Leseprobe
Prolog
Córdoba, im Jahre 978
Abul Hassan eilte durch die engen Gassen Córdobas.
Seine Djellaba, das knöchellange Gewand der Mauren, hielt er mit einer Hand gerafft, um schneller voranzukommen. Immer wieder wurde er von einem der vielen Passanten aufgehalten: Araber, Berber, Christen, Juden, Schwarze, Weiße – Córdoba war ein Schmelztiegel aller bekannten Kulturen. Eselskarren und Wasserträger manövrierten sich zwischen den Ständen und Fußgängern hindurch. Die Luft war erfüllt von den unvergleichlich sinnlichen Düften des Orients.
In den Gassen der Stadt herrschte ein reges Leben und Treiben. In den Läden und auf den Verkaufsständen am Wegesrand türmten sich die Waren: Töpfe, Honig, Wachs, Salz, Wein, Arzneimittel, Schuhe, Kräuter, Felle und vieles mehr. Käufer feilschten lautstark mit Verkäufern, Hunde bellten. Gewürzhändler boten ihre Mischungen aus fernen Ländern feil, indische Händler ihre edlen Schmuckstücke. Dazwischen standen die unzähligen Garbräter, von deren Rosten zahllose Düfte sich mit den übrigen Gerüchen mischten.
Abul Hassan lief vorbei an einem Färber, der in einem großen Kessel mit heißer Lösung Tücher mit einem dicken Holzstab hin und her zog, um ihnen die gewünschte Farbe zu verleihen. Er passierte Musikanten und Leimsieder und einen Barbier, der vor Zuschauern einem Mann den Zahn zog. Nichts an diesem Gewimmel interessierte ihn heute.
Heute hatte Abul Hassan nur ein Ziel: das rabad al- raqqaquin, das Viertel der Pergamenthersteller. Je näher er ihm kam, desto ruhiger wurde es in den Straßen. Hier stellte man das Material für die rund 60.000 Bücher her, die jedes Jahr in Córdoba verfasst oder kopiert wurden – ein einsamer Weltrekord.
Doch in der letzten Zeit liefen die Geschäfte zunehmend schleppender. Dafür gab es zwei Gründe. Der erste war eine neue Erfindung, die sich Papier nannte: ein Werkstoff, welcher ganz einfach aus alten Flachs- und Hanftüchern hergestellt werden konnte und dem teuren Pergament mehr und mehr Konkurrenz machte. Viel entscheidender war aber der zweite Grund. Und der hieß al-Mansûr.
Er war der neue Hadjib, der Erste Minister des noch jugend- lichen Kalifen Hischam und damit der eigentliche Herrscher des Kalifats. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war al-Mansûr ein Krieger und kein Gelehrter. Er liebte die Macht mehr als die Bücher und steckte sein Geld lieber in weitere berberische Söldner als in die Bibliothek.
Keuchend erreichte Abul Hassan das Tor der Dufthändler. Er verlangsamte seine Schritte, um nicht die Aufmerksamkeit der Berbersoldaten auf sich zu ziehen, die um das Tor herumlungerten und es bewachten. Es waren kriegerische Gestalten, mit dunklen Vollbärten und tief gebräunter, von zahllosen kleinen Falten durchzogener Haut. In den goldverzierten Gürteln, die sie um ihre Djellabas ge- schlungen hatten, steckten breite Krummschwerter, die das Licht der untergehenden Sonne reflektierten.
Abul Hassan bemühte sich, so unauffällig wie möglich den Platz vor dem Tor zu überqueren. Die Berbersöldner waren unberechenbar. Seitdem sie in immer größerer Zahl in die Stadt strömten, waren die Straßen unsicherer geworden. Ihre Willkür war überall bekannt, und al-Mansûr ließ sie gewähren. Sie bildeten die Machtbasis, auf die er sich stützte.
Diesmal ging alles gut. Abul Hassan verschwand im Gassengewirr des Pergamentviertels. Nach wenigen Minuten blieb er vor der Tür eines schmalen Hauses stehen. Er klopfte gegen das Holz, erst einmal, dann dreimal kurz nacheinander, dann zweimal in größerem Abstand. Als hätte jemand hinter der Tür auf ihn gewartet, ging diese sofort einen Spaltbreit auf.
Ein Paar Augen inspizierte ihn, bevor sich die Tür ganz öffnete.
»Endlich!« Im dunklen Flur stand ein Mann, der Abul Hassan höchstens bis zur Schulter reichte. Auch er war in eine Djellaba gekleidet, obwohl er eindeutig kein Maure war.
»Lass mich ein, Ramiro.« Abul Hassan drängte an dem Mann vorbei in den Flur. »Ist García da?«
Ramiro schloss schnell die Tür. »Seit einer Stunde schon. Wir waren bereits in Sorge, dir sei etwas zugestoßen.«
»Ich bin aufgehalten worden.« Abul Hassan ging zielstrebig den Flur entlang, bis er einen großen Raum erreichte, in dem ein weiterer Mann an einem grob gehauenen Holztisch saß. Er war jünger als die beiden anderen und trug keine Djellaba, sondern eine Hose und ein weit geschnittenes Hemd. Er sprang auf, als er den Neuankömmling erblickte.
»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»Mehr als das.« Abul Hassan ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Ramiro und García nahmen auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz und blickten ihn gespannt an.
»Wir müssen sofort handeln«, erklärte Abul Hassan.
»Ich habe erfahren, dass al-Mansûr bereits heute Abend mit der Verbrennung beginnen will. Wenn wir die Bücher retten wollen, dann muss es jetzt geschehen.«
»Aber wir sind nicht vorbereitet!«, protestierte García. Er war der Jüngste in der Runde, eine breitschultrige, kräftige Gestalt, die eher wie ein Soldat aussah als wie ein Bibliot- hekar.
Denn das waren die drei Männer, die sich hier versammelt hatten: Bibliothekare in der Großen Bibliothek von Córdoba.
»Morgen kann es bereits zu spät sein. Sie haben schon damit begonnen, die Manuskripte für das Feuer aus- zusortieren.«
Er breitete die Arme aus.
»Unermessliche Schätze der Wissenschaft und Philosophie werden vernichtet werden – und das nur, weil sich al- Mansûr bei den islamischen Rechtsgelehrten anbiedern will.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Ramiro. Er hatte, ebenso wie Abul Hassan, die fünfzig bereits überschritten. Auch sein Bart war so grau wie der seines Freundes.
»Ich habe die Bücher heute Nachmittag in einer Truhe versteckt«, erklärte Abul Hassan.
»Wir werden sie aus der Bibliothek herausschaffen und zunächst hier verstecken. In einigen Tagen bringen wir sie dann aus der Stadt und in Sicherheit.«
García hielt es nicht mehr in seinem Sitz. Der mächtige Mann lief aufgeregt im Raum herum. »Das ist viel zu gefährlich! Wenn wir einer der Berberpatrouillen in die Hände laufen, sind wir geliefert!«
Zur Antwort zog Abul Hassan aus seiner Djellaba ein gefaltetes Pergament hervor und warf es auf den Tisch.
»Dies ist ein Passierschein, ausgestellt vom Kalifen persönlich. Niemand wird es wagen, sich seinem Befehl zu widersetzen – auch die Berber nicht.«
Ramiro faltete das Dokument auseinander und überflog es. Dann nickte er.
»Damit könnte es gehen. Ich schließe mich Abul Hassans Meinung an.«
García war noch immer nicht überzeugt. »Selbst wenn wir durchkommen, schützt der Passierschein des Kalifen nicht dieses Haus. Sollte jemand merken, dass die Bücher fehlen, wird der Verdacht schnell auf uns fallen. Wir sind die Einzigen, die in der Bibliothek mit ihnen zu tun hatten.«
Abul Hassan steckte das Pergament wieder ein und erhob sich.
»Die Zeit für Diskussionen ist vorbei, García. Du bist jung und ich kann deine Sorgen verstehen. Doch jetzt müssen wir handeln.«
García wollte etwas entgegnen, überlegte es sich dann aber anders. Er nickte nur stumm.
Wenige Minuten später eilten die drei Männer durch die leeren Gassen der Stadt. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Die Betriebsamkeit hatte deutlich nachgelassen. Sie waren nur noch ein paar Blocks vom Alcázar, dem gewaltigen Schloss des Kalifen, entfernt, als García anhielt und die Hand hob.
Seine Begleiter blickten ihn fragend an.
