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An einem schönen Morgen kamst du aus der Höhle heraus, die sich tief in deiner Seele befand. Du standest neben der leeren Fläche auf deiner Brust, die sich so weit erstreckte wie man sehen konnte.
Du schautest nach unten, sahst die Erde. Du sahst Steine. Im Osten ging gerade die Sonne auf. Das Geräusch in der Nähe fließenden Wassers kam zu deinem Ohr. Du gingst in diese Richtung. Du fandest das Wasser, das zwischen dem Gras floss. Du sammeltest Steine. Du mischtest Erde mit Wasser, das ergab einen kräftigen Schlamm. Du stapeltest die Steine übereinander, die Fugen fülltest du mit Schlamm. Du errichtetest dir eine Hütte. Sie hatte Türen und Fenster. Du setztest dich vor die Tür.
Die Sonne ging allmählich höher.

Du blicktest nach links, sahst Bauarbeiter. Sie bauten eine Fabrik. Während du hinschautest, bauten sie die Fabrik fertig, sie trieben den Schornstein in die Höhe. Die Fabrik wurde in Betrieb genommen, aus dem Schornstein begann Rauch zu steigen. Große Getriebe und Zahnräder drehten sich. Arbeiter kamen aus der Ferne, gingen in die Fabrik. Wenn die Feierabendsirene ertönte, gingen sie wieder in die Ferne.
Du umzäuntest deine Hütte mit Hecke. Du hattest nun einen Garten. Du sätest Körner in den Garten, begoss sie. Du standest da, wartetest bis sie wuchsen.
Die Sonne ging noch etwas höher.

Du blicktest nach rechts, sahst Bahnarbeiter. Sie legten Schienen. Währen du hinschautest, legten sie die Schienen fertig, errichteten einen Bahnhof. Neben dem Bahnhof bauten sie ein Heim, in den Garten pflanzten sie roten Eibisch. Zu bestimmten Zeiten begann ein Zug zu verkeh- ren. Wenn er aus der Ferne kam, hörtest du seinen Pfiff. Du schautest auf den weißen Dampf, der aus der Lokomotive hinaus drang.
Du schautest in die Ferne, sahst das Meer. Das Meer erstreckte sich so weit man sehen konnte. Die Arbeiter errichteten einen Hafen. Während du hinschautest, bauten sie den Hafen fertig. Es gab Hafenpoller aus Gusseisen. Ein weißes Schiff legte zu bestimmten Zeiten am Hafen an. Menschen kamen aus dem Schiff.
Die Samen in deinem Garten wuchsen, daraus wurde Getreide. Es gab ein Markt in der Nähe. Du brachtest das Getreide hin, verkauftest es. Du hattest nun Geld in der Tasche. Du stecktest deine Hand in die Tasche, ließest das Geld klimpern. Du sätest noch mehr Körner in den Garten, wartetest bis sie wuchsen.
Die Sonne ging höher.

