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1.
Im Bauch meiner Mutter war Winter. Tiefster Winter. Die Tage waren kurz und dunkel, die Nächte kalt und lang. Ich legte mich jede Nacht mit Wollsocken ins Bett, damit meine Füße nicht frierten. Mein Nahrung kam mit einem Kordel aus dem Bauch. Ich hörte, von dort wo ich lag, die Ge- räusche der Schneeräumfahrzeuge.
Mein Geliebter war auch hier. Hinter der linken Niere meiner Mutter. Ab und zu sah ich ihn. Er machte die Augen zu Schlitzen und schaut mich an. Gestern, als ich ihn auch anschaute, lief er weg, versteckte sich gänzlich. Ich lachte darüber.
Mein Geliebter war einzellig. Es gab viele Dinge, die er nicht wusste.
Die Tage vergingen. Ich wuchs, wurde stärker. Bald würde ich ans Tageslicht kommen. Ich schaute mich nach meinem Geliebten um, sah ihn aber nicht. Ich dachte, dass er sich wieder hinter der Niere versteckt hätte und wartete. Er kam nicht heraus. Vielleicht ging er hinaus, ohne dass ich ihn gesehen hatte.
Ich brachte meine Haare in Ordnung, machte das Licht aus, schloss den Haupthahn. Ich drehte mich um, schaute mich zum letzten Mal um. Dann bewegte ich mich durch den Geburtskanal hindurch, kam ans Tageslicht.


2.
Auf der Entbindungsstation der Frauenklinik ging ich spazieren. Frauen mit leichten Wehen liefen auf und ab. Ich sah eine junge Frau im Bett liegen. Ihr Gesicht war aschfahl, ihr Stirn voller Schweiß. Mit der einen Hand hatte sie fest das Eisengestell des Bettes gefasst. Plötzlich bekam sie eine Wehe, ihr Körper spannte sich. Ich sah dicke Adern an ihrem Hals.
„Die Wehen kommen jetzt öfter. Der Muttermund hat sich 4-5 Zentimeter erweitert. Bald wird sie in den Kreissaal genommen“, sagte die Hebamme.
Ein Mann wischte den Boden. Ich schaute mir die Neuge- borene an. In der Ferne schrie eine Frau. Ich ging weg, besuchte andere Stationen. Ich lief auf langen Korridoren. Ich trug eine rosa Weste mit Pompons am Kragen, die mir eine unbekannte Verwandte gehäkelt haben soll.
Am Ende des Korridors sah ich auf einmal meinen Geliebten. Er trug von Kopf bis Fuß weiße Kleider. Er ging in ein Zimmer, machte die Tür hinter sich zu. Ich ging hin und las, was an der Tür stand: Chefarzt. Ich klopfte. Von innen wurde gerufen:
„Herein.“
Langsam öffnete ich die Tür, ging hinein. Er saß hinter dem Tisch, schaute mich an. Ich schaute mir sein Gesicht eingehend an, sah direkt in seine Augen, ob er mich doch erkennen würde. Er ließ sich nichts anmerken.
„Ich möchte aus dem Krankenhaus entlassen werden“, sagte ich.
„Gut, ich werde ihre Entlassung- papiere fertig machen“, sagte er.
Auf dem Tisch, in einer kleinen Vase war eine einzige Blume. Ich sah seine Hände. Die Fingerspitzen meines Geliebten waren etwas stumpf, seine Nägel schön sauber. Als ich hinausgehen wollte, schaute ich ihn mir noch einmal an. Er hatte seine Augen zu Schlitzen gemacht, blickte zu mir. Genauso, wie er mich hinter der Niere meiner Mutter angeschaut hatte.
Kurz darauf brachte der Krankenpfleger meine Entlassungpapiere. Ich band die Pompons meiner Weste zusammen, ging aus dem Krankenhaus.