»Ich halte es für ratsam, dass wir auf getrennten Wegen zum Alcázar gehen und auch einzeln die Bibliothek betreten«, sagte García. »Zu dritt könnten wir zu leicht Verdacht erregen.«
Abul Hassan nickte zustimmend.
»Eine gute Idee. Wir treffen uns im kleinen Schreibsaal.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er rechts zwischen zwei Häuserreihen. García und Ramiro verstän- digten sich kurz und huschten in verschiedenen Richtungen davon.
Als Ramiro knapp zehn Minuten später den kleinen Schreibsaal betrat, dachte er zunächst, er sei der Erste. Doch dann er kannte er im Halbdunkel die Gestalt Abul Hassans, der hinter einem der Schreibpulte stand. Noch vor wenigen Wochen hatten in diesem Raum zu jeder Tages- und Nachtzeit über zwanzig Schreiber gestanden und Schrift- stücke kopiert.
»Wa ’llahi! Hörst du sie?«, seufzte Abul Hassan. Er meinte das Treiben in der Bibliothek. Wo sonst eine konzentrierte Stille herrschte, vernahm man jetzt das Trampeln von Füßen und das Lachen und die Flüche von Soldaten.
»Sie reißen die Manuskripte aus den Regalen, als seien es wertlose Lappen.«
Ramiro legte seinem Freund tröstend die Hand auf die Schulter.
»Es sind fast vierhunderttausend Exemplare. Sie werden nicht alles vernichten können. Das darf sich selbst ein al-Mansûr nicht erlauben.«
Abul Hassan seufzte erneut. Dann richtete er sich auf und entfernte Ramiros Hand vorsichtig von seiner Schulter.
»Was ist mit García? Wir dürfen nicht länger warten.«
»Vielleicht hat er es sich anders überlegt«, mutmaßte Ramiro.
»Ich kann es ihm nicht verdenken. Er ist erst seit wenigen Jahren bei uns und weiß nicht, welche Bedeutung die Bücher besitzen.«
»Dann müssen wir es ohne ihn versuchen.« Abul Hassan deutete in eine im Schatten verborgene Ecke des Raumes.
»Dort steht die Truhe.«
Es war eine einfache Kiste aus dunklem Holz, ohne jegliche Verzierungen. Die beiden Männer fassten die Lederriemen, die an ihren Schmalseiten befestigt waren. Auf das Kommando Abul Hassans hoben sie die Kiste an.
»Ich hatte sie mir schwerer vorgestellt«, kommentierte Ramiro, während sie die Truhe um die Pulte des Saals herum manövrierten.
»Es sind ja auch nur dreizehn Bände«, erwiderte Abul Hassan. »Ihr Gewicht liegt weniger in ihrer äußeren Form als in ihrem Inhalt.«
Sie traten aus dem Schreibsaal in einen der großen Bibliotheksräume. Soldaten liefen, die Arme vollgepackt mit Schriftrollen und gebundenen Manuskripten, in Richtung Ausgang. Andere warteten darauf, von den Bibliothekaren, die mit der Aussortierung betraut waren, beladen zu werden. Es ging zu wie in einem Bienenstock.
»Warum helfen sie nur so anstandslos mit, ihre eigene Arbeit zu zerstören?«, flüsterte Ramiro.
»Weil sie sich davon Vorteile erhoffen«, knurrte Abul Hassan.
»Ihnen geht es nicht um das Wissen, sondern um ihre Position. Deswegen liefern sie al-Mansûr so bereitwillig alle angeblich gottlosen Werke aus.«
»Und was haben wir hier?«, ertönte eine laute Stimme hinter ihnen. Die beiden Männer erstarrten. Sie setzten die Truhe ab und drehten sich langsam um.
Der Sprecher war ein schlanker Mann, kaum vierzig Jahre alt. Seine weiße und rote Djellaba war aus teuren Stoffen gefertigt, und auch der mit Gold verzierte Gürtel zeigte deutlich, dass es sich bei ihm um einen höheren Würden- träger handeln musste.
»Yusuf!« Abul Hassan legte die rechte Handfläche auf sein Herz und verneigte sich. Der Mann machte eine abweh- rende Handbewegung. »Keine Formalitäten, Abul Hassan. Dafür kennen wir uns zu lange. Was habt ihr hier zu suchen?«
Yusuf al Hanafi war bekannt für seine Direktheit wie für seine Aufrichtigkeit. Er war ein hervorragender Wissen- schaftler, Philosoph und Diplomat. Trotz seiner jungen Jahre hatte er es bereits zum Leiter der Bibliothek von Córdoba gebracht, und man munkelte, dass ihm noch eine weitaus glorreichere Zukunft bevorstehe.
»Wir haben nur … also …«, stotterte Ramiro, verstummte aber schnell unter Yusufs durchdringendem Blick.
Abul Hassan wusste, dass Leugnen keinen Zweck hatte.
»Wir schaffen einige Bücher fort, um sie vor der Vernichtung zu retten«, sagte er und blickte sein Gegenüber heraus- fordernd an.
Ein leichtes Lächeln umspielte Yusufs Lippen. »Du maßt dir an, meine Entscheidungen infrage zu stellen?«
»Wenn es um meine Bücher geht, dann ja.«
Abul Hassan schob entschlossen das Kinn vor. Ramiro wich zurück. Er hielt es für keine gute Idee, Yusuf al Hanafi herauszufordern.
Der Leiter der Bibliothek lächelte nicht mehr. Er machte einen Schritt auf sein Gegenüber zu. »Deine Bücher? Glaubst du, irgendein Buch hier gehört dir?«, zischte er.
»Woher nimmst du dir das Recht zu entscheiden, was mit den Büchern geschieht?«
»Ich handle im Auftrag der gesamten Menschheit«, erwiderte Abul Hassan scheinbar unbeeindruckt. Sein Herz klopfte laut in seiner Brust, aber er war so weit gegangen, dass es nun kein Zurück mehr gab.
»Diese Bücher sind weder mein Eigentum noch das des Kalifen oder des Ministers. Sie gehören allen Menschen, und sie zu zerstören, ist ein Verbrechen.«
»Du nennst den Ersten Minister einen Verbrecher?«
Yusuf stieß ein freudloses Lachen aus.
»Ich will dir sagen, was al-Mansûr ist: Er ist der mächtigste Mann in Córdoba, und allein das zählt. Wer sich ihm widersetzt, ist so gut wie tot.«
Er senkte erneut seine Stimme.
»Was glaubst du, was ich mache? Meinst du, ich führe die Anordnungen al-Mansûrs mit Freuden aus? Doch ich bin Realist. Wenn er Bücher verbrennen will, dann werden Bücher verbrannt. So einfach ist das. Er hat die Soldaten, ich verfüge nur über ein paar Bibliothekare. Alles was ich versuchen kann, ist, so viele wertvolle Manuskripte wie möglich zu retten.«
Abul Hassan starrte Yusuf mit offenem Mund an. Er hatte alles erwartet – nur nicht das. Er kannte den Chefbibliot- hekar als einen aufrechten Mann, hätte aber nie gedacht, dass dieser so deutlich seine Meinung aussprechen würde.
Yusuf atmete tief durch.
»Wa ’llahi! Ich will gar nicht wissen, was ihr in eurer Truhe habt. Kommt! Ich bringe euch zur Seitentür. Am großen Tor könntet ihr zu viel Aufsehen erregen.«
Abul Hassan und Ramiro benötigten einen Augenblick, um zu begreifen, dass Yusuf ihnen helfen wollte. Dann packten sie die Kiste und eilten hinter dem Chefbibliothekar her.
Sie durchquerten die Bibliothek ohne weitere Probleme. Hier und da warfen ihnen einige Soldaten misstrauische Blicke zu, aber die Gegenwart Yusufs sorgte dafür, dass keiner sie aufzuhalten wagte.
Kaum hatten sie das Gebäude durch die kleine Pforte verlassen, schlug ihnen dichter Qualm entgegen. Auf dem Platz vor dem Alcázar brannte ein großes Feuer aus Hunderten von Büchern. Ringsum standen Soldaten und fütterten den zerstörerischen Brand mit dem, was sie aus der Bibliothek herausgeschleppt hatten. Um die lodernden Flammen herum hatte sich eine Menschenmenge ver- sammelt, die jedes neue Manuskript, das ins Feuer flog, mit lautem Johlen feierte. Das Flackern des Scheiterhaufens warf immer wieder wechselnde Schatten auf die Gesichter, die Abul Hassan wie dämonische Fratzen vorkamen.
