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Lautstark dröhnt der Genius des Abgrunds. Die Gewissheit, die Macht zu haben gibt ihn Stärke. Sein Hunger ist unerbittlich und verzehrt sich danach gestillt zu werden. Hat er einmal den Weg gefunden, sich in seinem Wirt zu verankern, scheint es fast eine Unmöglichkeit dieser parasitären Form wieder zu entfliehen. Mit List und Tücke nimmt er die Herausforderung des Spiels an und lauert unbemerkt im Hintergrund. Im letzten Winkel, wo ihn niemand vermutet nimmt er seinen Platz ein und beginnt rücksichtslos sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er kennt keine Verluste sondern nur zerstörerisches Vergnügen seinen Platz immer mehr zu vergrößern. Sein Spielplatz, anfangs ein winziger Impuls, der durch die Frequenz der Neuronen sich selbst implantiert, wächst zur manipulierenden Energie, die von nun an herrscht, das Spiel lenkt, um gegen sich selbst zu kämpfen. Sieg ausgeschlossen, Kreislauf in periodischer Form begonnen...

Alles beginnt mit der Narkose. Er zählt langsam von zehn rückwärts „neun... acht... sieben... sechs... fünf... vier... dreeeeiiiii“. Bis zur eins kommt er nicht mehr, denn seine Sinne sind bereits betäubt, Muskelfunktionen, die das Sprechen ermöglichen, außer Gefecht gesetzt. Schwerelosigkeit und lähmende Müdigkeit prägen seinen Körper. Wie ein Stück totes Fleisch liegt er da. Um ihn herum nur die sterile Monotonie des Operationssaals. Die Chirurgen und Schwestern können ihren Dienst am Patienten beginnen. „Skalpell“, ruft der operierende Arzt und beugt sich über das mit Tüchern bedeckte Individuum. Gekonnt setzt er den sauberen Schnitt an und durchtrennt das umliegende Gewebe. Er öffnet der Torso und befestigt mit Klammern die störenden Hautlappen. Nun liegen sie frei, die Gedärme des Gepeinigten, dessen Leid zu lindern versucht wird. „Sieht nach einem Verschluss aus“, wirft der zweite Arzt ein, während er die Windungen des Dickdarms in seinen Händen begutachtet. Eilig klemmt er den herausquellenden Teil des Darmes an beiden Seiten ab und durchtrennt die Verschlussstelle. Wahrlich kein schöner Anblick. Massive, übel riechende Substanzen treten an die Oberfläche, die in die unter gehaltene Petrischale aufgefangen werden. Doch im menschlichen Schlachthaus eine ganz normale Situation. Fäkalien werden sorgfältig vom Rest des Darmes entfernt. Wie ein Schlauch wird er ausgewrungen. Totes Gewebe muss abgetrennt werden, bevor das Gedärm vernäht wird. „Der Kreislauf ist instabil, 55 zu 30“, schreit der Anästhesist plötzlich. Adrenalin wird intravenös durch die Infusion gegeben. Ohne Erfolg, der Kreislauf ist im Keller, der Puls fast nicht mehr fühlbar. Wenige Augenblicke später tritt der klinische Tod ein. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das Gehirn seine Funktion abstellen wird. Der Verstand erzeugt Bilder, die wie ein Film ablaufen. Ein kurzes Aufflackern der Lichter bewirkt ein letztes Aufbäumen des reglosen Körpers. Die Gelegenheit für das Antogenie, sich zu implantieren, in die willenlose Kreatur. Mit rücksichtsloser Absicht bedient es sich den letzten Lebenshauch der Neuronen und nimmt Platz im Wirtsnest. In Millisekunden ist es unbemerkt verankert und verbreitet sich in Windeseile. Zwei Minuten sind vergangen. Der noch immer klinisch Tote wird mit Herzmassage versorgt. Künstliche Beatmung bringt den Patienten wieder zurück ins Leben. Maschinen übernehmen die natürliche Körperfunktion. Ein Aufschnaufen der Operationscrew ist zu vernehmen. Wieder einmal haben sie es geschafft, ein Leben vor den Abgrund des Todes zu retten. Die „Götter in weiß“ ahnen nicht, was sie getan haben. Gewiss, der Körper ist gerettet und erfüllt anhand der Maschinen seine Funktion, aber ist es wirklich Leben, das nun fortgeführt werden wird? Oder ist ein willenloses Dahinvegetieren eines materiellen Körpers, der sich im Koma befindet? Na egal, Hauptsache es lebt, was das eigentliche ist das lebt, ist irrelevant im medizinischen Begriff.