3.
Ich lief durch die Straßen der Stadt. Es war Sommer, die Tage waren lang und sonnig, die Nächte kurz und warm.
Ich bog zufällig in eine Straße ab. Ich sah, dass sich eine Menschenmenge auf der Straße gesammelt hatte. Ein Polizeiauto parkte neben dem Bürgersteig. Um zu sehen, was passiert war, näherte ich mich der Menschenmenge.
„Eine Frau sprang aus dem fünften Stock“, sagte ein Mann hinter mir. Ohne sie mir anzuschauen, lief ich weiter.
Während ich lief, waren meine Augen auf Häuser, auf Bäume gerichtet. Ich besitze kein Haus, das ich sauber machen möchte. Ich besitze keine Bücher, keine Lieblings- kleider, keine Straßen, die ich kenne. Ich besitze keine Gabel, keine Messer, keine Moccatassen. Es gibt kein Amt, wo ich früher arbeitete. Es gibt kein Krankenhaus, in dem ich früher als Kranker lag. Es gibt keine Schule, die ich als Kind besuchte.
Ich besitze auch keine Pinzette, kein Spiegel. Ich bin ziemlich frei.
Ich schaute mir meine rosa Weste mit Pompons an. Ich begann sie zu mögen. Ich achtete darauf, dass sie nicht nach Schweiß roch, nicht dreckig wurde.
Ich kehrte um, ging dieselbe Straße zurück. Die Menschen- menge um die toten Frau herum war größer geworden. Der Hausmeister war noch dort, er schaute sich die Frau an. Zu dieser Jahreszeit wehte in der Heimat des Hausmeisters ein kühler Wind. Dicke Wolken näherten sich den Bäumen auf den Hügeln. Die Wellen schlugen auf die Felsen. Im Landesinneren riefen die Turteltauben...
Ich ging ins Haus, lief zur fünften Etage. Die Tür stand ein Spalt auf. Ich ging hinein. Ich fand ihn nicht im Wohn- zimmer. Ich lief durch den Korridor, kam zum Schlafzimmer. Er saß an der Bettkante, der Kopf zwischen den Händen. Als er hörte, dass ich kam, hob er den Kopf, sah zu mir. Diesmal schaute er mich ohne die Augen zu Schlitzen zu machen. Ich setzte mich neben ihn.
„Die Blumen auf der Fensterbank draußen gehörten meiner Frau. Seit ein Paar Tagen hatte sie sie nicht begossen. Ich konnte jedoch nicht ahnen, dass es etwas faul war. Ab heute werde ich allein nun in diesem Bett schlafen müssen. Meine Frau versuchte jede Nacht die Bettdecke über sich zu ziehen. Sie versuchte nur... Ich zog noch kräftiger“, sagte er.
Ich schaute ihn mir genauer an. Mein Freund war diesmal anders drauf. Er hatte sich verändert, sein Gesicht war finster geworden. Die Gardienen waren halb geschlossen.
„Was arbeitest du?“ fragte ich.
„Ich bin stellvertretender Leiter bei einer Firma. Es läuft alles bestens. Meine Möbel im Wohnzimmer sind sehr schön“, sagte er. Er dachte immerzu an etwas anderes.
„Auch im Sommer, wenn die Hitze zunahm, passierte dasselbe. Um die Sommerdecke über sich zu ziehen, bemühte sich meine Frau. Letztendlich zog ich stärker und bedeckte mich“, sagte er.
Ich ging langsam hinaus. Ich stahl mich durch die Menschenmenge hindurch, ging weg.
Der Hausmeister stand immer noch an der selben Stelle. In seiner Heimat begann es vorhin zu regnen. An einer Kreuzung stieß ein Bus mit einem Kleinbus zusammen. Genau dort, wo man das Meer sehen kann. Es gab keine Tote, keine Verletzte. Die Passagiere stiegen aus, schauten aufs Meer.


4.
Ich sah in der öffentlichen Toilette in den Spiegel. Ich schaute mir mein Gesicht an. Ich schaute mir meine Augenbrauen, meinen Mund, meine Nase, meine Haare an. Ich näherte mich dem Spiegel, schaute mich nochmal an. Ich kämmte mich mit der Hand.


5.
In der Nacht war ich auf einem Fest. Das Fest fand in einem Garten mit vielen Bäumen statt. In den Bäumen hingen rote, blaue, gelbe Lampen. Ich ging einfach durch das Gartentor. In einer Ecke spielten Musikanten.
Auf einmal sprang ein älterer Mann auf die Piste, begann zu tanzen. Der Mann gefiel mir. Ich schaute ihn mir genau an, ob er mein Geliebter war. Das war jemand ganz anders. Ich stand an der Seite. Während er tanzte, kam er zu mir herüber, schaute mich an. Er lachte mich an, ich lachte zurück. Nachdem er den Tanz beendet hatte, kam er zu mir. Er war schweißgebadet. Er nahm einen Taschentuch aus seiner Tasche, trocknete das Gesicht, den Hals.
„Sind sie fremd hier? Ich hab' sie vorher nie gesehen“, sagte er.
„Ich bin eine Fremde“, sagte ich.
„Kommen sie, lassen sie uns setzen und etwas trinken“, sagte er. Er zoh einen Stuhl heran, ich setzte mich hin.
„Ich heiße Mehmet Ali“, sagte er.
Ich trank Fruchtsaft, aß etwas. Ich hörte mir den Herrn Mehmet Ali an.
„Das, was sie gerade spielen, ist ein uraltes Lied“, sagte Herr Mehmet Ali. „Als ich 15-16 Jahre alt war, spielte ich Fußball auf dem Grundstück gegenüber unseres Hauses. Neben dem Grundstück gab es ein Teegarten. Dort spielten sie immer wieder dieses Lied“, sagte er.


