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Bruchlinien - Eine Vorgeschichte

Er hieß Wolff, so wie andere Hirsch oder Löw, und war der Vater der Mutter meiner Mutter. Persönlich lernte ich ihn nicht mehr kennen, er war zwanzig Jahre vor meiner Geburt gestorben. Seine Fotografie hing im Wohnzimmer der Großeltern, diesem kleinen Staatszimmer, das wenig genutzt wurde. Das Bild war kurz nach 1900 aufgenommen und zeigte einen vorzeitig gealterten Dreißiger im langen schwarzen Rock. Der Urgroßvater schien am Waldrand fotografiert worden zu sein, vielleicht bei einer Landpartie. Aber das war eine Illusion, die der Fotograf in der damals üblichen Weise erzeugt hatte: Der Kunde war vor einer großen Landschaftsaufnahme im Atelier postiert worden. Vielleicht hatte der Künstler ihn auch angewiesen, wie er sich gewichtig auf den Spazierstock zu stützen habe, der ihm doch ebenso ungewohnt gewesen sein dürfte wie der feine, selten getragene Rock. Ich bewunderte immer wieder das scheinbar Natürliche dieser Pose. Der Spazierstock schien tatsächlich im Herbstlaub zu stochern.

Oft stand ich als Kind vor dem rätselhaft altertümlichen Bild des Vorfahren, betrachtete es mit Verwunderung, ließ mich von ihm anziehen. Am stärksten beeindruckte mich der an seinen Enden ein wenig herabhängende Schnurrbart. Diese Barttracht war in den Tagen meiner Kindheit ganz aus der Mode gekommen. Unter den vielen Neffen und Cousins, Großonkeln und Schwägern in unserer Verwandtschaft gab es keinen, den ein Oberlippenbart geziert hätte. Auch Vollbärte wurden, wenn ich mich recht erinnere, nicht getragen. Fern und fremd erschien mir allein schon wegen seines Schnauzers dieser Urgroßvater. Zwei Jahrzehnte später waren Schnurrbärte wieder sehr beliebt, besonders in gewissen Kreisen junger Männer, deren Geschmack für mich maßgeblich zu werden begann. Und so befremdete ich meine Eltern und Großeltern gut vierzig Jahre nach dem Tod des Alten bei einem Besuch daheim dadurch, dass ich die unterbrochene Barttradition auf einmal fortführte. Die Großmutter tröstete sich über den verfremdeten Anblick des Enkels mit der Bemerkung hinweg: „Vor dem ersten Krieg hat der Opa ja auch einen Schnurrbart getragen.“ War er der Novemberrevolution zum Opfer gefallen? Als ich ein Jahr später das nächste Mal kam, trug der Großvater, damals Mitte achtzig, nun seinerseits auch wieder den Schnauzbart. Doch mein Vater blieb standhaft bartlos, er war dafür häufig unrasiert, wenn ich sie besuchte. Ich kam damals nur über die Weihnachtstage zu ihnen, erst von Berlin und später von Hamburg aus.

Der Gesichtsausdruck des Urgroßvaters gab mir damals Rätsel auf, er ließ sich nur schwer deuten. Nicht heiter, ernst war der Mann, da irrte man wohl kaum. Würde schien er auszustrahlen – aber worauf beruhte sie? Blickte er streng? - Eigentlich nicht. Oder war er eher mild? - Das blieb ungewiss. Ich brauchte viele Jahre, bis ich die Stimmung zu erkennen glaubte, in der er sich befunden haben musste, seinerzeit vor der Kamera. Ich war selbst schon erwachsen und versuchte mir den Eindruck der alten Fotografie ins Gedächtnis zurückzurufen, da ich längst nicht mehr in jenes stille, immer ein wenig muffige Zimmer gehen konnte. Meine Großeltern waren umgezogen, das Bild war nicht wieder aufgehängt worden. In welcher Schublade es lag, wusste ich nicht. Ich sagte mir nun: Der Urgroßvater war müde, nichts weiter, das war doch ganz natürlich. Denn der Alte war kein Gutsherr und kein Kommerzienrat, trotz schwarzem Rock, Spazierstock und raschelndem Laub unter hohen Bäumen. Er war Arbeiter im Eisenwerk und ernährte damit Frau und zehn Kinder. Der Zehn- oder Zwölfstundentag war sein Alltag, seine Arbeitswoche hatte sechs Tage und oft stand er auch an einem Sonntag am Hochofen, der nicht erkalten durfte. Vielleicht war er nach einer Schicht zum Fotografen gegangen, erschöpft zwar, doch erst nach gründlicher Reinigung im Badehaus des Eisenwerks.

 

Was hat mich heute, Jahrzehnte nach der Niederschrift dieses Berichts, dazu gebracht, ihn in der kleinen Kammer aufzustöbern und wieder einmal durchzugehen? Wollte ich seinen Stil verbessern, um ihn vielleicht doch zu veröffentlichen? Mit diesen kleinen Korrekturen habe ich ja schon angefangen … Dann hole ich das alte Porträt aus dem Spalt zwischen zwei Schränken, wo es bloß aufbewahrt wird und nicht betrachtet werden kann. Ich stelle es auf meinem Schreibtisch vor mir auf – ist das der Mann, den ich aus dem Gedächtnis beschrieben habe? Seine Schnurrbartenden hängen gar nicht herab, der kleine Bart ist scharf gestutzt, bildet eine gerade Linie, so wie bei mir selbst auch. Ist die Aufnahme vielleicht doch nicht im Atelier, sondern draußen wirklich in der Natur gemacht worden – dann hätte ich die Illusion einer Illusion beschrieben. Ich kann das jetzt nicht aufklären. Der Rock ist weniger lang als in meiner Erinnerung bisher. Dieser Herr Wolff scheint mir jetzt ein Mann unbestimmbaren Alters, doch gewiss jenseits der Vierzig zu sein. Er trägt einen schwarzen Hut und sein Mund steht einen schmalen Spalt offen. Es ist ein kleingewachsener Herr, der, über irgendetwas sinnend, in die Kamera blickt. Seine Züge kommen mir ausgesprochen weich vor und ich denke daran, dass mir sanfte Männer am liebsten sind. Das gerahmte Hinter-Glas-Porträt, nach Omas Tod mir von Mama überlassen, ist schon lange in meinem Besitz und erst jetzt vergleiche ich das Bild mit der Erinnerung?

 

Der Alte war ein gottergebener Mann. Sein Wahlspruch soll gelautet haben: „Man geht immer mit der Herde, dann ergeht es einem wie der Herde.“ Ich zitiere hier die Großmutter, seine Tochter, und übersetze sie, so gut es geht, aus ihrer rheinfränkischen Mundart ins Hochdeutsche. Gern ließe ich diese Sprache selbst zu Wort kommen. Zwar fehlen ihr Wohlklang und Musikalität, doch dafür drückt sie das schlichte Behagen einfacher Leute gut aus, wie es meine Vorfahren waren. Ich beherrsche den Dialekt nicht mehr. Als ich nach Norddeutschland ging, gab ich ihn auf, wie Sperrmüll, das man auf die Straße stellt. - Zurück zum alten Wolff und seiner Schafsphilosophie. Herr der Herde, der er zugehörte, war der Freiherr von Stumm, Schwerindustrieller und Reichstagsabgeordneter, geadelt erst von Wilhelm II. Über seine Eisen- und Stahlwerke, seine Kohlengruben sowie die Arbeitersiedlungen – nur Anhängsel seiner Unternehmen – herrschte er so unumschränkt, dass man damals vom Königreich Stumm sprach. Stumm schrieb:

 

„Sollte ich jemals verhindert werden, den Arbeiter auch in seinem Verhalten außer dem Betrieb zu überwachen, so würde ich keinen Tag länger an der Spitze der Geschäfte bleiben, weil ich dann nicht mehr imstande sein würde, die sittliche Pflicht zu erfüllen, welche mir mein Gewissen vor Gott und meinen Mitmenschen vorschreibt. Ein Arbeitgeber, dem es gleichgültig ist, wie seine Arbeiter sich außerhalb des Betriebes aufführen, verletzt meines Erachtens seine wichtigste Pflicht.“

 

Auch das Königreich Stumm war also von Gottes Gnaden. Um es vor Verfall und Untergang zu bewahren, zog Stumm ein Netz von Grundsätzen und peinlichen Vorschriften über die Belegschaften seiner Werke. Jeder einzelne Arbeiter war ihnen untertan und Wolff gehorchte in allem. Wer sich vor dem fünfundzwanzigsten Geburtstag zu verehelichen gedachte, dem wurde mit unverzüglicher Entlassung gedroht; Wolff hütete sich, davor zu heiraten. Stumm duldete keine Gewerkschaften und bekämpfte die Sozialdemokratie; Wolff hielt sie auch für Teufelswerk und sich von ihnen fern. Stets befolgte er das Stummsche Gebot, sonntags zur Kirche zu gehen, falls er nicht gerade am Hochofen stand. In seiner Frömmigkeit fühlte er die Verpflichtung, reichlich zur Kollekte beizusteuern, obwohl die Ernährungslage zu Hause nicht selten kritisch war. Das Tischgebet war selbstverständlich, und Klara, die älteste Tochter, erhielt einen strengen Verweis, als sie sich einmal die Bemerkung erlaubte: „Für so einen Saufraß soll man auch noch beten!“ Die Kinder bekamen sonntags, wenn es zum Gottesdienst ging, ein paar kleine Münzen für den Klingelbeutel, die drei ältesten Schwestern jedoch behielten sie bereits für sich und kauften auf dem Heimweg davon Süßigkeiten.

Größere Sorgen als die sieben Mädchen bereitete Gustav, der intelligenteste der drei Jungen. Als er vier Volksschuljahre durchlaufen hatte, erschien eines Tages sein Lehrer in der elterlichen Wohnung. Er legte Herrn Wolff nahe, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken; Herr Wolf möge sich an dem ungewöhnlich begabten Kind nicht versündigen. Aber der Vater sah weder einen Weg noch dass dieser Weg erstrebenswert sei – sie seien und sie blieben kleine Leute und hätten für hohe Schulen kein Geld. Zehn, zwölf Jahre vergingen. Gustav begann eine Rolle in der Gewerkschaft zu spielen. Da erschien wieder eine Autoritätsperson im vierten Stock des Mietshauses in der Wilhelmstraße. Diesmal war es der Pfarrer und er hielt Herrn Wolff vor, dass Gustav sich von der Kirche abgewandt habe. Erregt stellte der fromme Protestant den Sohn zur Rede. Als er einsehen musste, wie gefestigt Gustav im Unglauben war, geriet er in Zorn: „Daran sind die Bücher schuld!“ rief er und wies auf die Gesammelten Werke Goethes und Schillers, die der Sohn auf einem Regal stehen hatte.

 

Wie glaubwürdig ist heute für mich das Bild, das Oma mit solchen Details von ihrem Vater entwarf? Sie war überzeugte Atheistin und in ihrer religionsfeindlichen Haltung stark von Opa beeinflusst. Das Platte ihrer Argumentation und das durchschimmernde ablehnende Gefühl gegenüber jedem Religiösen fielen mir schon früh auf. Dass Bibelübersetzungen bei der Übertragung einzelner Ausdrücke voneinander abweichen konnten, führten die Großeltern als Beweis dafür an, dass die Bibel eben nicht Gottes Wort, sondern Menschenwerk sei. Und Oma grauste es geradezu vor den auffallend geformten Blüten der Schwertlilien, das seien katholische Blumen, sagte sie.

Ich erinnere mich nicht, dass Oma viel emotionale Nähe zu ihren Eltern erkennen ließ. Sie, die auf jedes Geschwister stark gefühlsmäßig reagierte, bezeigte ihrer Muttter gegenüber – die uralte Frau lebte in meiner Kindheit noch – bloß höflichen Respekt. Doch in einem Punkt hatte ihr Vater ihr Mitgefühl erregt. Sie schilderte noch lange nach seinem Tod, wie erschöpft er jeweils heimgekommen sei, wenn er alle paar Wochen turnusmäßig zwei Schichten hintereinander abzuleisten hatte.

Eine bestimmte Sache, die mich bald stark interessierte, erwähnte Oma nie. Hier konnte ich mich nur an Mamas Auskünfte halten ...

 

Es konnten Frömmigkeit und loyale Gesinnung des Urgroßvaters noch einen besonderen Hintergrund gehabt haben. Möglicherweise war er jüdischer Herkunft und entweder selbst konvertiert oder der Nachkomme von Übergetretenen. Er war um 1890 aus Baden gekommen und Weiteres über seine Wurzeln war nicht überliefert. Unter Hitler ließen seine Kinder dort in Kirchenbüchern und Standesamtsregistern nachforschen. Der Ariernachweis war nicht zu erbringen.

Zu der Zeit, als der Lehrer Gustavs wegen den Urgroßvater aufgesucht hatte, war Stumm schon einige Jahre tot. Die Hüttenstadt hatte ihm inzwischen in ihrem Zentrum, also genau vor dem Werkstor und im Schatten der Hochöfen, ein steinernes Abbild errichten lassen. Die Straßenbahnen, die zur selben Zeit eingerichtet wurden, fuhren nun zum „Stumm-Denkmal“. Es steht noch immer dort, wenn auch die Hochöfen längst erloschen sind. Die Einheimischen nennen den Freiherrn von jeher „Schlacke-Karl“. Von allem, was Stumm für Krieg und Frieden produziert hatte, schien dem Volksmund Schlacke, die sich in der früher idyllischen Landschaft zu Bergen türmt, das Dauerhafteste und am meisten Kennzeichnende zu sein. War der Bildhauer ein Stümper oder ein verkappter Sozialdemokrat? Dieser Stumm ist viel weniger ein Herr als mein Urgroßvater auf jener Aufnahme. Es ist vielleicht das Denkmal eines Vorarbeiters im Sonntagsstaat, vielleicht ist es auch ein Ingenieur, der für kurze Zeit dem Hochofen den Rücken kehrt, um zuzusehen, wie der Wind die Rußwolken auf die Stadt zutreibt. Die sittliche Verpflichtung, auf die Stumm, sich so eifrig berief, spricht nicht aus diesen Zügen – eher aus jenen meines Urgroßvaters. Mit seiner schwer durchschaubaren Würde wirkte er auf mich viel vergeistigter als der banale Fabrikherr.

 

Für Mama bestand kein Zweifel an der jüdischen Herkunft ihres Großvaters. Damit verquickte und begründete sie im Gespräch und auch in Briefen ihre private Aversion gegen die Wolff-Wurzel im Stammbaum. Sie schätzte weder ihre Mutter noch deren Geschwister, sie sprach und schrieb immer wieder abschätzig von den „Wölffen“. Sie ging sogar so weit, mich aufzufordern, auf keinen Fall später etwas den Verwandten ihrer Mutter zu hinterlassen. Ihre Kritik an deren Wesen und Lebensführung war im Kern antisemitisch. Es ging zunächst ums Materielle, um Geschäftstüchtigkeit und Vermögensansammlung. Damit in Zusammenhang brachte sie auch die Lebensäußerungen: persönliches Auftreten, Reden, Anzeichen nervöser Veranlagung. Sie blendete vollkommen aus, dass die zehn Geschwister sich individuell stark unterschieden, sowohl im Charakter wie im Lebenslauf. Unklar bleibt, ob Mama sich der judenfeindlichen Klischees bediente, um ihre persönliche Abneigung gegen Verwandte zu rechtfertigen – oder ob eher der Zeitgeist ihrer Schulzeit den Blick auf sie getrübt hatte. Sie zeigte später keinerlei Sympathie für Hitler und den untergegangenen NS-Staat, doch wenn sie über jüdische Viehhändler sprach, klang es unrevidiert antisemitisch. Manchmal sagte sie, sie fürchte, im Alter ihrer eigenen Mutter ähnlich zu werden. War das ein Anzeichen von jüdischem Selbsthass - falls es ihn überhaupt gibt?

 

Hatte ich genug davon, den Anblick des Urgroßvaters zu studieren, ging ich hinüber zum Buffet. Das war ein düsteres schwarzlackiertes Möbel, in dem Schillers Gesammelte Werke standen; nicht ausgeschlossen, dass die Bände aus Gustavs Nachlass gekommen waren. Ich habe Gustav so wenig kennengelernt wie den Urgroßvater. Seine Existenz wurde mir in dem Zeitpunkt bewusst, als sie gerade aufgehört hatte. Ich war etwa vier Jahre alt, als die Großmutter einmal sonderbar aufgeregt in der Wohnung umherlief und dann schwarzgekleidet, wie ich sie noch nie gesehen hatte, das Haus verließ. Drei Tage später trug sie wieder diese seltsamen Gewänder und ging, schon weniger aufgeregt, zum Begräbnis. ihres Lieblingsbruders. Was war das: der Tod?

Ob sie nun Schillers Werke von Gustav geerbt oder sich vielleicht unter seinem Einfluss diese zehn grünen Halbleinenbände angeschafft hatten, ich sah die Großeltern nie darin lesen. Im Alter von ungefähr acht Jahren nahm ich die verstaubten Exemplare nacheinander aus dem Regal. Ich las „Die Braut von Messina“ und „Don Carlos“. Ich las langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, die ganzen langen Dialoge. Aber ich verstand kaum etwas vom Inhalt. Worum ging es nur in diesen verwickelten Angelegenheiten, die da ernsthaft und langatmig besprochen wurden, mit Ausdrücken, die mir fremd waren? Mit dem Demetrius-Fragment kam ich gar nicht zurecht und verlor infolgedessen die Lust, weiter Derartiges zu lesen. Dann ging ich zu den historischen Abhandlungen über, die ich besser verstand. Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und der „Abfall der Niederlande“ regten meine Phantasie stark an. Bald bedauerte ich, dass sich derart bunte Geschichten zu meiner Zeit nicht mehr zutrugen. Die Kurfürsten und Erzherzöge waren vollkommen, die Kaiser und Könige weitgehend ausgestorben. Als die zwei Werke ausgelesen waren, setzte ich sie fort, indem ich ähnliche Geschichten erfand und auf kleinen Notizblöcken, mir vom Kaufmann geschenkt, hinschmierte. Souverän schaltete ich mit der Staatenwelt des Absolutismus. Koalitionen entstanden, die in keinem Geschichtsbuch verzeichnet sind, der Wissenschaft unbekannte Herrscher saßen nun auf den alten Thronen. Städte wurden neu befestigt und mörderische Kriege ließ ich führen, Kriege vor allem. Hatte ich zwei- oder dreihundert Jahre Geschichte neu geschrieben, fing ich von vorn an. Große Staaten zerfielen, kleine schlossen sich zusammen zu wieder ganz anderem Verlauf. Nach einem halben Jahr verlor dieses Spiel seinen Reiz. Meine Eltern und Großeltern lasen meine Abhandlungen so wenig wie die Schillers, sie bemängelten nur, meine Handschrift sei durch diese Übungen flüchtig und unleserlich geworden.

Die seltenen Gäste in der guten Stube meiner Großeltern konnten Schillers Werke durch die dunkel getönten Glasscheiben des Buffets noch undeutlich wahrnehmen, doch der bessere Lesestoff, das wusste ich, befand sich unsichtbar hinter einer der kleinen Türen der linken Schrankseite. Hier lagen immer zwei oder drei Bände, die mein Großvater sich in der Gemeindebücherei auslieh, und hier stieß ich als Achtjähriger auf die Geschichte jener Kaufmannsfamilie aus Lübeck. Ich verschlang die siebenhundert Seiten heimlich, vor dem Buffet stehend und mit vielen mir sehr unwillkommenen Unterbrechungen. Ich wusste recht gut, dass für meine Großmutter das Lesen von Romanen eine schlechte Sache war. Worüber sie bei dem Großvater aus gewissen Gründen hinwegsah – ich komme darauf noch zurück -, das hätte sie mir gewiss nicht durchgehen lassen. Wenn ich sie also von der Küche heranschlurfen hörte, warf ich das Buch schnell in das kleine Fach und setzte die heuchlerische Unschuldsmiene auf, über die manche Kinder verfügen. Scheinbar kam ich gerade vom Fenster her, wo ich die Straße beobachtet hätte und wollte angeblich zurück in die Küche, die viel größer als das Wohnzimmer und der eigentliche Aufenthaltsraum war. Das Knarren der Schranktür wurde gewöhnlich durch das Quietschen der schlecht geölten Zimmertür überdeckt.

Die Geschichte aus Lübeck beschäftigte mich noch mehr als der Dreißigjährige Krieg. Mehr als irgendein trauriges Geschehen, das sich in diesen ereignisarmen Jahren in meiner unmittelbaren Umgebung zutrug, betrübte mich Hannos Tod. Gerdas Abreise nach Amsterdam und die Trauer der überlebenden alten Frauen in Lübeck waren für mich wirklicher als die banalen Erlebnisse mit meiner eigenen Verwandtschaft. Längere Zeit beschäftigte ich mich damit, wie die von mir so ernst genommene Familie vor dem Aussterben bewahrt werden könnte. Es gab nur eine Möglichkeit: Toni musste ein drittes Mal heiraten. Ob sie noch im gebärfähigen Alter war, darüber hatte ich allerdings schon einige Zweifel. Ich ging nicht so weit, das Werk des Nobelpreisträgers auf Notizblöcken fortzusetzen. Nur fand ich bald heraus, dass sich dieser Roman gut zur mündlichen Nacherzählung eignete. In jenem Sommer verbrachte ich Nachmittage damit, einzelnen Jungen aus der Nachbarschaft die Familienchronik der Getreidehändler in Kurzfassung vorzutragen. Wenn ich mich nicht täusche, fand ich damals größeres Interesse als später, wenn mich wieder ein Buch tage- und wochenlang nicht losließ und ich eine fremde Geschichte mit anderen teilen wollte.

 

Ein oder zwei Jahre später wurde mir klargemacht, was es mit Fiktion auf sich hat. Ein Jugendbuch hatte mich so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich mich mit einem begeisterten Brief an die Helden, eine Gruppe junger Menschen auf einem Schloss in Südfrankreich, wandte. Oma war zunächst sprachlos – das kam selten bei ihr vor -, als sie den von der französischen Post als unzustellbar retournierten Brief gelesen hatte. Versonnen schwieg sie eine Zeitlang und bereitete mir dann sichtlich ungern die aufklärende Enttäuschung: dass alles nur erfunden sei. Ich muss es gut verkraftet haben, las weiter Erzählendes und als ich mit elf oder zwölf Mitglied einer Buchgemeinschaft wurde, bestellte ich als Erstes „Buddenbrooks“. Manche Textstellen prägten sich mir bald wörtlich so tief ein, dass sie mir seitdem bei vielen Gelegenheiten sogleich in den Sinn kommen: Assez, Christian, dieses interessiert uns durchaus nicht … Er hatte sein Latein gleichfalls nicht völlig vergessen … Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen, dass er sich usw. Womöglich zitiere ich nicht ganz korrekt. Das Buch steht bei mir noch in einem Regal, aber ich bin schon lange nicht mehr so vertraut mit ihm, dass ich die Stellen rasch finden würde.

 

Mein Großvater bevorzugte sonst damals geographische Werke, die mich erst einige Jahre später zu interessieren begannen. Der alte Mann war mit den Jahren ein großer Reisender im Lehnstuhl geworden. Seine eingehende Beschäftigung mit Ländern, die er nie gesehen hatte, empfand ich als ähnlich rätselhaft wie die altertümliche Barttracht des Urgroßvaters. Das war eine Sache, die nur mein Großvater betrieb und die allen anderen in meiner Umgebung fremd war. Sie schien mir eines seiner charakteristischen Merkmale zu sein, vergleichbar dem dauernden Räuspern eines Großonkels oder der rötlichen Narbe auf dem Handrücken einer Tante. Allerdings nötigte diese Lektüre nicht allen in der Familie Respekt ab. Insbesondere meine Eltern hatten dafür nur Hohn und Verachtung übrig. Der Großvater hatte zudem noch, wie manche alten Leute, die Eigenart, immer wieder von denselben Dingen zu erzählen, wobei er stets voraussetzte, seine Zuhörer hätten von diesen Lesefrüchten noch nie gehört. In Wirklichkeit hatte er uns etwa die Geschichte von den Kaninchen in Australien schon mehr als ein Dutzend Mal erzählt. Wenn er bei der Kartoffelernte so seine Arbeit unterbrach und, sich auf die Hacke aufstützend, mit bedeutsamer Miene berichtete, wie der fünfte Kontinent ursprünglich gar keine Kaninchen gekannt habe, wie diese dann von Einwanderern, Sträflingen nämlich, eingeschleppt worden seien und sich so ungeheuerlich vermehrt hätten, dass sie von den Farmern mit außerordentlichen Mitteln hätten bekämpft werden müssen -, wenn er also dies uns längst Bekannte vortrug, das ihn viel mehr als uns zu beeindrucken schien, so prustete meine Mutter, die hinter ihm arbeitete, schon nach den ersten zwei Sätzen los. Sie äffte ihn sogar nach und griff ihm auch vor, indem sie mit fuchtelnden Armen die Jagd der Bauern auf die Tiere andeutete, während ihr Vater noch bei den Sträflingen war. Sein Schwiegersohn schwang noch verbissener als sonst die Hacke und tat, als hörte er gar nicht hin. Der Alte schien dieses unfreundlichen Reaktionen nicht zu bemerken, er erzählte mit epischer Breite weiter, bis die Kaninchenplage endlich eingedämmt war.

Seltsam, dieser Mann kam die letzten fünfzig Jahre seines Lebens nicht mehr aus seinem Nest heraus, war jedoch in seinen ersten vierzig Jahren mehr herumgekommen als alle diejenigen zusammen, die ihn auf dem Kartoffelacker verspotteten. Sein Vater, ein Bergmann, hatte ihn in eine Lehre unter Tage stecken wollen. Doch der junge Wilhelm wusste etwas Besseres und erreichte, dass er Setzer werden durfte. Kaum war er Geselle geworden, verschwand er aus unserer Gegend, ohne groß Abschied zu nehmen. Er war entschlossen, einige Jahre durch die Welt zu ziehen, zu arbeiten, wo er Arbeit finden und noch dazulernen könnte, und dort zu bleiben, wo es ihm am besten zusagen würde. Mein Großvater gehörte so zur letzten Generation von Handwerksburschen, die zu Fuß von Stadt zu Stadt wanderten. Als Mitglied der Druckergewerkschaft bekam er in jeder deutschen Stadt, in der er nicht gleich Arbeit fand, ein Handgeld der Organisation. Allerdings zog es Wilhelm vor allem ins Ausland. Da er keine Fremdsprachen beherrschte und lange Fußmärsche noch nicht gewohnt war, ging er zunächst nur ins nahe Luxemburg. Dort arbeitete er einige Monate und sparte sich den Betrag zusammen, der ausreichte, einige Wochen durch Frankreich zu ziehen und vor allem Paris kennenzulernen. Er stellte bald fest, dass ihn die Franzosen nur dann freundlich behandelten, wenn er vorgab, aus Süddeutschland zu kommen, nicht jedoch aus Preußen, dessen letzten Zipfel unsere Gegend damals bildete. Von Paris wanderte er durch Burgund in die Schweiz. Wie lange er dort blieb und ob er Arbeit fand, weiß ich nicht. Er erwähnte gelegentlich, dass er danach in Wien und Prag gearbeitet habe. Von Prag kam er nach Berlin und die Riesenstadt gefiel ihm gar nicht. Dennoch hielt er ein halbes Jahr in einer kleinen Druckerei in Friedenau durch, bis er sich wieder einmal über den Inhaber ärgerte und nach Hamburg weiterzog. Später kam er auch ins Ruhrgebiet. Etwa drei Jahre nach seinem Aufbruch erreichte er Dresden und hier gefiel es ihm am besten. Er fand die Stadt schön, die Menschen umgänglich, die Arbeit erträglich und dachte nicht mehr an Ortswechsel. Seine Militärzeit zwang ihn dazu.

Bevor er für drei Jahre in einer Kölner Kaserne verschwand, ließ er sich daheim kurz blicken, wo man erstaunt war, den Vermissten lebend wieder zu sehen. Über die Rekrutenzeit sprach er bis ins hohe Alter nur mit Empörung. Der Stumpfsinn des Kasernenlebens war ihm zuwider, den Drill der Exerzierplätze hasste er. In Köln sah er bei einer Truppenschau den Kaiser aus nächster Nähe, doch für ihn war Seine Majestät nur einer der „Potentaten“. Das war eine seiner Lieblingsvokabeln, die er beim Erzählen als Fanfarenklang herausstieß, deutlich artikuliert, lautstark, kriegerisch. Dann war die Militärzeit vorüber, Wilhelm kehrte nach Dresden zurück. Der Sommer 1914 kam. Unmittelbar nach der Kriegserklärung gingen Hunderte von Arbeitern, er unter ihnen, auf die Straße. Sie protestierten vor dem Rathaus und erklärten, nicht ins Feld ziehen zu wollen. Polizei zog auf und drohte, in die Menge zu schießen. Da zerstreuten sie sich. Wilhelm wurde eingezogen und stand vier Jahre in Frankreich. Über diese Zeit sprach er im Alter nie. Zwei seiner vier Brüder waren gefallen.

Warum ging Wilhelm nach dem Krieg nicht ein drittes Mal nach Dresden? Er hätte es gern getan, aber die Not der Zeit ließ es nicht zu. In Dresden war, wie in allen Großstädten, gegen Kriegsende gehungert worden und der Frieden besserte die Lage nur allmählich. Daheim im Bergmannsdorf besaßen die Eltern wie die meisten dort ein kleines Haus mit großem Garten. Das Haus war an eine Berglehne gebaut, der Keller war zur Straße hin Stall für eine Milchkuh, deren Futter auf dem steilen Hang wuchs. Auf der anderen Straßenseite lag der flach abfallende Gemüsegarten. Wilhelm entschied sich (nur zunächst einmal, wie er dachte) für die Milchkuh und den Gemüsegarten und sein kleines Zimmer im Dachgeschoss des Elternhauses. Der Mann war seinem Wesen nach ein Städter und sein Interesse galt den sozialen und politischen Kämpfen seiner Zeit, die vor allem in den Städten ausgetragen wurden. Nur notgedrungen freundete er sich mit einer halbländlichen Existenz an. Der alte Mann, den ich als Kind erlebte, war gleichzeitig in den großen Städten damals um 1910 und auf den Feldern meines Vaters zu Hause. Die Städte existierten so nur noch in seiner Erinnerung. Zurück ins Jahr 1919: Wilhelm fand Arbeit bei der Lokalzeitung und fuhr mit der Straßenbahn in die nahe Hüttenstadt. In dieser ersten Nachkriegszeit trat er in die KP ein.

 

Proletarisch wirkt er auch auf den Fotos aus meinen Kindertagen – ein Rentner-Proletarier in gutem Ernährungs- und Gesundheitszustand. Er lehrte mich, wie man Schnürsenkel zubindet, wie man die Zeit von der Wanduhr abliest. Als ich weiter heranwuchs, nahm sein Interesse an mir immer mehr ab. Ich war gut sechzig Jahre jünger, ich war die Zukunft, an der er nicht mehr teilhaben würde. Seine Vergangenheit? Er hatte sie überlebt, jetzt überlebte ihn allmählich unsere Gegenwart, die er nicht abzulehnen, nur ernüchtert und skeptisch zu betrachten schien. Er hätte den einzigen Enkel stark beeinflussen können, aber er blieb lieber für sich.

Einmal ärgerte ich ihn dadurch, dass ich ihm meine erste Armbanduhr vorführen wollte. Er selbst trug keine und begann zu schimpfen. Dieser Ex-Kommunist zitierte sogar Bismarck, der gesagt haben sollte: Wozu braucht ein Arbeiter eine Uhr?! Ich fiel ein weiteres Mal unangenehm auf, als ich seine falsche Aussprache des Wortes Jazz korrigierte. Bei solchen Gelegenheiten erwies sich seine philosophische Fassade als brüchig. Jetzt bin ich selbst so alt wie er damals und versetze mich leicht in ihn hinein. Geht es mir heute im Verhältnis zu den Jungen nicht ähnlich wie ihm? Dass ich keinen Enkel habe, macht es die Kalamität etwa leichter erträglich?

 

Das Jahr 1920 wurde zum großen Einschnitt. In dieses Jahr fiel das Ereignis, das Wilhelms Leben in eine ganz andere als die ursprünglich von ihm eingeschlagene Richtung abdrängen sollte. Er lernte Irma kennen und mit der Heirat begann ein Kampf um die Ziele ihrer gemeinsamen Lebensführung. Er endete mit Wilhelms vollständiger Anpassung und Unterordnung.

Bei welcher Gelegenheit der rote Setzer die drittälteste Tochter des Eisenwerkers kennenlernte, weiß keiner mehr. Ich stelle mir vor, dass es bei der Kirmes gewesen sein kann, wenn in den Obstgärten die Zwetschen reif sind und in großen Mengen zu Kuchen verarbeitet werden. Irma hatte früher den für die Kollekte bestimmten Betrag für sich behalten und dafür Süßigkeiten gekauft. Sie war auch durch Fleiß in der Schule aufgefallen, sie hatte die besten Zensuren in Schreiben und Rechnen gehabt. Doch ihretwegen hatte sich kein Lehrer zum Vater Wolff bemüht. Irma sagte später: Nach der Volksschule erlernte ich den Beruf einer Schneiderin. - Ich glaube, das traf nicht ganz zu. Sie besaß wenig Geschick für Handarbeiten, auch nicht fürs Kochen oder den Garten. Ihre Flickarbeit bot meiner Mutter so viel Stoff zum Lachen wie Großvaters Lesefrüchte. Sie wäre ganz im Rechnen und Schreiben aufgegangen, hätte man sie gelassen. Sie war wohl nur Nähmädel in einem kleinen Konfektionsbetrieb und dort mit einfachen Tätigkeiten betraut. Sie war vierzehn, als sie anfangen musste, mit ungeliebter Arbeit das Brot für sich und mit für die jüngeren Geschwister zu verdienen. Dreiundzwanzig war sie, als die Heirat den Ausweg eröffnete. In diesen neun Jahren, mitten darin vier Kriegsjahre, scheint sich ihr Weltbild geformt zu haben. Sie verglich den Wohlstand der dünnen Oberschicht vor dem Krieg mit der Armseligkeit, in der sie und ihre Leute lebten. In der kleinen, rasch wachsenden Industriestadt war das leicht anzustellen. Das Mietshaus, in dem sie aufwuchs, war nur hundert Meter vom Geschäftsviertel entfernt. Die Inhaber der Läden und kleinen Kaufhäuser lebten in den neuen Villen der Parallelstraße. Besonders beeindruckte Irma der Hauseigentümer, ein ruhiger, ausgeglichener Mann, kassierte die Miete jeden Monat persönlich. Ihm erging es nicht wie den Angestellten und kleinen Beamten, die sich am Kriegsende kaum besser standen als die vielköpfige Wolff-Familie. Der Vermieter hatte nur eine Tochter und nur einen Sohn, der das Gymnasium besuchte. Kleinbürgerliches Aufstiegsdenken wurde Irmas Richtschnur. Sie kam aus einer kinderreichen Arbeiterfamilie, ohne nennenswerten Besitz, ohne die Möglichkeit, den Kindern viel Bildung zu verschaffen. Gerade das wurde das Ideal meiner Großmutter: Besitz und Bildung, die sich innerhalb einer Familie von Generation zu Generation mehren und weitergegeben werden. Sie sah sich gewissermaßen am Fuß einer Generationentreppe, die nur durch eine Art kapitalistischer Seelenwanderung zu erklimmen war. Diese Frau wurde also des Kommunisten Wilhelm Eheweib.

 

Oma später zu mir: Ich habe immer nur SPD gewählt.

 

Mir, dem Enkel, erklärte die Großmutter auch: „Dein Opa war in seinen jungen Jahren ein lebenslustiger Mann. Es war nicht einfach, ihn zum Sparen anzuhalten. Er ging gern viel aus, und das konnten wir uns doch nicht leisten.“ Ich hörte es und dachte an ein Foto von ihnen aus den Zwanzigerjahren. Beide waren fein angezogen, sie in sehr langem schwarzen Kleid – die Mode der kurzen Rocklänge hat sich in ihrem Provinzwinkel noch nicht durchgesetzt – und von etwas Topfförmigem, Breitkrempigem behütet, er in dunklem Anzug, beide in weite schwarze Mäntel gehüllt; sie trug ihren offen. Sie lächelten beide, wie in Vorfreude auf ein Vergnügen, dem sie entgegeneilten. So bieten sie das Bild eines eleganten Paares, das Geselligkeit zu schätzen weiß. Doch dieses Foto täuscht kaum weniger als das von Irmas Vater, der statt aus dem Wald von der Schicht kam. Gewiss, Irma hielt sehr auf respektable Kleidung, sie verschaffte einem Renommee, doch der Auftritt war taktisch eher so einzuordnen: Innerlich widerstrebend hatte sie sich zu den sündhaften Ausgaben für einen solchen Abend durchgerungen und setzte dazu nun ein strahlendes Lächeln auf. Sein Glanz unterstrich gerade das Einmalige der Unternehmung. So bot sie zu meiner Zeit Nachbarskindern mit innig verklärtem Lächeln einen billigen Bonbon an.

Irma kannte in Wahrheit nur eine gesellschaftliche Verpflichtung: durch Bildung von Grundeigentum in diesem Arbeitervorort zu Ansehen zu kommen. Der Anfang schien leicht. Die Neuvermählten waren entschlossen, dort auf Dauer zu bleiben. Einer von Wilhelms überlebenden Brüdern heiratete etwa zur gleichen Zeit und die Brüder erhielten im Vorgriff auf das Erbe je zur Hälfte das Gemüseland überschrieben. Sie bauten ein Doppelhaus, von dem jede Hälfte nur ein Zimmer breit war, vorn ein kleines Wohn- oder besser Staatszimmer, hinten die geräumige Wohnküche zum Aufziehen des Nachwuchses – Wilhelm rechnete mit mindestens acht Kindern -, darüber zwei Schlafzimmer. Der Rest des Gartens ergab zwei schmale Streifen Land. Wilhelm hatte damals noch so wenig Sinn für Gartenarbeit wie Irma, und so bepflanzten sie ihren Grund mit nichts als einer Reihe von Zwetschenbäumen. In guten Jahren erbrachten sie mehrere Zentner Früchte, die zu Latwerge oder zu Schnaps verarbeitet wurden, den Wilhelm gern trank. Übrigens war es damals dort die Regel, dass ein junges Paar sich bald nach der Hochzeit ein Haus baute. Man machte vieles selbst, Nachbarn halfen, so war weniger Kapital erforderlich. Wilhelm wäre damals nicht auf den Gedanken gekommen, dass mit diesem Bau erst der Grundstock gelegt sein könnte.

Irmas weiterreichende Absichten blieben zunächst verborgen. Sie war mit dem beschäftigt, was nach dem Verständnis ihrer Mitwelt, auch dem ihres Mannes, ihre eigentliche Aufgabe war: Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Im zweiten Jahr der Ehe wurde ein Sohn geboren, den sie Wilhelm nannten. Das Kind starb als zweijähriges. Die Großeltern sprachen vor mir darüber so wenig wie über den Krieg, an dem der Großvater teilgenommen hatte. Der Verlust des Erstgeborenen war, denke ich, eine noch größere Niederlage als derjenige von vier Lebensjahren, die nutzlos im Feld vergeudet waren. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie erst das zweite Kind gewesen sei. Die kleine Ruth kam 1924 zur Welt. Am Ende dieses Jahrzehnts trug Irma ihre dritte Schwangerschaft aus, es wäre wieder ein Junge geworden. An der Totgeburt starb Irma beinahe selbst. Wilhelm, der gern viele Kinder gehabt hätte, konzentrierte die Gefühle, die für alle ausgereicht haben würden, auf die Tochter. Zwischen ihnen bestand zeitlebens ein von Verständnis und Wohlwollen geprägtes Verhältnis. Als meine Mutter den Alten später unter dem Einfluss meines Vaters kritischer sah, ging die Kritik selten über gutmütigen Spott hinaus. Irma jedoch verwand den Schock der letzten Geburt niemals. Diese Tochter war ohne eigenes Verdienst allein übriggeblieben, das war auch eine Art von Schuld. Dass die Tochter dem Vater zuneigte und in Krisen für ihn Partei ergriff, verstärkte ihre innere Abneigung noch, die das Kind früh spürte.

 

So kann ich das ohne Ergänzung nicht stehenlassen. Jahre, nachdem dieser Text formuliert worden war, verschaffte Mama mir erst das vollständige Bild. Ihre Mutter war insgesamt siebenmal schwanger gewesen, sie hatte viermal abgetrieben. Im Todeskampf, damals im Pflegeheim, soll Oma geschrien haben: Schafft mir die Kinder vom Hals! Und Mama erkannte darin eine letzte Vision der Ungeborenen.

 

Die nächste Weichenstellung kam 1926. Damals machte einer, unterwegs von der Riviera nach Sachsen, einen Umweg, Wilhelms Vorkriegsarbeitgeber aus Dresden. Er wollte ihn wieder im Betrieb haben. Für Wilhelm war das verlockend, auch Irma schien sich den Umzug vorstellen zu können. Nach ein paar Tagen kamen ihr Bedenken: Würden sie dort wieder ein eigenes Haus haben? Ihr Widerstand nahm in den folgenden Wochen zu und Wilhelm schrieb nach Dresden, er könne aus Rücksicht auf seine Frau das Angebot nicht annehmen. Irma malte uns Jahrzehnte später gelegentlich aus, mit welchen Annehmlichkeiten ihr Leben dort verbunden gewesen wäre. Man hätte sich ab und zu etwas Besonderes leisten, auch einmal ins Theater gehen und eine Operette erleben können … Da die Gefahr damit verbundener Ausgaben gebannt war, ließ sich nun in der kostenlosen Vorstellung solcher Vergnügungen schwelgen. Außerdem unterstrich Irma damit die Opferwilligkeit jener, die in ihrem Nest geblieben waren und sich nichts gegönnt hatten.

Der Besuch aus Dresden blieb nicht ganz ohne Folgen. Wilhelm lernte im Winter darauf anhand eines Buches etwas Französisch und fuhr im Sommer mit einem Nachbarn an die Côte d’Azur. Irma war klug genug, nichts dagegen einzuwenden. Die beiden Männer mieteten sich ein Zimmer in einer billigen Herberge im Hinterland und fuhren täglich mit der Lokalbahn ans Meer. Meistens saßen sie hoch über dem Wasser in den Felsen und gingen nur zum Baden hinunter. Es war kein wirklicher Badestrand, die Wellen klatschten überall gegen die Steine. Von ihrem Sitz oben überblickten sie einen längeren Küstenabschnitt und auch die belebteren Strände besser situierter Badegäste. Wilhelm dürfte sich sonderbar gefühlt haben. Diese Reise war die erste nach so vielen Jahren, eine Prämie, da er der Frau nachgegeben hatte. Ob er ahnte, dass es seine letzte überhaupt war?

In den Jahren darauf fehlte das Geld für weitere Reisen. Sie mussten wieder sparen wie am Anfang ihrer Ehe. Daran war eine Erbschaft schuld. Onkel Georg, Großonkel von Wilhelm, war nach Jahrzehnten mit Tante Lina aus Argentinien zurückgekehrt. Sie waren kinderlos und wollten ihr Leben in der Heimat beschließen. Sie kauften sich in der Straße, in der Irma und Wilhelm lebten, ein Haus, das aus dem Rahmen fiel. Es war eines der wenigen wirklich alten Häuser dort. Das Gesicht der Straße war zu meiner Zeit von den Architekturmoden geprägt, denen zwei aufeinanderfolgende Generationen gehuldigt hatten. Von den älteren Arbeiterbauernhäusern mit Blendsteinfassaden und historistischem Zierat und den Tür- und Fensterlaibungen aus Sandstein stachen die jüngeren schmucklosen, einfach verputzten Arbeiterhäuser, darunter das meiner Großeltern, unvorteilhaft ab. Das Haus der Argentinier nun war aus dem Biedermeier, damals schon hundert Jahre alt. Schmal und hoch war es, mit leicht herabgezogenem Dach über dem oberen Stockwerk, das gab ihm in meiner Vorstellung etwas Chinesisches. Als ich später, schon lange in der Fremde, die Novelle „Der Turm der fegenden Wolken“ las, stand dieses Haus wieder vor meinen Augen: weißer Putz mit dunkelgrünen Fensterläden. An diesem Haus kam mir vieles seltsam vor. Es gab keinen Flur, man gelangte durch die Haustür gleich in die Küche und von dort führt eine schmale, steile Stiege nach oben. Von der hinteren Stube überblickte man den Garten, der in eine große Wiese überging, bestanden mit hohen, alten Obstbäumen, und das Ende nicht auszumachen. Der Garten erstreckte sich außerdem noch ein Stück seitlich vom Haus, auf der anderen Seite war ein Schuppen angebaut.

Der Onkel starb im Jahr nach Wilhelms Frankreichreise und die Tante folgte ihm bald. Da überredete Irma ihren Mann, ein Darlehen aufzunehmen, die anderen Erben auszuzahlen und das alte Haus zu vermieten. Wie sie es anstellte, ihren Plan durchzusetzen? Sein Widerstand könnte groß gewesen sein. Weder seine Eltern noch seine Geschwister hatten sich verschuldet, um Häuser zu kaufen, in denen andere leben würden. Auch von den Nachbarn wohnte jeder auf seinem eigenen Grund. Mietshäuser waren dort selten. In jenen Jahren herrschte Wohnungsmangel, da im Krieg und auch danach wenig gebaut worden war. Die starken Vorkriegsjahrgänge waren dabei, Familien zu gründen und Wohnungen zu suchen. Es leuchtete Wilhelm ein, dass sie kein großes Risiko eingehen, vielmehr Vermögen bilden würden. Die Frau hatte schon das Übergewicht bei solchen Entscheidungen. Hatte er ihr nicht von Anfang an die Einteilung des Geldes übertragen und auch allen Schriftverkehr? Damit befasste er sich ungern. Und führte sie nicht ein mustergültiges Haushaltsbuch? Sie setzte sich also durch. Es kam ihm dann vielleicht seltsam vor, dass er als Einziger bei Parteiversammlungen zwei Häuser besaß. Allerdings war da noch die Hypothek, sie würden sich jahrelang einschränken müssen.

 

Was mit jenem Haus seit der Niederschrift dieses Berichts geschah: Mama erbte es, als Oma starb, und sie und Papa arrondierten das Anwesen durch Kauf des kleinen Nachbarhauses; das war noch hundert Jahre älter. Meine Eltern planten, die Häuser durch den Schuppen zu verbinden und für ihr höheres Alter herzurichten. Sie gestalteten schon die Gärten aufwändig um und zogen doch nie dort ein. Mama verkaufte alles nach Papas Tod, und das kleine Barockhaus wurde bald abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, wie er heute in jeder Eigenheimsiedlung stehen kann.

 

Die folgenden Jahre des Sparens und Abzahlens waren für Wilhelm auch Jahre mit mehr politischer Aktivität. Irma störte es nicht. Politik war Männersache und ein ziemlich billiges Vergnügen dazu. Sie verwaltete die Kasse, er bedachte die Schicksalsfragen des Landes. Manchmal nahm er sogar an Streiks teil, es kam nicht oft vor. Anfang der Dreißigerjahre zeichnete sich etwas ab, das Irma doch Sorgen machte. Unser Kohlerevier war im Versailler Vertrag vom Reich abgetrennt, für fünfzehn Jahre dem Mandat des Völkerbunds unterstellt und wirtschaftlich Frankreich angegliedert worden. Je näher der Tag der Volksabstimmung kam, in dem über die Zukunft des Gebiets entschieden werden sollte, umso erschreckender für manche Bürger die Aussicht, ins Reich heimgeholt zu werden. Im Frühjahr dreiunddreißig mussten sie sich sagen, nur zwei Jahre seien sie vor Hitler noch sicher. Der Durchzug der Exilanten erinnerte immer wieder daran, was drohte. Wilhelms Haus sah Gäste, die ein, zwei Nächte blieben: Kommunisten auf der Flucht nach Frankreich. Vor der Abstimmung kamen auch Genossen, die gegen den Anschluss ans Reich agitierten. Irma sah diese Zugvögel ungern, sie hielt sie für Vorboten des Unglücks. Sie sagte nie ein Wort gegen ihre Anwesenheit und mischte sich nicht ein, wenn die Männer diskutierten. Die Männer, dachte sie, schätzten die Lage vielleicht falsch ein. Zwar gab es im Ort viele Kommunisten, aber am 13. Januar 1935 stimmten hier wie im Ländchen insgesamt neun von zehn für den Anschluss ans Reich. Sieben Wochen später brach der Emigrantenstrom ab, die rettende Grenze war gefallen.

Irma hatte zwischen Abstimmung und Anschluss Wilhelm von seinen Exilplänen abgebracht. Kleine Leute wie sie hätten im Ausland nichts Gutes zu erwarten. Und sei er als einfaches Parteimitglied überhaupt in Gefahr? Sie waren jetzt wieder schuldenfrei. Irma schlug vor, ihre zwei Häuser mit Hypotheken zu belasten, noch ein Haus zu kaufen und das Darlehen mit den Mieteinnahmen und dem, was sie sich absparten, zu tilgen. Sie hatte schon eine Immobilie am Waldrand ins Auge gefasst, die zum Verkauf stand. Wilhelm ließ sich überzeugen, dies sei der beste Weg, die kommende Zeit zu überstehen. Sie riskierten viel, aber Irmas politisch-ökonomischer Instinkt bewährte sich. Viele von Wilhelms Genossen kamen in den Lagern um, ganze Mietskasernenviertel sanken in den Bombennächten des Kriegs in Schutt, sie jedoch überlebten und ihre Häuser waren unversehrt.

Wilhelm blieb zunächst unbehelligt. Sie nutzten die Zeit, lebten noch sparsamer als früher und tilgten das Darlehen in nur drei Jahren. Sie waren fast schuldenfrei, als Wilhelm plötzlich seine Arbeit verlor. Die Lokalzeitung entließ ihn aus politischen Gründen im Frühjahr achtunddreißig. Er bekam noch zu hören: Sei froh, wenn du nicht in einem Lager verschwindest – und bekam kein Arbeitslosengeld. Um noch billiger zu leben, zogen sie in ihr Biedermeierhaus und vermieteten den Neubau von anno zwanzig. Wilhelm bebaute den großen Garten, unterstützt von seiner Tochter. Sie hielten Ziegen und Kaninchen und versorgten sich mit vielem selbst. Die Mieteinnahmen reichten gerade aus, den Geldbedarf zu decken. Im Krieg fand Ruth Arbeit im Stahlwerk, sie wurde dienstverpflichtet. Die Rüstungsproduktion verlangte Arbeitskräfte, da nahm man auch die Tochter eines roten Setzers, der aus der Druckerei geflogen war.

Die kleine Familie überstand so Vorkriegs- und Kriegsjahre. Heimlich hörten sie das deutsche Programm der BBC. Im März fünfundvierzig marschierten die Amerikaner ein. Als die Lokalzeitung wieder erscheinen konnte, kam Wilhelm zurück an die alte Setzmaschine. Zur KP ging er nach dem Krieg zunehmend auf Distanz, dafür las er mehr als früher. Irma fand, Lesen sei viel weniger gefährlich als Politik.

 

Hier habe ich etwas aus dem Text herausgenommen. Sie sagten mir damals zu Hause auch, Opa sei der erste Nachkriegsbürgermeister des Ortes gewesen, für kurze Zeit, dann abgelöst durch einen Onkel Erich Honeckers, einen Sozialdemokraten. Ich finde im Internet keine Bestätigung dafür, nicht einmal eine vollständige Liste der Bürgermeister. Ich kann die Darstellung sozusagen nur in Klammern und mit Fragezeichen stehen lassen.

Von Mama hörte ich später noch mehr: Die KP habe vor der Abstimmung von 1935 bei ihnen im Keller eine geheime Druckerei betrieben, ein Drucker sei dazu aus Berlin angereist. Und: Erich Honeckers Vater sei im Krieg oft ins Haus gekommen, um mit ihren Eltern heimlich Feindsender zu hören.

 

So war es Irma gelungen, Wilhelm all die Jahre knapp und bei der Fahne zu halten. Skepsis löste bei ihr der Gedanke an die nächste Generation aus. Ruths Entwicklung war für sie unbefriedigend verlaufen. Schon das Poesiealbum ihrer Tochter war nicht nach ihrem Geschmack gewesen: feinziselierte Hakenkreuze und HEIL HITLER in wuchtigen Lettern unter von Ruths Kameradinnen verfassten oder abgeschriebenen Versen, die das Wesen künftiger Hausmütterchen thematisierten. Fremd war Irma die politische Radikalität ihres Mannes, die sie in Gefahr und Not bringen konnte. Sie teilte jedoch seinen schlichten Atheismus, der ihnen die Kirchensteuer ersparte, und seine handfeste Art, vor allem die materielle Welt zu betrachten. Dagegen war die Tochter gefühlsbetont und unterschied sich nicht von anderen Mädchen, die in der Hitlerzeit aufwuchsen, geprägt vom herrschenden Gedankengut. Besser, sie mäkelte nicht so oft an Ruth herum, man hatte schon von Eltern gehört, die von ihren Kindern denunziert wurden. Und dann ihr Hang zum Boden, zur Scholle! Grund und Boden waren für Irma etwas hypothekarisch Belastbares, zum Ertrag Bestimmtes, für Ruth hatten sie auch eine mythische Qualität. Sie verbrachte ihre Landjugendzeit in einem kleinen Dorf in Mittelhessen, fern von Industrie, auf einem richtigen Bauernhof, wie er daheim kaum noch zu finden. Als Wilhelm dann arbeitslos wurde, hatte er in der Tochter eine Hilfe, die vom Säen und Ernten schon mehr verstand als er selbst. Da war Irma froh, dass sie sich nur hinter Ruths Rücken über das melkende und Heu umwendende Mädchen lustig gemacht hatte. Indessen war Ruth anpassungsfähig – es gefiel ihr auch im Walzwerk.

Wie Mutter und Vater sich kennenlernten, ist mir so wenig bekannt wie bei den Großeltern. Während der Ehebund von 1920 zwei sehr unterschiedliche Charaktere vereint hatte, lag in der folgenden Generation das Übereinstimmende offen zutage. Vater und Mutter kamen zwar aus unterschiedlichen Schichten (auch dies im Gegensatz zu Irma und Wilhelm), doch sie unterschieden sich in ihren Gefühlen und den Vorstellungen von der Zukunft so wenig, dass die Ehe mit Wahrscheinlichkeit harmonisch verlaufen würde. Irma schien das erfasst zu haben, mit Misstrauen begegnete sie bald dem Verlobten ihrer Tochter. Er konnte kein Gegengewicht zu deren Neigungen bilden. Was sie über die Herkunft des künftigen Schwiegersohns erfuhr, bestärkte sie in ihrer Haltung. Sie selbst war stolz auf den materiellen Aufstieg, den sie mit Wilhelm erreicht hatte – und nun verband sich das einzige Kind mit einer Familie, die seit langem nur abgestiegen war.

Was weiß ich von der väterlichen Linie? Mein wortkarger Vater neigte nicht zum Erzählen und über seine Herkunft sprach er aus eigenem Antrieb überhaupt nicht. Meine Kenntnisse habe ich zum Teil aus abendlichen Gesprächen der Eltern. In dem schlichten Holzhaus, das wir einige Jahre bewohnten, saßen wir abends beim Schein einer Petroleumlampe in dem langen Vorraum, der Diele, Küche, Speisezimmer und Baderaum in einem darstellte. Der Vater, der langsam aß, dehnte schon damals seine Mahlzeiten gern über Stunden aus. So kaute er noch auf den letzten Bissen des Abendbrots herum, während meine Mutter bereits mit einer Handarbeit beschäftigt war. Ich saß ihnen gegenüber, eine schwarze Kladde vor mir, in der ich meine Eltern mit zwei Bleistiftskizzen porträtierte. Das Bild meines Vaters beherrschten seine Bartstoppeln, er rasierte sich nicht täglich. Darunter schrieb ich: Mon papa, ich hatte gerade in der Schule mit Französisch angefangen. Das Übungsbuch lag auf dem Tisch und gab meiner Mutter Gelegenheit, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken: „Da lernt er nun Französisch und vielleicht wird er selbst mal Schulmeister, wie dein Großvater.“ Mein Vater, an den das gerichtet war, brummte etwas Unverständliches, war vollauf mit Kauen und Schlucken beschäftigt. Meine Mutter daraufhin zu mir: „Das war dein Uropa. Morgens gab er Schule, ab dem Mittag war er auf dem Feld.“ Mein Vater hatte den Mund frei und riss die Unterhaltung an sich: „Sein Uropa … Morgens war er Schulmeister? Und mittags auf dem Feld?“ - „Klar, und dann die andere Seite, die von Menschenhaus … Du stammst ja von den Menschen ab, eine Ururoma von ihm war doch eine geborene Mensch.“ - „So, eine geborene Mensch war sie? Was du nicht alles weißt …“ Mehr war an diesem Abend nicht aus ihm herauszubekommen und meiner Mutter genügte es als Bestätigung.

 

Im Folgenden musste ich einen großen Abschnitt streichen und werde ihn jetzt neu schreiben. Da waren Sippen in der falschen Generation miteinander verbunden und Vorfahren erfreuten sich noch an Besitztümern, die tatsächlich längst in fremden Händen waren. Hatte Oma mich falsch instruiert, sich einen Dekadenzroman erdichtet? Gab es jene Mietshäuser in Augsburg überhaupt? Wer verwirtschaftete Menschenhaus? Bleiben wir bei den Fakten, die ich im Lauf der Zeit herausbekam.

 

Ich stamme tatsächlich von den Menschen ab und unter anderen noch von Hugenotten und Juden. Wobei Mensch hier etymologisch kaum mehr als das preußische „Kerl“ bedeutet, vgl. auch „das Mensch“ für Dirne. Gut, dass es das Internet gibt und man dort die „Chronik des Waldbauerngeschlechts der Familie Mensch“ nachlesen kann, ich hatte so viel durcheinandergebracht. Kein Wunder, meine Vorfahren haben auch in der Verwandtschaft herumgeheiratet, sogar einer die eigene Nichte.

Mama war es, die früh das genealogische Interesse in mir weckte. Damals fuhren wir oft im Renault, Baujahr ca. 1950, erst durch die ganze Stadt, hügelauf, hügelab und wieder hinauf und dann vom höchsten Punkt durch einen großen Wald weiter nach Süden. Unser Ziel: das Heimatdorf der väterlichen Sippe. Die Landstraße war kurvenreich, auch sie hob und senkte sich. Eine Lichtung tat sich auf mit einem Gutshof aus alten Zeiten, in ihm ein Hotel mit feinem Restaurant. Wir hielten da nie - im Unterschied zu Marika Rökk, Zarah Leander oder Max Schmeling, die waren alle Gäste gewesen. Mama sagte dann gern: „Das hat mal Vorfahren von dir gehört, von denen stammst du auch ab …“

Johann Nikolaus Mensch, geboren 1717, das ist der Früheste, bis zu ihm lässt sich die Abstammung zurückverfolgen. Er war Zimmermann, wechselte erst den Kleinstaat und bald auch den Beruf, wurde Wildaufseher beim barocken Fürsten. Mit Erlaubnis des Souveräns baute er sich in jenem Wald ein Haus, rodete rundherum, bewirtschaftete Felder und Wiesen. Die letzte Erbin, meine Ururgrossmutter, verkaufte das Hofgut als Witwe kurz vor 1900. Erst danach wurde, wie ich heute weiß, das stattliche Landhaus an der Straße gebaut, auf das gut fünfzig Jahre später meine Blicke gelenkt wurden. Mama, würde ich heute gern sagen, dieses Haus hat uns nie gehört …

Die letzte Mensch hatte einen Bauern Hussong aus dem nahen Dorf geehelicht. Die Hussongs waren zweihundert Jahre vorher als Hugenotten aus Nordfrankreich gekommen. In einem Protokoll von 1776 – ein neuer Herzog ließ sich huldigen – sind sie als Einwohner schon zahlreich vertreten. Dagegen fehlen zu meiner Überraschung die *** , deren Namen ich trage und die ich seit den Tagen der fränkischen Landnahme dort ansässig glaubte. Haben sie sich der Huldigung entzogen? Kaum anzunehmen, sie werden erst später zugewandert sein. Aber wann und woher? Das bleibt im Dunkeln. Im Adressbuch der Westpfalz von 1911 finde ich sie dann, darunter auch Papas Onkel Eugen; ich traf ihn noch an, wenn wir damals dorthin fuhren, als mürrisch-hinfälligen Mann in den Achtzigern. Fuhrmann sei er, sagt das alte Adressbuch. Der Beruf hat sich vererbt, ist mehrfach in der Sippe vertreten, wird zum Fuhrunternehmer, auch beim Holztransport aus den Wäldern. Vielleicht sind die *** wegen der Kaiserstraße gekommen, Napoleons großer Heer- und Handelsstraße, die direkte Route von Paris in Richtung auf Frankfurt.

Ein Großvater *** hat dann eine Großmutter Hussong geheiratet (von uns Oma Else genannt). Das also war das althergebracht-ländliche Milieu von Seiten des Vaters: Bauern, Fuhrleute, auch mal ein Lehrer und sogar ein Gastwirt dabei.

Oma Irma zufolge sollen meine Großeltern väterlicherseits ursprünglich vermögende Leute gewesen sein, nur hätten sie schlecht gewirtschaftet, auf zu großem Fuß gelebt. Er war Berufssoldat bei der königlich-bayerischen Armee gewesen, erst in Fürstenfeldbruck, später in Zweibrücken stationiert. Von diesem Mann, den sie so wenig wie ich kennengelernt hatte, entwarf sie ein ungünstiges Bild. Verschwenderisch sei er gewesen, unbeherrscht, alles andere als klug. Während des Weltkriegs war er der Hausmeister der heimischen Garnison. Als Feldwebel dürfte er nicht gerade üppig besoldet gewesen sein.

Hinter Omas Darstellung, der Version der richtigen Oma, witterte ich einen Roman wie von Balzac. Schon die Vorstellung, Oma Else sei als junge Frau wohlhabend gewesen, regte meine Phantasie stark an. Ich kannte sie nur als alte Frau, die von schmaler Rente lebte. Sie war alltags dürftig angezogen, trug jahrzehntealte unförmige Röcke auf, die nach Mottenkugeln rochen. Aus ihrer Glanzzeit hatte sie einige Gewohnheiten beibehalten, die für die späteren ärmlichen Verhältnisse nicht recht passten und wie ein fremder Hauch auf ihr lagen. Sie liebte es, allein in kleinen Cafés zu sitzen, sie liebte deren Torten, Baisers und das mürbe Gebäck. Brach sie zu einer dieser Expeditionen in die Welt der Bessergestellten auf, so gebrauchte sie vorher die Brennschere, die sie am Küchenherd meiner Mutter erhitzte. Sonderbares Gerät, bei dessen Handhabung sie schon etwas unsicher war. Wenn sie sich wieder einmal versengte, roch es scharf nach verbranntem Horn. Dass sie einmal etwas Besseres als wir gewesen, schien auch ans festliche Licht von Familienfeiern zu kommen. Sie nahm nicht einfach am Tisch Platz, sondern ließ sich zur Tafel geleiten und entfaltete dabei eine zitterige Grazie. Sie trank nicht bloß, sondern hielt vor Augen, was bedeutet: sein Glas zum Munde führen. Was tat es, wenn sie dabei ein wenig Wein verschüttete. Auf die Handbewegung allein kam es an, die sie von uns unterschied und die an eine hingesunkene prächtigere Zeit gemahnte. Sie hatte auch eine Art, darauf zu bestehen, beim Kaufmann mit „Gnädige Frau“ angeredet zu werden, die den Kaufmann, mit dem sie in einen Disput geraten war, allenfalls zum Lachen reizte. Dass ihr die schuldige Achtung vorenthalten wurde, kränkte sie mehr als der Grund dieses Streitgesprächs. Erbittert versuchte sie sich aufzurichten - es gelang nicht ganz, da sie schon sehr gebückt ging – und klopfte mit weit hervorragendem Handknöchel auf die Ladentheke. Gewöhnlich blieb auch jetzt der Erfolg aus und das gab ihr danach Stoff für stundenlange Selbstgespräche.

 

Mama ließ mir nach Oma Elses Tod einiges aus dem Nachlass zukommen, ein 1912 vom Kunstschreiner angefertigtes Buffet aus Eiche, dem Stil nach späthistoristisch, größer und ansehnlicher als das von Wilhelm und Irma, und Glasgefäße im Jugendstil. Diese Sachen sprachen für Gutbürgerlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ich erinnere mich auch, wie ich in ihrer letzten, verlassenen Wohnung damals den Bücherbestand durchging und staunte. Da waren Werke von Autoren, die zu lesen ich ihr nie zugetraut hätte, etwa Taschenbücher von Alberto Moravia und John Steinbeck, Neuanschaffungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Großteil der Bibliothek, die sie und ihr Mann aufgebaut hatten, war allerdings unter den Trümmern ihres Hauses aus der Zwischenkriegszeit begraben. Ich will nicht weiter vorgreifen ...

 

Um an die versunkene Zeit anzuschließen, von der ein Abglanz auf Oma Else lag, berichte ich, dass mein Vater im Frühherbst des Jahres achtzehn auf die Welt kam. Es war in den Tagen, als Hindenburg und Ludendorff den Kaiser bestürmten, einen Waffenstillstand um fast jeden Preis zu erlangen. Als er da war, brach die Revolution aus. Die entlassenen Soldaten ließen von daheim Fuhrwerke kommen, mit denen sie die Einrichtung der Zweibrücker Kaserne wegschafften. Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags musste auch Großvater Hermann, der Feldwebel, gehen, sein Heimatdorf wurde abgetrennt von Bayern wie vom Reich. Die neue Obrigkeit hatte den bisherigen Berufssoldaten zivile Existenzen zu verschaffen und verteilte sie auf die Kommunen. Hermann fand sich in dem Kontingent von Wilhelms Heimatdorf wieder. Sie stellten ihn dort vor die Wahl, ein Pöstchen auf dem Rathaus zu bekleiden oder einen auf Gemeindeland neu einzurichtenden kleinen Bauernhof zu übernehmen. Der Ex-Soldat wählte die Klitsche.

Das Terrain, auf dem der Veteran angesiedelt wurde, war seit Menschengedenken unbesiedelt gewesen, ein stark abfallender, lehmiger, wasserreicher Nordhang. Zum Teil war er von einem Wald bedeckt, der romantischen Wildwuchs und moderiges Dämmern der Tatsache verdankte, dass er moderner Forstwirtschaft nie unterworfen. So ähnlich wie um 1920 konnte es hier schon im späten Mittelalter ausgesehen haben. Am oberen Rand des Bergs stand Buntsandstein an, mit einem Steinbruch, der generationenlang Material für den Aufbau der Hüttenstadt lieferte. Für die Arbeiter war die Holzbaracke mit Steinsockel da, in der ich später einen Teil meiner Kindheit verbringen sollte. Der Steinbruch war infolge eines Konkurses an die Kommune gekommen und sie behielt ihn mit der ganzen Kuppe bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Hermann bekam nur den tiefer gelegenen Teil des Waldes sowie einige Wiesen und Felder. Auf einer Bodenterrasse in halber Höhe über dem Fluss baute man ihm ein kleines Wohnhaus und ein für das Gütchen zu groß geratenes Ökonomiegebäude. Hier wirtschaftete er nun, ohne zu Wohlstand zu gelangen, ohne viel Freude an der Arbeit. Die Hauptlast der Bewirtschaftung lag, so viel deutete mein Vater an, auf den Schultern der Frau. Zeitweise hatten sie einen Knecht. Die Heimkehr des Ländchens ins Reich und die beginnende Aufrüstung erlebte Hermann noch, war aber für eine Rückkehr zum Militär schon zu alt. 1937 starb er an Kehlkopfkrebs. Es hieß, er sei Anhänger der Sozialdemokratie gewesen.

Oma Elses Einstellung zum Boden, den sie beackerte, war nüchtern, frei von Mythischem. Sie schickte sich ins Unabänderliche mit jenem Fatalismus, den sie, anders als bei kleinlichem Alltagsstreit, in Existenzfragen immer spüren ließ. Gleichmütig trieb sie Vieh auf die Weide oder erntete Kartoffeln. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit geschulterter Hacke zielstrebig langsamen Schrittes auf den Acker zog und nach der Arbeit in müdem Trott heimkehrte.

Wenn sie in jenen hoffnungsarmen Jahren von ihrem Anwesen auf den gegenüberliegenden Südhang blickten, hatten sie ein Gut mittlerer Größe vor sich, das an Menschenhaus erinnern konnte. Hinter diesem Hügel lag am Oberlauf des Flusses, der weiter unten die stinkenden Abwässer der Eisenhütte aufnahm, eine kleine alte Stadt. Sie war seit Jahrhunderten der Verwaltungsmittelpunkt der Gegend, nur durch die Industrialisierung immer mehr in den Schatten der Hüttenstadt geraten. Ein wuchtiges Gebäude im neoromanischen Stil überragte das verschlafene Städtchen, das in den 1870er Jahren erbaute Lehrerseminar, das die Volksschulen mehrerer Landkreise mit Schulmeistern versorgte. Auch mein Vater sollte Lehrer werden, Lehrer und Landwirt, wie sein Großvater. Doch er bestand die Aufnahmeprüfung nicht. Als er seiner Schulpflicht genügt hatte, blieb er auf dem Hof und wuchs in die Rolle hinein, die sein Vater vielleicht nicht ganz hatte ausfüllen können. Ein Jahr lang besuchte er eine Landwirtschaftsschule und ihr verdankte er neben praktischen Kenntnissen eine ausgeprägte Theoriefeindlichkeit. Alljährlich im Sommer erinnerte er sich gewisser Lehren, um gegen sie zu verstoßen. Die Wiesen sollten früh gemäht werden, dann sei das Heu besonders gehaltreich und im Spätsommer könne man an die zweite Mahd gehen? So hielten es auch, ohne die Schule besucht zu haben, immer schon die Bauern der Umgebung. Mein Vater erklärte es trotzdem für graue Theorie. Ihm genügte eine Mahd, die möglichst große Mengen erbringen sollte und daher gewöhnlich in den entweder heißen oder verregneten Juliwochen erfolgte. Tatsächlich wäre er – klein, schmächtig und ohne ausreichend Hilfskräfte – zu zweimaligem Schnitt kaum imstande gewesen. Gegenüber seinen Lehrern zeigte er sich bei aller Kritik erstaunlich anhänglich. So besuchte er einmal mit meiner Mutter und mir einen von ihnen, der schon im Ruhestand lebte. Der alte Lehrer freute sich über die seltenen Zuhörer. Mein Vater ließ ihn ausgiebig reden, lächelte fein, stand in der unterwürfigen Haltung des mittelmäßigen Schülers herum und mokierte sich auf der Heimfahrt über ihn: „Alles schön und gut in der Theorie, aber das sind ja doch keine Praktiker.“

 

War die nichtbestandene Aufnahmeprüfung sein Ur-Schock gewesen? Ich kam dort später ohne Mühe an und brachte die Jahre leicht hinter mich. Aus dem alten Lehrerseminar war nach dem Krieg ein Aufbaugymnasium geworden und das beruhigte mich lange. Ich wusste, dass mein Vater in meinem Alter dort durchgefallen war – hatte Oma mir das gesteckt? -, und ich spürte, dass er meine guten Zeugnisse mit gemischten Gefühlen betrachtete. Gut, dass es zwei verschiedene Bildungsgänge waren … Später, mein Vater war schon tot, erfuhr ich, dass die Anstalt wiederholt den Charakter gewechselt hatte. Sie war in der Zwischenkriegszeit schon Aufbaugymnasium gewesen, um nach 1945 vorübergehend wieder als Lehrerseminar zu dienen.

 

In seinen jungen Jahren absolvierte mein Vater nicht nur eine Bildungsreise, es waren deren gleich fünf. Ihnen war gemeinsam, dass alle gen Osten führten und sein Enthusiasmus dabei in dem Maß abnahm, in dem sie, wie er meinte, seinen Horizont doch erweiterten. Bildungsreisen waren längst nicht mehr auf Angehörige adliger oder bürgerlich-wohlhabender Kreise beschränkt. Wie solche Reisen im Lauf der Generationen abliefen, hing nicht nur von wechselnden geistigen Strömungen ab, es erlaubt auch Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Lage der Reisenden und den Grad der Freiheit, den ihnen die Gesellschaft einräumte. Großvater Wilhelms Zug über die Landstraßen zwischen Paris und Prag, Hamburg und Wien passt zum großen Aufbruch der Jugend seiner Zeit, wies in der Rückbesinnung auf alte Handwerkerherrlichkeit auch konservative Züge auf und endete auf den Schlachtfeldern Frankreichs, wo ein Teil der Generation verblutete. Für diese Art fahrender Existenz waren, soweit es die Vorkriegszeit betrifft, offene Grenzen und der Verzicht der Staaten, stärker in die Arbeitswelt einzugreifen, die wesentlichen Voraussetzungen. Ganz anders war die Lage, als mein Vater jung war. Als Angehöriger des Nährstandes genoss er hohe öffentliche Wertschätzung und war gleichzeitig in seiner persönlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Dem Achtzehnjährigen, der ans Herumziehen dachte, wäre es kaum möglich gewesen, abseits des väterlichen Hofs Arbeit zu finden. Glücklicherweise entsprachen seine Neigungen den von Staats wegen erwünschten. Mein Vater wollte die östlichen Provinzen kennenlernen, in denen die Landwirtschaft tatsächlich noch dominierte und nicht nur mehr in der Propaganda. Er verabredete mit zwei Schulkameraden eine Reise durch das Reich in seiner längsten Ausdehnung. Sie radelten vom Südwesten in den Nordosten. Da er später nie davon erzählte, behielt ihre Tour für mich etwas Sagenhaftes. Immerhin konnte ich mir die vielen Fotos in seinem Vorkriegsalbum ansehen. Da posierten sie etwa am Leipziger Völkerschlachtdenkmal, wo das Trio auf ein Sims geklettert war, um sich aufnehmen zu lassen. Ein anderes Bild zeigte sie vor dem in Bronze gegossenen Elch von Gumbinnen; Mama sagte mir, das liege in Ostpreußen. Zwei von ihnen, ernst blickend, darunter mein Vater, bildeten mit sich berührenden Schultern die Basis für den Dritten, der war hinaufgeklettert, hielt über ihnen breitbeinig das Gleichgewicht, ein lachender Triumphator.

Als bald nach dieser Reise der Großvater gestorben war, konnte mein Vater nur noch kurze Zeit auf dem Hof mitarbeiten. Seine zweite Reise in den Osten stand bevor. Diesmal fuhr er auf Staatskosten und Ziel war eine Kaserne in Döberitz in der Mark. Wie es scheint, nutzte mein Vater seine Militärzeit nicht dazu, die nahe Hauptstadt näher kennenzulernen. Wenn ich später in den West-Berliner Jahren zu Besuch kam, fragte er gern nach meinen Eindrücken von Döberitz. Dabei kannte ich den Ort an der Bahnstrecke nach Hannover nur aus der Zugfensterperspektive, die Kasernen blieben unsichtbar. Ich konnte es lange nicht begreifen: Mein Vater schien sich lieber an Döberitz als an die Landwirtschaftsschule zu erinnern. Liebevoll sprach er vom „Barras“, rühmte dessen Fähigkeit, junge Männer an Disziplin zu gewöhnen und daran, Entbehrungen zu ertragen. In Döberitz hatte begonnen, was ich zu einem Zeitpunkt, da sie sich bei ihm aufzulösen begann, als eine Ästhetik des Mangels auffasste. Wie tief musste es ihn befriedigt haben, dass seine engen Grenzen nun allen Altersgenossen gezogen waren. Die Erziehung zum Mangel währte freilich etwas länger, als er für unbedingt notwenig gehalten hätte. Der Überfall auf Polen verschob den Zeitpunkt seiner Rückkehr auf den Hof auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft.

Treblinka, Maidanek, Auschwitz – Orte des Schreckens, deren Namen wir niemals vergessen dürfen ... Oft las ich diesen Text auf dem Mahnmal am Berliner Wittenbergplatz, wenn ich, dreißig Jahre nach dem Polenfeldzug, abends zu Fuß von der Uhlandstraße zu den Schwulenbars an der Kleiststraße ging. Dann war mir gegenwärtig, dass mein Vater zu der Zeit, als diese Orte des Schreckens in Polen eingerichtet wurden, selbst in Polen gewesen war. Vielleicht war ich über die Lager besser unterrichtet als er. Ich verdankte es auch einem jungen Lehrer, der uns Primanern den schweren Stoff auf seine spröde, scheinbar unbeteiligte Art wirklich nahebrachte. Indem er seine eigenen Gefühle verbarg, standen wir allein dem Geschehen gegenüber und nicht den Reaktionen eines Erwachsenen auf sie. Mein Großvater schränkte in den sechziger Jahren das Lesen ein und ersetzte es zum Teil durch Fernsehen. Der Alte schaltete fast alles ein und so konnte ich den Eichmann-Prozess bei ihnen daheim verfolgen. Bei den Eltern gab es kein Gerät und ich wagte nicht, meinen Vater nach Auschwitz zu befragen, nach seinem Wissen darüber. Seine seltenen Bemerkungen über den Krieg ließen mich vermuten, er betrachte ihn aus einer Perspektive, die Gaskammern und Völkermord ausschloss. Dafür rühmte mein Vater an den Menschen Osteuropas deren Bedürfnislosigkeit. Die Not dieser Völker, gerade auch die im Krieg, geriet ihm zu einer Idylle eigener Art. Sie kamen ohne Strom und fließendes Wasser aus, betrieben keine übertriebene Hygiene und benutzten ihre hölzernen Essgeschirre mehrmals, ohne sie nach jeder Mahlzeit abzuwaschen. Das alles sollte uns, meiner Mutter und mir, zum Vorbild dienen. Wenn ich meinen Vater so reden hörte, fragte ich mich: Hatten die Deutschen den Krieg verloren, da sie zu viel Seife verbrauchten? Mein Vater stand zwei Jahre in Polen (Bildungsreise Nr. 3) und drei Jahre in Russland (Bildungsreise Nr. 4) und war dann noch vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft (Bildungsreise Nr. 5). Ich kannte die Ergebnisse von alledem – mein Vater hatte keinen Einfluss mehr auf meine Lebenspläne, als ich sechzehn war.

 

Später wurdest du nachsichtiger. Du sahst dir bei deinen seltenen Besuchen daheim den kranken alten Mann an, der nur noch wenig und immer dasselbe aß und seine Tage auf dem Küchensofa verdämmerte. Diese atmende Totenmaske … Wie miserabel war seine Lage gewesen mit achtzehn, mit fünfundzwanzig, mit dreißig, im Unterschied zu deiner im selben Alter. Er hatte insgesamt wenig Glück gehabt, auch nicht mit dir, der du den Anblick nie lange aushieltest und dich in sprachlosem Mitleid abwandtest.

 

Auf der Suche nach Inhalten, die als positiv empfunden werden können und mein Ansehen als objektiver Erzähler stützen, geriet ich auf das Phänomen der unbedingten Treue. Sie hatte sich erwiesen und bewährt. Die Großeltern lebten fast sechs Jahrzehnte eng miteinander verbunden, obwohl sie nicht in idealer Weise zusammen passten. Meine Eltern lernten sich zum Beginn des Krieges oder etwas früher kennen und blieben sich während der acht Jahre, in denen sie sich nur in großen Abständen jeweils bloß für wenige Tage sahen, vollkommen treu. In der Mitte dieses langen Zeitraums heirateten sie. Es war bei seinem letzten Heimaturlaub, Anfang vierundvierzig. Dann dauerte es bis ins Jahr achtundvierzig, ehe sie sich wiedersahen. Mein Vater erschien verändert, gealtert, er sprach höchstens fünfzig Wörter am Tag. Doch ihre Beziehung war gerade durch den Zeitablauf noch viel fester geworden und stand nie mehr in Frage. Heute mache ich mir klar, was es bedeutet, dass meine Mutter in ihrem Leben nur einen einzigen Partner gehabt hat. Die Treue erscheint mir auf einmal in einem anderen Licht. Ich kann sie nicht länger als Ausdruck einer Entscheidung von sittlicher Größe ansehen, sondern eher als Ergebnis eines Mangels an Gelegenheit. Die Treue ergab sich nicht aus der Natur meine Eltern, sie war ihr Schicksal. Auf wen hätten sich die Wünsche meines Vaters in Sibirien richten können, wenn nicht auf die ferne Frau? Welche Möglichkeiten des Vergleichs boten sich meiner Mutter in dem von Männern entblößten Land? Krieg und Gefangenschaft waren der günstige Nährboden für eine romantische Liebe im Stil des 19. Jahrhunderts. Es ist wahr, nie trübte ernstlicher Streit dieses scheinbar beneidenswerte Glück. Doch bei näherem Hinsehen bemerkt der Betrachter den langen Schatten, den es wirft und der aus Kontaktarmut, vor allem auf Seiten der Frau, und weitgehender sozialer Isolierung besteht. Je älter ein solches Paar wird, umso kleiner wird sein Bekannten- und Freundeskreis. Die innere Bindung nimmt dann nicht mehr an Gehalt zu, dafür zerstört sie allmählich die Fähigkeit, auf andere einzugehen. Je näher der Zeitpunkt rückt, an dem anstelle des Paares ein einzelner Überlebender steht, umso weniger können sie sich dieses neue Leben vorstellen. Sinnvoll auszufüllen vermögen sie es nur in seltenen Fällen.

 

Und ist dir denn der Gegenentwurf gelungen? Das darf bezweifelt werden!

 

Als mein Vater aus der Gefangenschaft heimkehrte, hatte seine Staatsangehörigkeit inzwischen wieder einmal gewechselt. Frankreich hatte gleich nach dem Krieg erneut die Hand auf das Kohlerevier gelegt, unser Ländchen war ein zweites Mal internationalisiert worden. Eine Volksabstimmung war nach den Erfahrungen des Jahres fünfunddreißig nicht mehr vorgesehen. Wer sich, schuldbewusst oder nicht, an sein Votum für den Anschluss damals erinnerte, verspürte vorerst noch wenig Neigung, das Schicksal der Volksgenossen im Reich wieder zu teilen. Sie hungerten – bei uns war bald nach Kriegsende eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln in Gang gekommen. Das zivile Leben normalisierte sich rasch. So war die Lage, als meine Mutter ein Jahr nach Heimkehr des Gatten eine Früh- und Totgeburt hatte. Man verschwieg mir jahrzehntelang, dass ich nicht die Erstgeburt gewesen war. Unbekanntes Geschwister – warst du der ältere Bruder, den ich mir in jungen Jahren erträumte?

Ich selbst wurde in jenen Frühlingswochen gezeugt, in denen drüben im Reich der neue westliche Teilstaat installiert wurde. Der erste Boom begann sich dort bald zart zu regen. Bis zu meiner Geburt verfinsterte sich der politische Horizont erneut. Auch die kleinen Leute konnten begreifen, dass immer noch oder schon wieder Krieg war, kalter Krieg diesmal. Und als ich geboren wurde, war er gerade in einen neuen heißen übergegangen. Der Koreakrieg befand sich auf seinem ersten Höhepunkt. Ich vermute, dass meine Familie die Geburt mehr aus privatem Blickwinkel betrachtete. Genau genommen handelte es sich um mehrere unterschiedliche Perspektiven, die weniger mit mir als mit den unerfüllt gebliebenen Lebensplänen der einzelnen Familienmitglieder zu tun hatten. In diesen voneinander abweichenden und sich durchkreuzenden Erwartungen lag die erste schwere Hypothek, die dem neuen ahnungslosen Menschlein aufgebürdet wurde. Warte nur ein wenig, bald sollst du erfahren, was sie dir bestimmt haben.

Übrigens scheint es, dass ich wenig Neigung verspürte, überhaupt zur Welt zu kommen. Die Hausgeburt verlief so kompliziert, dass meine Mutter danach meinte, auf weiteres Gebären besser verzichten zu sollen.

 

Die frühe Kindheit erscheint später als eine seltsame Schattenwelt. Undurchdringliches Dunkel liegt über dem größten Teil der Landschaft jener scheinbar endlosen Jahre. Wie langsam die Zeit damals verfloss ... An einigen Stellen weicht die Finsternis der tiefbraunen Tönung alter Landschaftsbilder, die im Lauf von Jahrhunderten stark nachgedunkelt sind. Die Grundstimmung ist noch wahrzunehmen, aber die Einzelheiten sind kaum zu unterscheiden. Die Erinnerung bleibt unscharf. Dann jedoch stoßen wir auf seltene Momente großer Klarheit. Ein starkes Licht, dessen Herkunft unbekannt bleibt wie auf barocken Gemälden, erhellt die Situation von damals und zeigt Personen und Konturen in voller Schärfe. Zu diesen Plätzen kehrt die Erinnerung immer wieder zurück, ohne zu wissen warum. So bleibt das Erinnerte unverstandene Episode, mag es sich auch um den Schlüssel zu allem Verständnis handeln.
     Wie alt bin ich an jenem entferntesten Punkt, zu dem die Erinnerung noch gelangen kann? Ich sehe mich als Dreijährigen auf einem kurzen Spaziergang. Mutter und Großmutter haben mich bei der Hand genommen und führen mich in ihrer Mitte. Neben uns geht mein Großvater und raucht Pfeife. Mein Vater scheint zu fehlen. Wahrscheinlich hat er gearbeitet. Wir gehen sehr langsam vom Haus meiner Großmutter zum Bahnhof unseres Vorortes, dafür braucht man fünf Minuten. Eine schon heiße Frühlingssonne scheint von einem heiteren Himmel. Straßenstaub tanzt im Sonnenlicht. Die kleinen Häuser an der Straße sind schmutzig grau. In der Nähe ist die Einfahrt zu einem Eisenbahntunnel. Wenn die Dampflokomotiven die Wagen bei der Ausfahrt mit Volldampf wieder anziehen, stoßen sie große Rauchwolken aus. Die Züge verschwinden schon hundert Meter nach dem Bahnhof in einem Tunnel. Vor der Einfahrt gibt die Lokomotive ein kurzes gellendes Signal und stößt dabei eine kleinere Rauchwolke aus. Daher sind alle Fassaden in der Umgebung rußgeschwärzt.

Genau neben der Tunneleinfahrt steht das Haus eines Bekannten meiner Großeltern. Der Mann arbeitet im kleinen Vorgarten. Er harkt die Erde um die wenigen Tulpen, sie blühen rot oder gelb. Während die Erwachsenen mit dem Nachbarn plaudern, kann ich mich von den Händen losmachen. Ich trete dicht an das Gärtchen heran, betrachte die Blumen aus der Nähe und klatsche vor Vergnügen in die Hände. Die Großen werden aufmerksam. Der Nachbar greift zu einer Schere und schneidet eine rote Tulpe für mich ab. Die Großen bedanken sich für mich. Ich darf die Blume tragen, während wir weitergehen, und empfinde große Freude. Wir gehen noch bis zum Bahnhof und kehren dort um. Die Szene verschwindet in völligem Dunkel.
     Warum gerade diese Erinnerung? Ja, ich liebe Blumen und arbeite gern im Garten, ich fahre auch gern Eisenbahn ... Aber es gelingt mir nicht wirklich, hinter das Geheimnis des Erinnerungsbildes zu kommen. Vielleicht bedeutet es die Neigung zum ästhetischen Lebensvollzug, wie sie mir später mal einer vorgeworfen hat. Mir scheint, viele Deutungen sind möglich, auch solche, die mich unangenehm berühren könnten. Mir bleibt nur die Vermutung, dass unsere früheste Erinnerung nicht zufällig ist. Vielleicht enthält sie im Kern schon unser Wesen und seine Entwicklung in der Zeit.

"Mach Licht, Frau", sagte mein Großvater oft in der Abenddämmerung, "wir können noch lange genug da oben im Dunkeln liegen." Mit oben war nicht das himmlische Jerusalem gemeint, an das sie beide nicht glaubten, sondern unser hochgelegener Friedhof.
     Den besten Blick auf den Friedhof hatte man vom Bahnhof aus. War das Jenseits nur per Reise ohne Wiederkehr zu erreichen? Wenn man vom Bahnsteig nach Norden blickte, sah man in den schwarzen Mund einer Tunnelöffnung wie in das Ofenloch eines Krematoriums. Davon löste sich der Blick und glitt den steil ansteigenden Hang aufwärts. Er war mit Dornengebüsch bewachsen, unzugänglich und von der weiß verputzten Leichenhalle im neoromanischen Stil gekrönt. Ein Aussichtscafé konnte nicht schöner liegen. Die Kuppe, die die Eisenbahn im Tunnel unterfuhr, war ein einziges Gräberfeld. Seit fünf Generationen bestatteten die Einwohner da ihre Toten. Meine Großeltern hatten mir wiederholt gesagt, sie würden auch einmal dort liegen. Der Gedanke war mir unbegreiflich. Ich war noch niemals durch den Tunnel gefahren …

… und träumte immer wieder denselben Angsttraum. Darin spaziere ich vom Bahnhof zum Haus der Großeltern. In Höhe des Tunnelmundes, gerade unterhalb der Feierhalle, nähert sich mir ein von zwei braunen Pferden gezogener Leichenwagen. Es ist ein einfacher Pritschenwagen ohne Verdeck, wie ihn die Bauern zum Transport von Rüben benutzen. Wie mich die Pferde sehen, fallen sie gleich in scharfen Galopp. Der Leichenwagen holpert und schlingert, der Sarg springt auf und nieder. Ich weiche zurück, voll Entsetzen, zu spät: Die Pferde bäumen sich auf und setzen an, mich niederzutrampeln. Schon spüre ich ihre Hufe - und erwache, von tiefem Schrecken erfüllt.

Beim Aufwachen stürzte ich eines Nachts aus dem Bett und renkte mir das Schultergelenk aus. Danach trat meine Großmutter mit mir die Reise zu einer Wunderheilerin an. Sie hatte einen sagenhaften Ruf und war doch nur eine geschickte Heilpraktikerin. Rasch und schmerzlos wurde das Gelenk von ihr eingerenkt. Meine Großmutter jedoch spürte die geheimnisvolle Kraft, die von jener Schamanin ausging, als sie mich berührte. Jahrelang noch pries sie die wundersame Heilung in bewegten Worten. (Auch Atheisten neigen manchmal zum Wunderglauben.)

Auf dieser Fahrt nach Norden hatte ich erstmals den Tunnel unter dem Friedhof durchfahren - und ich war zurückgekehrt! Ich war also genesen, wenigstens was die Schulter betraf. Und der Traum mit dem Leichenwagen kehrte auch nicht wieder. Dafür träumte ich nun andere Angstträume.

Unser gewöhnlicher Spaziergang zum Bahnhof und der Blick zur hochgelegenen Leichenhalle verbanden sich in meiner Vorstellung bald mit dem Ende der Frau Klein, einer Nachbarin aus unserer Straße. Meine Großmutter hatte sich mit ihr angefreundet, besuchte sie häufig und nahm mich gelegentlich mit. Wenn ich nicht im Garten vor der hohen, mit Efeu bewachsenen Mauer spielte, saß ich mit ihnen gelangweilt in der Stube. Sie unterhielten sich sehr lebhaft und, wie mir bald auffiel, in oft gehässigem Ton über andere Nachbarinnen. Sie schienen sich sehr gern zu mögen, besonders meine Großmutter ließ es an heftigen Gefühlsausbrüchen nicht fehlen. „Liebe Frau Klein“, konnte sie dann mit so lauter Stimme ausrufen, dass es auch draußen Vorübergehende noch hören konnten, „der Himmel allein weiß, was wir aneinander haben!“ Solche Bekenntnisse hinderten sie allerdings nicht, sich, wenn sie anderswo Besuch machte, abfällig über jene Frau Klein zu äußern. Meine stumme Gegenwart war auch kein Hindernis für sie, den dunklen Punkt (oder Fleck) in Frau Kleins Lebensumständen immer wieder ans Licht zu ziehen und recht grell zu beleuchten. „Ja, warum heiratet sie ihn denn nicht?“ war die wiederkehrende rhetorische Frage. Noch ehe man antworten konnte, gab sie, zwei Tonlagen höher, selbst die Antwort: „Weil sie die schöne Kriegerwitwenpension nicht verlieren will!“ Frau Klein lebte nämlich, wie viele Frauen ihrer Generation, deren Männer im Krieg gefallen waren, mit einem Mann zusammen, der seinerseits die Frau in den Zeitwirren verloren hatte. Sie ließen ihren Bund jedoch nicht im Register des Standesamts eintragen und hatten dafür vielleicht noch andere Gründe als die sonst sichere Schmälerung der gemeinsamen Einkünfte. Heute, Jahrzehnte später, ist die moralische Entrüstung dieser braven Leute kaum noch zu verstehen. Damals war es etwas Revolutionäres, wenn eine anständige Bürgersfrau, die man von Kindesbeinen auf gekannt hatte, als reife Frau und Witwe in wilder Ehe lebte. Einer Hergelaufenen hätte man leichter verziehen, das Verhältnis hätte zu den beschränkten Vorstellungen von den bedenklichen Sitten Entwurzelter gepasst. So aber saß meine Großmutter im Wohnzimmer der Frau Klein, schwur heilige Freundschaftseide und blickte durchs Fenster auf den eigenen Garten drüben, den sie bald in einen Bauplatz verwandeln wollte. Das würde wieder ein Abrackern und Knausern geben … Wie gut es doch dieser Frau Klein ging.

 

Jetzt kann ich mir diese Straße und wie sie heute aussieht im Internet anschauen – Google Streetview. Ein Vierteljahrhundert nicht mehr dagewesen! Nr. 80 ist der Neubau aus meinen Kindertagen, sieht kaum verändert aus, ein Nachkriegsgebäude, etwas in die Jahre gekommen. Aber das schmale Biedermeierhaus daneben – Nr. 78 – zeigt deutlich fortgeschrittenen Verfall. Hier hat sich all das abgespielt, wovon meine Mutter sprach und schrieb: die Besuche von Honecker senior, um gemeinsam Feindsender zu hören, die KP-Druckerei im Keller … Als mein Vater zurückkam, zog die vergrößerte Familie zurück in die Doppelhaushälfte von 1920; da war mehr Platz. Das junge Paar wohnte im Oberstock. Ich blicke auf die sanierte Fassade von Nr. 70 – so hübsch war das früher nicht – und weiß: Da oben bist du auf die Welt gekommen. Ich werde mir über meine Gefühle nicht klar.

 

Einige Zeit darauf wusste die halbe Straße, dass Frau Klein an Darmkrebs litt. Meiner Großmutter war es unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut worden und dieses Siegel zu erbrechen, war das natürliche Bedürfnis meiner Großmutter. Ihr Leben war arm an großen Ereignissen. Traten Umstände ein, die ihrer Sensationslust dienten, kannte sie keine Rücksichten. Nach meiner wundersamen Heilung erlebten wir nun das Voranschreiten der unheimlichen Krankheit. Mehrmals wöchentlich besuchte sie die Kranke und versorgte danach die Nachbarschaft mit grausigen Bulletins. Meine Nähe nahm sie dabei zum Vorwand, ihre gewöhnliche Stimme in ein dramatisches Flüstern zu verwandeln. Es hätte jedoch einer schwerhörig sein müssen, um es nicht noch im letzten Winkel des Raumes zu verstehen. Die einzelnen Symptome des körperlichen Verfalls wurden peinlich genau beschrieben. Ich ekelte mich, ich ängstigte mich. Frau Klein erschien mir bald als bedrohliches Monstrum. War ihre Krankheit ansteckend? Hatte sie Schuld daran? Meine Großmutter formulierte es nicht so – und ich wagte nicht, sie danach zu fragen -, ich fühlte nur, dass es ihr auch um diese beiden Punkte ging.

Seit längerem war es meine Aufgabe gewesen, Frau Klein wöchentlich mit einem Dutzend frischer Eier vom Gütchen meines Vaters zu beliefern. Nun weigerte ich mich, sie weiter hinzubringen. Man schickte mich mit harten Worten zu der Kranken. Ich stolperte glücklich auf der Treppe zum Vorgarten der Frau Klein, zerbrach mehrere Eier und kehrte um. Ich brauchte nicht mehr hinzugehen. Zufällig begegnete ich der Kranken noch einmal. Ich ging eben die Straße hinunter, als sie, wohl auf dem Weg zum Arzt, in den Wagen ihres Hausgenossen stieg. Sie erkannte mich, winkte mir von weitem zu. Ein wenig erschöpft kam sie mir vor, war mager geworden und ernst. Jetzt empfand ich nur Mitleid und keine Furcht mehr. Für einen Augenblick ahnte ich, wie wenig die aufregenden Szenen, die meine Großmutter aufführte, mit Frau Klein zu tun hatten. Ich ging dennoch nicht mehr zu ihr. Als sie gestorben war, weigerte ich mich, zur Beerdigung mitzukommen, und man ließ mich in Ruhe. Bei der Eröffnung des Testaments stellte sich heraus, dass die kinderlose Frau Klein ihr Speisezimmer meiner Großmutter vermacht hatte. Es waren feine Eichenmöbel vom Anfang des Jahrhunderts.

In einem anderen häufig wiederkehrenden Traum bin ich unterwegs von den Großeltern zum Hof des Vaters. Es geht am Friedhof vorbei, wo man von der Straße her die weiße Leichenhalle zwischen alten Bäumen durchschimmern sieht. Dann kommen die kleinen Schachteln einer Stadtrandsiedlung aus der Hitlerzeit, weiter die Baugruben für noch eine Zeile Häuserchen. Es folgen Gärten, die ersten Äcker und Wiesen. Ich steige ein kurzes Stück bergan und habe rechter Hand, wo das Gelände steil zum Fluss abfällt, ein kleines, undurchdringliches Gebüsch, lauter Schwarzdorn. Weiter komme ich im Traum nie, denn ein Wolf bricht immer aus dem Dickicht hervor und setzt zum Sprung auf mich an, worauf ich erwache.

Bei Tag passierte ich den Ort dieses Alptraums oft und furchtlos. Mein Vater hatte bald nach seiner Heimkehr den inzwischen stillgelegten Steinbruch und umliegendes Land von der Gemeinde gekauft. Er wollte nicht mit Frau und Kind zur Mutter am Fuß des Berges ziehen. Wenn zwei Zimmer im Dorf für uns ausreichten, so musste es auch die Holzbaracke der Steinbrucharbeiter sein. Dort standen uns zunächst nur drei kleine Räume zur Verfügung, in den beiden anderen drängte sich eine mehrköpfige Familie, von der Gemeinde dort notdürftig untergebracht. Bis die ersten Sozialwohnungen beziehbar waren, blieben sie, nun unsere Mieter. Warum siedelte ich damals nicht mit über? War es die Beengtheit da oben oder die Furcht der Erwachsenen vor dem Einfluss der Mitbewohner auf das Kind? Ich blieb zunächst bei den Großeltern und wanderte immer wieder zu den Eltern hinaus. Manchmal übernachtete ich dort im Wohnzimmer auf einer Klappcouch und hörte vor dem Einschlafen den Ratten zu, wie sie auf dem Dachboden der Baracke umherjagten.

 

Ich nenne das primitive Holzhaus hier immer Baracke, doch Mama hatte Recht, wenn sie Wert auf diese Feststellung legte: Ein Holzhaus mit einem Steinsockel ist mehr als eine Baracke. - Wie viel mehr?

 

Hinter dem fatalen Gebüsch des Traums begann eine Welt großer Entwürfe, sei es der gescheiterten von früher, sei es der gegenwärtigen, deren Scheitern sich schon abzeichnete. Nach wenigen Metern erreichte man eine Gabelung, an der ein Baum vor sich hin kümmerte, kurz vor dem Krieg gepflanzt und Adolf-Hitler-Linde getauft. Jetzt war er nur noch die Linde.

Rechts führte ein Weg steil hinunter zum massigen Wirtschaftsgebäude und zur „Villa Lustig“ – so nannte mein Vater das nach dreißig Jahren schon baufällige Haus, in dem seine Mutter jetzt allein lebte. Ich nahm den ebenen Weg geradeaus, der zwischen Wiesen auf ein Gehölz hinführte. Dieser schmale Feldweg verschwand unter Kronen hoher Robinien und Vogelkirschen, rechts von ihnen auf abfallendem Terrain verwilderte Obstbäume, zwischen denen Brombeerhecken, Holunderbüsche und Brennnesseln wucherten. Der Obstgarten war vom Vater des Vaters angelegt und nach seinem Tod sich selbst überlassen worden. Wir pflückten dort Beeren, soweit sie erreichbar waren, und sammelten Fallobst und Nüsse. Leitern konnten nicht mehr aufgestellt werden. Der Weg wand sich sodann links um eine Bergnase, um die letzte Bodenterrasse unterhalb der Bergkuppe zu erreichen. Eine kurze Strecke führte er noch durch einen tiefen Einschnitt, dessen rechte Flanke ein sargförmiger Rücken bildete, dicht bewaldet, doch der Eindruck jahrhundertelangen ungestörten Wachstums täuschte. Diese sehr regelmäßige Erhebung war erst um 1900 aus Schuttmassen, die beim Betrieb eines Steinbruchs anfallen, entstanden. Nun wuchsen hier starke Eichen.

 

Jahre später ludest du Mitschüler zur Rodung dort ein. Eigentlich wolltest du nur einige Sträucher am Hang neben dem Weg ausreißen und da ein Gärtchen anlegen. Doch die Jungen brachten Beile und Äxte mit. Unter Baumfällen würden sie es nicht tun. Die hallenden Axtschläge alarmierten meinen ahnungslosen Vater. Er kam angerannt, sah den Stamm einer Eiche fast sturzreif und brachte uns in Sicherheit. Er wies mir eine andere Fläche für meinen ersten Garten zu.

 

Der Hang auf der anderen Seite des Weges war in jüngster Zeit von meinem Vater gerodet und in einen weiteren Obstgarten verwandelt worden. Die neue Anlage war viel größer als die inzwischen verwilderte. Die jungen Bäume waren von der Baumschule geliefert und in sorgfältig vorbereitete Pflanzgruben gesetzt worden. Die starre Geometrie ihrer Reihen kümmerte sich nicht um das Bodenrelief und stach seltsam von der üppig wuchernden Wildnis ringsum ab. Diese Buschbäumchen sollten schon bald Pfirsiche tragen, falls es das manchmal rauhe Klima zuließ. Die halbhohen Stämme, die inmitten des weiten Wiesenhangs noch etwas verloren wirkten, würden uns viele Zentner Äpfel und Birnen bringen, sagte mein Vater. Freilich würde die Ernte am steilen Hang schwierig werden … Und würde die Wiese auch in Zukunft regelmäßig gemäht werden, wie das jetzt noch geschah? Einige Himbeerranken hatten die letzte Mahd überstanden und schlängelten sich schon ausgreifend über die dünne Grasnarbe. Auch bildeten die Brennnesseln hier und da kleine Kolonien, denen mit der Sense nicht mehr beizukommen war.

Rechts vom Weg brach der Höhenrücken abrupt ab und man stand vor einer Grube, die uns als Schuttplatz und Müllhalde diente. Dahinter erhob sich, hoch wie ein fünfstöckiges Haus, die Felswand, von den Steinbrucharbeitern in einem halben Jahrhundert modelliert worden. In warmen roten und gelben Tönen leuchtete der Sandstein, durchzogen vom schwefligen Grün der Flechten. Eine junge Fichte wuchs in einer Nische im oberen Drittel der Wand. Ich sah oft zu ihr hinauf. Würde sie nicht bald so groß sein, dass ihre Wurzeln keinen Halt mehr fänden? Ich wusste noch nicht, dass sie sich nur in dem Maß entwickelte, in dem die Verwitterung voranschritt. Es gab eine Balance zwischen dem Zerbröckeln des weichen Steines und dem Wachstum der Fichte sowie ihrer Verankerung durch das Wurzelwerk. In diesen Felsen kletterten die Kinder aus der Baracke, mit denen ich nicht spielte, gern herum, bis eines der wilden Mädchen zu Tode stürzte.

Mein Weg führte an der Grube vorbei und die Felswand näherte sich ihm bis auf wenige Meter. Sie bildete einen mächtigen Block mit annähernd quadratischem Grundriss, gekrönt von dichtem Schwarzdorngebüsch. Dann wich die Wand in weitem Bogen zurück, machte Platz für eine halbrunde steinige Wiese, wie für das Naturtheater eines Kurortes. Der Weg beschrieb eine letzte Biegung nach links und stieg noch einmal leicht an, ehe er die oberste Bodenterrasse erreichte. Der Hang des Obstgartens lief sanft aus. Zwischen den neuen Buschbäumchen hatte mein Vater hier Erdbeerbeete angelegt. An der Wegbiegung stand die kleine Steinhütte, die früher den Arbeitern als Unterstand gedient hatte; in ihr zog mein Vater jedes Frühjahr Hunderte von Küken groß. In einer Aprilnacht ging ein Felsblock nieder und hätte fast die Hütte mit den Küken unter sich begraben. Noch immer lag der gewaltige Brocken gleich neben dem Häuschen.

Ich wanderte fast täglich durch diese romantische Miniaturlandschaft, die geprägt war vom Wechselspiel zwischen menschlichen Eingriffen und reicher natürlicher Vegetation. Es schien, als wäre ein bedeutender Gartenarchitekt am Werk gewesen. Aber die Wirkung des Ganzen beruhte nicht auf einem unter ästhetischen Aspekten entworfenen Plan, sondern auf dem zusammenhanglosen, wenig produktiven Wirtschaften mehrerer Generationen und der geschmeidigen Antwort der Natur, deren Unterwerfung hier noch nicht gelungen war.

Wenn ich dann unser Holzhaus erreichte, fand ich es meist verlassen vor. Die fremden Kinder spielten vielleicht an entlegenen und manchmal gefährlichen Plätzen, ihr Vater ging irgendwo einer Arbeit nach, auch ihre Mutter sah ich selten. Mein eigener Vater war, wenn ich dort eintraf, meist auf dem Acker, meine Mutter versorgte das Kleinvieh oder jätete Unkraut in irgendeinem kürzlich angelegten Narzissen- oder Gladiolenfeld – auch den Anbau von Schnittblumen fand mein Vater jetzt lohnend. Die Haustür war nie verschlossen. Ich betrat den langen Vorraum, der uns als Küche, Speisezimmer und Baderaum diente und den unsere Mieter durchqueren mussten, um in ihre Räume zu gelangen. Auf dem Tisch lag ein Zettel, wenn meine Mutter damit rechnete, ich würde zum Essen kommen. „Bin Kartoffeln ausmachen. Bin zwischen fünf und sechs wieder da. Auf dem Herd in dem großen Topf ist Nudelsuppe für Dich“, las ich beispielsweise. Wenn ich den Suppentopf inspizierte, fand ich die Brühe verdampft und nur noch eine breiige Nudelmasse vor. Ich aß sie gern. Im Haus war es vollkommen still. Wenige Geräusche ließen sich von draußen hören. Ein dicker Augustapfel fiel aus dem alten Baum gleich neben dem Haus hörbar zu Boden. Ich würde gleich hinausgehen und mir zum Dessert aus dem Fallobst das schönste und dickste Exemplar aussuchen.

Manchmal stand als freundlicher Wächter auf der niedrigen Treppe zur Haustür der andere Vater, allein zu Haus geblieben. Ich glaube, er war Maurer, daran gewöhnt, stets auf den Beinen und an frischer Luft zu sein. Die Treppe war an Tagen, an denen er keine Arbeit gefunden oder nicht erst gesucht hatte, sein liebster Aufenthaltsort. Gleichmütig stand er da, wippte auf den Zehen, einen Anflug von Heiterkeit um die Augen und die Mundwinkel. Im Gegensatz zu meinem Vater, den mannigfache Probleme belasteten und der selten aus dem unfrohen Pläneschmieden herauskam, schien unser Mieter fast immer unbekümmert, ganz sorglos.

Einmal bot auch dieser Phlegmatiker ein Beispiel für Tatkraft, das mich nacheinander erst anzog und dann abstieß. Damals sagte er gut gelaunt zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie fortschaffen. Kommst du mit?" Ich nickte. Er sagte: "Warte" und verschwand im Keller. Als er zurückkam, waren die Außentaschen seiner Jacke etwas ausgebuchtet. Drinnen zappelte es. Er schlug den Weg zu den Felsen ein. Zwei seiner Kinder, noch nicht im Schulalter und auf einmal auch zur Stelle, folgten uns neugierig. Wie wir uns vom Haus entfernten, ließ sich empörtes Miauen aus dem Keller vernehmen, gedämpft zwar durch dicke Mauern, dafür in seinem Ausdruck noch schmerzlicher. Wir gingen, bis wir zu der Stelle kamen, an der sich vor der Felswand die Abfallgrube auftat.

Der Vater griff in seine Jackentasche und holte eines der neugeborenen Kätzchen heraus. Es war rotweiß gestreift und nicht länger und nicht dicker als der Mittelfinger seiner rechten Pranke, mit der er es sogleich über die Grube hinweg auf die glatte Steinwand schleuderte. Undeutlich sah man, wie etwas von der Wand in die Grube fiel. Die übrigen drei kleinen Würmer, blind und außerhalb der mütterlichen Wärme orientierungslos, wanden sich noch zuckend in seiner Hand - dann erging es ihnen ebenso. Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen und staunten.

Schon nach einer Minute war alles vorbei. Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht des Vaters, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Man konnte ihn mit nur einem Wort beschreiben: erledigt!

Hatte ich mich allein zu beschäftigen, schlug ich oft einen schmalen, vom Haus steil abwärts führenden Pfad ein. Er kreuzte den Fahrweg, den ich vom Dorf her gekommen war, und verschwand dann zwischen sehr hohen Vogelkirschbäumen. Wenn ich einen kräftigen Zweig entdeckte, riss ich ihn ab. Die Zone der Vogelkirschen war schon nach zwei Minuten durchschritten. Ich betrat jetzt eine weitere sonderbare Landschaft, einen stark abfallenden Hang, mit scheinbar endlosen Brennnesselwäldern bedeckt, über denen sich die Kronen verwilderter Pflaumenbäume erhoben. Diese missratene Kultur schloss sich an den ruinierten Obstgarten des Großvaters an, sie war erst von meinem Vater nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft angelegt worden. Er hatte hier den ursprünglichen Wald gerodet, damit das Gelände als Auslauf für Hühner dienen könnte, denen er am Fuß des Hanges, nahe an den älteren Gebäuden, zwei Ställe baute. Die Hühner zeigten jedoch wenig kolonisatorische Neigungen und bevorzugten den Garten meiner Großmutter, die dort unten noch immer in ihrer „Villa Lustig“ lebte. Aus jenem Garten breiteten sich stattdessen vereinzelt vorkommende Brennesseln über den gesamten gerodeten Hang aus. Sie entwickelten ein geradezu bösartiges Wachstum, dem mein Vater hilflos gegenüberstand. Ans Mähen war schon aufgrund der vielen Wurzelstöcke nicht zu denken …

Hier nahm ich nun mit meinem Stock den Kampf auf. Ich schwang ihn wie Uhlands Kreuzritter seinen Säbel und mit jedem Hieb sanken, statt zween halben Türken, zehn oder fünfzehn Brennnesselhalme zu Boden. Manche von ihnen waren höher als der kleine Berserker, der mit Ingrimm tief in die feindlichen Formationen vordrang, sich wütend rundum Raum schuf, Verbindungen zwischen den dezimierten Nesseln zerstörte und die eingekesselten Reste vernichtete. Auf dem Schlachtfeld roch es trocken-zundrig. Die üppigen oberen Blätter hatten schon lange jede Feuchtigkeit absorbiert, die unteren waren vertrocknet und zerbröselten jetzt. Kein Tau hatte seit langem den Boden befeuchtet. Einmal stieß ich in dieser staubtrockenen Unterwelt auf ein Nest. Zwei winzige, fast nackte Vogeljungen sperrten erschreckt ihre Schnäbel auf, mir entgegen. Hatte ich die Eltern durch meine Schläge in den Brennnesselwald vertrieben? Ich ging weg und mied die Stelle fortan. Ein weiteres Mal erschreckte mich ein Schlänglein, das seinerseits vor mir floh. So legte ich große Flächen frei. Befriedigt blickte ich über ein Feld, auf dem zwischen halbhohen Stoppeln grau-grüne Blättermassen welkten. Der Krieg gegen die Nesseln beschäftigte mich mehrere Nachmittage. Dann begann es vielleicht zu regnen oder mein Vater trug mir eine andere Arbeit auf. Die geköpften Stauden trieben an den Wurzeln neu aus und stellten in kurzer Zeit den grünen Teppich wieder her. Kehrte ich nach einigen Wochen an die Stätte meines Feldzugs zurück, bot sich beinahe wieder das ursprüngliche Bild weithin wogenden ätzenden Nesseltums. Ich schwang den Stock und stürzte mich gleich wieder in die Schlacht. In unserem Hühnervolk hatte ich übrigens keine Bundesgenossen. Die dummen Tiere, dachte ich, in deren Interesse ich doch meinen Schweiß vergoss, sie schauten mir eine Weile verständnislos von fern zu und kratzten dann in der fetten Gartenerde weiter nach Würmern.

Mein Vater betrachtete meine Feldzüge mit gemischten Gefühlen, das war ihm deutlich anzumerken. Wenn er mir begegnete und mich am Werk sah, leuchteten seine Augen teilnahmsvoll, aber um den Mund zuckte es ärgerlich. Er schien unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. So räusperte er sich und ging dann weiter, ohne ein Wort gesagt zu haben. Nach einigen Schritten sah er sich nach mir um und warf mir einen langen Blick zu, in dem so viel demonstratives Wohlwollen lag, dass ich unsicher und misstrauisch wurde. Vielleicht nahm er sich gerade vor, mich an Orten zu beschäftigen, die ihn weniger an seine eigenen gescheiterten Projekte erinnerten? Zunächst durfte ich die kleinen Blechkrippen, aus denen die Küken fraßen, mit angenehm duftendem Futtermehl füllen. Dabei wurde ich von ihm fürs Familienalbum fotografiert.

 

Wenige Jahre später sollte es heißen: "Wenn der Beamte kommt, dann sag ihm bloß nicht, dass du den Hof nicht übernehmen willst." Mein Vater war Landwirt und hatte einen größeren staatlichen Kredit für einen Hausbau beantragt. Ich war der einzige Sohn und ohne Aussicht auf einen Hoferben würde der Kredit vielleicht nicht bewilligt werden. Von Zeit zu Zeit tat mein Vater so, als sei noch alles offen. Dann hielt er mich zur Mitarbeit an, übertrug mir kleine Aufgaben. So hatte ich einmal den erwähnten Beamten im Gelände herumzuführen. Wir gingen den Brennnesselpfad abwärts. Der Beamte tat sich schwer und sagte: „Alles sehr romantisch, aber für Landwirtschaft völlig ungeeignet.“

 

Und dann trugen die Buschbäume erstmals reichlich. Meinem Vater fehlte die Zeit, selbst alles abzuernten. Er war ein gehetzter Mann. Ich lief ihm zur falschen Zeit über den Weg.

"Es wird Zeit, dass du dir einmal einen Überblick über unser Wirkungsfeld verschaffst ..." Er liebte allgemeine Betrachtungen als Einleitung, ich fand seine Ausdrucksweise dann geschraubt. Bald kam er, schon barscher, zur Sache: "Die Pfirsiche müssen vom Baum. Du wirst sie herunterholen, gleich jetzt." Ich hatte Besseres vorgehabt: mich draußen in der Landschaft mit Jungen aus der Nachbarschaft zu treffen. Da gab es eine Mulde mit vielen Quellen und kleinen Bächen. Man konnte sie leicht aufstauen und dann das Wasser auf einmal als Sturzbach, alles wegreißend, abfließen lassen.

Mein Vater bemerkte meinen Unwillen und beschloss, die Sache rasch abzumachen. Er sagte in scharfem Ton: "Dort am Rand steht der Baum. Siehst du ihn? Hol sofort den großen Korb aus dem hinteren Keller und stell ihn nachher aufs Treppenpodest." Er ging schnell weg. Er hatte sich durchgesetzt, mein Wille war gebrochen. Ich machte mich eilig an die Arbeit. Wenn ich bald fertig war, konnte ich doch noch zu den Quellen gehen.

Das Buschbäumchen war schon zur Hälfte leer gepflückt. Die Früchte lagen im Korb. Da stellte ich fest, dass diese Pfirsiche noch hart waren. Sie waren ziemlich klein und von graugrüner Farbe. Offenbar waren sie unreif. Richtig, reif waren die Früchte des nächsten Baumes in der Reihe. Wie hatte ich mich so täuschen können? Mein Fehler musste vertuscht werden. Ich kippte den Korb um, die vorzeitig gepflückten Früchte kollerten den Abhang hinunter und verschwanden unter wilden Himbeeren. Dann pflückte ich die schönen roten Pfirsiche vom Nachbarbaum.

Mein Vater kam unerwartet zurück, um mich zu kontrollieren. Er lobte mich und nahm einen Pfirsich aus dem Korb. "Schöne Früchte, gut geraten. Wenn nur alles so gut würde." Er ließ den Blick über die anderen Bäume schweifen. Fiel ihm nichts auf? Da trug ein Baum nur auf einer Seite Früchte, es sah doch sonderbar aus. Mein Vater sagte nichts. Wir trugen den Korb zum Haus. Ich fragte mich, ob er wirklich nichts bemerkt hatte.

 

Im Winter darauf gründeten wir eine Schülerzeitung. Ich suchte Stoff für meinen ersten Artikel und kam auf die Sache mit den Pfirsichen. Ich beschrieb es so, wie es sich abgespielt hatte, doch nicht als Ich-Erzählung. Die Geschichte war einem Jungen namens Werner passiert. Am Schluss stellte ich die Frage: Und war Werners Vater am Ende wirklich nichts aufgefallen? Oder machte er sich Vorwürfe, den richtigen Baum nur von fern und in Eile gezeigt zu haben?

Ich war ursprünglich kein verschlossenes Kind. Als die erste Nummer der Schülerzeitung verteilt war, erzählte ich es meiner Mutter. Mein Vater hörte beim Mittagessen davon und wollte das Heft sehen. Mir fiel keine Ausrede ein, ich brachte es ihm, auch neugierig, wie er es aufnehmen würde. Es war meine Erstveröffentlichung, und mein Vater war der erste Leser, dessen Reaktion ich kennenlernte. Er ging den kleinen Bericht durch. Unmittelbar danach las ich einander widerstreitende Gefühle von seinem Gesicht ab. Kam noch etwas? Mein Vater sagte - nichts.

Vielleicht bilden wir uns den Ablauf der Zeit wirklich nur ein. Vielleicht ist alles nur sich endlos dehnende Gegenwart. Im Grunde schreibe ich noch immer, um mir Fragen zu stellen, die mein Vater unterlassen hat.

 

Im Umkreis der väterlichen Macht fühlte ich mich oft unbehaglich, konnte zum Glück entweichen. In den ersten Jahren wanderte ich fast jeden Abend zurück zu den Großeltern. Später, als unsere Mieter ausgezogen waren, blieben die Verhältnisse in der Baracke beengt. Oma Elses luftige, lustige Villa war eingestürzt und die Ruine, bald von Holunderbüschen halb verdeckt, passte gut in das Bild eines Englischen Gartens, dem das väterliche Anwesen immer ähnlicher wurde. Meine Eltern überließen der alten Frau die gerade frei gewordenen Räume. Wenn ich doch einmal auf der Klappcouch übernachtete, hörte ich jetzt auch die Mäuse, die im Zimmer herumtrippelten. Ich ekelte mich vor ihnen.

Das liebste Tischgespräch der Großeltern war: was auf den Tisch kam, bei ihnen selbst - und vor allem: bei den anderen. Großmutter schnob durch die Nase und dann kam ihr Standardspruch: „Weißt du, Opa, was es bei denen gibt – Margarine!“ Opa grinste amüsiert und sagte verächtlich: „Ach so, Margaretchen …“ Das hieß: erledigt, indiskutabel diese Leute. Wenn einer sich statt Butter Margarine aufs Brot schmierte, war das für die beiden der untrügliche Beweis, dass der Ärmste sich nichts leisten konnte. Nur eine Gruppe war noch übler dran als diese Margarinefresser – die, die überhaupt nichts zu beißen hatten. Auf sie gemünzt lautete die Feststellung, in hochdramatischem Ton vorgebracht: „Die? Die haben das Brot nicht über Nacht im Haus!“ Schlimmer konnte es um einen nicht stehen.

Nun waren die Not- und Hungerzeiten schon länger vorbei, auch die Fresswelle der Fünfziger abgeklungen. Die Wirtschaftswunderjahre standen in ihrem Zenit, Diäten wurden langsam ein Thema, bald wird Twiggy die Bühne betreten. Woher dann diese panische Sorge ums tägliche Brot, die anhaltende Wut auf die Margarine und die Vergötterung der Butter bei den Alten? Daumendick versprach die Großmutter sie dem Enkel aufs Brot zu streichen – doch er war ein schlechter Esser. Tante Martha, eine von Großmutters Schwestern, gab ihm eines Tages einen Tipp. „Weißt du“, sagte sie, „deine Großeltern behaupten immer, andere könnten sich nichts zu essen leisten, nur bei ihnen soll’s was Gutes geben … Das musst du nicht glauben. Ein bisschen viel Propaganda, meine ich. Deine Oma will sparen und das neue Haus schnell abbezahlen. Und deinem Opa macht sie es mit dem Gerede schmackhaft … Aber sag’s ihnen bloß nicht.“ Ihre Bemerkung – gepriesen sei sie dafür - führte für den Jungen zur ersten Einübung in Kritik und in selbständiges Denken. Er hörte nun genauer hin und erfasste bald Form und Inhalt der abendlichen Responsorien als Ganzes, ihre Struktur sozusagen. Sie liefen stets etwa so ab, wenn er die Küche betrat:

 

GROSSMUTTER: Ah, du kommst grade recht. Willst du mit uns essen? Haben dir deine Eltern nichts gegeben? Aber hier ist der Tisch immer gedeckt.“

 

ENKEL (schweigt, wohl wissend, dass eine Antwort nicht erwartet wird.)

 

GROSSVATER: Frau, jetzt lass uns aber anfangen. Ist noch von der Blutwurst da? Ist das alles an Brot?

 

GROSSMUTTER: Nein, da unten liegt noch ein Dreipfünder. Als ob uns das Brot je ausgegangen wär! Das wär ja furchtbar – das Brot nicht über Nacht im Haus haben. Aber das kommt bei Leuten vor, von denen es keiner glaubt. Schicke Kleider und neue Mäntel und immer noch ein Hütchen …

 

GROSSVATER: Ja, außen hui – aber das Brot nicht über Nacht im Haus …

 

GROSSMUTTER (bringt von der Veranda einen kleinen gusseisernen Topf herein): Und dann müssen sie jetzt auch einen Kühlschrank haben. Aber es ist nichts drin bei ihnen! Das hier ist unser Kühlschrank. Mit Butter und mit Wurst.

 

GROSSVATER: Kühlschrank? Alles nur Geschäftemacherei! Ist die Blutwurst noch in Ordnung? (Er riecht an ihr.)

 

GROSSMUTTER: Kann man sie noch essen? Geht wohl noch, hab ich erst vorgestern geholt. Bis zum Oberen Markt bin ich gelaufen, nicht mit der Straßenbahn, alles zu Fuß. Dort war sie wieder billiger. Warum soll ich denen hier die Wurst teuer bezahlen? Da lauf ich doch lieber bis zum Pilatus …

 

ENKEL (schweigt weiter. Ihm fällt auf, dass sie hier in Widerspruch zu ihrer Lieblingsmaxime sonst gerät: Der Preisunterschied liegt immer in der Ware, sagt sie, wenn sie sich in einem Geschäft das Ansehen einer potenten und kundigen Käuferin geben will – aber er hütet sich, die liturgische Handlung durch blasphemische Äußerungen zu stören. Man ist inzwischen zu Tisch gegangen.)

 

GROSSVATER (schneidet Scheiben vom Brotlaib für alle ab, jeder bestreicht die seine mit Butter und belegt sie mit der preiswerten Blutwurst): Das schmeckt wirklich gut.

 

GROSSMUTTER: Ja, beim Essen darf man nicht sparen.

 

GROSSVATER: Aber das machen die meisten, beim Essen sparen.

 

GROSSMUTTER: Wann gibt’s da schon mal Wurst?

 

GROSSVATER: Oder Butter?

 

GROSSMUTTER: Margarine!!!

 

GROSSVATER: Mit Fenner Harz drauf!

 

GROSSMUTTER: Und Fleisch …

 

GROSSVATER: … kennen die gar nicht. Das ist doch so wichtig. Sonntags ein Stück Fleisch, das gibt Kraft.

 

GROSSMUTTER: Fleisch, das ist für die meisten Leute ein Fremdwort.

 

GROSSVATER: Bub, sag, gibt’s bei euch droben so oft Wurst wie hier? Und wann kommt bei euch mal Fleisch auf den Tisch?

 

ENKEL (weiß, dass jetzt eine Antwort erwartet wird und welche. Aber zu Hause gibt es jeden Tag Wurst und nicht allezeit dieselbe billige Blutwurst. Und sie haben daheim nicht nur sonntags ihr Huhn im Topf, es ist ihm schon über. Also antwortet er zögernd und ungenau, in der Hoffnung, es allen recht zu machen): Nei – ein. (Und das war nun eine frühe Einübung in Unaufrichtigkeit und auch in Scham darüber.)

 

GROSSMUTTER: Sein Vater macht sich auch noch lustig über mich, weil ich überall auf den Preis sehe. Behauptet, ich verbrauche alles für neue Sohlen, was ich an der Wurst spare.

 

GROSSVATER (zum Enkel): Dein Vater ist kein Kaufmann. Sieh nur, wie er mit Kunden umgeht – so zurückhaltend darf man nicht sein. Und was er alles anfängt, nun auch noch mit Blumen. Das bringt doch nichts. - Frau, jetzt die Dickmilch.

 

GROSSMUTTER (schüttet jedem eine große Tasse voll.)

 

GROSSVATER: Die Dickmilch! Etwas Besseres gibt es nicht. Eine halbe Stunde vorm Tod eine Tasse Dickmilch und du stirbst nicht!

 

GROSSMUTTER: Nachher wirst du dir wohl eine drehen? Reicht der Tabak noch bis Samstag, wenn ich wieder in die Stadt gehe? Das schöne Geld, aber ein Laster darfst du auch haben.

 

Großvater drehte sich sehr langsam seine Zigarette und rauchte sie ebenso behutsam, mit sichtlichem Behagen. Er schaltete das Radio ein. Wir hörten „Die bunte Abendpost“, die mit schmissiger Erkennungsmelodie begann. Es folgten Kalauer im Dialekt. Ein älteres Paar trug einen Dialog vor, über den meine Großeltern lachten. Es war fast wie bei ihnen, nur dass im Radio der Mann das Stichwort lieferte, manchmal kluge Kalendersprüche in Hochdeutsch, und die Frau das Echo abgab. Ich langweilte mich und hörte bald nicht mehr hin. Wieder einmal versenkte ich mich in den Anblick des großen Bildes an der Wand: fahles Zwielicht über dem Vierwaldstätter See. Ein hübscher Bauer winkt einer jungen Frau zu, die aufrecht in ihrem kleinen Boot stehend auf den See hinausrudert. An unserer Küchenwand tickte und tackte der schwarze Uhrkasten, schwerfälliges, schwarzes Biedermeier. Um sieben wurde ich auf mein Zimmer geschickt, damit ich es in der Schule zu etwas brächte.

Großmutter ihrerseits nahm gerade einen neuen Anlauf, es zu noch mehr an Vermögen zu bringen. Erst hatte sie gezögert, die Baulücke neben dem Biedermeierhaus zu schließen, sich also noch einmal zu verschulden. Dagegen sprach vor allem, dass Großvater schon Rentner war. Meine Großmutter besaß zwar nicht die Bildung, die ich mir erst aneignen sollte, dafür verfügte sie über Instinkt, der sie sicher durch unübersichtliche Zeiten brachte. Die allgemeine Lage unterschied sich nur wenig von der zu Beginn ihrer Ehe. Wir teilten wieder die Schicksale der Franzosen, ihre Währung galt bei uns und sie verlor an Wert. In den Jahren, in denen ich mit zu Frau Klein ging, ereignete sich viel, von dem ich damals nichts erfuhr oder begriff. Die Schlacht bei Dien Bien Phu ging verloren, dann Indochina; Marokko und Tunesien schieden aus dem Kolonialreich aus; in Algerien brach der Aufstand los. Die Kriege kosteten viel Geld. Die rasch wechselnden Regierungen in Paris finanzierten sie über Inflation.

Im Jahr fünfundfünfzig durfte das Ländchen erneut abstimmen und lehnte es wiederum ab, ein politisch separates Gebilde zu sein, wirtschaftlich an Frankreich gebunden. Die Kampagne wider das Statut, das zur Abstimmung stand, war die erste politische Bewegung, die ich bewusst miterlebte. Die Mieter im Biedermeierhaus lehnten das Statut ab, meine Großeltern waren als überzeugte Separatisten bekannt. Eines Tages drückte mir der halbwüchsige Sohn der Mieter einen Bogen mit Etiketten in die Hand, Parolen, die ein Nein zum Statut forderten. Wie mir der sympathische Junge es auftrug, beklebte ich damit die Haustür meiner Großeltern. Der kleine Skandal ging vorüber, die Großeltern rechneten ohnehin nicht damit, dass ihre Richtung sich durchsetzen würde. Nach der Abstimmung zeichnete sich ab, dass wir bald wieder zum Reich gehören würden. Als der Vertrag darüber im Oktober sechsundfünfzig unterschrieben wurde, stand unser Rohbau schon und wenige Monate nach dem politischen Anschluss zogen die beiden Mietparteien ein. Wirtschaftlich erfolgte die Rückgliederung erst zwei Jahre später. Die Zeit bis dahin nutzten meine Großtanten dafür, die billigeren deutschen Industriewaren ins französische Währungsgebiet zu schaffen. Wöchentlich fuhren sie hinüber und die Schmuggelei bildete den Hauptgesprächsstoff bei jedem Kaffeeklatsch. Meine Großmutter beteiligte sich an diesen Fahrten nicht, sie nutzte die Zeit auf ihre Weise. Nach dem Suezabenteuer verschlimmerte sich die Inflation und die Tilgung des Bankdarlehens wurde immer leichter. Das vermietete Haus am Waldrand war verkauft und der Erlös in den Neubau investiert. Es gab noch eine Währungsreform, der Franc wurde im Verhältnis 1 : 100 abgewertet - und wir hatten in der Lotterie gewonnen, wie meine Großmutter gern sagte.

Das neue Haus war das Kronjuwel im großelterlichen Imperium, der Beweis, dass nicht alle Kleinbürger infolge von Kriegen und Inflationen verarmten. Einige aus dieser Klasse hatten sich über ihre Nachbarn erhoben wie die Stinnes und Thyssen über die Masse der Kapitalisten. Wie stolz war die Großmutter, wenn sie an dem soliden neuen Kasten vorbeikam. Er enthielt zwei Drei-Zimmer-Wohnungen mit richtigen Bädern, die Ausnahme noch in dieser Straße. An die Fassade hatte der Architekt kaum einen Gedanken verschwendet. Konnte man dieses weiß verputzte Mauerwerk ohne Zierat, ohne Gliederung der Fenster überhaupt eine Fassade nennen? Unsere Straße wirkte wie ein Freilichtmuseum, das den Fortschritt der inneren Ausstattung und den Verfall äußerer Formen in eineinhalb Jahrhunderten augenfällig werden ließ. Allerdings war auch dieses Straßenbild nur von kurzer Dauer. Als die letzte Baulücke geschlossen war, ging die nächste Generation daran, die älteren Schachteln auszumisten und aufzumöbeln. Es wurde der Stuck heruntergeklopft, es wurden die hohen Fliederbüsche abgeholzt, die verspielten Parkmäuerchen abgetragen und an die Stelle eines Rundbogens oder eines Holzerkers traten Glasbausteine, darunter sogar farbig leuchtende. Die ausgeräumten Vorgärten waren bereit, alte Wagenräder, Holzkarren oder Butterfässer aufzunehmen. Man erwarb diese Versatzstücke einer Ländlichkeit, die es hier kaum gegeben, auf dem Flohmarkt oder bei einem Trödler in der nächsten Großstadt.

Als das neue Haus bezogen war, verlor ich mein Interesse an ihm. Wie viel hatte es auf der Baustelle zu sehen gegeben! Man darf aber nicht fortgeschickt werden, nur weil man erst sechs ist. Man muss alles aus der Nähe betrachten und untersuchen dürfen. So viel lag da zwischen Baugrube und Straßenrand herum und wartete darauf, verbaut zu werden.

Es gab zum Beispiel Haufen von rotem und von weißem Sand. Nur in der Farbe unterschied er sich. Wir Kinder drangen mit den Händen ins Innere dieser Sandberge vor, die höher waren als wir selbst. Jedenfalls waren sie es, bevor wir damit anfingen. Es war sehr spannend, im Sand kleine Höhlen zu bauen. Wir trieben dazu Stollen hinein und warteten ab, ob die ausgehöhlten Berge vielleicht einstürzten. Das kam manchmal vor. Bei unserer Arbeit entdeckten wir Verschiedenes. An warmen Tagen hatte die äußere Sandschicht eine hohe Temperatur. Wo die Sonne daraufschien, glühte der Sand beinahe. Er war trocken und rieselte fein wie Zucker. Drangen wir dann mit unseren Fäusten ins Innere vor, nahm seine Temperatur schnell ab. Der Sand dort klebte feucht an den Händen. Mit ihm konnten wir die Decken der von uns schon ausgehöhlten Stellen festklopfen.

Um sich zu entspannen, sprangen die kleinen Bauarbeiter auf die Gipfel und Hochflächen der von ihnen noch nicht eingeebneten Sandberge und rutschten auf ihren Hosenböden zu Tal. Noch mehr Spaß machte es, wenn man sich im Rutschen auf die Seite warf und von den nachfolgenden Sandmassen ein bisschen verschütten ließ. Wie das prickelte, wenn der Arm oder ein Bein vom Sand niedergedrückt wurde. Aber wenn man wollte, kam man immer schnell wieder frei.

Doch bald schimpften die Maurer. Es war ihnen zu viel Arbeit, eine Schubkarre mit Sand zu füllen, wenn das Material nun in kleine Haufen verteilt war. Nach einem Regenguss verfolgten wir den Weg des weggeschwemmten Sandes. Er führte in Schlieren zum Rinnstein, Sandkorn für Sandkorn. Wieder waren wir schuld und der Großvater wurde gerufen. Wir durften nicht mehr mit dem Sand spielen.

Da kam uns etwas anderes in den Sinn. Wir mussten nur warten, bis die Maurer Feierabend hatten. Danach machten wir uns rasch ans Werk und bauten aus Hohlblocksteinen unser eigenes Haus. Die Steine waren zum Glück nicht so schwer, wie sie aussahen. Wir schleppten sie zu zweit zu unserer Baustelle. Sie lag hinter dem Bauwagen und blieb daher von Nachbarn und Passanten lange unbemerkt. Auf Mörtel mussten wir verzichten, das Häuschen sollte noch vor dem Abendessen fertig werden. Es gab nur ein Zimmer und es hatte kein Fenster, aber vier Ecken, wie es sich gehört. Das Dach machte uns etwas Kopfzerbrechen. Schließlich fanden wir ein großes Stück Dachpappe, das wir mit viel Mühe über die aufgeschichteten Wände warfen. Dabei wackelten die Mauern, beinahe wäre alles zusammengefallen. Dann gingen wir hinein. Innen konnte man aufrecht stehen. Wir waren alle sehr stolz auf unser Werk. Wir hatten etwas geschafft und fühlten uns in unserem eigenen Haus jetzt wohl und sicher.

Leider war es inzwischen Zeit für das Abendbrot geworden. Wir verabredeten, später alle noch einmal zu unserem neuen Haus zu kommen. Ich ging als Erster heim. Kaum saß ich mit den Großeltern am Tisch, kam ein Nachbar angerannt und berichtete von unseren neuesten Taten. Der Steinhaufen könne jeden Augenblick in sich zusammenstürzen, sagte er, und die restlichen Kinder unter sich begraben! Großvater unterbrach seine Mahlzeit und rannte zur Kinderbaustelle, um die Steinblöcke abzutragen. Ich musste an diesem Abend im Haus bleiben und bekam eine Strafpredigt gehalten. Immer wieder hieß es da: gefährlich und unvernünftig. Ich begriff es nicht ganz, wir hatten uns doch so geborgen gefühlt, da drinnen in unserem Haus. Wir mussten uns etwas Neues ausdenken.

Einige Tage blieb ich weg, dann stand ich wieder an der Baustelle und schaute zu Ferdi hinüber, wie er Mörtel herstellte, noch ohne Mischtrommel. Er war der Lehrling und schaffte Sand, Zement und Wasser herbei. Er rührte alles in einem Bottich zusammen und füllte das Gemisch in Blecheimer und reichte sie den Gesellen auf das Gerüst hinauf. Die Gesellen blieben mir fremd, ich sah sie kaum an, sie waren so viel älter als ich selbst. Ferdi fühlte ich mich näher, er hatte gerade erst mit der Maurerlehre angefangen, so wie ich vor kurzem mit der Volksschule. Ich ging anfangs ungern hin und die Schulzeit stellte ich mir unendlich vor. Ferdi auf der Baustelle – das war der Beweis, dass man diese Zeit doch hinter sich bringen konnte.
     Ferdi war immer guter Laune. Er trat so wendig auf, er hantierte mit viel Geschick. Wenn ich ihn ansah, kam ich mir selbst ungelenk vor. Gegen meinen Willen bewunderte ich ihn. Der Maurerlehrling war noch sehr schmal. Ich wollte Oma bitten, mir Hosen zu kaufen, wie Ferdi sie trug. Ich kannte das Wort Jeans noch nicht.
     Einmal unterbrach Ferdi seine Arbeit und legte das Kinn auf den Schaufelstiel. Die braune Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel, wippte hin und her. Er zog die Augenbrauen zusammen und sah mich scharf an. Nur an den Mundwinkeln, die lustig zuckten, war zu bemerken, dass er noch immer guter Laune war. „Hast du schon wieder Ferien?“ fragte er. „Langweilst du dich?“ Er nahm den Kopf vom Schaufelstiel und die Brauen gingen auseinander. Dann wollte er etwas von mir: „Du, sei ein lieber Kerl und hol uns dafür beim Metzger Fleischwurst.“ Er zählte mir ein paar Münzen in die Hand und ich ging los. Was für Ferdi lästige Pflicht war, mir kam es wie eine ehrenvolle Aufgabe vor. Würde ich ihr gewachsen sein? Wahrscheinlich würde ich irgendetwas falsch machen und nicht mehr herangezogen werden …
     Die Metzgerei lag ein paar Hundert Meter weiter. Die Metzgersfrau wog Fleisch und Wurst stets mit Ernst und Würde ab. Ich fürchtete sie ein wenig. Diesmal blickte sie besonders streng. Ich sagte rasch: „Für das Geld Fleischwurst“ und legte die Münzen auf die Theke. Alles schien gutzugehen, schon lief ich mit der Wurst im dicken Packpapier zurück. Ich würde gelobt werden. Beinahe wäre ich vom Bordstein abgerutscht und hingeschlagen.
     Ferdi öffnete das Paketchen und sagte gleich ungehalten: „Was ist denn das?! Du hast dir die billige andrehen lassen, die nehmen wir doch sonst nicht. Hast du denn nicht gesagt, dass es für uns ist? Geh und bring’s zurück. Und mach schnell, der Polier hat geschimpft, weil’s schon nach eins ist.“ Es kam noch schlimmer für mich. Die Metzgersfrau weigerte sich, die Ware zurückzunehmen, und ich musste Ferdi bitten, diesmal mit der billigen Sorte vorliebzunehmen. Die Maurer, die schon Pause hatten, brummten ein wenig, lachten ärgerlich und begannen dann mit dem Imbiss.
     Trotzdem wollten sie anderntags, dass ich wieder Wurst holen ging. Doch die Großmutter hatte es inzwischen verboten. Jetzt ärgerte es mich, ihr davon erzählt zu haben. Die preiswerte Wurst war gerade die, die wir daheim selbst meist aßen. Auch Ferdi gegenüber war ich ein wenig verstimmt. Er hatte mir einen zu schwierigen Auftrag gegeben – und wie gerne hätte ich mich doch bewährt und ihm alles recht gemacht … Als er mich nicht überreden konnte, lachte Ferdi und ging wieder selbst.

 

Wie fern ist das alles, viel weiter als nur Jahrzehnte zurück oder viele Stunden von der Stadt entfernt, in der ich längst lebe. Es kann der zeitliche und räumliche Abstand zum Ort unserer Kindheit ins Außerordentliche wachsen, wenn die früh vertraute Umgebung sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der Ort ist nicht mehr derselbe und die Bewohner mit ihrer Art zu leben sind es auch nicht mehr. Die Dampflokomotiven fahren nicht mehr, elektrische Züge gleiten über die Schienen. Die alte Wartehalle mit ihrem rußgeschwärzten Fachwerk ist abgerissen, vergleichsweise wenige Fahrgäste steigen dort noch ein. Von den unabsehbar langen Kolonnen müder Bergleute, die nach Schichtwechsel von der Zeche zum Bahnhof strebten – marschierend in gleichmütigem Schweigen wie die lockeren Reihen einer geschlagenen Armee, die sich diszipliniert zurückzieht und schon in Sicherheit weiß – ist keiner übrig geblieben. Das Bergwerk fördert schon lange keine Kohle mehr. Und die Hochöfen sind erloschen. Nie mehr werde ich auf der Veranda meiner Großeltern stehen und im Westen die fernen bläulichen Flammen auf den runden stählernen Türmen sehen. Ruhig und sauber ist es im Ort jetzt, doch riecht es auf den Straßen nach Benzin. Ein ödes Rasenstück bedeckt den Vorgarten, in dem die rote Tulpe damals erblühte. Nur der Friedhof hat sich kaum verändert. Dieser Ort allein ist mir da unten vertrauter geworden, seit die Urnen der Großeltern auf ihm beigesetzt sind.

 

Die einzelnen Fragmente meiner Erinnerung unterscheiden sich so sehr voneinander, dass ich mich manchmal frage, ob sie tatsächlich demselben Zeitraum von nur wenigen Jahren angehören. Schwierig war es, zu dem Kind vorzudringen, das auf der Baustelle im Sand gespielt hatte. Viel Konzentration erforderte es, die Entdeckungen des Kindes nachzuvollziehen und seine Gefühle erneut zu empfinden. Eine archäologische Grabung kann kaum mühseliger sein und wie diese oft erbrachte der Prozess des Erinnerns zwar gut erhaltene und zugleich recht banale Funde, deren alltäglicher Charakter das Interesse nicht lange fesselt. Reizvoll war vor allem das Graben und Forschen, weniger das Erinnerte. Anders verhält es sich mit dem Bild der roten Tulpe oder mit Ferdi und der Fleischwurst, da musste nichts aufgespürt und ausgegraben werden. Diese Erinnerungen ähneln Ikonen, die man hin und wieder aufsucht und gern betrachtet. Man frischt jetzt nur die Farbe ein wenig auf. Und dann gibt es noch Erinnerungen, die sich immer wieder von selbst einstellten und dann als etwas Peinliches verdrängt wurden. Auf diese Weise entstand von ihnen nur ein grobkörniges Bild mit undeutlichen Details. Vielleicht handelt es sich bei einer solchen Erinnerung nicht um die authentische Aufnahme, sondern um ein entstelltes Bild, wie es bearbeitet erst Jahre nach dem Ereignis vorgelegen hat. Aber kann in diesem Fall das entstellte Bild nicht ebenso viel aussagen wie das ursprüngliche – oder sogar noch mehr?

Doktorspiele! Auch sie gab es.

Sei es, dass die Erinnerung hier im entscheidenden Punkt verfälscht ist und trügt, sei es, dass der kindliche Forscherdrang hier sogleich in die Irre führte und in seinen Ergebnissen, wie häufig auch in der Welt der Erwachsenen, nur die vorgefasste Meinung widerspiegelte, so viel steht doch fest, dass ich mit der kleinen Monika in den fast fertiggestellten Neubau meiner Großeltern eindrang und wir bald in das Badezimmer im Obergeschoss gingen. Dort kletterten wir, ohne die Schuhe ausgezogen zu haben, in die blitzende Badewanne. Monika streifte ihr Röckchen ab, dann die Unterwäsche und forderte mich auf, ebenfalls den Unterleib zu entblößen. Ich ließ Hose und Unterhose auf die Schuhe herab. Und dann soll sich nach der Erinnerung das Verwunderliche begeben haben, dass aus dem kleinen Mädchen, für das in der dritten Person das Wörtchen „sie“ zu gebrauchen, ein kleiner Junge geworden war, zwar ein Junge mit Röckchen, aber dieses hatte er ja abgelegt. Wir untersuchten und verglichen und fanden bestätigt, dass kein Unterschied vorhanden war. Wir waren sehr befriedigt. Da ließ uns die Stimme meiner Großmutter zusammenfahren, die von der Treppe her zweimal laut meinen Namen rief. Monika griff nach dem Röckchen, fand gerade noch Zeit, sich zu bedecken, und war auch schon entschlüpft. Ich zog die Hose hoch und knöpfte mich zu, während die Großmutter schimpfend die Wanne nach Kratzern absuchte, die wir tatsächlich mit unseren Schuhen hinterlassen hatten. Dann wurde ich fest bei der Hand genommen und unter lautem Gezeter nach Hause gezerrt, wo ich eine Tracht Prügel erhielt. Die Großmutter gebrauchte dabei den Handfeger, dessen Rücken sie viele Male auf den meinigen niedersausen ließ. Ihre Erbitterung über den materiellen Schaden schien stärker als die Schmerzen, die ich zu ertragen hatte, sie musste wegen des ruinieren Emailles grausame seelische Qualen erleiden und konnte mich gar nicht genug züchtigen. In mir stieg wie eine Flutwelle aus der Brust ein Gefühl des Gedemütigtwerdens, der Wut und Empörung auf, das alles andere wegschwemmte, sogar die Empfindung für den Schmerz. Als das Gefühl den Kopf erreichte, nahm es mir für einen Moment die Besinnung. Ich schwankte, die Großmutter warf den Handfeger fort und schickte mich aus dem Haus, zu meinen Eltern.

Einem Planeten gleich durchlief ich in jenen Jahren immer dieselbe elliptische Bahn, deren Brennpunkte wie Fixsterne Eltern und Großeltern bildeten. Soeben entfernte ich mich mit großer Geschwindigkeit von dem großelterlichen Fokus, mächtig angezogen von der relativen Freiheit, die ich im Umkreis der vielbeschäftigten Eltern genoss. War ich am Wendepunkt angelangt, so verhinderten das Unentschiedene und Undurchschaubare am Vater jede weitere Annäherung. Ich fühlte mich dort nur geduldet, nicht geliebt, und kehrte auf meiner Umlaufbahn zur Großmutter zurück, deren energische Zuwendung oft so lästig wurde. Sonderbar, der Vater erklärte immer wieder seinen Abscheu aller Theorie gegenüber, doch sein Einfluss auf meine Entwicklung blieb schwach, da er rein theoretisch vorging und kaum Gefühl zeigte; die Großmutter dagegen pries häufig den Nutzen von Bildung und Wissenschaft und hatte in Wahrheit gar keinen Begriff davon, handelte stets nur instinktiv und im Affekt. So wuchs ich in einer verkehrten pädagogischen Welt auf und lernte hauptsächlich, dass die Begriffe sich nicht mit der Wirklichkeit deckten.

Die Grundsätze, nach denen ich erzogen wurde, widersprachen sich im Einzelnen und hoben sich gegenseitig auf. So wurde das Wechselbad ungewollt zum alleinigen Prinzip. (Indem ich dieses blasse und verbreitete Bild benutze, entgehe ich hoffentlich der Gefahr, schon wieder Proust zu plagiieren.) Das reale Baden ist ein schönes Beispiel dafür. Die Eltern kümmerten sich wenig darum, ob ich mich regelmäßig wusch, mich kämmte und mir die Nägel schnitt. Vom Vater ging meist ein Geruch aus, der von Schweiß, Erde und Mist herrührte. Unter den Mistarten, die bei uns anfielen, trug Hühnerkot am meisten dazu bei. Mein Vater war weit davon entfernt, sich seines Geruchs zu schämen. Er schätzte Körperpflege gering. Dafür beschäftigte ihn das Thema oft in Gedanken und er sprach auch gern darüber. Das tat auch meine Großmutter, nur im entgegengesetzten Sinn. Sie schien das Begriffspaar peinlich und sauber erfunden zu haben, und hier deckten sich Begriff und Wirklichkeit einmal. Es blieb nicht bei den einfachen Torturen des Kontrollierens, Ermahnens und des Waschzwangs. Meine Großmutter verfeinerte das System, indem sie die Kosmetik einbezog. Es hatte sich gezeigt, dass meine Körperhaut extrem trocken war. Also wurde ich zum Hautarzt gebracht, der eine fettige Salbe verordnete. Sie war zu erhitzen und wurde dann in fast flüssigem Zustand aufgetragen, eine schmerzhafte, langwierige Prozedur, die ich bald hasste und doch beinahe täglich über mich ergehen lassen musste. Natürlich konnte die Salbe nur nach vorherigem gründlichen Waschen aufgetragen werden, ein Teufelskreislauf von Ent- und Rückfettung. Misslich war, dass die Salbe zu erheblichem Teil nicht in die Haut eindrang, sondern in die Wäsche, die daher oft zu wechseln war. Was nicht von Haut oder Wäsche aufgenommen wurde, blieb als bald graue, schmierige Schicht zurück, fein verteilt auf Brust, Bauch, Rücken und Hinterteil sowie an Armen und Beinen.

Das Bad am Sonntagmorgen nahm ich in einer Blechwanne, die in der Waschküche aufgestellt wurde. Sie lag im Keller und erhielt etwas Licht vom Garten her. Es war schummerig dort. Auf dem vielfach zerbrochenen Zementboden krochen Kellerasseln umher. An der Wand stand eine unförmige Waschmaschine aus der Vorkriegszeit, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. Ich kratzte, in meinem Bottich sitzend, die ekelhafte alte Salbe vom Hals ab und betrachtete mein Geschlecht. Plötzlich überkam mich jenes Gefühl wieder, das ich so sehr fürchtete; es war das stärkste, das ich als Kind kennenlernte. Ich empfand eine Mischung aus Überdruss, Ekel und Langeweile. Mich erfüllte ein Gefühl völliger Nichtigkeit und Wertlosigkeit der eigenen Existenz. Für mich gab es keine Freude, keinen Sinn, für mich würde es stets nur diese alles umfassende Unlust geben. Ich verspürte Brechreiz und zugleich starken Durst. Diese Anfälle dauerten zwei, drei Minuten an und wenn sie mich verließen, war auch der Durst verschwunden. Ebenso plötzlich und heftig wie epileptische Anfälle hinterließen auch sie ein Gefühl der Erschöpfung und der Leere, das stundenlang andauern konnte. Um das zwanzigste Lebensjahr verschwanden sie allmählich, kehrten später noch einmal für kurze Zeit zurück und gaben dabei den letzten Anstoß zum Schreiben als Gegenmittel.

 

Ein Sonntagnachmittag im Hochsommer - viele ähnliche Sonntage hat es gegeben. Ich bin jetzt zwölf. Das erste Erinnerungsbild ähnelt einer Fotografie im Familienalbum. Tatsächlich besitze ich Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dieser Zeit mit denselben Personen, derselben Szenerie, aber an diesem Sonntag sind wir nicht fotografiert worden.

Der Kaffeetisch ist unter dem Kirschbaum aufgebaut. Die Sonne schickt Strahlen durch das Blattwerk, zeichnet ein bewegliches Muster aus hellen und dunklen Streifen auf Tante Annas Kleid. Den Sommerwind spüren wir kaum, nur die Reflexe, die er mit den Blättern erzeugt, huschen flink über unsere kleine Gruppe. Unaufhörlich blitzen diese Vertikalen auf, ändern ihre Form, verschwinden, kehren zurück. Es sind Lanzen aus Licht, die sich vergeblich bemühen, die schwarzen Tupfen auf Tante Annas weißem Kleid in Bewegung zu setzen. Die Tupfen verharren so statisch wie die Tante, die drei Stück Torte gegessen hat. Sie und meine Mutter hören dem Gespräch der Männer für eine Weile zu.

Tante Anna, dick und lustig, weiß manches, zum Beispiel das: Die Suppenwürze, die wir auch für Salate verwenden und sogar über die Nudeln geben, sei aus den Köpfen verendeter Kälber hergestellt. „Aber sag’s nicht weiter. Das ist ein Geheimnis“, flüsterte sie mir einmal zu und kicherte dabei wie ein Schulmädchen. Sie und Onkel Georg haben keine Kinder.

Ich gebe mir Mühe, nicht auf das zu hören, was Onkel Georg meinem Papa gerade erklärt. In mir formuliere ich die Frage, die mich allein an diesem Nachmittag bewegt: Wird Roland heute kommen? Werde ich ihn treffen?

Onkel Georg wird laut: „Wie alt ist der Vergaser, wie alt?! Ich hab’s ihm auf den Kopf zugesagt.“ Papa schmunzelt und scheint zu verstehen, wie schlau der Onkel gewesen ist und sich wieder mal nicht hat hereinlegen lassen. Doch als Papa sich zurücklehnt, dabei einen Buckel macht und sich das Kinn kratzt, weiß ich: Auch er hat nichts begriffen. Die Tante mischt Bewunderung in ihren verständnislosen Blick. Mama hat für solche Fälle einen höflich-skeptischen Gesichtsausdruck bereit: Ich bin noch nicht ganz überzeugt …

Der Onkel will es genauer erklären. „Dasselbe wie beim Felix“, schreit er über den Tisch, „mitten im Wald liegen geblieben, und als er die Motorhaube …“ Da, jetzt hat er das Sahnekännchen umgeworfen - Mama trocknet das Bächlein schon mit ihrer weißen Schürze. Der Onkel herrscht die Tante an: „Kannst du nicht aufpassen, musst du immer alles umstoßen?!“ Die findet den Scherz köstlich und gickert los. „Hab ich euch schon erzählt“, fährt der Onkel fort, „wie sie mit dem Kopf gegen die Scheibe ---“ Diese Geschichte habe ich schon viermal gehört. Da stelle ich mir lieber wieder meine Frage: Wird – wird - wird Roland heute kommen? Ich weiß, man muss das immer wieder so denken, mit zunehmender Konzentration. Die Außenwelt dabei ausblenden, dann bekommt die innere Stimme bald einen magischen Klang. So wird aus Hoffnung erst Zuversicht, dann Gewissheit. Aber ich schaffe es heute nicht. Ich höre immer noch, wie der Onkel von Motoren und Pannen erzählt und mein Vater scheinbar kluge Gegenfragen stellt. Sie sind noch in der ersten Phase. Ihre Gespräche haben nicht nur immer den gleichen Inhalt, sondern meistens auch den gleichen Verlauf.

Roland war damals mein Idol, zwei Sommer lang. Ein Junge aus unserer Nachbarschaft, aus einem der kleinen Siedlungshäuser. Schwarzhaarig, groß, schlank, breitschultrig. Von unnachahmlicher Eleganz und leicht träger Arroganz. Er war schon vierzehn und zog ab und zu mit zwei, drei anderen Jungen über Papas Land zum Sieben-Quellen-Tal. Ich schloss mich ihnen freudig an. Bei den Quellen geschah wenig, doch es genügte meinem Überschwang. Wir stauten Rinnsale auf oder versuchten, in einem der kleinen Sümpfe stecken zu bleiben. Roland stemmte in schöner Haltung, mit verächtlicher Gebärde einen Felsbrocken. Ich schlug ihm vor, er müsse unser Anführer werden. Das war er zwar schon, aber er sagte, das wolle er wirklich nicht sein. Dieser Verzicht, so edel und schmerzlich schön, band mich noch mehr an ihn.

Vorerst muss ich noch im Garten aushalten. Die Beete sind mit Sträuchern eingefasst, Johannisbeeren, Stachelbeeren. Sie biegen sich unter der Last reifer Früchte. Ganze Zweige liegen auf der Erde und die Beeren verfaulen. Zehn Meter von uns entfernt pflückt eine alte Frau in gebückter Haltung. Man sieht von ihr nur den langen dunkelblauen Wollrock und die verschiedenfarbigen Unterröcke, die hervorlugen. Die alte Frau, infolge vieler Feldarbeit und einseitiger Belastung schief geworden, führt Selbstgespräche. Halbe Sätze dringen bis zu unserem Kaffeetisch.

„Ruth, warum sitzt Oma Else nicht bei uns?“ will Tante Anna wieder mal wissen. Sie kann sich nicht an einen Zustand gewöhnen, der für uns selbstverständlich ist. Mama hält lange Erklärungen für unnötig, die Tante hat schon oft hier Kaffee getrunken: „Ach, ich hab ihr ein Stück Kuchen hingestellt …“ Tante Anna tut verdutzt. Sie lässt gern merken, was sie von unseren Sitten hält. Dann fragt sie: „Aber deine Eltern, die kommen doch noch?“

Onkel Georg hat gerade „atü“ gesagt. Mein Vater hat die Frage der Tante mitbekommen, er räuspert sich ärgerlich und blickt auf Mama, die, so hofft er, antworten wird: Heute nicht. Stattdessen sagt sie: „Vielleicht kommen Tante Franzi und Onkel Walter und bringen sie mit.“

Jetzt bin ich alarmiert. Mit dieser Tante, gegenwärtiger Lieblingsschwester meiner richtigen Oma, habe ich nicht gerechnet. Ich überlege, was ich mehr fürchte: den Besuch der Patentante oder Rolands Ausbleiben. Vielleicht ist die Tante eher zu ertragen, wenn ich sicher sein kann, Roland später noch zu treffen.

Ob Tante Franzi auch weiß, was mit den Köpfen verendeter Kälber geschieht? Ich traue es ihr zu, aber sie spricht dann nicht darüber. Dafür schmückt sie ihre Rede gern mit Sprüchen, deren Herkunft und Bedeutung ich nicht kenne. Da ist dieser Sprechgesang, wenn sie aufbricht: „In Jerusalem am Bahnhof, da gibt’s ein Wiedersehn …“ Seltsam. Ihre Besuche dauern nie lange, sie kommt erst, wenn der Kaffee schon vorbei ist und man auseinandergehen will. Sie nimmt gar nicht erst Platz, bringt alles im Herumgehen oder –stehen zur Sprache und verschwindet nach einer halben Stunde wieder mit Onkel Walter, der den Käfer steuert. Sie absolvieren an einem Nachmittag drei oder vier Verwandtenbesuche.

Mehrmals im Jahr, zu Festen oder wenn Geburtstag ist, überreicht sie mir als Patengeschenk einen versilberten Löffel oder etwas anderes für den Besteckkasten. Überreichen ist das treffende Wort für die kleine Zeremonie. Die Tante richtet es so ein, dass die Übergabe des Löffels vor aller Augen erfolgt. Sie selbst scheint so gerührt, dass ihr die Sprache versagt. Das einsetzende Schweigen muss die Bedeutung des Augenblickes unterstreichen. Mir ist all das peinlich, denn ich weiß, dass ich nun Dankbarkeit heucheln muss. Aber das ist klar: Dieser schwere Löffel, der irgendwie nach „getriebenem Silber“ aussieht und im Käufer eine andächtige Stimmung erzeugt hat, ist ein Wertgegenstand. Für diese materielle Gabe habe ich eine Gegenleistung zu erbringen, den Ersatz eines unterdrückten Gefühls durch ein vorgetäuschtes. Und der kleine Koffer mit dem Kunstlederbezug – wie „gepresstes Leder“ – weist noch viele leere Fächer auf, nicht nur für Löffel, auch für Messer, Gabeln, Teelöffel, Kuchengabeln, für Schöpfkelle und Tortenheber … Ich kann mir nicht vorstellen, später einmal mit diesem klobigen Besteck zu essen.

„Was ist dir beim Backen lieber, Hefe oder Backpulver?“ will die Tante jetzt von Mama wissen. „Hier hast du doch Hefe genommen?“

Onkel Georg seufzt schwer: „Nicht mal am Sonntag kommt man richtig zur Ruhe. Ein elendes Leben ist das …“

Mama antwortet, sie bevorzuge Hefe, vor allem bei gedecktem Apfelkuchen. „Nur für die einfachen Böden nehme ich Backpulver, geht schneller. Da schmeckt man den Unterschied kaum.“

„Morgen früh um halb sechs wieder mit dem Hänger auf die Autobahn!“ verkündet der Onkel. Wir bedauern ihn nicht, das Klagelied ist zu oft angestimmt worden. Er ist Fuhrunternehmer, transportiert Holz aus den Wäldern in die Sägewerke. Er ist vom Auftraggeber abhängig, genau an Vorgaben gebunden. Der Onkel hat das Risiko eines freien Unternehmers, ohne dessen Unabhängigkeit: Das wissen wir alles schon.

Papa nimmt das Stichwort auf, nur nicht im Sinne seines Cousins. „Du hast es noch gut, eine halbwegs feste Arbeitszeit. Wenn man aber Vieh hat, weiß man gar nicht, was Feierabend ist.“

„Häkelst du eigentlich noch?“ höre ich die Tante Mama fragen.

Der Onkel protestiert, seine Arbeit sei dafür viel gefährlicher. „Du kennst den Wald nicht, diese Steilhänge. Wie kriegt man die Stämme zum Ladeplatz runter, ein Kunststück ist das jedes Mal.“ – „Und hier“, sagt Papa, „wächst das Unkraut und wächst und wächst … Wir kommen nicht dagegen an.“

„Ja, im Winter häkele ich wieder. Aber jetzt ist dafür keine Zeit.“ Mama scheint den Anschluss an das Männergespräch gefunden zu haben, setzt sich aber gleich wieder davon ab: „Die ganze Woche habe ich Johannisbeeren eingekocht, ich muss dir nachher zeigen, wie groß die Vorräte schon sind. In drei Jahren können wir das nicht verbrauchen.“

Papa: „ … und spätestens im Winter müssten die Hühnerställe ausgemistet werden. Man kommt eben nie zu allem, was nötig wäre.“ Onkel Georg erinnert an seinen stillliegenden zweiten Lastwagen. „An die Reparatur darf ich gar nicht denken. Wer soll das alles bezahlen? Und dann noch die Steuern!“

„Schenk mir noch eine Tasse ein.“ Die Tante lehnt sich zurück, anscheinend abgestumpft gegen die Sorgen ihres Mannes. „Im Garten hat man immer Beschäftigung“, sagt meine Mutter, „nie Langeweile.“

„Auf der anderen Seite: Druck, Druck, Druck. Die Termine kaum einzuhalten“, behauptet der Onkel. Papa bleibt ungerührt. Ich weiß, er schätzt es nicht, wenn einer noch arbeitsamer und gehetzter sein will als er.

Tante Anna bewundert die frisch geputzten Fenster von weitem, wie schön sie sich spiegelten. Mama sagt was von „Kitt erneuern“ und „tapezieren wollen“. Sie will gleich eine Broschüre mit neuen Mustern heraussuchen. - „Was mich am meisten ärgert: der ganze Bürokratenkram, die vielen Formulare …“ Das ist wieder mein Vater. Und der Onkel: „Das muss sich alles ändern. Einfach Schluss machen damit, fertig!“

„Tante Mariechen hat mir eine Vase geschenkt, so groß und eckig, wie man sie jetzt hat.“ Auch die Vase verspricht Mama der Tante zu zeigen. Aber mein Vater entscheidet, dass stattdessen unser Bauplatz besichtigt werden soll. Wir bauen ja ein neues Haus, dahinten im Wäldchen. Zu sehen gibt es noch nichts, und Papa wird nicht dabei sein, er muss zu den Ställen. Das Vieh warte, während wir schon viel zu lange hier säßen ---

Wir stehen langsam auf. Und da höre ich das tuckernde Geräusch vom Fahrweg weiter unten herauf. In zwei Minuten trifft also Tante Franzi mit dem verhassten Löffel bei uns ein. Mich beschenken zu lassen, es erfüllt mich auch jetzt mit Widerwillen. Ich hasse es überhaupt, beschenkt zu werden. Am Morgen meines Geburtstages zögere ich das Aufstehen so lange wie möglich hinaus. Es fällt mir schwer, eine freudige Grimasse herzustellen. Immer erhalte ich nützliche Sachen, deren Wert für mich ich nicht einsehe.

Das Geräusch ist nicht mehr zu vernehmen, der Wagen hat also die erste Biegung passiert. Die anderen haben wohl nichts gehört. Papa schlägt schon den Fußweg hinunter ein. Mama bringt erst noch das Kaffeegeschirr ins Haus. Sie geht an Oma Kathi vorbei, ohne sie anzusehen. Wir anderen zuckeln hinterher. Auf einmal weiß ich, was ich tue. Ich sage, sie sollten schon mal vorausgehen, ich würde mir noch was ansehen. Und ich renne den kurzen, steilen Pfad hinauf - Roland entgegen. Oder wem auch immer.

„Bub, bleib doch bei uns“, höre ich die Tante noch rufen. „Gehört sich so was denn?! Wie eigen du bist. ...“

 

Damals, Tante Anna, hattest du, ohne es zu ahnen, schon das Schlusswort.

Roland kam an diesem Tag nicht und sonst auch keiner.

 

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Tag der Veröffentlichung: 07.11.2023

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