Stunden, Tage und Wochen vergehen. Auf der Intensivstation des Krankenhauses wirft man einen besorgten Blick in das Zimmer des Patienten. Koma... der monotone Atem der Maschine tickt im Gleichklang zur Uhr. Schläuche zieren das sonst reglose Individuum. Flach und ruhig liegt es im sterilen Bett. Koma der Gegenpol zum Amok – eine scheinbare Stille im äußeren Schein. Im Innern des Patienten ein Feuerwerk der Explosion. Der Parasit hat sich der Körpersäfte bedient und ist wohlgenährt. Bereit sein Werk zu vollenden setzt er nun seine Kräfte frei. Grausam und hässlich frisst er den lieblichen Sinn des Herzens und überlagert mit seinem Nebel das Geschehen. Von nun an, wird er das Sagen haben und die Freude über seine Herrschaft setzt ungeahnte Dinge frei. Neuronen spinnen ein neues Netz der Verbindungen. Eine Gemeinschaft des selbstsüchtigen Zwecks ist entstanden. Künstliches Leben wird eingehaucht, so dass die Schaltkreise des Körpers anfangen unabhängig der Maschinen zu arbeiten. Gelenkt vom Gegenspieler öffnen sich allmählich die Lider der Augen. Ein zartes Stöhnen verlässt die Lippen des Körpers. Schnell eilen die Schwestern und Ärzte herbei und sind sichtlich erleichtert über den Ende des Komas. Schläuche und Kabel werden entfernt, Puls gemessen und das Leben des Patienten freudig begrüßt. „Willkommen zurück im Leben“, lächelt der Arzt am Bett und umschließt die Hand, die sich noch immer ein wenig taub anfühlt. Die Gehirnströme zeigen bei der Untersuchung keinerlei Inaktivität. Das sollte ein Grund zur Freude sein. Puppenhaft wird er umsorgt und aufgepäppelt. Wie durch ein Wunder hat er ins Leben zurück gefunden.

Etwas geschwächt, jedoch medizinisch genesen, kommt er zuhause an. Die Krankheit hat ihn doch eine Menge Kraft gekostet, ja sogar fast sein Leben. Irgendetwas hat sich verändert, hat ihn geändert. Das bemerkt er nebenbei, ohne groß Acht darauf zu geben. „Mit der Zeit wird das schon wieder werden“, denkt er sich und spürt die Schwere seiner Körperfasern. Fürchterliche Albträume plagen die Nächte und gleichgültige Tage seinen Lebensinhalt. Allmählich schwant ihm, dass er nicht mehr derselbe ist, der er einmal war. Was ist mit ihm passiert? Sind es die Nachwirkungen der schweren Operation? Womöglich. Doch vielleicht steckt auch etwas anderes dahinter. Traurige Augen blicken ihn tot aus seinem Spiegelbild an. Ohne jegliches Feuer, das Leben dahinter vermuten lässt. Eisig durchbohrt ihn sein eigener Blick. Doch es lässt ihn kalt, im ersten Moment, genau wie die erschütternden Bilder im Fernsehen, die über Krieg und Gewalt gezeigt werden. Seine Familie umhegt ihn fürsorglich, doch das ist wohl sein gutes Recht, so behandelt zu werden. Und so suhlt er sich in der Rolle des gepeinigten Kranken. Was er nicht weiß und auch nicht wissen muss ist, dass jede Reaktion von außen der inneren Kreatur zu mehr Macht verhilft. Dieser Kreatur, die sich unbemerkt in Augenblick seines Todes seiner Seele beraubt hat. Der Parasit des Dämons, der sich wie ein Schatten über sein selbst gelegt hat. Er der einst voller Gefühle und Menschlichkeit war, ist nun nur noch ein Abbild dieses gefühllosen Gegenspielers. Ein Genie, gewiss, dessen Tücke und List ungeahnt sind.