Menschen bauten Banken, Krankenhäuser, Supermärkte, Konditoreien. Sie bauten Schulen. Sie bauten Nachtclubs.
Die Häuser auf der Fläche deiner Brust vermehrten sich. Es gab Blumen in den Gärten, es gab gerade Wege. Du hörtest das Rumoren der Lokomotive, die Geräusche der Fabrik, die Sirene des Schiffes.
Das Getreide war ertragreich. Je mehr du davon verkauf- test, desto mehr Geld hattest du. Du stelltest zwei Knechte ein, sie arbeiteten in deinem Garten. Sie mähten das Getreide, brachten es zum Markt. An der Stelle deiner Hütte ließest du ein großes, schönes Haus errichten. Um dein Land herum bautest du starke Mauern. An deiner Tür ließest du einen Schloss einbauen. Dein Geld brachtest du auf die Bank.
An einer Straßenkreuzung wurde eine Polizeiwache errichtet. Dort saß ein Kommissar am Tisch, auf dem ein Telefon war. Die Polizisten patroullierten in der Gegend. Nachts bei Mondlicht pfiffen die Nachtwächter mit der Trillerpfeife. Im Krankenhaus wurden Operationen durchgeführt, krumme Nasenbeine gerade gemacht, Blinddärme herausoperiert.
Auf der leeren Fläche deiner Brust vermehrten sich Autos, Busse, Haltestellen. Kindermädchen schoben Kinderwägen im Park. Auch du hattest deinen eigenen Wagen. Er stand in deinem Garten.
Eines Tages schautest du in der Gegend herum, eine Brünette gefiel dir besonders. Während sie lief, ließ sie ihren Rock schwingen, schlug oft mit den Augenlidern, dann plötzlich schaute sie dich bedeutungsvoll an. Von ihr kam ein guter Geruch zu deiner Nase.
Zunächst brachtest du sie in die Konditorei. Der Kellner kam. Du bestelltest Kaffee und Kuchen. In die Augen der Frau schauend, trankst du den Kaffee. Auch sie trank ihren Kaffee, blickte hinab. Den Mund tupfte sie sich mit einer Papierserviette.
Inzwischen tauchte ein Dieb auf. Ein Haus, auch ein Laden auf der leeren Fläche deiner Brust wurden am helllichten Tag ausgeraubt. Die Polizei war auf der Hut. Die Nacht- wache ging zu zweit auf Patrouille. Du ließest die Mauern um dein Haus herum verstärken, zwei Schlösser an deiner Tür anbringen. Die Knechte schauten in die Mittagssonne, wischten sich den Schweiß weg.
Du dachtest immer wieder an die brünette Frau. Du brachtest sie ins Restaurant, ludst sie zum Essen ein. Sie ließ etwas vom Essen übrig. Sie schaute dich an, lächelte.
Für dein Haus kauftest du schöne Möbel. Du kauftest ein Telefon, ein Fernsehgerät, ein Bügeleisen, eine Waschma- schine. Du kauftest einen elektrischen Staubsauger. Die Teppiche auf dem Boden waren wirklich sehr schön.
Du brachtest die Frau in den Nachtclub. Die Frau schmieg- te sich beim Tanzen an dich. Du warst glücklich.
Du nahmst die Frau, stecktest sie in das Haus auf der leeren Fläche deiner Brust. Die Frau brachte neu Möbel mit ins Haus. Spiegel, verschiedene Gardinen, kleine Aschen- becher, ein Bett mit Moskitonetz, eine lila Bettdecke aus Satin, rosa Hausschuhe mit Pompon.
Du erweitertetest dein Geschäft. Deine Schlüssel ver- mehrten sich. Du gingst öfter zur Bank.
Deine Frau gebar für dich zwei Kinder. Beide Male wärest du vor Aufregung an der Tür der Entbindungsstation beinah ohnmächtig geworden. Du rauchtest hintereinander mehrere Zigaretten. Deine Kinder wuchsen, gingen zur Schule.
Deine Frau ging jeden Tag zum Schneider, zum Frisör. Die Kleider in ihrem Schank wurden zahlreicher. Ihr Haare waren leuchtend pechschwarz. In der Sonne leuchteten sie.
Auch du ließest dir gute Anzüge anfertigen. Deine Schuhe knirschten beim Laufen. In den Händen hattest du zwei Bund Schlüssel. Du stelltest noch mehr Arbeiter ein. Deine Kinder, deine Frau verlangten Geld von dir. Du brachtest sie ins Theater, ins Kino, zum Essen. In den Restaurants ließest du viel Trinkgeld zurück.
Seit einiger Zeit konntest du kaum noch mit deiner Frau reden. Deine Frau erzählte aus ihrer Welt. Du erzähltest aus deiner Welt. Deine Frau redete von Frisör, Kartenspiel, Club, Schneider, Nagellack. Du redetest von Wertpapieren, Grundstücken, Investitionen, Schuldscheinen, Grund- büchern.
Die Kinder gingen zur Schule. Auf der linken Seite lief die Fabrik. Der Zug kam zum Bahnhof und verschwand. Der weiße Schiff legte am Hafen an und legte wieder ab. Die Polizisten fassten den Dieb, diesmal tauchte ein anderer auf. Am Meer wurde ein Militärcamp errichtet. Die Familien der Offiziere gingen dort baden.
Die Sonne senkte sich allmählich.