6.
Ich lief mit Herrn Mehmet Ali auf der Einkaufsstraße. Alles auf dem Markt gefiel mir. Ich schaute mir alle Dinge genau an.
„Wenn du willst, könnte unser Schlafzimmermöbel weiß sein. Das wäre doch schön“, sagte er.
„Gut, weiß soll es sein“, sagte ich.
Ich trug elfenbeinfarbene Schuhe, an meinem Arm elfenbeinfarbene Handtasche, die mir Herr Mehmet Ali gekauft hatte. Während ich lief, achtete ich darauf, dass meine Schuhe nicht dreckig wurden.
„Schau, ich werde dir kein Taschen- tuch kaufen. Taschentuch bedeutet Trennung“, sagte Herr Mehmet Ali.
Wir liefen gemütlich weiter.
„Wir sollten ein Wandschrank mit Glass haben“, sagte Herr Mehmet Ali. „Darin könntest du Wassergläser, Moccatassen hinstellen. In die Schubladen könntest du Gabel, Messer, Löffel hinein tun“, sagte er.
Ich suchte zwei weiße Moccatassen aus. Beide hatten jeweils eine pinkfarbene Rose darauf.
„Die Bettdecke ist auch wichtig, unsere Bettdecke sollte aus lilafarbenen Stoff sein. Lila ist gut für eine Bettdecke. Für den Sommer kaufen wir eine hellgrüne Sommerdecke“, sagte er.
Bei einem Stoffhändler ließen wir weißen Stoff zuschneiden.
Hinter dem Ladentisch sah ich auf einmal meinen Freund. Er war sehr jung. Er hatte sich ein wenig das Schnurbart wachsen lassen. Als er neben mir Herrn Mehmet Ali sah, war er überrascht. Ich merkte, dass er seine Überraschung zu verheimlichen versuchte.
„Brauchen sie auch weißen Tüll für das Brautkleid?“ fragte er. Ich wusste nicht, dass dieser meiner Geliebter schwarze Augen hatte.
„Wir wollen auch Tüll“, sagte ich.
Mein Freund zog aus dem Regal hinter sich einen Ballen Tüll hervor. Wir ließen drei Meter Tüll für den Schleier zuschnei- den. Mein Freund, mein Geliebter blickte immer wieder zu mir.
„Mein Glückwunsch“, sagte er.
„Lass uns auch eine Foto machen. Ich mag Fotos“, sagte Herr Mehmet Ali, nachdem wir den Laden verlassen hatten. Er fasste mich an der Hand, näherte seinen Kopf zu meinem, sodass wir Kopf an Kopf standen. Wir lachten. Wir ließen uns so fotografieren.
In meinem Mund war ein komischer Geschmack. Vermut- lich etwas, was ich aß, bekam mir nicht.
Wir überquerten die Straße.
„In den Flitterwochen werde ich dich an einem schönen Ort bringen“, sagte Herr Mehmet Ali.


7.
Wir saßen in einem Teegarten. Neben uns stand ein Maulbeerbaum mit schwarzen Früchten.
„Ich mag Maulbeeren sehr, Herr Mehmet Ali“, sagte ich. Herr Mehmet Ali zog das Jacket aus, kletterte auf den Maulbeerbaum. Ich schaute von unten. Das war ein Schwarz-Maulbeerbaum voller Früchte. Herr Mehmet Ali begann die Äste zu schütteln. Die Maulbeeren begannen nach unten zu prasseln. Zwei auf die Erde gefallene Maulbeere pustete ich ab und aß. Als ich den Kopf hob, sah ich Herrn Mehmet Ali. Ein dicker, großer Mann. Plötzlich fühlte ich sein Gewicht auf mich lasten. Es war mir so, als ob ich ersticken würde.
„Steh nicht da, deine Klamotten werden dreckig“, rief er vom Baum her. Eine Maulbeere fiel auf die Schulter meiner rosa Weste. Ein lilafarbener Fleck breitete sich aus, in der Größe einer Münze blieb er stehen.
„Siehst du, deine Weste hat doch’n Fleck bekommen“, sagte Herr Mehmet Ali. Er wischte sich den Mund mit einem Blatt.
„Macht nichts“, sagte ich. Ich wollte keine Maulbeeren mehr. Wir aßen nur ein Paar davon. Ich aß nicht viel.