Monate vergehen. Die Versuche der Familie ihn ins Miteinanderleben zu integrieren, schlugen fehl. Allein sitzt er da und quält sich durch seinen alltäglichen Lebenskampf. Gedanken an den Tod führen ihn in Versuchung, lassen ihn jedoch gleichzeitig erschrecken. Die Furcht des Dämons vor der Vernichtung mit dem Ende des Lebens, erhält ihn am Leben. Den Sinn hat er verloren, genau wie das Mitgefühl. Schwelgend im Selbstmitleid verbringt er die Zeit, die sich wie Kaugummi in die Länge zieht. Arbeit und eine Aufgabe sind ihm ein Fremdwort geworden. Hoffnung ist eine Erinnerung der Vergangenheit. Eine Menschmaschine die emotionslos funktioniert, ja, das scheint die Beschreibung, die auf ihn zutrifft. Leid erschafft Hilflosigkeit und Zorn, selbstzerstörerisch im Egoismus. Das Koma ist gewandelt zum Amoklauf. Hetzend, um sich der nächsten Handlung zu erfreuen, selbstverliebt und geschlossen die Störfaktoren zu beseitigen. Gleichgültig nimmt er die gefühlsmäßige Trennung seiner Kinder wahr und fühlt sich angegriffen von deren Respektlosigkeit. Unordnung, die er selbst veranstaltet, bringt ihn zur Weißglut, weil diese anscheinend niemand anders beseitigen will. Undankbarkeit ist das was er spürt. Niemand kümmert sich um ihn, er, der doch einst die Familie ernährte. Wo ist die Achtung geblieben? Die Liebe, das Gefühl, das Leben? Am Boden zerstört schläft er ein und tritt ins Land der Träume ein. Frisches Grün der Wiese lassen seine Nasenhaare kitzeln. Eine wunderschöne Frau umschließt ihn mit seinen Armen und küsst ihn sanft. Ihr drängender Kuss raubt ihn den Atem und schließlich erkennt er, dass sie es ist, die seinen Lebenssinn raubt. Ihr Hauch ist tödlich. Ätherhaft fließt seine Seele zu ihr, um sich mit ihr zu verschmelzen. Ihre Erscheinung blüht sichtlich auf und wird in jedem Moment schöner. Sie ist ein Augenschmaus, fantastischer als die Natur, die sie umgibt. Schillernd wie der Morgentau strahlt sie die Energie aus, die sie sich geraubt hat. Ein kurzer Backenstreich genügt, um ihn ein für alle Mal auszuschalten. Sein Körper zerfällt allmählich zu schwarzem Staub und verflüchtigt sich im Wind der Gezeiten. Das einzige, was er vernimmt ist ein höhnisches Grunzen des mächtigen Individuums, das diese Frau nun geworden ist. „Du bist jetzt ich“, kreischt sie in unerträglichen Tönen „ich bin das Antagenie des Spiel Deines jetziges Lebens. Emotionslos, ohne Gefühle, einzig und allein, um die Macht zu besitzen“. Ein gotterbärmliches Lachen folgt und die dunkle Tiefe des Abgrunds bäumt sich auf. Drohend und verschlingend nimmt er alles, was in ihm hineinfällt...

Schweißgebadet schreckt er hoch und tastet an seinem Körper entlang. „Es war so real...“, schießt es ihm durch den Kopf und „nein, das will ich nicht! Ich muss es verändern. Ich weiß, ich kann es, ich kann und werde mich verändern“. Ein Hauch des Gefühls wird in ihm wach, etwas, das sein Herz vereinnahmt hat. Er weiß, dass er es zulassen muss, sein Gefühl, das einzige, das ihm den Weg zeigt, auf das er vertrauen kann. Wie eine Welle durchströmt es die Fasern seines Körpers. Intensiv fühlt er es, wie eine Träne den Winkel seines Auges verlässt. Der Tropfen, der die Kälte löscht und Wärme hervorbringt. Das Sandkorn, das die Mauer der Versteinerung zum Einsturz bringt. Ja, nun fühlt er es genau. Der Puls seines Herzens schwingt energievoll im Sinn. Hoffnung und Liebe scheinen neu geboren. Unendliche Energie lässt ihn das Leben erkennen. Ein winziger Impuls, der ungeahntes zur Möglichkeit werden lässt. Er hat es erkannt, gerade noch im richtigen Moment, bevor der Abgrund des Dämons ihn verschlungen hätte. Und darüber ist er von Herzen dankbar und erfüllt. Strahlende Augen empfangen ihn im Spiegelbild seiner selbst, die seine Lieben um Verzeihung bitten. Im Mitgefühl des Lebens möchte er Liebe geben und gefühlvoll dienen in der Unendlichkeit von allem. Er versucht eine Hilfe für diejenigen zu sein, die genau wie er den Dämon in sich besiegen wollen. So dass dieser zwar immer noch existent ist, aber nicht mehr das Sagen hat. Eines Tages wird dieser sich aus Langeweile verflüchtigen, mit der Gewissheit, dass die Energie der Liebe das Unerträglichste für ihn ist...


Silvia J.B. Bartl

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Texte: (c) verlag art of arts 2008
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2009

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