Auf der leeren Fläche deiner Brust war der Verkehr stärker geworden. Einige Staatsgebäude befanden sich in dieser Gegend. Sekretärinnen saßen am Tisch, trugen Nagellack auf ihre Nägel auf, Diener kochten in der Nische Tee und Kaffee. Eine etwas dicke, ältere Sekretärin begoss die Blumen auf der Fensterbank, häkelte für die Tochter ihrer Schwester einen Schal aus hellgrüner Wolle.
Die Mauern um dein Haus herum waren wie Burgmauern. Niemand mehr konnte hinein. Deine Frau, deine Kinder, dein Wagen, deine Möbel waren in Sicherheit. Deine Frau trug ab und zu Mittelscheitel, sagte: Seide aus Indien, Handtasche aus Schlangenleder, Wasserwelle, neues Parfüm, Paris, London. Deine Kinder sagten: Kino, Billard, Party, Vater das Geld ist alle, neue Hosen, wir kommen erst um 23:00 Uhr nach Hause, Disco.
Eines Tages sahst du ein junges Mädchen an der Ecke stehen. Sie trug ein weißes, kurzärmeliges Kleid. Ihre Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Du sahst ihre winzigen Ohren. Als sie lächelte, sahst du ihre schnee- weißen Zähne. Ein angenehmer Geruch kam von ihr zu dir herüber. Am Abend gingst du nach Hause, aber deine Gedanken waren bei ihr. Am nächsten Tag sahst du sie wieder. Du nahmst sie mit in den Wagen, fuhrst mit ihr spazieren. Sie erzählte dir ungewohnte Dinge. Sie sagte Freiheit, Blumen, Universum, Hoffnung, Innenwelt.
Am Abend kam dir deine Frau wie ein Essen vor, das einem schwer im Magen sitzt. Bedrückt windest du dich die ganze Nacht vor Schmerzen.
Die Sonne ging allmählich unter. Im Universum auf der leeren Fläche deiner Brust begann die Abendkühle.

Eines Tages sagte das Mädchen mit den winzigen Ohren:
„Nimm mich, bring mich fort von hier.“ Ihre Hände waren in deine. Du erschauderst, wenn du sie anschautest.
Zu Hause dachtest du lange nach. Deine Frau hatte ihr Haar hinten zusammengebunden, zwei Locken ließ sie an den Ohren hinab hängen.
Das Gewicht der zwei Bund Schlüssel konntest du nicht mehr tragen, sie zogen dich zum Boden. Beim Gehen bücktest du dich. Als ob deine Füße in den Dielen des Hauses Wurzeln schlagen würden. Du gingst von Fenster zu Fenster, schautest hinter dem Zug her, der vom Bahnhof wegfuhr, schautest hinter dem Schiff her, das sich vom Hafen entfernte.
„Du bekommst einen Nervenzusammenbruch“, sagte deine Frau. Dann: „Weißt du was, das neu Parfüm riecht wie Flieder.“
Eines Morgens sagte das Mädchen mit dem weißen Kleid, dass sie mit dem Schiff wegfahren würde.
„Komm mit mir“, sagte sie.
Den ganzen lieben Tag gingst du in deiner Innenwelt herum, dachtest nach. Das Universum auf der leeren Fläche deiner Brust war überfüllt. Die Bankangestellten schauten immer wieder auf die Uhr. Das Telefon in der Wache klingelte, der Kommissar nahm ab. „Hallo?“ sagte er. Zwei Dachdecker renovierten ein Dach.
Am Abend gingst du nach Hause. Deine Schlüssel bohrten sich wie Handschellen ins Fleisch. Deine Füße schlugen Wurzeln, auf den polierten Dielen liefst du nur noch mit Mühe. In der Nacht, während deine Frau schlief, standest du leise vom Bett auf, gingst kriechend in den Garten. Das Mädchen mit dem weißen Kleid wartete am Hafen auf dich, ihr Rock flatterte im Wind. Du kamst bis an das Tor des Gartens. Von der Last des Universums auf der leeren Fläche deiner Brust warst du dem Ersticken nah, kamst ins Schwitzen. Du hattest so einen guten Schloss einbauen lassen, dass du ihn trotz Mühe sogar mit dem eigenen Schlüssel nicht öffnen konntest. Die Mauern waren sehr stark und sehr hoch. Um dein Haus, deine Familie, deine Möbel besser schützen zu können.
Du fandest keine Kraft mehr in dir, die Mauer zu überwinden. Du gingst wieder kriechend ins Haus zurück. Du gingst ins Schlafzimmer. Deine Frau hatte sich mit der lila Bettdecke eingewickelt. Ihre rosa Hausschuhe mit Pompon standen nebeneinander am Bettende. Du hobst die Bettdecke am Saum, legtest dich neben deine Frau. Aus ihrer Achselhöhle drang ein starker Schweißgeruch in deine Nase.
Du hörtest die Sirene des Schiffes, das den Hafen verließ.
Die Sonne war untergegangen.

Mit Schmerzen schautest du in die Dunkelheit. Dann schliefst du ein.
Am nächsten Tag, auf den Straßen deiner Innenwelt auf der leeren Fläche deiner Brust würden die Menschen dich dennoch begrüßen.

Ich rufe zu dir, kannst du mich denn hören?


Impressum

Texte: (c) artemis.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2009

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