocknete Kehle, dicht gefolgt von einem Seufzer.
Vielleicht war ich ja gar nicht das Mädchen, das sich täglich hinter einer Maske aus künstlichem Glück, künstlicher Freude versteckte… Vielleicht war das hier jetzt gerade ich. Vielleicht war es richtig, was passierte.
Vielleicht war dieses helle, leuchtende Blau die einzige Wahrheit?
Das Wort verließ einfach so meinen Mund, ohne dass ich auch nur die Möglichkeit gehabt hätte, es zurückzuhalten.
„Danke“, sagte ich schlicht und einfach.

Er bestellte ihr etwas zu trinken. Dann fing er wieder an, auf sie einzureden. Worte, die ich leider nicht verstehen konnte, da ich mich zu weit entfernt befand. Er gestikulierte dabei wild mit den Armen. Sorge, Empörung, Unverständnis.
Jetzt öffnete sie endlich den Mund, setzte an, etwas zu sagen – und hielt dann doch inne.
Ich runzelte die Stirn.
Ich versuchte, näher heran zu treten, doch es ging natürlich nicht.
Was war im Fahrstuhl passiert?
Langsam verblasste das Blau, das der Umgebung einen eigenartigen Farbton verlieh, und ich nahm das Gold der Abendsonne wahr, das hinter den Hauswänden hervordrang. Es quoll aus allen Ritzen und färbte die erregten Gesichter der Leute rötlich. Die meisten waren auf dem Weg nach Hause.
Und dort im Café saßen die beiden und verstanden sich nicht.
Die Kellnerin brachte dem Mädchen ein Wasser.
Der Junge redete immer noch –
Und sie hielt ihr Schweigen, senkte den Kopf.
Das Blau schwand kontinuierlich.
Schließlich hob sie den Blick, nahm seine Hand kurz in ihre, stand auf –
Und ging. Sie ging einfach!
Verwundert schüttelte ich den Kopf.
Aber er folgte ihr nicht.
Sie hatte das Wasser nicht angerührt.
Als sie um die Hausecke verschwunden war, war auch das letzte Bisschen Blau verblasst –
Und ich spürte, wie die Finsternis mich wieder aufsog, wehrte mich verbissen, doch es war zwecklos.
Kälte.
Nicht einmal ein dunkles Blau.

„Kannst du aufstehen?“
Ich nickte, obwohl ich mir damit überhaupt nicht sicher war. Vorsichtig richtete ich zuerst den Oberkörper auf und stütze mich dabei auf die Unterarme. Meine Wahrnehmung funktionierte noch nicht einwandfrei, doch ich konnte feststellen, dass ich mich in einem breiten Flur befand – und dass jemand neben mir kniete, der mich ziemlich verwirrt anschaute.
Er reichte mir die Hand.
Ich nahm sie dankbar an und erhob mich. Meine Beine zitterten.
„Was war denn gerade los? Ich hatte echt Angst! Du bist auf einmal umgekippt!“
Ich blickte ihm in die Augen, rätselte, ob ich ihn kannte, aber in meinem Kopf befanden sich keine Erinnerungen an ihn – höchstens an dieses leuchtende Blau.
Er rüttelte mich an den Schultern und ich schaute ihn zerstreut an. Jetzt nahm ich seine Stimme wahr, die schon wieder auf mich einredete. Sollte ich antworten? Was sagte er überhaupt?
„Jetzt antworte schon! Und wieso hast du dich eigentlich bei mir bedankt?“
Was war nur los mit mir? Die Welt verblasste, verblasste immer mehr, und ich konnte nichts dagegen tun. Seine Worte wirkten einschläfernd auf mich, mein Gehirn suchte vergebens nach einem vertrauten Klang in ihnen.
Seine Augen. So blau.
Aber da war nichts Vertrautes in seiner Stimme. Nichts, was ich kannte, nicht das, was ich suchte.
Was suchte ich eigentlich?
Ich wollte, dass er aufhörte zu reden, wollte, dass er das war, was ich suchte – was auch immer es war –, wollte in seinen blauen Augen versinken, die ich so genau zu kennen schien. Wollte ich selbst sein –
Also küsste ich ihn, dass er endlich schwieg…
Ich konnte nicht anders.


DREI



Von allen Farben ist mir das matte Rotgold der Abendsonne oft die liebste. Es lässt mich aufatmen.
Wenn der Tag sich dem Ende zuneigt und wir endlich zur Ruhe kommen dürfen, die Schwärze der Nacht uns erlaubt, die Augen zu schließen, zu vergessen, fasse ich wieder Vertrauen in die Welt – in das Leben. Ich weiß, dass ich die angenehme Dunkelheit genießen darf, denn sobald ich aus dem erholsamen Schlaf – einem Schmerzen lindernden Traum – erwache, bringen die hellen, wärmenden Strahlen der Sonne mit selbstverständlicher Gewissheit wieder Licht ins Dunkel.
Egal wie düster uns der Alltag auch erscheint – die Abendsonne bringt Hoffnung auf eine Nacht des Vergessens, der Ruhe, in der wir Luft holen können für einen neuen Tag, damit wir, gepeinigt vom Leben, nicht auf dessen Farbenpracht verzichten müssen.
Es wäre doch schade, blind durch die Welt zu laufen, weil unsere Augen sich nicht von der gleißenden Helligkeit des Tages – des Glücks – erholen können…



Ich beobachtete die Menschen, die auf der Straße unterwegs waren, ihre Gesichtsausdrücke, ihre Kleidung, wie sie die Münder beim Sprechen verzogen, ihre Haare im Wind – allerdings ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
Ich tat es, um mich abzulenken, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden. In die Wirklichkeit.
Das Problem war, dass ich nicht wusste, was real war und was nicht.
Was richtig war und was falsch…
Wie hatte ich mich so vergessen können? War ich wirklich in Ohnmacht gefallen? Hatte ich wirklich angefangen zu weinen, ihm meine Tränen gezeigt?
War es die Realität gewesen, als ich ihn küsste? Waren meine Lippen auf seinen echt gewesen?
Ich starrte vor mich hin und mied seinen Blick – den Blick seiner blauen Augen.
Ich wusste, dass er mich beobachtete, spürte seine Verwirrtheit.
Und ich spürte meine eigenes Unverständnis, die Fragen, die in meinem Kopf hin und her stießen, an meinem bisherigen Verständnis aneckten. Das alles konnte nicht real sein, entsprach nicht meinem Vorstellungsvermögen, und doch redete mir eine Stimme in meinem Kopf ein, dass es passiert war – dass das alles viel echter gewesen war, als die künstliche Welt, die ich mir vor langer Zeit geschaffen, in der ich mich versteckt gehalten hatte.
War es damals meine Entscheidung gewesen, mich zu verstecken – vor was auch immer?
Ich wusste es nicht. Mein Unterbewusstsein hatte diesen Weg gewählt.
War es meine Entscheidung gewesen, in seinen Augen zu versinken, meine Schutzhülle zu verlassen?
Vielleicht. Und vielleicht war es richtig gewesen.
Ich blickte auf und sah, wie er mir ein Wasser bestellte. Ich wollte nichts trinken. Meine Augen wanderten wieder ziellos durch die Gegend. Leere.
Was war, wenn ich falsch gehandelt hatte? Wenn ich nicht wieder in meine Welt zurückfinden könnte? Wenn die Realität, die mir auf einmal so nah schien, mich zerstören würde?
Ich hatte immer Angst davor gehabt, einen Fehler zu machen.
Schon wieder fing ich an zu zittern, dabei war es warm, auch wenn sich der Tag dem Ende zuneigte. Ich spürte seinen besorgten Blick auf mir. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen um mich machte.
Wollte nicht, dass dieses strahlende Blau von Besorgnis getrübt war.
„Möchtest du mir irgendwas sagen?“
Ich schüttelte schwach den Kopf.
Mein Kopf war so voller Gedanken, Fragen – Zweifel –, dass ich nicht auch noch Platz für seine Worte hatte. Für seine Stimme, die mein Unterbewusstsein einfach nicht mit seinen Augen in Einklang bringen wollte.
Ich musste die Augen schließen, konnte das alles nicht mehr ertragen.
Und wieder begann er auf mich einzureden. Schon wieder. Wieso konnte er das nicht lassen? Seine Stimme wirkte immer aufgebrachter, empörter – und verzweifelter.
Was sollte ich denn tun? Ihm sagen, dass ich nicht wusste, wer ich eigentlich war? Dass ich glaubte, die Wirklichkeit wieder gefunden zu haben, mir aber nicht sicher sein konnte? Dass ich meinte, seine blauen Augen zu kennen?
Dass ich etwas suchte, von dem ich nicht wusste, was es war?
Bei all diesen Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, brach ich auf einmal zusammen. Innerlich. Meine Welt war zerbrochen. In Scherben, tausende von kleinen, spitzen Glasscherben, an denen ich mir die Finger wund schnitt.
Ich hätte nur gerne gewusst, wann sie zerbrochen war, wann ich beschlossen hatte, meine zerstörte Wirklichkeit zu verlassen.
Ein Rätsel. Ein einziges Rätsel, dessen Antwort ich in seinen Augen zu sehen glaubte.
Ich blickte wieder auf.
Er redete immer noch, hatte unbewusst die Hände zur Hilfe genommen, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Ich legte meine Hand sanft auf seine und brachte ihn so zum Schweigen.
Er kniff skeptisch die Augen zusammen, doch er blieb stumm.
Ich schüttelte nur kaum merklich den Kopf, dann stand ich auf.
Ich hielt es nicht mehr aus.
Musste hier weg.
Schlafen, träumen, meine Welt wieder finden. Den Schutz meiner künstlichen Wirklichkeit.
Ich hob meine Tasche auf und ging.
Er hielt mich nicht auf.
Plötzlich nahm ich das blasser werdende Rotgold der Abendsonne wahr.
Und es wurde besser.
Kein Blau.
Mein Leben war nicht blau, durfte nicht blau sein – auch nicht rot, nicht gelb, nicht grün, aber das war eigentlich egal. Momentan war die Hauptsache einfach nur, dass es alles andere war außer dieser einen Farbe, die mich so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, die mir mein Leben raubte.
Mein sorgfältig errichtetes, künstliches Leben.
Alles nur nicht blau.
Ich bog um die Ecke und lächelte.

Ich frage mich, wie diese Schwärze echt sein kann. Wie meine Augen etwas so unermesslich Dunkles überhaupt wahrnehmen können.
Da ist nicht einmal mehr Nebel, nur Dunkelheit. Eine bodenlose Leere. Nichts.
Gefangen im allerdunkelsten Winkel, fern von Raum und Zeit.
Allein gelassen.
Die Erinnerung an das helle Sonnenlicht verblasst immer mehr.
Wie lange soll ich noch hier ausharren? All meine Versuche das Mädchen – das Buch – wieder zu finden sind vergebens. Hoffnungslos.
Ich will zu ihr, aber sie lässt mich nicht. Ich spüre den Widerstand tief in ihrem Innern.
Wovor hat sie Angst?
Es scheint mir, als fürchte sie das Glück.
Hat sie Angst zu fallen? Ist sie schon einmal so tief gefallen, dass sie sich nur mit Mühe wieder aufrichten konnte? Oder wollte sie sich vielleicht gar nicht wieder aufrichten, sondern wurde gezwungen?
Hatte sie schon aufgegeben?
Ich sehe ihr Lächeln vor mir, und es wirkt künstlich.
Das Buch in ihren Händen scheint mir echter als sie selbst.
Ich erschrecke unwillkürlich über meine Gedanken und verdränge sie, mache ihnen keinen Platz in meinem Kopf. Versuche, einfach nichts zu denken. Passe mich dem Nichts an, das mich umgibt.
Und ich schreite immer weiter – durch die Finsternis.
Vielleicht komme ich irgendwann irgendwo an –
Vielleicht auch nicht.
Willkür des Schicksals.

Es war spät. Die Dunkelheit hielt mich umfangen und ich atmete auf. Endlich Ruhe. Schwärze. Platz für all meine Gedanken.
Als ich das Café – seine blauen Augen – hinter mir gelassen hatte, hatte mich auf einmal der große Drang ergriffen, möglichst schnell das Weite zu suchen. Vor ihm, meinem Leben – vor mir selbst – zu fliehen. Ich war gerannt wie eine Irre und hatte schließlich die kleine Bushaltestelle neben dem Einkaufszentrum erreicht. Außer Atem war ich in den nächsten Bus gesprungen, hatte schnell meine Monatskarte gezückt und mich in die hinterste Reihe gesetzt.
Stille.
Nur der Lärm der Straße.
Da waren die Gedanken auf einmal alle wieder da gewesen, die mein schneller Lauf durchs Abendrot verdrängt hatte. Doch ich durfte mich ihnen nicht hingeben, durfte mich nicht noch einmal vergessen, und so hatte ich verbissen aus dem Fenster gestarrt und die sich schwarz färbende Landschaft betrachtet. Bäume, Häuser, Autos, dann die Landstraße, Felder. Der Mond. Sterne.
Ich war ausgestiegen, hatte wie in Trance mein Fahrrad aufgeschlossen und war losgeradelt – nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Denk bloß nicht nach!
Ich hatte mich auf die Straße konzentriert, auf die rauschenden Bäume, die den Weg umschlossen. Auf den Wind, der mir ins Gesicht blies. Tief durchatmen.
Schließlich war ich endlich daheim angekommen. Im Waisenhaus.
Ich war durch die langen Flure geschlichen, wollte nicht riskieren, dass jemand mich in meinem schrecklichen Zustand sah.
Dann mein Zimmer.
Zuflucht.
Ich hatte aufgeschlossen und mich endlich in Sicherheit gefühlt.
Erholsame Einsamkeit.
Ich hatte mich aufs Bett geworfen, und dann lag ich da – vollständig angezogen, verwirrt, erledigt, und doch konnte ich nicht einschlafen.
Gedankenströme machten sich in meinem Kopf breit, nahmen jeden Winkel meiner Wahrnehmung ein, verboten es mir, zur Ruhe zu kommen.
Ich sah keinen Zusammenhang in ihnen, in den Geschehnissen des Tages, so sehr mein Gehirn auch versuchte, all meine Eindrücke zu ordnen.
Es ging nicht.
Es ging einfach nicht, und ich musste mich damit abfinden.
Es gab keine Logik – zumindest keine, über die ich mir bewusst war, bewusst werden konnte.
Alles war ein einziger verwirrender Nebel aus Gefühlen, der so undurchsichtig war, als hätte ihn jemand mit lauter winzig kleinen, blauen Farbstoffpartikeln durchzogen.
Blau.
Wieso ausgerechnet blau?
Wieso ausgerechnet die Farbe seiner Augen? –
Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

Sonnenlicht.
Ich stolpere durch den Wald, und trete schließlich aus dem dichten Gebüsch heraus.
Eine Lichtung. Tausende Blumen. Vorfreude.
Ich blicke mich um.
Da sitzt jemand im Graß. Zwei Lächeln.
Dann blau. Alles. Nur noch diese kalte Farbe, von der mir seltsam warm ums Herz wird.
Ein Seufzen?
Wirbel aus Farben, und darunter immer dieses wunderschöne Blau. Liebe –
Dann Dunkelheit, ganz plötzlich.
Verzweiflung.
Leere.
Nichts.
Wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?
Ich spüre die Tränen, die meine Wangen hinunterlaufen.
Keine Hoffung… oder?


VIER



Im Grau des Alltags zu versinken ist wahrscheinlich das Schlimmste, was uns passieren kann. Erblindet sind wir nicht mehr wir selbst.
Wir verlieren unseren Charakter, unsere Freude am Leben, unser Glück – das, was das Leben lebenswert macht.
Wir laufen immer weiter, mit festem Schritt, selbstsicher, zielstrebig – aber ohne Ziel.
Der Weg ist das Ziel, das habe ich schon vor langer Zeit festgestellt. Aber wenn wir diesen Weg nicht genießen, seine Farbenpracht nicht erkennen, ihn nicht schätzen, werden wir auch an seinem Ende nur Leere finden – einen sauberen Abschluss, einen frisch polierten Schnitt.
Dann wird das Ziel vielleicht wirklich nur das Ende eines langen Weges sein, dem wir fälschlicherweise keinerlei Beachtung schenkten, den wir geradezu ignorierten, in der irrigen Annahme, er wäre unwichtig.
Diesen Fehler begehen wir nur einmal – dann lässt er sich aber leider auch nicht mehr rückgängig machen.
Deshalb ist es wichtig, dass man sich nicht versteckt, sich nicht vergisst, dass man sich den Farben des Lebens öffnet. Es ist nie zu spät, sich, die eigene Einstellung, zu ändern – einzusehen…



Die Gegenwart.
Irgendein Tag.
Immerhin war es wieder hell.
Ein kleiner Raum, ein bisschen miefig, aber Sonnenlicht, das durch die leicht verstaubte Fensterscheibe auf die Dielen fiel.
Das erste, was ich für den Jungen übrig hatte, war ein verblüffter Blick – dann Unbehagen.
Da saß er, in seinem spärlich eingerichteten Zimmer. Unausgeräumte Umzugskartons stapelten sich an den Wänden. Und er las – las in ihrem Buch!
Zumindest versuchte er aus Neugierde, die ersten Zeilen zu entziffern, den Worten einen Sinn zu geben. Sein Erfolg war geringer, als er gehofft hatte.
Ich konnte mir einen spöttischen Blick nicht verkneifen –
Ich wusste, dass es ihr Buch war, dass seine Augen nichts darin zu suchen hatten.
Jetzt schien auch ihm unwohl zu werden, und er klappte das Buch ganz plötzlich mit einer schnellen Handbewegung zu. Verunsicherung.
Ich betrachtete interessiert seine blauen Augen, in denen sich Verwirrung und eine gewisse Nachdenklichkeit abzeichnete. Außerdem schämte er sich dafür, in den Aufzeichnungen einer anderen gelesen zu haben. Gewissensbisse?
Er beschloss, sie zu suchen, ihr das Buch zurückzubringen.
Er hoffte, sie würde reden.
Eindeutiges Interesse.
So langsam wurde ich neugierig.
Er stand auf, mit den Gedanken nicht hier. Wo dann? Bei ihr?
Ich musste grinsen –
Bis ich merkte, dass ich mich auflöste. Natürlich.
Er steckte das Buch in eine Tasche, die er bei seiner Ankunft achtlos in die Ecke geworfen hatte.
Hing mein Schicksal wirklich an diesem einen, kleinen, handgeschriebenen Buch, in dem Dinge geschrieben zu stehen schienen, die meine Vorstellungskraft weit übertrafen?
In dem ich vielleicht niemals lesen würde?
Wahrscheinlich.
Wie ungerecht. Meine Zukunft war unberechenbar. Wer würde sich als nächstes diese undurchsichtigen Aufzeichnungen zu Gemüte führen? – Ich auf jeden Fall nicht.
Ich verschwand. Löste mich auf.
Was ging in seinem Kopf vor? Und was dachte sie gerade?
Was dachte das Buch?
Ein Buch – mein Schicksal.
Alles reiner Zufall?
Dunkelheit.

Freitagmorgen.
Mein Lächeln saß perfekt.
Als der Bus in Richtung Schulgelände einbog, war ich wieder komplett ich selbst. Die Perfektion. Ein Glashaus, in dem ich saß, und durch dessen Scheiben mich alle nur im hellsten Licht der Frühlingssonne sahen.
Die Massen an Gedanken, die meinen Kopf am vorherigen Tag so schrecklich verwüstet hatten, waren über Nacht verschwunden, von meinem Unterbewusstsein für geradezu unwichtig erklärt worden. Ich konnte es nicht verstehen, konnte meine erneuerte Nüchternheit nicht rechtfertigen – aber es war mit egal. Ich fühlte mich sicher, versteckt hinter diesen dicken Wänden aus Glas.
Ich sprang aus dem Bus, schulterte meine Tasche und drängte mich mit den anderen in Richtung Schulgebäude. Um mich herum herrschte eine nahezu euphorische Stimmung.
Frühling, Sonnenschein, das bevorstehende Wochenende.
Ich fragte mich, woher die Leute ihre Gründe nahmen – ihre Gründe dafür, glücklich zu sein. Ich sah keine.
Das Leben schien mir heute noch blässer als sonst. Ein einziges Gemisch aus Grau, das sich über die Straßen, über die Landschaft, sogar über die hellen Strahlen der Frühlingssonne legte. Farblos. Keinerlei Kontraste.
Ich trat durch die, angesichts der wärmenden Sonnenstrahlen weit geöffnete, Eingangstür, und blickte mich gewohnheitsmäßig in der Aula um. Ohne Interesse. Und ohne irgendetwas Interessantes zu entdecken.
Wie jeden Tag bog ich um die Ecke, steuerte die breite Treppe an, die in den ersten Stock führte, blickte dabei nach links – durch die verglaste Gebäudewand hindurch, hinter der sich der sonnendurchflutete Schulhof befand. Beobachtete die Leute. Wie sie lachten. Versuchte herauszufinden, wieso sie so fröhlich waren. Versuchte für mich selbst Gründe zu finden, glücklich zu sein – und fand natürlich auch heute keine.
Ich hatte die Treppe fast erreicht –
Da hielt mich plötzlich jemand an der Schulter zurück. Mir wurde auf einen Schlag eiskalt. Ich sah blau.
Ich versuchte mich zu beherrschen, doch ein leichtes Zittern ließ sich nicht unterdrücken.
Meine Maske bröckelte. Das Glashaus ächzte unter dem Gewicht seiner Berührung. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen seine Wände, damit es nicht über mir zusammenbrach.
Ich musste gewinnen.
„Hey! Wir kennen uns doch.“ Ich hörte ein Lächeln in seiner Stimme. Ein blaues Lächeln.
Wie in Zeitlupe wand ich mich zu ihm um.
„Hi“ Natürlich kannten wir uns – aber eigentlich auch nicht. Nicht wirklich.
„Wie geht’s?“ Er musterte mich neugierig. Seine Augen schienen zu leuchten. Ich senkte den Kopf. Erwartete er im Ernst eine Antwort?
Ich atmete einmal tief durch, blickte in mein Innerstes, in mein Herz, dorthin, wo sich die Kraft befand, meine Maske aufrechtzuerhalten. Meine schützende Fassade. Ich war stark genug, dem Blau zu trotzen.
Mutig hob ich den Blick und lächelte ihn an. Irgendwie war es sogar ein gutes Gefühl – in Anbetracht meiner misslichen Lage.
„Mir geht’s gut. Und dir?“ Er schaute mich vollkommen perplex an. Also hatte er doch keine Antwort erwartet. Mist.
„Äh… mir geht’s auch ganz gut.“ Jetzt fiel ihm auf, dass seine Hand immer noch auf meiner Schulter lag. Er nahm sie schnell zur Seite und schaute irgendwie betreten. Unauffällig blickte er sich um, seine Augen wanderten dabei hektisch hin und her, überallhin, nur nicht zu mir. War er nervös?
„Wir sollten uns vielleicht beeilen, der Unterricht fängt gleich an.“
„Ach so, ja.“ Ich war nicht weniger überrascht über meine Worte als er. „Wo musst du hin?“
Er stellte die Frage ganz beiläufig, aber ich hörte sein eindeutiges Interesse. Lächelnd nickte ich in Richtung Treppe.
„Ich glaub, ich auch. Bin mir aber nicht sicher. Das ist heute mein erster Schultag hier.“ Jetzt grinste er.
Das durfte doch nicht wahr sein. Womit hatte ich das verdient?
Ich konnte kein Blau mehr sehen.
Und gleichzeitig hatten seine Augen die schönste Farbe, die ich je gesehen hatte.
Eine Mischung aus Himmel und Meer.
Der Schulgong unterbrach meine wirren Gedankengänge.
„Verdammt. Los, komm!“ Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell der Flur sich geleert hatte, nur noch vereinzelt standen Schüler in kleineren Gruppen zusammen und unterhielten sich, machten Witze – freuten sich darüber, dass die erste Stunde ausfiel.
Und wir mussten uns beeilen.
So schnell es ging, ließen wir die Treppe hinter uns und hasteten an den geschlossenen Zimmertüren vorbei. Irgendwo vom Musikatrium her nahm ich leise Klavierklänge wahr. Rechts linste ein Mädchen durch den geöffneten Türspalt. Der Lehrer war noch nicht da.
Hoffentlich kam unserer auch zu spät. Was hatten wir jetzt überhaupt?
„Äh, ich muss hier rein. Wir reden nachher, ja?“
Wie in Trance nickte ich.
Am Rande nahm ich wahr, dass mir wenigstens das kleine bisschen Glück vergönnt war, nicht auch noch die Klasse mit ihm zu teilen.
Ich stolperte den Flur entlang, in letzter Zeit war ich sowieso wacklig auf den Beinen. Stolperte um die Ecke.
Und dann war ich da. Atmete tief durch, beruhigte mein rasendes Herz, meine wirren Gedanken, die alle nicht bei mir waren – eher bei den blauen Augen ein paar Türen weiter.
Ich trat ein.
Stimmen.

Stille.
Nur das Rauschen der Bäume. Dumpfes Gelächter aus der Ferne.
Gedämpftes Sonnenlicht floss an den grün belaubten Zweigen vorbei, fiel in ungleichen Mustern auf sein Gesicht. Auf das aufgeschlagene Buch in seinen Händen.
Ein eigenartiges Bild.
Er las schon wieder.
Es war so friedlich hier, so ruhig. Ich genoss die gefühlsgeladene Atmosphäre, die Natur, die Wärme. Die Möglichkeit, so viele Eindrücke aufzusaugen, so viele Erinnerungen zu sammeln, die mir gegen die bedrückende Schwärze helfen würden. Gegen die Einsamkeit.
Nur er nahm von alldem nichts wahr, tief versunken in die handgeschriebenen Zeilen. Schon wieder das Buch.
So langsam baute ich eine gewisse Abneigung dagegen auf.
Als gäbe es nichts anderes mehr als dieses Buch!
Er schaute kein einziges Mal auf, hatte nichts für seine Umgebung übrig, für die warmen Sonnenstrahlen.
Ich wollte wissen, was seinen Blick so fesselte – was er dachte.
Was in dem Buch stand…
Neugierde.
Und eine gewisse Wut.
Hatte er nicht vorgehabt, das Buch zurückzugeben? Es gehörte nicht ihm – gehörte ihr.
Es sah falsch aus in seinen Händen, die Aufzeichnungen waren falsch in seinem Kopf.
Verstand er sie?
Er runzelte die Stirn.
Ich glaubte nicht, dass er einen Sinn in den Worten fand, sie waren ihr Eigentum – Eigentum ihrer Gedanken.
Der Schulgong läutete.
Verwirrt schaute er sich um, zurück in der Gegenwart.
Dann sprang er hastig auf. Immer noch mit einem etwas abwesenden Blick.
Er verstaute das Buch in der hintersten Ecke seiner Tasche. Als hätte er Angst, damit erwischt zu werden.
Er würde es ihr nicht zurückgeben.
Dieb.
Ich verschwand.
Ein Seufzen.

Es war heiß im Klassenzimmer.
Die Fenster waren weit geöffnet, und trotzdem bekam ich irgendwie nicht genug Sauerstoff.
Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass ich Angst hatte. Angst, dass er mir wieder über den Weg laufen, mich zur Rede stellen würde.
Wir hatten schon die sechste Stunde, und in noch keiner einzigen Pause hatte er sich blicken lassen.
Ich war erleichtert und gleichzeitig beunruhigt. Wieso war er nicht gekommen? Wollte er mich lieber nach der Schule abfangen, um länger mit mir reden zu können? Meine Laune sank stetig.
Noch zehn Minuten.
Ich bekam kaum mit, was der Lehrer vorne erzählte. Irgendjemand wurde in irgendeinem Buch hingerichtet. Was für ein Fach hatten wir überhaupt? Es könnte Deutsch sein. Um was ging es gerade? Keine Ahnung.
Meine Gedanken wanderten wieder ein paar Klassenzimmer weiter. Ich hatte ihn den ganzen Vormittag lang nicht wieder gesehen. Komisch.
Gut oder schlecht?
Ich schaute aus dem Fenster. Keine einzige Wolke.
Noch eine Woche bis zu den Ferien.
Ein ewiger Kreislauf.
Wann hörte das alles endlich auf – dieses sinnlose vor sich hin Leben?
Um mich herum begannen die ersten unauffällig ihre Schulsachen in die Taschen zu räumen. Die meisten waren gedanklich schon im Wochenende. Ausflug? Schwimmbad? Party? Es interessierte mich ehrlich gesagt nicht.
Jetzt ging ein allgemeines Stöhnen durch die Reihen. Hausaufgaben. Ich zückte meinen Stift, kritzelte eine kurze Notiz in mein Heft.
Der Schulgong.
Ich fror schlagartig.
Die ersten waren schon aufgesprungen, hatten sich schnell verabschiedet und waren dann mit großen Schritten aus der Tür geeilt – ich wollte nicht gehen.
Langsamer als gewöhnlich packte ich meine Sachen zusammen, legte sie übersorgfältig in meine Tasche, ließ mir Zeit damit, den Reißverschluss zuzuziehen. Es half nichts. Und die Tafel musste auch nicht gewischt werden. Ich stand auf.
„Jetzt beeil dich mal, Amélie! Du bist echt lahm heute…“ Yvonne.
Rettung oder Verhängnis?
Die Möglichkeit, mich die nächste Viertelstunde lang auf dem Schulklo zu verstecken, blieb also aus. Würde er mich ansprechen, wenn ich mit anderen Leuten unterwegs war?
Rein offiziell kannten wir uns ja nicht.
Mir fiel plötzlich auf, dass ich nicht einmal seinen Namen wusste. Und er hatte keine Ahnung, wie ich hieß. Das ließ mich zumindest ein wenig aufatmen.
Aber ich hatte ihn geküsst. Einfach so.
Ich biss mir auf die Lippe.
Unruhig lief ich hinter Yvonne und Laura her. Blickte mich immer wieder nervös um.
„Was ist denn heute mit dir los? Wirst du jetzt paranoid…?“ Laura grinste mich an. Fiel es so sehr auf? Mist.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit mehr als auffällig wieder der Treppe zu, die wir gerade hinunter stiegen und starrte stur geradeaus.
„Nein, ich halt nur Ausschau nach den Leuten, die mich hinrichten wollen. Vom englischen Königshaus. Die sind nicht einverstanden damit, dass ich katholisch bin.“
Volltreffer. Sie lachten. Ich hatte unterbewusst doch erstaunlich viel vom Unterricht mitbekommen. Maria Stuart. Nicht schlecht.
„Heißt das, wir enden so wie Mortimer? Schnell raus hier!“ Yvonne zerrte mich grinsend hinter sich her.
Das lief alles zu glatt. Ich hatte die Schule schneller hinter mir gelassen, als ich gehofft hatte. Yvonne und Laura flankierten mich von beiden Seiten, schirmten mich ohne es zu ahnen ab. Ich wartete praktisch nur darauf, dass etwas schief lief, dass das Unglück passierte.
Mein Verhängnis war groß, dunkelhaarig und hatte strahlend blaue Augen. Im Sonnenlicht schienen sie noch heller.
An der Bushaltestelle stand er, schaute sich mit bewusst gleichgültigem Blick um, kramte dabei nebensächlich in seiner Tasche, um so auszusehen, als wäre er eigentlich höchst beschäftigt. Doch ich wusste, dass er nur so tat, dass er nach mir suchte.
Ich sank immer mehr in mich zusammen. Schickte stumme Gebete zum Himmel.
Yvonne und Laura bekamen zum Glück nichts von meiner Nervosität mit, sie redeten ununterbrochen. Wahrscheinlich planten sie das Wochenende. Ich hatte kein einziges Wort ihrer Unterhaltung mitbekommen.
„Hey, dein Bus ist heute aber früh dran!“ Verwirrt blickte ich auf. Ah, richtig. Mein Bus. Der mich hier weg bringen würde. Weg von diesem unglückseligen Blau.
Erleichtert atmete ich auf, grinste den beiden zu und winkte. Sie wohnten in der Stadt. Ich außerhalb.
Schnell reihte ich mich hinter den anderen Schülern ein. Drängelte dabei mehr als gewöhnlich.
Und dann war ich drin.
Die stickige, erhitzte Luft im Innern des Busses nahm mir zuerst den Atem, ließ mich ein wenig taumeln, doch ich hatte mich sofort wieder gefangen. Ich hatte es geschafft. In Sicherheit.
Erschöpft fiel ich auf den erstbesten Sitz, den ich erhaschen konnte.
Ich rutschte absichtlich nicht zum Fenster auf, hatte Angst, dass er mich durch die Scheibe sehen würde.
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, versuchte mich wieder vollständig in den Griff zu bekommen. Die Geschehnisse des letzten Tages, die ganze Aufregung, Verwirrung hatten mich mehr mitgenommen, als ich gedacht hatte. Ich brauchte dringend Ruhe. Richtige Ruhe. Immerhin hatte ich jetzt ganze zwei Tage Erholung.
Seufzend lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und öffnete langsam die Augen.
Warmes Sonnenlicht fiel durch die leicht angelaufenen Scheiben.
Plötzlich merkte ich, dass jemand neben mir stand.
Nichts mit Erholung.
Das Unglück war passiert.
„Hi! Ist hier frei?“ Ich konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Konnte nur mit allergrößter Anstrengung die unfreundlichen Worte zurückdrängen, die mir auf der Zunge lagen, die ihm verboten, sich neben mich zu setzen.
„Klar, setz dich“ Ich rutschte ans Fenster und machte ihm Platz. Er lächelte schwach. Irgendwie wirkte er bedrückt.
Vielleicht hatte er ja gar keine Lust zu reden?
Vielleicht hing er ganz anderen Gedanken nach, und hatte Wichtigeres im Kopf als die Sache von gestern?
Träumen war ein schöner Zeitvertreib…
Er räusperte sich.
„Äh… Wir müssen reden, glaub ich.“
Ja, das wusste ich. Aber ich wollte nicht.
Er musterte mich von der Seite. Ich starrte aus dem Fenster, auf den Sitz vor mir, auf meine Hände. Ich fühlte mich schrecklich.
Ich konnte nicht reden.
Es gab einfach keine Worte für das, was mit mir los war. Punkt.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen, und wünschte mir, alles würde verschwinden.
Diese ganze verdammte Welt.
Dieses komische Blau, das mir so wehtat.
Sogar die Sonne sollte verschwinden, die die ganze Zeit ihre warmen Strahlen auf die Erde warf, die ich nicht einmal ansatzweise verdient hatte.
Wer war ich schon?
Ein Mädchen, das etwas verloren hatte. Das vollkommen verbittert war, und nur ein Lächeln vortäuschte, um überleben zu können. Einzig und allein aus einem Überlebensinstinkt heraus.
Ich wollte das nicht mehr.
Die Schwärze, die mich umfing, tat so gut.
Ich wollte die Hände nicht wieder von den Augen nehmen, wollte nie wieder etwas sehen.
Ich hatte gelernt, dass sich der Anblick der Welt nicht lohnte. Er ließ einen nur ermüden. Zerbrechen.
„Kann ich dir helfen…?“ Ein Flüstern von weit her. Niemand konnte mir helfen.
Doch ich antwortete nicht.
Jemand legte mir einen Arm um die Schultern.
Ich reagierte nicht.
Jemand rieb mir beruhigend über den Rücken, redete mir gut zu.
Keine Reaktion.
Ich war verschwunden.
Das Leben hatte endlich von mir abgelassen.
Ich war weg.
Fort.
Umgeben von einer vergessen lassenden Schwärze.

Er riss mir die Hände gewaltsam vom Gesicht und schaute mich erschrocken an. Starrte auf meine Tränen.
Natürlich war ich noch da. Das Leben gab sich nicht so einfach geschlagen.
Aber so konnte es nicht weitergehen.
„Red endlich mit mir!“ Er flüsterte. Seine Stimme war ganz rau.
Ich nickte –
Und ließ mich wieder fallen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet Dem Leben, Das ich endlich mit eigenen Augen sehe – Und meiner persönlichen Sonne, Die die ganze Zeit so hell schien, Dass ich ihr Leuchten einfach nicht übersehen konnte, So blind ich dem Leben gegenüber auch war. Das Glück hat die Farbe des Sonnenlichts.

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