8.
Ich lief zwischen den Ruinen der Asklepieion in Pergamon. Unter der Sonne war es sehr heiß. Zirpen zirpten im Grass. Ich sprang von Stein zu Stein. Diesen Ort mochte ich am liebsten. Herr Mehmet Ali schlief im Hotel.
Ich schaute auf den Boden, sah kleine Steine, Marmorreste. Im Himmel gab es keine Spur von Wolken. Neben mir fiel ein Schatten. Das war mein Geliebter. Er ähnelte ein wenig mir. Meine Haare waren lang, seine kurz. Ich wusste nicht, dass seine Augen so blau waren, ich war überrascht.
Er lief neben mir.
„Sehr früher war das hier ein Krankenhaus, wusstest du das?“ fragte er mich.
„Ich weiß, ich weiß“, sagte ich. Wir saßen nebeneinander auf einem Stein. In die Bruchstelle der Marmorplatte flitzte eine Eidechse.
Glück ergoss sich wie Wasser in mich.
„Wie heißt du?“ fragte ich, als es mir einfiel.
„Ali“, sagte er, „Lass uns gehen.“
„Warte hier auf mich, ich komme gleich“, sagte ich.
Herr Mehmet Ali schlief. Er lag auf der Seite, auf seinem Stirn war etwas Schweiß. Ich zog meine elfenbeinfarbene Schuhe aus, stellte sie neben die Handtasche. Ich nahm die Weste mit Pompons von der Rückenlehne des Stuhls. Es war heiß, ich zog sie nicht an. Ich faltete sie so zusammen, dass man den lilafarbenen Fleck nicht sehen konnte, und hielt sie in der Hand. Ich öffnete die Tür, ging hinaus.
Ich blieb neben den Ruinen stehen, schaute mich um, sah aber niemanden.
„Haben sie hier in der Nähe einen dünnen Mann mit Schnurbart gesehen?“ fragte ich einen Feigenbaum am Rande des Weges.
„Und ob! Natürlich hab' ich ihn gesehen. Dort ist er. Er hat seinen Platz gewechselt und sitzt hinter der dicken Säule. Weil er keine Nasenbluten bekommen möchte, wenn die Sonne auf ihn prallt“, sagte der Feigenbaum.
Ich ging in diese Richtung.


9.
Wir standen vor dem Eingang der unterirdischen Stadt Derinkuyu, 30 km südlich von Nevşehir. In die unterirdische Stadt kam man durch eine tiefgelegte Tür. Das Taxi, das uns hierher brachte, funkelte unter der Sonne. Ali gab dem Fahrer das Geld. Das Taxi fuhr weg, hinterließ eine dicke Staubwolke hinter sich.
Es war sehr heiß, mein Gesicht schwitzte. Wir gingen in die verglaste Hütte hinein, wo Eintrittskarten verkauft wurde. Mein Freund kaufte zwei Karten.
„Möchten sie einen Führer?“ fragte uns der Mann.
„Wir können uns selbst führen“, sagten wir. Ali vorn, ich hintendran, stiegen wir zwei-drei Stufen aus Lehm hinab, gingen in die unterirdische Stadt. Sie hatte sieben Stockwerke. Wir werden in eine Tiefe von 78 Metern hinuntergehen.
Gleich nachdem wir hineingingen, wurde es kühler. Es roch leicht nach Schimmel. Wir gingen in eine enge Gasse auf der linken Seite. Wir liefen gebückt. Die Decke wurde mal niedrig, mal hoch. Vor uns tauchten Stufen auf, wir stiegen hinab. Das Korridor, in dem wir liefen, windete sich in der Erde herum. Wir kamen zu einer weiten Stelle in der dritten Etage. Ich schaute mich um, bogenförmige Wege gingen von hier ab. Den elektrischen Leitungen folgend, begannen wir wieder hinabzu- steigen. Der Weg wurde mal enger, mal breiter. Als wir in die siebte Etage hinabgestiegen waren, merkten wir, dass wir müde waren. Wir saßen eine Weile, erholten uns. Wir waren an einem runden Platz. Man sah dunkle Wege, die in alle Richtungen gingen. Ich hörte das Plätschern eines unterirdischen Flusses in der Ferne. Auf Einmal erinnerte ich mich an viele Dinge. Ich schaute zu meinem Freund. Er sah mich wohl die ganze Zeit an. Ich lachte.
„Gut, dass du mich hierher gebracht hast“, sagte ich.
Er zündete sich eine Zigarette an. Ich rauche nicht.
Bald werden wir ans Tageslicht kommen.

Impressum

Texte: (c) artemis.
Tag der Veröffentlichung: 28.09.2009

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