Cover

Leseprobe



Die Reise





Als Paula am frühen Abend mit feuchten Händen im Café
Zentral saß, hatte sie die weiten Taschen ihrer Hose vollgestopft mit wichtigen Utensilien: eine Taschenlampe, ein Klappmesser, eine Schnur, eine kleine Flasche Wasser, und sogar zwei Müsliriegel als Notproviant hatte sie eingesteckt, für alle Fälle. Außerdem ein Bild der Tutan chamun-Statue in Karnak, das sie im Internet gefunden und ausgedruckt hatte. Und natürlich das Wichtigste: ihren Skarabäus, mit dessen magischen Fähigkeiten sie abermals auf Reisen gehen wollte. Deshalb saß sie vor ihrer eisgekühlten Cola und wartete, dass die Zeit verging. Denn sie wollte erst auf die Toilette verschwinden, kurz bevor das Café schloss, damit sie alleine und ungestört war.

Schon hatte sich der Raum geleert, und der Besitzer
schaute neugierig zu ihr herüber, während er die Gläser polierte. Paula erhob sich, ging zu ihm und bat um die Rechnung. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie im Geldbeutel kramte. Dann schlenderte sie zurück, ließ sich wieder bei ihrem Tisch nieder, trank einen Schluck und sah auf die Uhr: Fünf vor sechs! In ein paar Minuten schloss das Café. Jetzt muss der Besitzer nur noch nach hinten verschwinden, damit ich ungesehen aufs Klo kann, dachte sie. Na komm, mach schon!

Einen Augenblick später war es so weit. Der Mann hinter der Theke packte die Eisbehälter aus der Vitrine und trug sie nach hinten in die Küche. Paula sprang so schnell auf, dass sie beinahe ihr Glas umgestoßen hätte. Sie zerrte ihre Jacke vom Stuhl und hetzte nach hinten. Schwer atmend stand sie nur wenige Augenblicke später im Vorraum der Toilette.

Paula stutzte. Einige Farbkübel und eine Leiter verstellten die bemalte Wand. Aber sie wusste ja, wo sie zu suchen hatte. Paula rückte den Farbeimer zur Seite und hockte sich auf den Fliesenboden, das Gesicht zur Wand, genauso, wie sie es vor ein paar Tagen gemacht hatte. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, was sie zuletzt gedacht hatte, bevor sie so unvermutet die Reise angetreten war: Sie hatte sich, während sie dem Skarabäus über den Rücken strich,
weggewünscht, weit weg, in eine so fantastische Welt wie diese Oase, die sie auf der Wand vor sich sah.

Doch bevor sie einen erneuten Versuch unternahm,
musste sie noch für eine sichere Rückkehr nach Hause
sorgen. Paula stand wieder auf, öffnete vorsichtig das
schmale Toilettenfenster und lugte hinaus. Ja, da würde sie sich hindurchzwängen und gefahrlos in den Hinterhof springen können. Von dort würde sie durch die dunkle Toreinfahrt auf die Straße gelangen, auch wenn das Café längst geschlossen war.

Einen Augenblick später hockte Paula erneut an der
Wand, direkt vor dem gemalten Käfer, hielt den Skarabäus in der einen Hand und strich sanft mit der anderen über seine steinernen Flügel.
»Bring mich nach Karnak«, flüsterte sie. »Zu den Aus- grabungen nach Karnak!« Und vor ihrem inneren Auge
sah sie ganz deutlich die Grabungsstätte, die sie sich auf den Abbildungen genau eingeprägt hatte.



Einen Atemzug später fand sie sich wieder hinter einem
Berg von Steinen und Geröll. Um sie herum war es dunkel. Zu ihren Füßen ertastete Paula Sand. Hatte sie es tatsächlich geschafft und war nach Karnak gelangt? Zur Ausgrabungsstätte des Amun-Tempels, wo die Statue des Pharaos mit leicht erhobenen Händen auf den magischen Stein wartete? Ein leichter Wind wehte und es war unangenehm kühl. Gut, dass sie eine Jacke dabeihatte.

Vorsichtig richtete Paula sich auf. Es war so finster, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Das einzig Helle war der Himmel über ihr, der sich wie ein leuchtendes Zelt über einer düsteren Landschaft spannte. Mit zurückgelegtem Kopf blickte sie hinauf. So viele Sterne hatte sie noch nie gesehen. Aber vertraute Sternbilder, wie den kleinen Wagen oder den Orion, suchte sie vergebens. Sie musste weit weg sein, denn so einen Himmel kannte sie nicht.
Also war es tatsächlich wahr: Sie konnte mit dem Ska- rabäus durch Raum und Zeit reisen!

Paula spürte ein kribbeliges Gefühl im Magen, eine Mischung aus Aufregung und Abenteuerlust. Entschlossen schob sie den Skarabäus in die Hosentasche und knöpfte sie zu. Verlieren durfte sie ihn auf gar keinen Fall. Dann stand sie auf und lugte über den Steinhaufen. Vor ihr lag eine Tempelruine mit hohen Säulen und riesigen Gesteins- brocken rundherum; nicht weit davon duckten sich zahlreiche Zelte unterschiedlicher Art in den Sand. Dunkle Beduinenzelte mit spitzen Dächern und ausladenden Vorbauten standen neben helleren Zelten in rechteckiger Form. Alles schien ruhig zu sein. Ob sie es wagen konnte, die Taschenlampe anzuknipsen? Lieber nicht, entschied Paula. Sie atmete tief durch und machte sich dann geduckt in Richtung der Zelte auf den Weg.



Bis Paula endlich das richtige Zelt fand, hatte sie schon zahlreiche andere inspiziert. Bei einigen hatte leises Schnarchen sie davon abgehalten hineinzusehen. In andere war sie eingedrungen, hatte aber nur lange Tische vorgefunden, voll mit zahllosen Scherben. Immer wieder stand sie reglos und lauschte in die Finsternis. Aber nichts rührte sich.
Schließlich hatte sie doch Erfolg. In einem Zelt, das etwas abseits von den anderen stand, sah sie eine Statue auf einem sehr niedrigen hölzernen Tisch liegen. Vorsichtig knipste Paula die Taschenlampe kurz an, verglich die Figur mit der auf ihrem Ausdruck und huschte dann ins Innere.
Einen Augenblick verharrte sie noch an der Zeltplane,
atemlos und mit klopfendem Herzen. Da war sie also, etwas größer als ein Erwachsener, liegend aufgebahrt, aus hellem Stein.
Paula trat leise an die Steinfigur in der Mitte des Zeltes heran. Tastend erfühlte sie den Kopf mit dem helmartigen Kopfputz, die Schultern und die Arme. Ja, das mussten die Hände sein, und zwischen ihnen ... Konnte das denn möglich sein? Ihre Finger erspürten zwischen den harten, leicht porösen Händen der Statue etwas Glattes, Rundes in der vertrauten Größe. Ein Skarabäus? Schon hob sie die Taschenlampe. Aber bevor sie sie anknipsen konnte, erstarrte sie.

Knirschende Schritte kamen an der Seitenwand entlang
und ein unruhiges Licht tanzte hinter der Zeltplane. Verzweifelt blickte Paula sich um. Durch den Eingang konnte sie nicht entkommen, und im restlichen Zelt war nichts, hinter dem sie sich verstecken konnte. Bis auf die liegende Figur, die in der Mitte des Zeltes auf zwei niedrigen Blöcken aufgebockt war, war es leer. Die einzige Möglichkeit war, sich unter der Statue zu verkriechen. Atemlos tauchte Paula ab und glitt in den schmalen Raum unter der steinernen Figur. Jetzt lag sie also mit dem Rücken auf dem Sandboden, über sich die tonnenschwere Statue. Sie wagte nur flach zu atmen. Die Schritte kamen näher.
Paula konnte kaum etwas sehen, selbst als ein mickriges Licht irgendwo im Zelt aufgehängt wurde. Sie bemerkte nur staubige Männerstiefel und hörte jemanden hantieren.

Plötzlich wurde das Zelt für den Bruchteil einer Sekunde gleißend hell erleuchtet, dann war wieder überall düsteres Petroleumlicht. Paula drückte sich noch tiefer in den Sand und hielt den Atem an. Sie hörte, wie jemand mit schnellen Schritten herbeigelaufen kam.
»Um Himmels willen, was machst du denn da?«, zischte
eine heisere Stimme, während die Zeltplane zurück- geschlagen wurde. »Willst du das ganze Lager aufwecken?«
Die Stimme klang wütend: »Was musst du denn jetzt fotografieren, mitten in der Nacht? Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Bei Vollmond kann ich schlecht schlafen«, meinte der
andere in beruhigendem Ton.
»Da lässt es sich genauso gut arbeiten.«
Die Stimme klang angenehm dunkel, und der Mann, zu
dem sie gehörte, sprach langsam und bedächtig.
»Ich dokumentiere bloß alles, wie üblich«, sagte er.
Und wieder erleuchtete ein Blitz das Zelt.
»Leg endlich den Fotoapparat weg! Das hat doch Zeit
bis morgen«, forderte die heisere Stimme ungeduldig.
»Lass uns lieber überlegen, was die Inschrift bedeutet. Diese Hieroglyphen auf dem Sockel, meine ich.«
Er klang jetzt drängender.
»Wenn ich es richtig lese, lautet der erste Teil: ›Wer den magischen Stein reibt, bewirkt große Veränderung.‹ Richtig?«
Der andere brummte zustimmend, während Paula die
Ohren spitzte. Ja, diese Inschrift kam ihr bekannt vor. Jetzt wurde es interessant!
Da ertönte die heisere Stimme wieder: »Und diese Veränderung ist, wie es im zweiten Teil der Schrift heißt: ›eine Reise durch Raum und Zeit. Und eine Begegnung mit den Göttern .‹ Das kann ja nur eines bedeuten.«
Paula klopfte das Herz bis zum Hals. Was meinte er damit? Würde sie jetzt das Geheimnis erfahren?
Schon hob die krächzende Stimme von Neuem an:
»Scheinbar soll man den Skarabäus in den Händen der
Statue reiben, um mit den Göttern Kontakt aufzunehmen.«
Als der andere nicht antwortete, fuhr er fort: »Das
ist natürlich ein verlockendes Angebot.«
Eine Weile hörte man nur das Hantieren mit dem Foto- apparat, der scheinbar in eine Tasche verstaut wurde. Endlich antwortete der andere Mann. Seine dunkle Stimme klang verärgert, als er widersprach: »Das ist kein verlockendes Angebot an so jemanden wie dich oder mich. Eher ist es eine Botschaft an die Priester gewesen. Du weißt ja, dass solche Inschriften Anweisungen enthielten, wie die Statuen behandelt werden sollten.«
Seine ruhige Stimme nahm einen erklärenden Ton an.
»Die Aufgabe der Priester war es scheinbar, den Ska- rabäus in den Händen der Statue immer wieder zu reiben, um so das Fortleben des Pharaos im Totenreich zu garantieren und seine Seele dort am Leben zu erhalten. Das ist wohl mit der Reise durch Raum und Zeit gemeint und mit der Begegnung mit den Göttern. So konnte er un- sterblich ...«
»Das ist doch Unsinn«, unterbrach ihn der andere und
krächzte vor Aufregung noch mehr als zuvor.
»Ich habe da eine ganz andere Theorie.«
Unruhig scharrten seine Stiefel im Sand und wirbelten
Staub auf, nur wenige Zentimeter von Paulas Gesicht entfernt. Sie hielt den Atem an. Jetzt bloß nicht niesen, dachte sie, sonst bin ich verloren.
»Ich glaube: Nicht die Priester waren angesprochen mit
der Inschrift, sondern der Pharao selbst«, begann die heisere Stimme von Neuem.
»Er war doch der Stellvertreter der Götter auf Erden. Also musste er mit ihnen Kontakt aufnehmen können.«
Eine kurze Pause folgte, bevor er triumphierend fortfuhr: »Mal angenommen, diese Statue war im Innersten des Tempels verborgen, im Allerheiligsten, wo nur der Pharao Zutritt hatte; dann hätte er dort zu den Göttern reisen können. Ganz im Geheimen. Und ganz einfach, durch das Reiben des Skarabäus.«
Die heisere Stimme hatte einen drängenden Ton an- genommen: »Wir könnten doch mal ausprobieren, ob so eine Reise zu den Göttern möglich ist: Wir müssten nur den Skarabäus nehmen und ihn reiben. Einen Versuch wäre es wert, meinst du nicht?«
Die Verblüffung seines Gegenübers war deutlich spürbar.
»Und was suchst du in der Welt der Götter?«, antwortete die dunkle Stimme langsam und zweifelnd. »Gerade du?«
»Oh, es gäbe da schon einige interessante Dinge zu erforschen«, antwortete der andere schnell.
»Ich denke etwa an das geheimnisvolle Buch des Thot, das dieser Gott irgendwo bei Memphis vergraben haben soll. Man könnte das Versteck herausbekommen.«
Paula schluckte: Hatte sie richtig gehört? Das geheime
Buch eines altägyptischen Gottes wollte er finden?
Da erwiderte die dunkle Stimme zögernd: »Du meinst
das berühmte Buch der Magie?«
»Ja, genau daran denke ich«, kam sofort die krächzende
Antwort.
»Das Buch, das dem Besitzer Macht über die Götter verleiht.«
Eine Weile war Stille. Dann sagte die dunkle Stimme
langsam: »Wenn es aus Forschungsinteresse wäre, könnten wir über eine Reise in die Vergangenheit reden. Wir könnten auf diese Weise viel herausbekommen, zum Beispiel über die Zeit Tutanchamuns.«
Er machte eine Pause und fuhr dann fort.
»Aber du willst etwas anderes.«
Jetzt wurde er ärgerlich.
»Was du willst, ist nur Macht. Sogar Macht über die Götter!« Die dunkle Stimme klang nicht mehr so ruhig, sondern wurde immer lauter und wütender: »Das wirst du schön bleiben lassen, hörst du? Ich dulde nicht, dass unsere wissenschaftliche Arbeit so missbraucht wird. Du wirst dich nicht an dem Skarabäus vergreifen. Verstanden?«
Paula hörte das heisere Auflachen des anderen, dann entfernten sich die schweren Schritte aus dem Zelt und die Plane des Eingangs schlug hinter ihm zu.
Die dunkle Stimme aber brummte: »Du bekommst den
Skarabäus nicht! Auf gar keinen Fall. Und wenn ich persönlich dafür sorgen muss!«



Wenig später war Paula wieder allein im Zelt. Es war ganz still. Vorsichtig bewegte sie ihre steifen Glieder und schob sich Zentimeter für Zentimeter aus ihrem Versteck hervor. Dann dehnte und streckte sie sich, machte ein paar Kniebeugen, um das Blut wieder in Bewegung zu bringen, und schlich zum Eingang des Zeltes. Nichts wie weg hier, und zwar sofort!
Doch dazu kam sie nicht. Als sie nämlich aus dem Zelt
getreten war und die Plane hinter sich fest verschlossen hatte, sah sie, wie sich vom Lager her über die helle Fläche des Sandes eine Gestalt eilends näherte.

Geduckt lief Paula zur Rückseite des Zeltes. Dort kauerte sie sich eng an die Plane gepresst, keuchend und mit klop- fendem Herzen in den Schatten. Der Mond war inzwischen aufgegangen und hing wie ein Lampion voll und rund am Himmel. Ringsherum war es hell, viel zu hell. Nur der Mondschatten des Zeltes gab Paula etwas Schutz vor ungewollten Blicken.

Paula wagte einen schnellen Blick ums Eck, um zu sehen, wer auf das Zelt zugelaufen kam. Für eine kurze Sekunde erhaschte sie einen Blick auf die Gestalt. Ihr Herzschlag setzte fast aus. War das nicht ...? Seine kurzen Haare, sein heller Vollbart ... Paula stöhnte leise auf. Auch wenn sie ihn
niemals kennengelernt hatte, sie erkannte den Mann, der sich jetzt am Zelt zu schaffen machte und dann hinein- schlüpfte. Sie war sich sicher: Es war niemand anderes als Oskar Roslek, ihr verschollener Großvater.



Sollte sie nachsehen, was er im Zelt tat? Und ihm erzählen, was sie gerade mitangehört hatte? Dass zwei Männer gestritten hatten und ... Andererseits ... Paula erstarrte.
Vielleicht war er ja selbst einer der beiden Männer gewesen!
Dann konnte sie nur hoffen, dass er eine dunkle, bedäch- tige Stimme besaß. Sie schluckte: Wenn es aber genau andersherum war? Vielleicht war er ja zurück- gekehrt, um den Skarabäus zu stehlen? Dann wäre ihr Großvater so etwas wie ein Grabräuber, und mit ihm war nicht zu spaßen! Er würde sich keinesfalls durch ein zwölfjähriges Mädchen von seinem Vorhaben abbringen lassen, selbst wenn es behauptete, seine unbekannte Enkelin zu sein. Sollte sie sich nicht lieber in Sicherheit bringen?

Bevor Paula sich darüber weiter im Klaren werden
konnte, merkte sie, dass im Lager etwas vorging. Ein Affe kreischte, dann fielen andere Tiere ein. Ein Esel schrie wie eine rostige Tröte. Oder tönte so ein Kamel? Sie spähte ins Lager hinüber. Zelte wurden geöffnet, Stimmen erklangen, Menschen liefen umher. Dann wurden Fackeln angezündet und Anweisungen gerufen. Was war passiert?
Paula wusste nur, dass es für sie unmöglich sein würde, jetzt zu verschwinden. Jeder würde sie über die mondhelle Fläche weglaufen sehen. So kauerte sie weiter im Schatten des Zeltes und hoffte, dass der Spuk bald vorbei wäre. Sie lauschte angestrengt.
Als der Lärm lauter wurde, lugte sie abermals um die
Zeltecke. Zu ihrem Schrecken stellte Paula fest, dass eine Menge aufgeregter Männer direkt auf sie zukamen! Es mussten Arbeiter aus dem Lager sein. Sie riefen in einer fremden Sprache, die Paula nicht verstand, und schlugen mit Stöcken auf den Boden ein. Paula schien es, als bewegten sich kleine schnelle Schatten im Sand.
Schüsse fielen.
Paula nestelte ihr Taschenmesser aus der Hosentasche.
Mit fliegenden Händen trennte sie die Verschnürung an
der hinteren Ecke des Zeltes auf. Sie schlüpfte lautlos hinein, in der Hoffnung, von der Dunkelheit im Inneren verschluckt zu werden und am Boden kauernd alles heil zu überstehen. Vielleicht war Oskar Roslek dort drinnen ja so beschäftigt, dass er sie im allgemeinen Aufruhr gar nicht bemerkte.
Doch zu Paulas Überraschung war das Zelt leer. Ihr
Großvater war verschwunden. Und als Paula die Statue
untersuchte, wusste sie auch, warum: Er hatte den Skarabäus an sich genommen.



War er damit durch Raum und Zeit gereist, so wie sie?
Paula öffnete den Knopf ihrer Hosentasche, griff hinein und nahm ihren Skarabäus heraus. Ihre Gedanken überschlugen sich: Gab es zwei Skarabäen mit magischen
Kräften? Oder gab es nur einen, der sich durch ihre Reise in die Vergangenheit verdoppelt hatte? Verwirrt schüttelte Paula den Kopf. Das konnte sie jetzt nicht klären.

Mit einem Mal stutzte sie. Auch sie konnte doch mithilfe des steinernen Käfers jederzeit verschwinden! Sie brauchte nur den Skarabäus zu reiben und sich zurück- zuwünschen. Daran hätte sie schon längst denken können. Aber dann hielt sie inne und dachte an den Zweck ihrer Reise. Erst wollte sie noch nachsehen, ob ihr Skarabäus ...
Und schon schob sie ihn zwischen die Hände der Pharao- nen-Statue. Ja, tatsächlich, er passte wie angegossen. Es fühlte sich genauso an wie vorher, als sie im Dunklen über die Hände der Statue gefahren war. Sanft strich sie über seine Flügel und lächelte. Da gehörte er hin, eindeutig.
Aber wenn sie den Skarabäus an seinem Platz ließ, würde sie nie mehr nach Hause zurückkommen. Dann erginge es ihr nicht anders als ihrem verschollenen Großvater.
Bei diesem Gedanken seufzte Paula auf. Wie ein Schatten lag es auf ihrer Seele: Was war bloß mit Oskar Roslek passiert?



Bevor Paula den steinernen Käfer wieder aus den Händen
der Statue genommen hatte, bemerkte sie, dass ein breiter Streifen von Mondlicht ins Innere des Zeltes fiel. Die Plane des Eingangs war zur Seite gehoben worden und eine dunkle Gestalt verstellte den Blick nach draußen.
Sie erstarrte. Wer war das? War der zweite der Männer
zurückgekommen? Sie kniff die Augen zu, holte tief Luft und öffnete sie langsam wieder. Immer noch stand die Gestalt unbeweglich vor ihr. Dabei hatte Paula niemanden kommen hören. Auch draußen war es mit einem Mal ganz still geworden. Durch die geöffnete Plane sah Paula nur ein paar Sterne funkeln, und über dem Kopf der Gestalt stand, wie eine helle Scheibe, der Mond. Als das Wesen sich im Profil zeigte, erkannte Paula, dass es zwar den Körper eines Menschen hatte, mumiengestaltig mit zusammen- gebundenen Beinen, doch der Kopf war der eines Falken.
»Chons«, flüsterte sie. Konnte es möglich sein, dass der altägyptische Gott des Mondes, »der Durchwandler der Nacht«, vor ihr stand?
Das Wesen wandte ihr den gefiederten Kopf zu. Trotz der Dunkelheit meinte sie seine Augen leuchten zu sehen.
»Du hast mich gerufen«, sagte er.
Seine Stimme klang wie der Nachtwind über den Dünen.
Paula schluckte mit trockenem Mund.
Dann fuhr er fort: »Du kannst deine Frage jetzt stellen.«
Paula erinnerte sich dunkel an ihr Referat: Chons war
auch ein Orakelgott, der vieles wusste und manche Ratschläge geben konnte.
Sie überlegte: Welche Frage sollte sie ihm stellen? Es gab eine ganze Menge, was sie nicht verstand! Sie holte tief Luft: »Was ist mit meinem Großvater passiert?«, begann sie mit gepresster Stimme.
Einen Augenblick lang war Stille. Dann kam die Antwort, so kalt wie tausend Sterne: »Er hat sich am heiligen Pharao vergriffen und den magischen Stein gestohlen.«
Dann hatte Paula also richtig vermutet! Ihr Großvater hatte der Statue den Skarabäus aus den Händen genommen und war damit verschwunden!
Aber das war nicht alles, was der Mondgott zu sagen
hatte. Seine nächsten Worte klangen, als jagten dunkle
Wolken über den Nachthimmel. »Dieser Frevel musste
gesühnt werden. Deshalb hat Amun den grausamen
Apophis ins Lager geschickt. Und auf sein Geheiß hat der weise Thot deinen Großvater aus der Zeit fallen lassen.«
Paula schwirrte der Kopf: Amun? Apophis? Thot? Und
was sollte es heißen, jemanden »aus der Zeit fallen zu lassen«?
Trotz ihrer Verwirrung protestierte Paula: »Aber ... wenn er wirklich den Skarabäus genommen hat, so wollte er doch nur verhindern, dass das Buch der Magie gestohlen wird und dass jemand anderes Macht über die Götter bekommt.« Ihre Stimme klang empört: »Er hat doch die Götter geschützt durch seine Tat!«
Der Mondgott hielt den Kopf schief und sah sie mit
durchdringend leuchtenden Augen an. Dann schüttelte er
die Federn: »Das kann ich nicht entscheiden. Was zu ändern ist, weiß Thot allein. An ihn musst du dich wenden.«
»Aber ... wie finde ich ihn?«, stöhnte Paula.
»Finde deinen Großvater, dann findest du ihn«, war die
Antwort, und sie klang schon nur mehr wie ein fernes
Echo.
Paula sah, dass draußen die Dämmerung angebrochen
war und die Sterne verblassten. Auch der Mondgott wurde immer durchscheinender. Bevor er im Morgenlicht
völlig verschwand, flüsterte er noch, und es klang wie ein Hauch: »Aber geh nicht allein!«



Kurze Zeit später kauerte Paula erschöpft auf dem sandigen Boden des Zeltes, den Skarabäus in der Hand, und starrte auf die zunehmende Helligkeit vor dem Eingang: Die Morgendämmerung hatte eingesetzt. Es wurde allerhöchste Zeit!
Wenn das Wandgemälde in der Toilette des Cafés so etwas wie eine Tür war, durch die sie hierher gekommen
war, dann musste dieser Weg auch wieder zurückführen.
So hoffte Paula wenigstens, mit pochendem Herzen. Sacht strich sie dem Käfer über die Flügel und sehnte sich mit all ihrer Kraft zurück ins Café ...

Im gleichen Augenblick fand sie sich auf dem schwarzweiß gefliesten Boden der Toilette hockend wieder, den Blick wie vorher auf die bemalte Wand gerichtet, den Skarabäus in der Hand. Ihre Knie zitterten leicht, als sie aufstand.
Die Tür wurde aufgestoßen und der Caféhausbesitzer
stand vor ihr.
»So, mein Frollein, es ist gleich sechs, wir schließen jetzt.«
Mit einem Blick in ihr blasses Gesicht fragte er: »Ist dir nicht gut? Ist alles in Ordnung?«
Doch sie schüttelte nur den Kopf, ging an ihm vorbei,
durchquerte wie in Trance das Café und stolperte auf die Straße.
Draußen wurde es schon dämmrig, und sie brauchte
eine ganze Weile, um zu begreifen, was passiert war. Dann wandte sie den Blick zurück auf die große Uhr im Café, deren Zeiger gerade auf die Sechs vorrückte.
So war das also: Während sie selbst eine halbe Nacht
in Ägypten verbracht hatte, war hier gar keine Zeit vergangen!


Copyright © arsEdition Verlag


Impressum

Texte: erschienen im arsEdition Verlag ISBN: 978-3-7607-3674-7
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Leseprobe

Nächste Seite
Seite 1 /