Das Phänomen
Eine Erzählung zur See
von Thomas Weisenberger
Copyright für Bild und Text: CMC/Thomas Weisenberger 2004/2012
Für Elisabeth, die an Land und auf See ihr Schicksal mit meinem verbunden hat.
Vor Gericht und auf hoher See bist du nur in Gottes Hand (Sprichwort)
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Phänomene sind Erscheinungen des Alltags, die wir gemeinhin kaum wahrnehmen. Wenn doch, bezeichnen wir ihre Auswirkungen oft als „Schicksal“.
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"Warum konnte Gott Das zulassen?“ – die Frage klingt, als hätte es keine Aufklärung gegeben. Gott lässt nichts zu – Gott IST.
„Schicksal“ wird in unserem Kulturkreis weitgehend als schwer fassbarer Begriff eingeordnet. Manchen Menschen gilt „Schicksal“ nur als Aneinanderreihung und Ineinandergreifen logisch erklärbarer Vorkommnisse. Auf der anderen Seite der Interpretations-Skala steht die Vorstellung eines unerklärbaren „Waltens“, teils mit esotherischen Theorien, teils von religiös motivierten Kreisen mit „Gottes unerfindlichem Ratschluss“ in Verbindung gebracht. Wie sehr jedoch das individuelle „Schicksal“ von den ganz eigenen Göttern und Dämonen einer aus vielen Quellen gespeisten jeweiligen Lebenseinstellung beeinflusst wird, teilt sich vielen Menschen nur sehr beiläufig oder gar nicht mit.
Die folgende Erzählung wurde auf dem Meer geschrieben. An einem Ort, von dem die Überlieferung meint, dass man hier ganz „in Gottes Hand“ sei, sprich: den Gegebenheiten eines wie auch immer gearteten „Schicksals“ unmittelbar preisgegeben. Ohne das Instrumentarium irgendwelcher gesellschaftlicher Konventionen: mit einem plötzlich auftretenden Sturm ist nun einmal kein Kompromiss auszufeilschen, es greifen keine Erklärungsversuche oder Ausflüchte. Meine Frau Elisabeth und ich lebten und arbeiteten einige Jahre auf einem Zweimast-Segler auf dem Meer. Jeden Tag neue Gegebenheiten, Orte, Menschen. Und Zeit. Viel Zeit, um nachzudenken über das, was wir erlebten, beobachteten und was uns andere Menschen von ihren Reisen und ihrem Leben erzählten.
In die Erzählung „das Phänomen“ sind einige dieser Geschichten eingeflossen. Eine „Moral“, „Gott“ oder esotherische Abwägungen kommen in der Erzählung "Das Phänomen" nicht vor, ich überlasse derlei Überlegungen dem Leser, so er sie denn heranziehen will oder in den Schicksalen der Protagonisten dieser Erzählung und ihren "Göttern und Dämonen" entdeckt. Ich beschränke mich darauf, die gesammelten Geschichten in einer Erzählung weiter zu reichen. Wie so oft an irgend einem Abend in irgend einem Hafen im Kreis von Gästen auf der Heckplattform unseres Seglers. Zur Einstimmung, besonders wenn diese Erzählung an Land gelesen werden sollte, stelle ich zur Einstimmung ein ganz persönliches Erlebnis vom Meer voraus: die Erzählung „Der Eindruck“
... bei einer Sturmfahrt auf dem Meer kann man beten, kotzen - oder auf den einen oder anderen Gedanken kommen...
Auszug aus dem E-Book „Blaue Lust – Geschichten von Küste und Meer“
Ungeheure Kräfte packen Körper und Seele und ziehen sie in ihren beklemmenden Bann. Zwölf Tonnen Schiff wie von leichter Hand hochgehoben, etwas um die Mitte gedreht und wieder nach unten geworfen. Ein Wasserschlund öffnet sich und droht, sich über allem zu schließen. Für kurze Zeit verschwindet der Blick zum Horizont. Nur noch glitzernde, schäumende Wände aus glasigem Schwarzgrün unter einer grauen Wolkendecke.
Wieder die Riesenhand von hinten. Der Fußboden, der plötzlich aus der Schräge eines Hausdachs in die entgegengesetzte Lage kippt. Nach vorn, hinten und gleichzeitig nach rechts und links. Kein freies Stehen mehr möglich, nicht einmal ein Sitzen ohne sich einzukeilen, festzuklammern. Ununterbrochen in gleichmütigem Rhythmus das Heben und Fallen von Bug und Heck, das schräge Einsetzen in Wellentäler, das seitliche Kippen, wenn der Bug wieder hoch emporgehoben wird, das erneute Stürzen, wenn die nächste Welle von hinten das Heck erreicht hat. Hundert Mal, tausend Mal. Eine mächtige Symphonie gewaltiger Taktreihen schiebt uns durch die Stunden.
Ausguck halten, eingeklemmt zwischen den abgerundeten Mahagoniflanken des Niedergangs, auf der obersten Stufe, die hinab in den Schiffsbauch führt. Ab und zu aufgeschreckte Rettungsaktionen, wenn Gegenstände, die nicht oder ungenügend gesichert sind, plötzlich beim Sturz in ein Wellental ein unerwünschtes Eigenleben entwickeln. Schlittern, fallen, oder wie Geschosse durch den Raum fliegen, während die Schwerkraft für Sekunden relativiert wird.
Immer wieder ermunternde Blicke tauschen, ein Lächeln versuchen, das doch gleich wieder vom Ernst der Situation verschluckt wird.
Regelmäßige Turnübungen vom geschützten Ruderhaus ans Deck. Schiebetür auf, Sicherungsleine einhaken, raus, Tür zu. Einschwingen auf den Rhythmus der Schiffsbewegungen, sorgfältig greifendes Hangeln entlang der Reling. Jeder Schritt geprüft, kein Loslassen der einen Hand ohne festen Halt für die andere.
Über allem der Sturm. Heulend und pfeifend auf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: CMC / Thomas Weisenberger 2012
Bildmaterialien: Thomas Weisenberger 2003 / 2012
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2012
ISBN: 978-3-86479-685-2
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