Er ließ die Kiste sinken und stützte sich an einem Pfeiler ab. Yusuf griff ihm besorgt unter den Arm.
»Schon gut, schon gut.« Abul Hassan atmete einige Male schwer durch.
»Es geht wieder. Es ist nur … es ist … dieser Anblick …«
Er wischte sich mit dem Ärmel seines Gewands die Schweißperlen von der Stirn.
Yusuf sah ihm besorgt in die Augen.
»Lass dir nicht anmerken, wie du zu der Sache stehst«, riet er.
»In Zeiten wie diesen reicht eine schnelle Anzeige, und schon verschwindest du für Jahre im Gefängnis – falls du nicht direkt vor den Henker geführt wirst.«
Abul Hassan hatte sich wieder gefangen und hob seine Seite der Kiste an.
»Danke, Herr. Ich werde mich in Zukunft zusammen- nehmen.«
»Viel Glück bei eurem Unterfangen«, sagte Yusuf.
»Und lasst uns hoffen, dass ihr die Bücher schon bald an ihren angestammten Platz zurücktragen könnt.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand im Gebäude.
Abul Hassan und Ramiro eilten über den palmenbestan- denen Vorplatz. Sie hielten sich im Schatten am Rand, um von den Soldaten und der tobenden Menge nicht bemerkt zu werden. Vor ihnen tat sich eine Gasse auf, die in die Juderia, das jüdische Viertel Córdobas, führte und in die sie einbogen. Sie waren gerade wenige Meter gegangen, als sie eine Stimme hinter sich hörten.
»Psst!«
Ihre Köpfe fuhren herum, aber sie konnten niemanden sehen. Ihre Herzen schlugen schneller. Waren sie etwa entdeckt worden? Hatte Yusuf sie doch noch an die Soldaten verraten?
»Psst! Abul Hassan! Ramiro!«
Aus einem schmalen Gang zwischen zwei Häusern schob sich ein Kopf hervor.
»García!« Aus Ramiros Stimme war deutlich die Erleich- terung herauszuhören.
»Was machst du hier?«
»Kommt schnell!«, drängte García und winkte sie zu sich in den Gang.
»Ihr seid in Gefahr.«
Ohne zu zögern, folgten die beiden ihrem Kollegen in den dunklen Zwischenraum.
»Welche Gefahr?«, fragte Abul Hassan.
»Hat man uns entdeckt?«
Statt einer Antwort tauchten vier Schatten aus dem Dunkel des Gangs auf. Abul Hassans erster Impuls war, zurück in die Gasse zu flüchten, aber García hielt ihn am Arm fest.
»Es tut mir leid, alter Freund.«
»Leid? Aber warum?« Jetzt erkannte Abul Hassan, dass es sich bei den Schatten um vier bewaffnete Berbersöldner handelte.
»Was geht hier vor?«
»Ich nehme die Bücher an mich, das geht hier vor.«
García beugte sich vor und starrte dem Älteren direkt ins Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen und seine Gesichtszüge verzerrt.
So hatte Abul Hassan ihn noch nie gesehen.
»Auf diesen Moment habe ich viele Jahre gewartet. Jetzt gehören sie endlich mir!«
»Aber du hast einen Eid geschworen!«, rief Abul Hassan.
»Du hast dich verpflichtet, die Bücher zu schützen. Wir drei sind ihre einzigen Bewahrer!«
»Bewahren werde ich sie gewiss.« Garcías Lippen formten sich zu einem höhnischen Lächeln. »Diese Bücher stellen den Schlüssel zur größten Macht dar, die sich ein Mensch vorstellen kann. Du darfst sicher sein, dass ich sie wie meinen Augapfel hüten werde.«
»Du weißt nicht, was du tust!«, beschwor ihn Abul Hassan.
»Diese Bücher sind mächtig, aber sie sind auch gefährlich. Du kannst mit ihnen unsere ganze Welt zerstören!«
»Vielleicht will ich das ja.«
Garcías Augen funkelten im Halbdunkel des Gangs.
»Und dann baue ich mit ihrer Hilfe eine neue Welt auf. So, wie ich sie haben will.«
Er wandte sich zu seinen Helfern um.
»Genug geredet. Nehmt die Kiste und dann verschwinden wir.«
»Und die beiden, Herr?«, fragte einer der Söldner und betastete vielsagend den Knauf seines Säbels.
»Die sind harmlos«, erwiderte García verächtlich.
»Lasst sie laufen. Sie können uns nichts anhaben.«
Diesen Moment nutzte Abul Hassan. Er wusste, er und Ramiro waren ihren Gegnern hoffnungslos unterlegen. Aber er konnte sich sein Lebenswerk nicht einfach so wegnehmen lassen!
Lieber würde er sterben. Er warf sich auf die Truhe und umklammerte sie mit aller Kraft. Zugleich begann er, lauthals um Hilfe zu schreien.
Sofort zog einer der Söldner seinen Säbel und ging auf Abul Hassan los.
»Nicht!«, schrie Ramiro und warf sich todesmutig zwischen den Angreifer und seinen Freund. Zwei weitere Söldner packten ihn von hinten und rissen ihn zurück, der dritte rammte ihm die Faust in den Magen. Ramiro blieb die Luft weg, und der Schmerz ließ ihn in die Knie gehen. Der erste Söldner holte mit seinem Säbel aus und hieb Abul Hassan den Knauf gegen den Kopf. Der Alte stöhnte kurz auf, dann erschlafften seine Gliedmaßen. Der Täter zerrte sein Opfer grob von der Truhe herunter.
García hatte der Szene unbewegt zugesehen. Auf sein Zeichen hoben die Söldner die Kiste an und verschwanden um die Ecke.
Ramiro erhob sich mühsam. Keuchend schleppte er sich zu der reglosen Gestalt Abul Hassans hinüber. Aus einer Platzwunde am Kopf rann Blut über das Gesicht des Alten. Einen Moment lang fürchtete Ramiro, sein Freund sei tot, doch dann bemerkte er seine flachen Atemzüge. Vorsichtig rüttelte er Abul Hassan an den Schultern.
Es dauerte nicht lange und der Alte schlug die Augen auf. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung wurde sein Blick klar.
»Sind sie weg?«, stieß er hervor.
Ramiro nickte stumm.
Verzweiflung machte sich auf Abul Hassans Gesicht breit. Er stöhnte und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Dabei spürte er das Blut, das aus seiner Wunde lief.
»Wa ’llahi!«, krächzte er. »Das hätte ich García nicht zugetraut.«
In diesem Augenblick hörten sie Geschrei aus der Gasse. Ramiro humpelte zur Ecke vor, lehnte sich stöhnend an die Wand und spähte vorsichtig hinaus. Was er sah, ließ sein Herz höher schlagen: García und seine Söldner waren einer Berberpatrouille in die Arme gelaufen, die ihnen zahlen- mäßig weit überlegen war. Zwischen dem Anführer der Patrouille und García hatte sich ein heftiges Wortgefecht entwickelt.
Ramiro spürte eine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen. Doch es war nur Abul Hassan, der sich ebenfalls aufgerafft hatte. Er stützte sich auf den Freund.
»Das ist unsere letzte Chance. Los!«
Ramiro wollte widersprechen, aber Abul Hassan schnitt ihm das Wort ab.
»Wir müssen eingreifen, wenn wir die Bücher retten wollen.« Er legte seinen Arm um Ramiros Schultern, und gemeinsam traten sie auf die Gasse.
Mit jedem schleppenden Schritt, den sie sich der Menschenansammlung näherten, spürte Abul Hassan, wie seine Kräfte zurückkehrten. Es war, als wollten ihm die Bücher dabei helfen, seine Aufgabe zu erfüllen.
Sie hatten die Gruppe gerade erreicht, als der Anführer der Soldaten García mit dem Knauf seines Schwertes nieder- schlug. Dessen vier Söldner nutzten die momentane Aufregung, um im Dunkel der benachbarten Gassen zu verschwinden.
Abul Hassan löste sich von Ramiro und zog den Passier- schein hervor. Zwei Soldaten standen über dem am Boden liegenden García und richteten ihre Säbelspitzen auf seine Brust. Der Alte trat auf den Anführer zu.
»Gut, dass ihr sie aufgehalten habt!«, rief er. Der Anführer der Berber blickte die blutverschmierte Figur, die plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war, misstrauisch an. Die Soldaten standen kampfbereit, die Hände an ihren Säbeln.
»Wir haben einen Passierschein des Kalifen.« Abul Hassan streckte dem Mann das Pergament entgegen.
»Diese Leute haben uns überfallen und uns die Truhe geraubt.«
Einer der Soldaten hielt die Fackel, die er trug, so nah heran, dass der Anführer das Dokument lesen konnte. Er benötigte eine Weile dafür. Dann gab er dem Alten den Ausweis zurück.
Sein Misstrauen war nicht besänftigt.
»Was befindet sich denn Wertvolles in der Truhe?«, fragte er.
»Bücher«, erwiderte Abul Hassan.
»Bücher?« Der Anführer lachte freudlos. »Ihr wollt mir erzählen, dass euch dieser Kerl hier überfallen hat, um ein paar Bücher zu stehlen?«
»Es sind unersetzliche Bände aus dem Privatbesitz des Kalifen.«
»Das werden wir ja sehen.« Er befahl einem seiner Leute, die Truhe zu öffnen, ergriff eine Fackel und beugte sich darüber. Mit einer Hand tastete er in der Kiste herum.
»Es sind wirklich nur Bücher.«
Der Anführer richtete sich wieder auf. Seine Stimme klang enttäuscht. Noch einmal betrachtete er Abul Hassan und Ramiro mit zusammengekniffenen Augen, dann machte er eine ungeduldige Handbewegung.
»Ihr könnt passieren«, sagte er. »Und seid in Zukunft vorsichtiger, wenn ihr das Eigentum des Kalifen transportiert.«
»Das werden wir.«
Abul Hassan und Ramiro nahmen die Griffe der Truhe und hoben sie an. Ramiro beobachtete seinen Freund besorgt, ob er der Aufgabe gewachsen war, aber Abul Hassan zeigte kein Zeichen von Schwäche. Mit dem inzwischen zum Teil getrockneten Blut auf seinem Gesicht sah er im Licht der Fackeln eher wie ein Kämpfer als wie ein Bibliothekar aus.
Und war er schließlich nicht auch beides? Ramiro hatte nicht geahnt, welche Kräfte in seinem alten Kollegen steckten.
»Was werdet ihr mit dem Mann machen?«, fragte Abul Hassan.
Der Anführer versetzte García, der immer noch am Boden lag, einen Tritt.
»Das wird der Richter entscheiden. Hebt ihn auf!«
Zwei seiner Männer packten García bei den Armen und zogen ihn grob in die Höhe. Hasserfüllt starrte er die beiden Bibliothekare an.
»Ich werde nicht der Letzte sein!«, schrie er. »Versteckt sie nur, eure Bücher. Nach mir werden andere kommen, und irgendwann wird einer von ihnen Erfolg haben! Ihr habt jetzt schon verloren!«
Einer der Soldaten stieß ihn vor sich her. Die Patrouille entfernte sich mit ihrem Gefangenen, aber sein Gebrüll war nach wie vor zu hören. Es hallte wie ein unheilvolles Echo durch die dunklen Gassen:
»Ihr habt verloren … verloren … verloren …«
Leseprobe
Die Vogelscheuche kehrt zurück
An einem Freitagnachmittag, kurz nach Beginn der Sommerferien, begegnete ich Pontus Pluribus zum zweiten Mal in meinem Leben.
Ich hielt mich, wie üblich, in der Buchhandlung des Bücherwurms auf. Draußen brannte die Sonne, und im Laden, in den sich, wie meistens, kein Mensch verirrt hatte, war es erfrischend kühl. Zum wiederholten Mal fragte ich mich, wovon der Bücherwurm wohl leben mochte. Vom Bücherverkaufen sicher nicht, dafür kamen zu wenig Kunden in sein Geschäft.
Der Alte war zur Post gegangen und hatte die Buch- handlung meiner Obhut überlassen. Das tat er inzwischen immer häufiger. Manchmal blieb er stundenlang weg, um irgendwelche alten Schwarten zu inspizieren, die ihm zum Kauf angeboten wurden.
Ich nutzte die kundenlose Zeit, um neu eingetroffene Exemplare einzuräumen. Das war eine Arbeit, die sich meistens etwas in die Länge zog. Ich konnte nämlich kaum ein Buch einordnen, ohne nicht vorher einen kurzen oder auch längeren Blick hineinzuwerfen. Zuerst schlug ich es irgendwo in der Mitte auf und steckte meine Nase hinein. Viele Menschen wissen nicht, dass Bücher einen ganz eigenen, verführerischen Duft haben. (Die meisten zumindest – manche riechen einfach nur eklig.) Rein wissenschaftlich gesehen besteht er zwar nur aus einer Mischung der Ausdünstungen von Papier und Druckfarbe, aber mit diesen beiden Zutaten lässt sich eine Vielfalt von Aromen erzeugen.
Beim erfahrenen Buchschnüffler ruft der Geruch eines Buches ein warmes, angenehmes Gefühl hervor, das den ganzen Körper durchströmt. Es sind die Erinnerungen an all jene Gelegenheiten, bei denen man Bücher mit einem ähnlichen Duft gelesen hat, ohne dass man sich dabei an einen bestimmten Inhalt erinnert.
Ich hatte meine Nase gerade in einen äußerst wohl- riechenden Roman vertieft, als ich hinter mir die Klingel der Eingangstür hörte. Widerstrebend blickte ich auf. Vor mir stand Pluribus. Seine Gestalt erschien noch genauso furchteinflößend wie vor einem Jahr: der lange, schwarze Mantel, die gebeugte Haltung, die spitzen, gelben Fingernägel, der dünne Vogelhals und die dunklen, bohrenden Augen, die unter seinem tief in die Stirn gezogenen Hut hervorblitzten.
Inzwischen war ich allerdings ein Jahr älter geworden und hatte mit Madame Slivitsky und ihren Söhnen ein paar Gegner erlebt, die Pluribus an Niedertracht gewiss in nichts nachstanden. Außerdem erinnerte ich mich an die Worte des Bücherwurms nach meiner ersten Begegnung mit der Vogelscheuche:
»Er ist wie ein Geier, der das Aas auf weite Entfernung riechen kann. Jedoch hält er sich in sicherer Distanz, bis jede mögliche Gefahr vorüber ist.« Deshalb jagte er mir diesmal keinen wirklichen Schrecken mehr ein. Sobald Pluribus mich entdeckt hatte, eilte er auf mich zu.
Ich war im letzten Jahr um einiges gewachsen, doch er überragte mich immer noch um einen guten Kopf.
»Sieh an, der kleine Bewahrer
«, krächzte er. Ich wollte zur Seite treten, aber er rückte einen Schritt näher an mich heran und beugte sich über mich. Unwillkürlich drehte ich mich weg, um mich vor seinem Atem zu schützen.
»Was wollen Sie?«, fragte ich. »Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen.« Es klang etwas aggressiver, als ich beabsichtigt hatte. Jetzt hätte ich mich doch wohler gefühlt, wenn der Bücherwurm in der Nähe gewesen wäre.
»Hah!« Er stupste mich mit seinem Zeigefinger in die Schulter. »Die Schatten
kommen. Das ist dein Werk.«
»Die Schatten?« Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen«, zischte er.
»Es ist das erste Mal seit vielen Hundert Jahren, dass die Schatten sich wieder aus der Dunkelheit wagen. Das tun sie nur, wenn eine ungewohnt rege Aktivität der Bewahrer zu verzeichnen ist. Also: Was habt ihr vor?«
Ich wusste wirklich nicht, worauf er hinaus wollte. Doch wie sollte ich ihn davon überzeugen? Pluribus schien mir kein Mensch zu sein, der vernünftigen Argumenten zugänglich war.
Erneut pikste er mich mit seinem Zeigefinger. Hatte der Mann noch nie etwas von einem Nagelknipser gehört? Aber seiner Kleidung nach zu urteilen, gingen die Segnungen der Zivilisation ziemlich spurlos an ihm vorüber.
»Jetzt hören Sie mal zu«, sagte ich und stieß seine Hand beiseite.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, und will es auch nicht wissen. Lassen Sie mich einfach in Ruhe mit Ihren Schatten!«
»Oho!« Er trat überrascht einen Schritt zurück. Ich nutzte die Gelegenheit, um das Buch, das ich immer noch in der Hand hielt, wegzulegen und so ein wenig mehr Bewe- gungsfreiheit zu gewinnen. Richtig Angst hatte ich vor ihm nicht. Er würde es nicht wagen, mir hier im Laden des Bücherwurms etwas zu tun. Aber Vorsicht konnte nie schaden.
»Du glaubst wohl, weil du den Slivitskys eins ausgewischt hast, bist du jetzt der Größte, was?« Seine Stimme klang höhnisch.
»Du denkst, du kannst eine dicke Lippe riskieren, nur weil du einmal davongekommen bist. Sieh dich vor, Junge! Die Schatten lassen sich nicht so einfach ins Bockshorn jagen. Gegen sie sind die Slivitskys nur Waisenkinder.«
Er kam wieder auf mich zu, und ich musste all meinen Mut zusammennehmen, um nicht vor ihm zurückzuweichen.
»Du weißt genau, was vorgeht, Junge. Das sehe ich dir an. Mich kannst du nicht so leicht täuschen.«
»Erklären Sie mir doch einfach, worum es sich bei diesen Schatten handelt«, sagte ich. »Dann werden wir ja sehen, ob und was ich weiß.«
»Spiel nur nicht den Unwissenden«, höhnte Pluribus.
»Die Ankunft der Schatten spricht sich bei den Ein- geweihten schnell herum.«
Er beugte sich erneut zu mir hin. Diesmal bewegte ich mich nicht.
»Glaub bloß nicht, du kannst ihre Macht für deine Zwecke nutzen! Daran sind schon ganz andere gescheitert.«
Ohne ein weiteres Wort richtete er sich auf, marschierte zur Tür und verschwand aus dem Laden. Ich starrte ihm sprachlos hinterher. Irgendetwas musste an dieser Sache mit den Schatten dran sein, sonst hätte er sich nicht so aufgeregt. Auch sein letzter Besuch war eine Art Vor- ankündigung für die folgenden Ereignisse gewesen, die Larissa und mich in eine Menge Gefahren gestürzt hatten.
Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wurde die Tür aufgerissen und Larissa stürzte herein. Sie war völlig außer Atem und wedelte mit einem Blatt Papier herum.
»Sieh mal!«, keuchte sie. »Das habe ich gerade in unserem Briefkasten gefunden!«
Ihr Gesicht war gerötet. Offenbar war sie den ganzen Weg von zu Hause bis hierhin gelaufen. Sie hielt mir den Zettel in ihrer Hand hin. Ich faltete ihn auseinander. Darauf standen nur wenige Worte in einer krakeligen Schrift: Wenn du etwas über deine Eltern erfahren willst, dann komm heute um Mitternacht zur Schillerbüste im Stadtpark.
Das war alles. Kein Absender, keine Adresse. Nur dieser eine Satz. Ich verstand Larissas Aufregung nur zu gut. Ihre Eltern waren vor fast neun Jahren auf einer Forschungs- reise ums Leben gekommen. Seitdem lebte sie bei ihrem Großvater, dem Bücherwurm.
Sie hatte sich mit dem Tod ihrer Eltern nie abfinden wollen, zumal die Leichen nie entdeckt worden waren. Das Unglück war irgendwo in jener arabischen Wüste geschehen, die Rub al-Khali, die »Große Leere« genannt wurde. Den Geländewagen ihrer Eltern hatte man ausgebrannt in einem vertrockneten Flussbett gefunden, zusammen mit ein paar Kleidungsfetzen.
Die für das Gebiet zuständigen Behörden im Jemen
vermuteten, dass sie die steile Böschung herabgestürzt waren und das Fahrzeug dabei Feuer gefangen hatte. Den Rest, so die offizielle Lesart, hätten anschließend die Aasgeier und Schakale übernommen.
Larissa hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.
»Und?!«, fragte sie. »Was sagst du dazu?«
Ich wendete den Zettel hin und her, hielt ihn schräg gegen das Licht, hob ihn an meine Nase und schnupperte daran.
Das sah für einen Zuschauer vielleicht gut aus, brachte mir aber keinerlei weitere Erkenntnisse – außer einem flauen Gefühl im Magen.
»Das gefällt mir nicht
«, sagte ich.
»Was? Ich kann etwas über meine Eltern erfahren, und alles, was du dazu zu sagen hast, ist Das gefällt mir nicht?«, protestierte Larissa, die sichtlich eine andere Reaktion erwartet hatte.
»Es ist ein anonymer Brief«, erklärte ich. »Warum sollte jemand, der es gut mit dir meint, seinen Namen nicht nennen und sich nachts mit dir treffen wollen?«
»Das ist mir egal!«, unterbrach mich Larissa. »Ich verstehe dich nicht! Du weißt, wie wichtig mir die Sache ist. Und alles, was du machst, ist ein finsteres Gesicht!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mich wütend an. Ich gab ihr den Zettel zurück.
»Das mit der Anonymität ist das eine. Aber was mir viel mehr Sorgen macht, ist: Wer könnte wissen, dass deine Eltern nach all den Jahren noch leben? Doch nur jemand, der mit ihrem Verschwinden zu tun hat, oder?«
»Das ist mir ebenfalls egal!« Larissa war ein Dickkopf, das hatte ich schon oft genug erfahren müssen. So leicht ließ sie sich nicht von ihrer Meinung abbringen.
»Das Einzige, was für mich zählt, ist, dass dieser Unbekannte etwas über meine Eltern weiß.«
Ich trat den strategischen Rückzug an.
»Wie wäre es, wenn wir zusammen hingehen?«, fragte ich.
»Ist es eine Falle, so haben wir eine bessere Chance, uns zur Wehr zu setzen. Und falls nicht, kann es zumindest nicht schaden.«
Larissa sah mich prüfend an. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Einverstanden.«
Das war schon mal ein erster Schritt. Meine Bedenken hatten sich damit aber noch lange nicht erledigt.
»Es gefällt mir nach wie vor nicht«, wiederholte ich. »Erst Pluribus, dann dieser Brief …«
»Pluribus? Pontus Pluribus? War er hier?«
Ich nickte. »Du hast ihn nur knapp verpasst.«
»Und was wollte er?«
»Er hat die ganze Zeit irgendwas von Schatten gefaselt. Die Schatten sind los, Sie kommen aus der Dunkelheit
und solche Dinge.«
»Und wer sind diese Schatten? Hat er das erklärt?«
»Eben nicht. Er ist davon überzeugt, dass ich etwas damit zu tun habe und sowieso schon alles weiß.« Ich seufzte.
»Schade, dass dein Großvater jetzt nicht hier ist. Er könnte uns bestimmt mehr dazu sagen.«
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. »Vielleicht kann er auch mehr mit dem anonymen Brief anfangen als wir.«
»Auf keinen Fall.« Larissa sah mich streng an. »Wenn wir ihm davon erzählen, wird er uns nicht gehen lassen. Und ich werde heute Nacht
im Stadtpark sein.«
Sie fasste mich am Arm.
»Du darfst ihm nichts sagen, Arthur. Versprich es mir!«
Ich hielt es zwar für besser, den Bücherwurm einzuweihen, kannte Larissa aber gut genug, um zu wissen, wann es sich lohnte, zu argumentieren, und wann nicht. Trotzdem unternahm ich noch einen letzten Versuch.
»Er könnte uns helfen, Larissa. Es wäre sicherer für uns beide, wenn er Bescheid weiß. Wir werden ihn schon überreden, uns gehen zu lassen.«
»Nein!« Ihre Augen funkelten wütend. »Kann ich mich nun auf dich verlassen oder nicht?«
Ich seufzte erneut. In diesem Zustand war mit ihr nicht zu reden. Ich hoffte, dass sie sich im Laufe des Tages beru- higen würde. Bis Mitternacht waren es ja noch ein paar Stunden.
»Also gut, ich verspreche es«, lenkte ich ein. »Aber hinterher erzählen wir ihm alles. Okay?«
Sie starrte mich einen Moment an. Dann nickte sie. »Okay.«
Damit war das Thema erledigt. Wir hatten inzwischen einige Übung darin, einen Streit zu beenden, bevor es richtig ernst wurde. Eine ziemlich sinnvolle Fähigkeit, wenn man viel Zeit
miteinander verbringt. Schließlich wohnten wir fast ein Viertel des Jahres unter einem Dach, weil ich meine Schulferien stets beim Bücherwurm verbrachte.
In diesem Augenblick klingelte die Ladentür. Der Alte war von der Post zurück und betrat den Laden.
»Wenn man den Teufel nennt ...«, flüsterte Larissa und stopfte das Schreiben schnell in ihre Hosentasche.
»Sieh da, meine Lieblingsenkelin«, strahlte der Bücherwurm, als er Larissa erblickte. »Was führt dich denn hierher?«
»Och, ich war bloß in der Nähe und dachte mir, ich komme
mal kurz vorbei«, antwortete sie mit Unschuldsmiene.
»Sehr schön.« Er zog ein großes Stofftaschentuch hervor
und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns ein Eis gönnen?«
»Gute Idee«, sagte ich.
»Keine Zeit«, sagte Larissa.
Das kam beides gleichzeitig heraus. Wir blickten uns an und mussten grinsen.
»Also, was nun?«, lächelte der Alte.
»Ich muss weg. Ich habe noch einiges zu erledigen heute Nachmittag.«
Larissa warf mir einen vielsagenden Blick zu und drückte ihrem Großvater einen schnellen Kuss auf die Backe. »Tschüs, ihr zwei. Bis später.«
Damit verließ sie den Laden.
Der Bücherwurm zuckte mit den Schultern. »Frauen«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Und was ist mit dir, Arthur? Musst du auch gleich weg?«
»Nicht sofort«, antwortete ich. Allerdings hatte ich nicht vor, den gesamten Nachmittag hier zu verbringen, während Larissa Vorbereitungen für heute Nacht traf.
»Ich würde gerne in einer Stunde gehen.«
»Kein Problem.« Der Alte marschierte durch den Laden zu seinem Büro, das hinter der Verkaufstheke lag. »War irgendwas Besonderes los in der Zeit, in der ich weg war?«
»Pluribus war hier«, sagte ich.
Der Bücherwurm hielt mitten im Schritt inne und drehte sich um.
»Hat er dich bedroht?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Nicht wirklich. Er ist mir ein wenig auf die Pelle gerückt, das war alles.«
»Und was wollte er?«
»Keine Ahnung. Er erzählte dauernd etwas von irgend- welchen Schatten, die jemand geweckt hat.«
»Die Schatten?« Der Alte starrte mich einen Moment mit ungläubigem Blick an. Dann schüttelte er kurz den Kopf.
»Typisch Pontus«, seufzte er. »Macht mal wieder die Pferde scheu.«
»Dann ist an dieser Schattensache also nichts dran?«, fragte ich.
»Schwer zu sagen. Ich hatte nur nicht erwartet, davon noch einmal zu hören.« Der Bücherwurm bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir gingen in sein Büro hinter der Ladentheke.
Es überraschte mich immer wieder, wie viel man in einen so winzigen Raum hineinpacken konnte. Nahezu jeder Quadratzentimeter war mit Büchern bedeckt, und zwar mit ganzen Stapeln davon. Dies waren die Schätze des Alten, seine große Leidenschaft. Von den meisten Werken in diesem Raum gab es nur noch einige wenige Exemplare auf der ganzen Welt.
Der Alte zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete den Tresor, der unter dem winzigen Fenster stand. Er holte ein schmales Buch heraus, das die Abmessungen einer Postkarte besaß. De Umbris
war in vergilbten Lettern auf dem Buchdeckel zu lesen. Dafür reichte mein Latein noch. Es bedeutete Über die Schatten
.
»Alles, was wir über die Schatten wissen, steht in diesem Bändchen aus dem 18. Jahrhundert«, erklärte er. »Es ist damals in einer kleinen Auflage erschienen. Heute gibt es nur noch eine Handvoll Exemplare in der ganzen Welt. Niemand weiß, wer der Autor ist. Und ebenso wenig ist bekannt, ob das, was er geschrieben hat, der Wahrheit entspricht oder nur ein Produkt seiner Fantasie darstellt. Der Titel ist allerdings passend gewählt.«
»Umbra
? Das bedeutet doch Schatten, oder?«
»Nicht nur das. Zwei weitere Übersetzungen lauten Gespenst
und Totengeist
.«
Vorsichtig schlug er das Buch auf.
»Es heißt hier, dass die Bewohner jener Stadt in der Rub al-Khali, aus der angeblich die Vergessenen Bücher stammen, nicht gestorben sind. Sie haben lediglich eine andere Form angenommen. So ist es ihnen gelungen, nicht nur unermessliche Macht zu gewinnen, sondern auch das ewige Leben – sofern man ihren Zustand so bezeichnen kann. Sie stellen sich uns, glaubt man dieser Schrift, als eine Art Schattenwesen dar. Allerdings haben sie bei ihrer Wandlung nicht eingeplant, dass sie zur Ausübung ihrer neu erlangten Kräfte fortan die Hilfe von Menschen benötigen.«
Er schaute mich an. »Mit einem hatten sie nämlich nicht gerechnet: dass jemand die Vergessenen Bücher aus ihrer Stadt entführen würde. Genau das aber ist geschehen. Damit wurden sie ihrer mächtigsten Waffe beraubt.«
Der Bücherwurm blätterte weiter in dem dünnen Bändchen.
»Außerdem steht hier, was in den ungezählten Jahr- hunderten seit ihrer Verwandlung passiert sein soll. Die Schatten haben, weil sie körperlose Wesen sind, den Bezug zur Realität verloren und sind dem Wahnsinn verfallen. Das macht sie besonders gefährlich.«
»Hat sie denn schon wirklich einmal jemand gesehen?«, fragte ich. »Oder sind das alles nur Legenden?«
Der Alte schlug das Büchlein zu und pochte mit dem Finger darauf.
»Wie ich bereits sagte: Niemand weiß, ob das stimmt, was hier geschrieben steht. Für mich hört es sich wie eine fantastische Erzählung an. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – sind die Schatten bei Bewahrern wie Suchern gleichermaßen gefürchtet. Es hat immer wieder Gerüchte gegeben ... Nur hat keiner, der angeblich mit den Schatten zu tun hatte, seine Begegnung mit ihnen überlebt.«
»Sehr praktisch«, kommentierte ich. »Es kann sich also auch nur um Aberglauben handeln.«
»Durchaus.« Der Bücherwurm packte den schmalen Band zurück in den Tresor und schloss ihn ab. »In der Welt der Vergessenen Bücher ist allerdings vieles möglich. Deswegen sollte man alles ernst nehmen, bis das Gegenteil bewiesen ist.«
»So wie Pontus Pluribus«, sagte ich.
Der Alte schnaubte verächtlich. »Pluribus ist ein Waschweib. Da sind mir die Slivitskys fast noch lieber als er! Sobald er nur den Hauch eines Gerüchtes vernimmt, taucht er aus seinem Loch auf und macht alle verrückt. Zum Glück ist er ansonsten harmlos.«
Ich nickte. Trotz seines furchterregenden Äußeren glaubte auch ich nicht daran, dass von Pluribus eine ernst zu nehmende Gefahr ausgehen könnte.
Wie sich schon bald herausstellen sollte, war das ein verhängnisvoller Irrtum.
Begegnung um Mitternacht
Die Schillerbüste war ein überlebensgroßer Bronzekopf, der fast komplett von einer grünen Patinaschicht bedeckt war. Er stand auf einem Sockel in einem vergessenen Winkel des Stadtparks. Der Stadtrat war irgendwann einmal der Meinung gewesen, ein wenig Kultur könnte den lustwandelnden Bürgern nur guttun. Also wurde der nördliche Rundgang kurzerhand zum Literatenweg
erklärt und im Abstand von jeweils zwanzig Metern wurden die Köpfe berühmter deutscher Dichter aufgestellt. Schiller, Goethe, Lessing, Hölderlin – das ganze Programm.
Spätere Stadtväter konnten oder wollten den Über- legungen ihrer Vorgänger wohl nicht folgen. So rotteten die Dichter nun schon seit vielen Jahren still vor sich hin, weil kein Geld für ihre Pflege da war. Dafür hatten wir kürzlich ein drittes Einkaufszentrum in der Innenstadt bekommen. Jetzt drängten sich die Bürger in klimatisierten Fluren und der Stadtpark verfiel.
Larissa und mir kam das ganz gelegen. Der Norden des Parks war um diese Zeit (es war etwa sechs Uhr abends) sowieso selten bevölkert. Heute war er nahezu leer. Wir ließen unsere Taschen auf eine zerkratzte Holzbank neben der Schillerbüste fallen. Vor uns lag das schmale Ende des namenlosen Teiches, der das Herz des Parks bildete. Rechts von uns verschwand der Fußweg nach wenigen Schritten in einem Tunnel, aus dem Uringeruch zu uns herüberwehte. Zur linken Hand konnte man in etwa zwanzig Meter Entfernung die Lessingbüste sehen, um die herum sich der Weg schlängelte.
Der Treffpunkt war vom Unbekannten gut gewählt. Die Wahrscheinlichkeit, an dieser Stelle von jemandem gestört zu werden, war gering. Selbst für moderne Wegelagerer lohnte es sich nicht, sich hier auf die Lauer zu legen, weil sie die ganze Nacht vergeblich auf ein Opfer warten würden.
»An die Arbeit!« Larissas Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Tasche und zog einen kleinen, kaum handtellergroßen Kasten hervor.
»Wo bringen wir die am besten an?«
Es handelte es sich um eine von zwei Infrarotkameras, die sie aus ihrem fast unerschöpflichen Vorrat technischer Gerätschaften hervorgezaubert hatte.
Nach dem Gespräch im Buchladen war ich zum Haus des Bücherwurms geeilt, wo Larissa in der Mitte ihres Zimmers bereits einen Stapel aus Kabeln und allerlei Apparaten aufgehäuft hatte. Als ich eintrat, schraubte sie gerade am Metallgehäuse eines Computers herum.
»Was hast du vor?«, fragte ich.
»Ich denke nicht daran, mich ohne Vorsichtsmaßnahmen nachts im Stadtpark mit einem Fremden zu treffen«, erklärte sie.
»Wir werden alles, was geschieht, in Bild und Ton auf- zeichnen.«
»Gut, dass du dich wieder abgeregt hast«, kommentierte ich.
»So gefällst du mir viel besser.«
Larissa blickte auf.
»Tut mir leid, Arthur, aber deine Gefühle interessieren mich im Moment nicht besonders.«
Das saß. Sie musste mir angesehen haben, dass mich ihre Bemerkung getroffen hatte.
»Du darfst das nicht falsch verstehen«, fügte sie hinzu.
»Hier geht es um meine Eltern. Das ist für mich
wichtiger als alles andere auf der Welt.«
Mir lag eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber ich konnte mich gerade noch zurückhalten. Ich wusste, wenn Larissa sich erst einmal auf eine Sache versteift hatte, war sie nur schwer davon abzubringen. Das Beste war, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
»Okay«, nickte ich und bemühte mich um einen normalen Ton.
»Wir nehmen also alles auf. Und dann?«
»Dann werden wir sehen.« Sie war mit dem Kopf erneut in einer Kiste verschwunden.
»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich die Ver- handlungen mit unserem Unbekannten führe?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich bin gefühlsmäßig nicht so beteiligt wie du.«
Larissa tauchte mit weiteren Kabeln aus der Kiste auf.
»Ich wünsche mir nichts mehr, als meine Eltern wieder- zusehen«, sagte sie.
»Aber ich werde den Teufel tun und den Unbekannten das merken lassen.«
Sie lächelte mich an.
»Trotzdem danke für das Angebot.«
Ich trat hilflos von einem Bein auf das andere. Larissa war auch in normalen Situationen oft ein Rätsel für mich. Allerdings konnte ich mich inzwischen recht gut darauf einstellen.
Nach unseren Abenteuern in Amsterdam und Bologna hatte sich mein Verhältnis zu ihr deutlich verbessert. Aber heute war es wieder wie bei unserer ersten Begegnung: Ich wurde einfach nicht schlau aus ihr. Und dass sie sich von mir nicht helfen lassen wollte, machte alles nur noch schlimmer.
Also ließ ich sie in Ruhe ihre Sachen zusammenkramen und verzog mich auf mein Zimmer. Irgendwann kam sie dann vorbei und drückte mir eine von zwei Sporttaschen in die Hand.
»Ich habe alles, was wir brauchen. Wir können los.«
Die erste Kamera befestigten wir mit Klebeband im Geäst eines niedrigen Baums, der direkt neben der Schillerbüste stand.
»Damit haben wir den Bereich von der Lampe bis zum Tunnel abgedeckt.«
Larissa deutete auf die Bogenleuchte, die wenige Meter vor dem Tunneleingang aufragte. »Und die andere packen wir hier neben den alten Schiller. So können wir ihn eigentlich nicht verfehlen.«
Wir verkabelten die beiden Kameras mit einem Kasten, den wir tiefer im Gebüsch versteckten. Das war der Computer für die Aufzeichnung. Seinen Strom bezog er aus einem fetten Batteriepack, das von grauem Klebeband zusam- mengehalten wurde.
»Eigene Erfindung von mir«, sagte Larissa stolz.
Nach dem Anschluss der Kabel wickelten wir alles in dicke Klarsichtfolie ein.
»Jetzt zum Sound!« Ein einsamer Schwan sah uns vom Teich aus dabei zu, wie wir vier Mikrofone rund um die beiden Kameras verteilten und mit einem kleinen digitalen Mehrspurrekorder verbanden, den wir ebenfalls in den Büschen unterbrachten.
Schließlich hatten wir unsere Vorbereitungen ab- geschlossen. Inzwischen war es fast acht Uhr. Es lagen nur noch wenige Stunden bis zum Treffen mit dem Un- bekannten vor uns. Larissas Plan sah vor, kurz vor Mitternacht hierhin zurückzukehren und die Überwachungsgeräte zu aktivieren. Wir verstauten die leeren Sporttaschen im Unterholz und machten uns auf den Heimweg. Larissa war, wie den ganzen Nachmittag schon, ausgesprochen wortkarg.
Als wir im Haus des Bücherwurms eintrafen, war der gerade in der Küche dabei, den Abendbrottisch zu decken.
»Wo habt ihr denn gesteckt?«, wollte er von uns wissen.
»Wir haben ein paar Experimente durchgeführt«, erklärte Larissa.
Der Alte war mit der Antwort zufrieden. Die Experi- mentierwut seiner Enkelin war ihm bekannt, und er hütete sich, näher nachzufragen. Das hatte nämlich üblicherweise eine langatmige Ausführung zur Folge.
Seine mangelnde Neugier passte uns gut in den Plan. Nach dem Abendessen verzogen wir uns auf unsere Zimmer. Ich vertiefte mich in ein Buch über den Jemen, das ich mir aus der Buchhandlung mitgenommen hatte. Kurz vor elf hörte ich, wie der Bücherwurm sich zum Schlafen fertig machte und in seinem Zimmer verschwand. Wenige Minuten später trafen Larissa und ich uns unten im Flur und machten uns auf den Weg.
Im Park war es gespenstisch leer. Jede zweite Lampe war kaputt; so gab es mehr Schatten als Licht. Larissa marschierte zielstrebig auf unseren Treffpunkt zu, und ich hatte Mühe, Schritt zu halten. Ein leichter Wind ließ die Büsche am Wegrand rascheln und vom Teich her waren glucksende Geräusche zu vernehmen. Mir lief ein Schauer den Rücken herunter, und ich war froh, nicht allein zu sein. Erneut wurde mir klar, dass ich nicht zum Helden geboren war.
Als wir die Schillerbüste erreicht hatten, seufzte ich erleichtert auf. Die Lampe vor dem Tunnel funktionierte wenigstens, auch wenn sie immer mal wieder einen kurzen Aussetzer hatte.
Larissa aktivierte die Überwachungstechnik; dann setzten wir uns auf die Bank und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
Uns war beiden nicht nach Reden zumute. Larissa war in Gedanken versunken, und ich hatte genug damit zu tun, jedes kleinste Geräusch und jede winzigste Bewegung in unserer Nähe zu analysieren. Mal glaubte ich das Knirschen von Schuhsohlen im Unterholz zu vernehmen, mal irgendwelche Gestalten zu sehen, die nur darauf warteten, uns in ihre schmierigen Finger zu bekommen. Manchmal kann zu viel Fantasie ganz schön nervig sein.
Die Minuten kamen mir wie Stunden vor. Ich fragte mich gerade, ob der Unbekannte uns wohl versetzt hatte, als sich die Luft um uns herum erwärmte. Es war so, als hätte jemand neben uns einen Heizlüfter aufgestellt, der uns seinen Strahl direkt ins Gesicht blies.
Wir sprangen auf. Aus dem Schatten des Tunnels löste sich eine dunkle Gestalt, die im trüben Licht der Lampe nur schwer zu erkennen war. Der Fremde (ich war sicher, dass es sich um einen Mann handelte) verharrte etwa einen Meter von uns entfernt. Ich kniff die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Aber es wollte mir nicht gelingen, einen klaren Eindruck von ihm zu bekommen. Er war wie das Bild eines schlecht eingestellten Fernsehers: Egal, wie genau man hinschaute, es wurde nie richtig scharf.
Die Gestalt löste ein unerklärliches Ekelgefühl bei mir aus. Ich spürte Schweißtropfen auf meiner Stirn, ob wegen der plötzlichen Hitze oder aus Angst, konnte ich nicht sagen.
Nur Larissa schien von dem Fremden gänzlich un- beeindruckt zu sein.
Er blieb am Rand des Lichtkegels der Lampe stehen.
»Du bist nicht allein gekommen.«
Die Stimme des Unbekannten war mit nichts zu ver- gleichen, was ich jemals gehört hatte. Sie war tief und schwarz wie die Nacht. Jeder Laut brachte mein Zwerchfell zum Vibrieren, wie ein E-Bass aus zu weit aufgedrehten Boxen. Zugleich besaß die Stimme aber auch etwas Samtiges, Weiches, das sich wie ein sanftes Tuch um meinen Körper legte. Es schmeichelte mir allerdings nicht, sondern rief ein Gefühl der Beklemmung hervor. Ich fragte mich, ob Larissa das ebenso empfand wie ich.
»Das ist mein Freund Arthur«, sagte sie.
»Er ist ein Bewahrer.«
»Na und?« So leicht ließ sich Larissa nicht einschüchtern.
Der Fremde schwieg einen Moment, so als sei er von Larissas Forschheit verblüfft. Sie schien seinem Bann nicht zu erliegen. Mir dagegen wurde immer enger um die Brust. Woher wusste der Fremde, dass ich ein Bewahrer war? Dafür gab es nur eine Erklärung: Er musste die Geschichte der Vergessenen Bücher kennen – und meine Geschichte auch. Diese Vorstellung trieb mir neue Schweißperlen auf die Stirn.
Larissas nächste Frage unterbrach meine Gedanken.
»Und wer bist du? Wie ist dein Name?«
»Dort, wo ich lebe, gibt es keine Namen und Titel«, erwiderte er. »Wir sind, was wir sind.«
»Ha!«, rief sie. »Das reicht mir nicht! Einen auf mysteriös machen, um sich um klare Antworten herumzudrücken. Da musst du dich schon etwas mehr anstrengen.«
Ich wusste, dass Larissa ihre Verwegenheit nur spielte, und bewunderte sie dafür. Sie hatte sich vorgenommen, keine Schwäche zu zeigen. Bis jetzt gelang ihr das sehr gut. Die Gestalt streckte einen Arm aus. Gleichzeitig verschwamm sie noch weiter, als würde sie sich gleich auflösen. Doch im letzten Augenblick zog der Fremde seinen Arm zurück, und sein Körper nahm wieder mehr Kontur an.
»Das sind nur Worte«, sagte er. »Und Worte bringen deine Eltern nicht zurück. Dafür braucht es Taten. Bist du bereit, diese Taten zu vollbringen?«
»Du hast also Informationen über meine Eltern?«, fragte Larissa.
»Ich habe das, wonach du nach vielen Jahren suchst«, antwortete die Gestalt.
Mir fiel auf, dass der Fremde keine Frage direkt be- antwortete.
Er hatte uns weder gesagt, wer er war, noch hatte er bestätigt, dass Larissas Eltern noch lebten. Seine Aussagen waren so verschwommen wie sein Erscheinungsbild.
»Beweise es«, sagte Larissa.
Erneut streckte die Gestalt einen Arm aus. Diesmal befand sich ein Brief in seiner Hand. Larissa griff danach, aber so schnell, wie er erschienen war, war der Umschlag auch wieder verschwunden.
»Dies ist ein Schreiben deiner Eltern an dich«, sagte er. »Du bekommst es erst, nachdem du gehört hast, was ich von dir erwarte.«
»Was verlangst du?«, fragte Larissa und ihre Stimme zitterte erstmals leicht. Der Anblick des Briefes hatte ihre Coolness sichtbar erschüttert.
»Das Buch der Wege.«
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Das Buch der Wege
war eines der Vergessenen Bücher! Der Fremde sprach den Buchnamen so selbstverständlich aus, als habe er täglich damit zu tun. Ich warf Larissa einen Blick zu. Aber ihre Augen waren nach wie vor auf ihr Gegenüber gerichtet.
»Und dafür sagst du mir, wo meine Eltern sind?«
Die Gestalt machte eine Kopfbewegung, die man als Nicken interpretieren konnte. Diesmal hielt ich nicht mehr an mich. Das Versprechen, den Aufenthaltsort ihrer Eltern zu erfahren, bedeutete nicht, dass sie noch lebten.
»Das reicht nicht«, mischte ich mich ein. »Kommen Larissas Eltern auch lebend zurück?«
Der Unbekannte drehte sich zum ersten Mal direkt zu mir hin. Bisher schien ich seiner Aufmerksamkeit nicht würdig gewesen zu sein. Zum Glück. Es war unangenehm, von ihm
betrachtet zu werden. Mein Körper fühlte sich beschmutzt an und begann, an mehreren Stellen zu jucken. Wie hielt Larissa das bloß aus? Oder spürte sie das nicht?
»Ziehst du meine Worte in Zweifel?«
Ich glaubte, in seiner Stimme ein verächtliches Lächeln mitschwingen zu hören.
»Genau das«, erwiderte ich.
»Was du uns erzählst, kann alles nur ein Haufen Lügen sein, um an das Buch der Wege zu gelangen.«
Er machte einen Schritt auf mich zu und ich wich unwill- kürlich zurück.
»Wir stehen über dem, was ihr Lüge und Wahrheit nennt«, sagte er.
Ich nahm all meinen Mut zusammen.
»Wenn das so ist, dann ist ein Versprechen von dir nicht viel wert. Woher wissen wir, dass du dein Wort auch hältst, wenn dir Lüge und Wahrheit nichts bedeuten?«
Er schwieg. Für einen Moment fürchtete ich, er würde auf mich losgehen, und trat einen weiteren Schritt nach hinten. Aber es war nur ein Flackern im blassen Licht der Lampe gewesen, das mich erschreckt hatte. Ich schämte mich, weil mich eine solche Kleinigkeit so aus der Fassung gebracht hatte.
Larissas Stimme unterbrach die kurze Stille. »Wenn du mir meine Eltern lebend wiederbringst, bekommst du das Buch der Wege.«
Wie konnte sie das nur sagen? Sie wusste doch, dass es nahezu unmöglich war, eines der Vergessenen Bücher aufzuspüren.
Einmal war es uns zwar bereits gelungen, aber wir hätten beinahe einen hohen Preis dafür bezahlt. Der Fremde stieß ein selbstzufriedenes Lachen aus.
»Eine kluge Entscheidung.«
»Und wie finde ich dich, wenn ich das Buch habe?«
»Ich werde dich
finden.«
Wie aus dem Nichts tauchte erneut der Brief in seiner Hand auf. Mit spitzen Fingern nahm Larissa den Umschlag an sich, sichtlich bemüht, ihr Gegenüber nicht zu berühren.
»Es ist eine seltene Fügung, dass zwei Menschen mit euren Fähigkeiten zusammenkommen. Darauf haben wir lange gewartet. Eine neue Zeit bricht an.«
Die letzten Worte waren nur noch ein leiser Hauch, denn die Gestalt zog sich aus dem Lichtkegel der Lampe zurück und verschmolz mit dem Dunkel des Tunnels, bis sie völlig
verschwunden war. Zugleich kühlte die Luft um uns herum merklich ab.
Larissa starrte auf den Brief in ihrer Hand. Ich räusperte mich. Sie blickte auf. Im Licht der Lampe erkannte ich Tränen in ihren Augen.
»Meine Eltern«, flüsterte sie. »Sie leben.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht hatte der Fremde die Wahrheit gesagt. Wahrscheinlicher jedoch war, dass er gelogen hatte, um sein Ziel zu erreichen. Aber konnte ich das Larissa jetzt unter die Nase reiben?
Ich schwieg und legte einfach nur meinen Arm um ihre Schultern.
So fand uns wenig später der Bücherwurm.
Copyright © 2010 arsEdition GmbH, München
Texte: ISBN 978-3-7607-5190-0
erschienen im arsEdition Verlag
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe