Leseprobe
Prolog
Ein käsiger Mond tauchte das winzige Pyrenäendorf inmitten der zerklüfteten Felslandschaft in ein fahles Licht, als sich zwei dunkle Gestalten aus der Tür des Dorf- gasthauses stahlen. Sie verharrten einen Moment regungs- los, als wollten sie überprüfen, dass niemand ihnen gefolgt war; dann huschten sie, immer im Schatten der geduckten Gebäude, um den Dorfplatz herum und verschwanden in einer Gasse.
Nach wenigen Metern erreichten sie einen Pfad am Dorfrand, der sich den Berghang entlang nach oben schlängelte. Schweigend folgten sie ihm, bis sie etwa zwanzig Meter über dem Dorf waren.
Im Mondlicht konnte man erkennen, dass es sich bei den beiden um eine junge Frau und einen jungen Mann handelte. Sie trugen schwarze Hosen und schwarze Pullover und hatten sich dunkle Wollmützen über die Haare gezogen.
Die Nacht war kalt. Ein feiner Nebel lag über der Landschaft, und der Atem der beiden Schwarzgekleideten formte kleine Schleier vor ihren Gesichtern. Der Mann zog eine große Taschenlampe aus der Tasche, die über seiner Schulter hing.
»Bist du verrückt?!«, zischte die Frau. »Was ist, wenn uns jemand sieht?«
»Wir sind weit genug vom Dorf entfernt«, erwiderte der
Mann. »Außerdem schlafen die Dorfbewohner alle. Du musst nicht so nervös sein.«
»Ich bin nicht nervös, ich bin nur vorsichtig. Wir machen schließlich keinen Vergnügungsausflug. Und ich habe nicht die geringste Lust, die nächsten Jahre in einem spanischen Gefängnis zu verbringen.«
Widerwillig stopfte der Mann die Taschenlampe wieder zurück.
»Wir können die Sache immer noch abblasen. Ich habe
sowieso kein gutes Gefühl dabei.«
»Ach, kommen jetzt wieder die Gewissensbisse?«, fragte seine Begleiterin mit sarkastischem Unterton. »Wer hat denn gesagt: Lass uns das Buch holen? So weit ich mich erinnern kann, bist du das gewesen.«
Der Mann antwortete nicht, und sie setzten ihren Aufstieg stumm weiter fort. Der schmale Pfad, dem sie folgten, wurde immer wieder von den Schatten großer Felsbrocken verschluckt, die wie gigantische Spielklötze über den Abhang des Hügels verstreut lagen. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf.
Das Heulen wurde vereinzelt von Hundegebell erwidert.
Ungefähr dreißig Meter über ihnen schälten sich aus der Felswand die Umrisse eines geduckten Gebäudes heraus.
»Das muss die Kapelle sein«, keuchte der Mann, der offensichtlich nicht sehr sportlich war und schnell außer Atem geriet.
Wenige Minuten später standen sie auf einem kleinen Plateau. Vor ihnen lag ein einfacher Steinbau, der aus grob behauenen Quadern zusammengesetzt war. Anstelle von Fenstern wiesen die Längsseiten lediglich eine Reihe von schmalen Schlitzen auf. Nur an einem kleinen Kreuz über der schweren hölzernen Eingangstür konnte man erkennen, dass es sich um eine Kirche handelte.
Die Frau rüttelte am Türgriff. Sie fluchte leise.
»Verschlossen, das war doch klar.« Verärgert drehte sie sich zu ihrem Begleiter.
»Wie kommst du darauf, dass die Türe immer offen stehen würde?«
»Das hat mir der Gastwirt beim Abendessen erzählt«, verteidigte sich der Mann. »Vielleicht klemmt sie nur?«
Die Frau versuchte es erneut.
»Die bewegt sich keinen Zentimeter.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften.
»Es könnte ein Zeichen sein«, sagte ihr Begleiter mit leiser Stimme.
»Noch haben wir die Möglichkeit umzukehren.«
»Ich fahre nicht in einem klapprigen Citroën durch halb Europa, um dann einen Meter vor dem Ziel zu kneifen!«, explodierte die Frau.
»Gib her!« Mit diesen Worten riss sie dem Mann die Tasche von der Schulter und begann darin herumzuwühlen.
»Sag bloß, du hast kein Brecheisen eingepackt?«
»Doch, doch, das liegt ganz unten, eingewickelt in einen Lappen.«
Der Mann zog seinen Oberkörper unwillkürlich etwas
zurück. Er machte eine kleine Pause. »Ich bitte dich: Du hast die Dorfbewohner heute Abend doch auch gesehen. Es sind herzensgute Menschen. Und wir wollen ihnen das weg- nehmen, was ihnen das Heiligste ist.«
»Was interessieren mich diese Bauern?«, stieß die Frau verächtlich hervor und wickelte das Brecheisen aus dem Tuch. »Ob das Buch da drin ist oder nicht, das wird sie nicht glücklicher oder unglücklicher machen. Aber uns macht es unbesiegbar!«
Sie drückte ihrem Begleiter das Brecheisen in die Hand.
»Hier, jetzt kannst du dich mal nützlich machen, statt immer nur zu jammern.«
Widerwillig nahm der Mann das Werkzeug entgegen. Er setzte es am Türschloss an und drückte den Eisenstab vorsichtig zur Seite.
»Willst du die Tür öffnen oder bloß streicheln?«, höhnte die Frau. »Jetzt zeig mal, ob du ein Mann bist oder nur ein verkümmerter Bücherwurm!«
Ihr Begleiter presste die Zähne zusammen und schluckte seine Antwort herunter. Er lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen das Brecheisen, bis ein lautes Knirschen zu vernehmen war.
Die Frau drängte ihn zur Seite und versetzte der Tür einen kräftigen Stoß mit dem Fuß. Knarrend schwang sie auf. Das Innere der Kapelle lag fast vollständig im Dunkel. Durch die schma len Fensterschlitze tasteten sich zaghaft ein paar Strahlen des Mondlichts herein, die allerdings mehr Schatten als Licht erzeugten.
Der Mann tauschte das Brecheisen gegen die Taschen- lampe und knipste sie an. Er ließ den Lichtstrahl durch den Raum vor ihnen kreisen. Viel war nicht zu sehen.
Gegenüber der Eingangstür befand sich der Altar. Davor
erstreckten sich zwei Reihen von schlichten Holzbänken, die durch einen schmalen Mittelgang getrennt waren. Die Mauern waren weiß gekalkt. In der Mitte der niedrigen Decke hing ein kleiner Käfig aus Metall, kaum groß genug für einen ausgewachsenen Kanarienvogel.
Beim Anblick des Käfigs lief dem Mann ein Schauer über
den Rücken. Er wusste zwar nicht, warum er dort hing, doch die seltsame Anwesenheit dieses Gegenstandes verstärkte sein wachsendes Unbehagen. Die Stimme seiner Beglei- terin riss ihn aus seinen Gedanken.
Sie stand bereits neben dem Altar, der aus einem einzigen Felsblock gehauen war.
»Wo bleibst du denn?!«, rief sie ungeduldig. Zögernd folgte der Mann ihr. Als er schließlich den Altar erreicht hatte, kniete die Frau bereits neben dem Steinblock und betastete seine Seiten.
»Leuchte mal her!«, kommandierte sie. Im Licht der Taschen- lampe inspizierte sie eine bestimmte Stelle des Altars. Dann lehnte sie sich befriedigt zurück.
»Es ist, wie ich gedacht habe. Nur eine einfache Steinplatte. Los, pack mit an!«
Der Mann steckte die Taschenlampe in eine Schlaufe an seinem Gürtel. In ihrem indirekten Licht sah das Gesicht seiner Begleiterin wie eine verzerrte Maske aus.
»Ich ...«, begann er, aber sie schnitt ihm sofort das Wort ab.
»Jetzt fang nicht wieder an!«, fauchte sie.
»Wir können das nicht tun«, sagte er. »Es ist nicht richtig.«
»Wenn wir jetzt aufhören, dann war alles umsonst!«, rief sie.
»Denk nur an die Macht, die wir besitzen werden. Oder die Reichtümer. Keiner wird uns widerstehen können. Keiner!«
Ihre Stimme war schrill geworden.
»Aber ...«, hob der Mann an.
»Es gibt kein Aber! Du hast es selbst gesagt: Wer die Vergessenen Bücher besitzt, wird die Welt beherrschen. Jetzt liegt das Erste dieser Bücher nur noch einen Handbreit von uns entfernt und du willst kneifen? Dann hole ich es mir eben alleine!«
Mit diesen Worten legte sie die Hände an die Steinplatte auf dem Altar und begann dagegen zu drücken. Der Mann zögerte einen Moment. Dann packte auch er mit an.
Die Platte war schwer und offenbar seit vielen Jahren nicht mehr bewegt worden, denn sie gab um keinen Zentimeter nach. Einige Minuten war nichts zu hören außer dem angestrengten Ächzen der beiden.
Der Mann wollte schon aufgeben, als sich die Platte mit einem schabenden Geräusch einige Zentimeter bewegte.
»Ha!«, rief die Frau triumphierend und drückte mit neuer Kraft dagegen. Auch ihr Begleiter spürte jetzt, wie ihn das Jagdfieber erfasste. Er mobilisierte seine letzten Kräfte, und gemeinsam gelang es ihnen, die Platte so weit zur Seite zu schieben, um mit einem Arm in die Truhe greifen zu können.
Die Frau zog ihm die Taschenlampe aus der Schlaufe und
leuchtete in den Hohlraum. Im Lichtschein erkannten sie eine kleine Holzkiste, die mit zahlreichen goldenen Ornamenten verziert war. Sie stand auf einem Sockel in der Mitte der Truhe.
Der Mann steckte seinen Arm in den Altar und betastete den Sockel, auf dem die Kiste stand.
»Leder!«, rief er. »Das muss es sein!«
Vorsichtig schob er die Holzkiste beiseite und hob den Sockel, der nur wenige Zentimeter hoch war, an. Er brauchte mehrere Versuche, um den Gegenstand durch die schmale Öffnung herauszuziehen. Schließlich lag das leder- umwickelte Paket vor ihnen auf dem Altar.
Mit zitternden Fingern klappte die Frau, die die Taschen- lampe an ihren Begleiter weitergereicht hatte, das Tuch auseinander.
Darunter kam ein großes, in dickes schwarzes Leder
gebundenes Buch zum Vorschein. In den Buchdeckel waren
eine Reihe merkwürdiger roter Zeichen eingelassen, die keinen bekannten Buchstaben glichen. Am ehesten, so fand der Mann, ähnelten die Zeichen der Keilschrift der Babylonier.
Ehrfurchtsvoll strich die Frau mit der Hand über das Buch.
Das Herz des Mannes klopfte bis zum Hals. Über acht Jahre hatten sie gearbeitet, um diesen Moment zu erleben. Und jetzt war es Wirklichkeit geworden! Sie hatten das Buch gefunden, nach dem so viele andere seit Jahrhunderten vergeblich gesucht hatten!
Die Frau kehrte zuerst in die Gegenwart zurück. »Steck es ein und dann nichts wie weg.« Sie wickelte das Buch wieder in das Ledertuch, und der Mann verstaute es vorsichtig in seiner Umhängetasche.
Ein Windstoß fuhr durch die Tür der Kapelle. Der Mann
zuckte zusammen, denn es war, als streiche ihm eine eiskalte Hand über sein Gesicht. Zugleich ertönte ein gespenstisches Quietschen. Er richtete den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Es war der Käfig unter der Decke. Der Windstoß musste ihn in Bewegung versetzt haben, denn er schaukelte leicht quietschend hin und her.
Auch der Frau war die Sache nicht ganz geheuer. Der Käfig warf wechselnde Schatten auf die Wände der Kapelle, die sich auf die beiden Eindringlinge zuzubewegen schienen.
Mit großen Schritten liefen die beiden zur Tür. Der Mann erwartete, jeden Augenblick von einem der dunklen Schatten gepackt und zurückgerissen zu werden. Aber er und seine Begleiterin erreichten unbeschadet den Ausgang und eilten den Bergpfad zum Dorf hinab.
Das Wolfsgeheul war verstummt. Merkwürdig gezackte Wolken jagten vor dem blassen Mond her. Mehrfach mussten die beiden anhalten, weil der Weg im flackernden Mondlicht nicht mehr genau zu erkennen war.
Schließlich erreichten sie die Straße, die zurück ins Dorf führte. Der Mond war inzwischen fast völlig von dunklen Wolken verdeckt. Vom Dorfrand her versuchte eine einsame Straßenlaterne vergeblich, die Nacht aufzuhellen.
»Du wartest hier«, sagte die Frau. »Ich hole den Wagen. Es wäre zu gefährlich, mit dem Buch durchs Dorf zu gehen.« Mit diesen Worten verschwand sie im Dunkel.
Der Mann ließ sich seufzend auf einem Felsen am Straßen- rand nieder. Nervös blickte er über die Schulter auf den Bergpfad zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihnen jemand von der Kapelle gefolgt war. Aber er konnte in der Dunkelheit weder etwas sehen noch hören.
Die Begeisterung, die ihn bei der Entdeckung des Buches ergriffen hatte, war völlig verschwunden. Acht lange Jahre der Vorbereitung – und jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatten, verspürte er nur eine tiefe Müdigkeit. In seiner Tasche befand sich ein Buch, dessen Inhalt den Lauf der Welt- geschichte verändern konnte. Doch der Mann sah nur das vor Gier verzerrte Gesicht seiner Begleiterin vor sich. In den letzten Monaten hatte er erfahren müssen, wie skrupellos sie handeln konnte, wenn sich ihr jemand in den Weg stellte. Wie würde das erst sein, wenn sie über die Macht des Buches verfügte?
Wollte er auch so werden? Waren Macht und Reichtum es
wert, ihnen das eigene Leben und vielleicht das vieler anderer zu opfern? Natürlich hätte er gerne die Geheim- nisse des Buches entschlüsselt. Aber es war Unrecht, es den Dorfbewohnern zu stehlen. Und in den Händen seiner Begleiterin konnte es zu einer furchtbaren Waffe werden.
Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Wenige Minuten später hörte er das Tuckern des Automotors.
Die Frau steuerte den Wagen ohne Licht. Sie hielt den kleinen Citroën genau vor ihm an und stieß die Beifahrertür auf.
Der Mann reichte ihr seine Umhängetasche und wollte gerade selbst einsteigen, als sie aufs Gaspedal trat und das Auto mit aufheulendem Motor um die Kurve verschwand.
Der Mann war durch den plötzlichen Start des Autos aus dem Gleichgewicht geraten und auf die Straße gefallen. Er richtete sich auf und klopfte sich den Staub von seiner Hose. Dann seufzte er erneut: Sie hatte also von Anfang an vorgehabt, das Buch für sich allein zu behalten und ihn zurück zu lassen. Wer die Weltherrschaft anstrebte, teilte eben nicht gern mit anderen.
Die Wolken hatten den Mond wieder freigegeben. Der Mann warf noch einen letzten Blick in Richtung des verschwun- denen Autos. Dann machte er sich langsam auf den Weg ins Dorf. Versteckt unter seiner Jacke, spürte er das raue Leder des Buches auf seiner Haut. Die Frau würde sicher bald bemerken, dass sich in der Tasche auf dem Beifahrersitz bloß ein in Stoff gewickeltes Holzstück befand. Er hatte ihr das genommen, was sie mehr als alles in der Welt begehrte.
Und er wusste, dass er von nun an eine Feindin auf Lebens- zeit hatte.
Der Bücherwurm
Mein Name ist Arthur.
Und ich bin kein Held.
Auch wenn andere wie Larissa oder der Bücherwurm das
Gegenteil behaupten – ich weiß es besser. Ich bin nur ein vierzehnjähriger Junge, der gerne Bücher liest, ab und an eine Runde am PC zockt, gern Linkin Park hört und sich abmüht, in der Schule die Kurve zu kriegen.
Aber ich bin kein Held.
Um das zu verstehen, müsst ihr meine Geschichte kennen. Und die beginnt mit dem Bücherwurm.
Meine früheste Erinnerung an den Bücherwurm reicht zurück bis in jene Zeit, als ich noch den Kindergarten besuchte.
Es war ein herrlicher Sommertag. Mein Vater hatte einen Tag frei und ich durfte ihn in die Stadt begleiten. Wir unternahmen all das, was Väter so mit ihren fünfjährigen Söhnen machen: Wir aßen ein Eis, fütterten die Enten auf dem kleinen Teich hinter dem Rathaus und fuhren zehn Mal im Paternoster des Rathauses in der Runde.
Vielleicht sollte ich euch den Paternoster kurz beschreiben, denn heute gibt es nur noch eine Handvoll davon. Ein Paternoster ist ein Aufzug, der nie anhält. Das klingt vielleicht komisch, denn wie soll man da ein- oder aussteigen? Nun, ganz einfach: Ein Paternoster hat keine Türen und fährt ganz langsam. Er besteht im Grunde aus einer Reihe aufeinandergestapelter Holzkästen, die sich langsam den Aufzugschacht empor schieben, im Keller und Dachgeschoss die Richtung wechseln und im benachbarten Schacht wieder nach unten oder oben fahren. In jedem Stockwerk hat man zwei oder drei Sekunden Zeit, um in einen der Kästen ein- oder daraus auszusteigen.
Ich weiß noch, welche Angst ich hatte, als mein Vater mir zum ersten Mal vorschlug, mit dem Paternoster durchs Dachgeschoss auf die andere Seite zu fahren. Ich stellte mir die schlimmsten Dinge vor, die dort oben passieren könnten: Ein großes, eisernes Rad, das mich zerfetzte; dunkle Gestalten, die mich aus dem Kasten herauszerrten und andere schreckliche Sachen. Aber mein Vater versicherte mir, es sei alles ganz harmlos, und so fasste ich seine Hand und drückte die Augen ganz fest zu, als unser Kasten das oberste Stockwerk passiert hatte und weiter hochfuhr.
Das leise Rumpelgeräusch, das so typisch ist für den Paternoster, wurde stärker und ich wünschte mir noch eine Extrahand, um mir auch die Ohren zuhalten zu können. Als ich meine Augen wieder öffnete, waren wir bereits auf dem Weg nach unten – und lebten beide noch.
Wir blieben in der Kabine stehen und fuhren weiter bis
ganz nach unten ins Kellergeschoss, und dieses Mal ließ ich meine Augen offen. Viel zu sehen gab es nicht. Der Paternoster rumpelte ein Stück weiter nach unten, dann bewegte er sich nach links (vor uns war im Dämmerlicht unserer Kabinenbeleuchtung die ganze Zeit nur eine langweilige Mauer zu sehen), um schließlich wieder hochzufahren. Das war alles.
Seitdem habe ich immer wieder alleine im Paternoster meine Runden gedreht, und obwohl ich wusste, dass dort oben oder unten niemand lauerte, beschlich mich doch vor jeder neuen Umrundung immer noch ein komisches Gefühl, denn schließlich könnte ja dieses Mal alles anders sein und tatsächlich ein dunkles Monster auf diejenigen warten, die glaubten, ihr Schicksal herausfordern zu müssen.
Nach der Paternosterfahrt spazierten wir durch die Stadt, bis wir einen kleinen Buchladen erreichten, der in einer Seitenstraße versteckt war. Ich kann mich noch genau daran erinnern, denn es war das erste Mal, dass ich den Laden des Bücherwurms betrat. Der Raum war, wie gesagt, nicht groß, aber voll. Jeder noch so kleine Fleck war mit Tischen oder Regalen zugestellt, und selbst in den wenigen Zwischenräumen lagen noch Stapel von Büchern auf dem Boden. Nur direkt am Schaufenster gab es eine größere Lücke; hier waren die Kinderbücher eingeordnet, mit einem kleinen Stuhl davor, auf dem die jungen Leser in Ruhe schmökern konnten.
Am Ende des Raums saß ein Mann hinter einer Theke, die
ebenfalls mit Büchern bedeckt war. Er blickte auf, als die Türklingel unseren Besuch ankündigte.
Das war der Bücherwurm.
Der Bücherwurm war bereits ein alter Mann, als ich ihn das erste Mal traf. Zumindest lebt er so in meiner Erinnerung, denn heute weiß ich natürlich, dass einem Fünfjährigen jeder Mann, der die Vierzig überschritten hat, alt vor- kommt. Vielleicht war er damals also erst 50 oder 55 Jahre alt, auf jeden Fall war er älter als mein Vater. Er hatte buschiges weißes Haar, das rechts und links von seinem Kopf abstand, und trug eine dicke Brille auf der Nase, hinter der zwei kluge blaue Augen blitzten. Seine braune Cordjacke war an den Ellbogen mit Lederflicken verstärkt und hatte ihr Verfallsdatum schon lange überschritten. Das galt auch für sein ehemals vielleicht weißes Hemd, dessen Kragen deutliche Spuren von Zersetzung aufwies.
Der Bücherwurm und mein Vater kannten sich offenbar,
denn sie begrüßten sich freundlich. Mein Vater stellte mich vor, und der Alte kam hinter seiner Theke hervor und schüttelte mir die Hand. Das brachte ihm gleich eine Handvoll Pluspunkte bei mir ein, denn die meisten Erwachsenen nahmen mich entweder gar nicht zur Kenntnis oder bedachten mich nur mit einem Kopfnicken.
Von jenem Zeitpunkt an besuchte ich den Laden des Bücherwurms mehrmals in der Woche. Ab und an kaufte ich mir von meinem Taschengeld ein Buch, aber meistens saß ich nur in der Leseecke und schmökerte. Von den Bilder- büchern arbeitete ich mich im Laufe der Jahre zu den Romanen hoch, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die Bilderbücher standen in den untersten Reihen und die Romane und Sachbücher darüber. Je mehr ich wuchs, umso höher ins Regal konnte ich greifen. Wenn andere Kinder ihr Wachstum anhand von Strichen an der Wand oder am Türrahmen verfolgten, maß ich meine Entwicklung an den Reihen des Bücherregals. Oft war außer mir und dem Bücherwurm niemand im Laden. Dann kam er zu mir herüber oder rief mich zu sich und führte mich nach und nach in die Geheimnisse seiner Bücher ein.
Neben den Neuerscheinungen, die er vorne im Laden verkaufte, gab es noch ein Hinterzimmer, das ich erst nach zwei Jahren unserer Bekanntschaft erstmals betreten durfte. Es war ein fensterloser Raum, dessen Wände komplett von Bücherregalen bedeckt waren. Im Gegensatz zu vorne waren sie allerdings nicht mit neuen, sondern mit alten Büchern gefüllt.
Das konnte man schon beim Eintreten am Geruch er- kennen, einer Mischung aus Staub, Säure und Muff, der mich mit steter Regelmäßigkeit zum Niesen brachte.
In diesem Raum zeigte sich die eigentliche Leidenschaft des Bücherwurms: die Jagd nach alten Büchern, die nicht mehr verlegt wurden und von denen es oft nur noch wenige Exemplare auf der Welt gab.
»Bücher hatten früher eine ganz andere Bedeutung als heute«, erklärte er mir einmal. »Vor der Erfindung der Buchdruckkunst wurden sie von Hand abgeschrieben, und oft gab es nur zwei oder drei Exemplare eines Buches. Weil das so viel Arbeit machte, kannst du dir vorstellen, dass nur wirklich wichtige Dinge niedergeschrieben wurden. Auch nach der Einführung der Druckerpresse waren Bücher ein seltenes und teures Gut. Meistens wurden nicht Tausende von Exemplaren gedruckt, sondern nur ein paar Dutzend.«
Bei diesen Worten nahm er einen Karton aus einem der Regale, öffnete den Deckel und hob vorsichtig ein in Plastikfolie eingeschlagenes Buch heraus. Es war in rotes Leder gebunden und mit Goldverzierungen versehen.
»Dieses Buch ist über 300 Jahre alt«, sagte er, während er es behutsam aus seiner Hülle hervorzog. Er winkte mich zu sich.
»Komm her.«
Ich stellte mich neben ihn und sah ihm dabei zu, wie er das Buch mit spitzen Fingern aufschlug. Die Seiten waren mit einer Schrift bedeckt, die ich nicht entziffern konnte. Ab und an unterbrachen Zeichnungen von Tieren oder Pflanzen den klein gedruckten Text.
»In diesem Buch steht alles, was man zum Zeitpunkt seines Erscheinens über Biologie wusste«, erklärte der Bücher- wurm.
»Es ist in altem Französisch verfasst, deshalb wirst du es kaum lesen können. Es wurde in einer Auflage von einhundert Exemplaren gedruckt und kostete damals so viel wie heute ein gut ausgestattetes Auto. Jetzt ist es ein kleines Vermögen wert.«
Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und ließ meine Finger über das Papier gleiten. Es fühlte sich rau und brüchig an, so als könne es jeden Augenblick aus- einanderfallen. Schnell zog ich meine Hand zurück.
Der Bücherwurm lachte.
»Keine Angst. So empfindlich ist das alte Schätzchen nicht. Es ist immer gut behütet worden, deshalb ist es auch so gut erhalten.«
Vorsichtig klappte er das Buch zu und schob es wieder in die Plastikhülle.
»Was machen Sie mit diesen alten Büchern?«, fragte ich.
Er stellte den Karton mit dem Biologiebuch zurück ins Regal.
»Ich verkaufe sie an denjenigen, der bereit ist, dafür den richtigen Preis zu bezahlen«, erklärte er. »Und von dem ich das Gefühl habe, er weiß zu würdigen, was ich ihm anbiete.«
Ich blickte ihn fragend an. Er zupfte seine verbeulte dunkelgrüne Cordhose zurecht, als ob sie das wieder in Form bringen könnte.
»Alte Bücher sind keine Ware wie jede andere. Sie sind Zeugen ihrer Zeit. Durch sie hören wir die Stimmen unserer Vorfahren, lernen ihre Gedanken kennen und nehmen an ihrem Leben teil. Deshalb muss man ihnen mit viel Respekt gegenübertreten. Wer zwar Geld hat, aber keinen Respekt, der ist in meinen Augen nicht würdig, sie zu besitzen.«
Ich verstand nicht wirklich, was er damit meinte. Schließlich war ich damals auch erst sieben Jahre alt. Es sollte noch einige Zeit vergehen, bis ich den Sinn seiner Worte begriff.
© Copyright arsEsition GmbH, München
Texte: ISBN: 978-3-7607-3628-0
erschienen im arsEdition Verlag
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe