1
In jenem Sommer gewöhnte B. sich an, auf die Frage nach seinem Befinden einfach nur „Leidlich“ zu sagen. Zu weiteren Auskünften war er nicht mehr bereit. Das Wort schien ihm alles zu enthalten: Gleichmaß der Dinge und ihrer Entwicklung, Mittelmaß der Empfindung wie des Selbstwertgefühls. Es war noch kein Unglück geschehen. War das ein Grund zur Freude? Vielleicht der einzige, der nicht auf Selbsttäuschung beruhte. Wie eine von Kafkas Figuren hätte er von sich sagen können: Ich klage nicht, ich klage nicht … Aber dieses kurze und knappe Wort, grammatikalisch als Personalpronomen der ersten Person Singular definiert, kam ihm nur noch schwer über die Lippen.
Von seinem Ich zu sprechen, war ihm mit der Zeit peinlich geworden. Tat er es doch, hatte er das Gefühl, zu viel Aufhebens von Umständen zu machen, die es nicht wert seien. Auch fürchtete er Missverständnisse. Dazu gehörte das besondere Interesse anderer, also Außenstehender, für seine Besonderheiten. Sie nennen das Anteilnahme – als ob so etwas möglich wäre! Jede Situation steht schließlich unter einer speziellen Eigengesetzlichkeit. Man kann sich jedem Punkt im Kosmos mit mehr oder weniger Interesse nähern und an Wertschätzung kommt immer nur heraus, was vorher hineingesteckt worden ist.
Mit sich selbst seit langem allzu sehr vertraut, war ihm die Neugierde auf die eigene Person irgendwann abhanden gekommen, wahrscheinlich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt und mit einem Schlag, sondern allmählich und unmerklich, solange der Prozess andauerte. In einem wesentlichen Punkt unterschied er sich nun von seinen Zeitgenossen: Sie äußerten sich weiter gern über ihr Befinden, ihre Ansichten und Eigenschaften – er tat dies nicht einmal mehr im Stillen. Viele Jahre lang hatte er Tagebuch geführt, unter dem Zwang, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, eine Sache, die allmählich eingeschlafen war. Zum Glück hatte er nie schriftstellerische Neigungen verspürt. Jede Art von Schriftstellerei ist doch, offen oder verkappt, nur eine Art, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Zu Beginn der schönen Jahreszeit fing er damit an, seine Wohnung auszuschmücken. Es war ihm, als müsse er um sich herum einen Ausgleich schaffen für den Substanzverlust, den er an sich selbst registriert hatte. Schöne Objekte und wohltuende Ansichten sollten das frei gewordene, früher dem eigenen Ich zugewandte Interesse aufs Neue binden. Er spürte, dass dies für den Zusammenhalt der auseinanderstrebenden Bestandteile seiner Persönlichkeit entscheidend wurde.
Zuerst heftete er ein Kalenderblatt in der Nähe seines Schreibtisches an die Wand. Die Fotografie zeigte zwei blühende Apfelbäume vor hellgrüner Saat und dunklem Nadelwald. Dann erwarb er ein Plakat, die Reproduktion eines Bildes in fotorealistischer Manier. Man sah da auf schmalem Sandstreifen und vor hohem und intensiv blauem Himmel nur drei einander ähnliche weiß gestrichene und verschlossene Strandhütten. Das Meer war im Bild nicht sichtbar. Dieses kühle Stimmungsbild wirkte seltsam zwischen den Möbeln seines Wohnzimmers, die teils von Erbschaften herrührten, teils in sehr verschiedenen Abschnitten seines bisherigen Lebens erworben waren. Es neutralisierte, was an Erinnerung und Erfahrung in den warmen Brauntönen der Möbel für ihn noch enthalten war. Schließlich entschloss er sich, im Schlafzimmer jenes Kalenderblatt zu befestigen – und zwar so, dass abends vom Bett aus der letzte Blick, ehe er die Licht löschte, darauf fiel -, jene Abbildung, die vier Birken unter einem reinen blauen Junihimmel zeigte, alle vier im Sommerwind.
Er versenkte sich gern in den Anblick dieser Bilder, die Reihen identischer schöner Objekte vorwiesen, und empfand dabei umfassende und lang anhaltende Beruhigung.
2
Nicht in die Augen! – Er war ebenso erschrocken wie B., als er es sagte. Aber es war schon zu spät.
Natürlich hatte B. vorher sein gelbes Tuch gesehen. Sie kamen in jener Nacht um halb eins ins Bronx. Er erkannte sie auf den ersten Blick wieder. Drei Monate davor waren sie in der Stadt gewesen, schon damals waren sie ihm aufgefallen. Jetzt riss er unwillkürlich die Augen auf, als der Kleinere von beiden an ihm vorbeiging - der bemerkte sein Interesse und sah B. für einen Augenblick ernsthaft an.
Die beiden traten wieder so auf, wie er sie in Erinnerung hatte. Entspannt und gut gelaunt schoben sie sich durch die Menge. Dabei stießen sie auf Bekannte, mit denen sie eine Weile sprachen, lachten. Der Kleinere setzte sich schließlich ab. B. folgte ihm. Als er vor ihm stand, sah er ihm erst auf seine Chaps, dann wieder in die Augen. B. merkte er, dass der andere es sich gern gefallen ließ.
B. stellte sich dicht hinter ihm auf. Jetzt sah er das gelbe Tuch in der linken Gesäßtasche. Sich darauf einlassen? Er rechnete nicht damit, dass es dazu kommen könnte. Die zwei waren für ihn ein Paar und es war unwahrscheinlich, dass beide Lust auf ihn bekommen würden. Der andere sah sich einige Male nach B. um. Aber er kam nicht zu ihm, wie B. gehofft hatte.
Johannes traf jetzt ein und begrüßte B. von weitem. Ihn konnte er ausfragen. B. hörte, das seien Marius und Toni aus Köln, angenehme und freundliche Zeitgenossen und Toni sei recht zugänglich.
Auf einmal war Toni verschwunden. B. löste sich von Johannes. Weiter hinten fand er die beiden im Gespräch mit einem Dritten wieder. Ihre Unterhaltung stockte keinen Augenblick. Was sie einander zu sagen hatten, die laute Musik übertönte es für ihn, obwohl er nur zwei Meter entfernt stand. Reihum ergriffen sie das Wort und lachten dazwischen. Ihm schien es, alle drei befänden sich in Wahrheit an einem weit entfernten Ort, ihm unerreichbar. Irgendetwas hatten sie gemeinsam und unterschied sie von allen anderen. War er wieder einmal zu spät gekommen? Und was war dieses Gemeinsame, das ihren Gesichtern einen ähnlichen Ausdruck verlieh, wenn sie miteinander sprachen oder lachten? Sie wirkten wie leichte Varianten einer mit sich selbst identischen Figur. Was sie unterschied, die Nuance also, erfasste er besser. Marius, der Größere von den beiden aus Köln, erschien ihm die Gelassenheit selbst, Toni war die Lust und nichts als die Lust und der Dritte, den er vorher nie gesehen hatte, verkörperte die Neugierde.
B. riss sich von ihrem Anblick los, um sich auch von ihrem Eindruck zu befreien, und ging eine Weile im Lokal auf und ab.
Eine Viertelstunde später … Er sah Marius allein am alten Platz stehen, Toni und der andere waren fort. B. suchte sie überall im Lokal. Unten, im Hauptraum der Bar, waren sie nicht. Also die Treppe zum Videoraum hinauf – keine Spur von ihnen, auch nicht hinter der Trennwand, soweit seine Augen die Dunkelheit durchdringen konnten. Er ging rasch hinunter und Marius geriet erneut in sein Blickfeld. Seine Miene verriet nicht, wo Toni sein könnte. B. ging von ihm weg und nahm die andere Treppe, die zu den Toiletten. Warum wollte er wissen, statt nur zu vermuten, dass die beiden sich in einer Ecke gut verstünden? Er würde dann, wenn auch enttäuscht, beruhigt fortgehen können.
Toni stand allein am Ende der Treppe. Hatte er ihn da erwartet? Er sah B. wieder ernsthaft an, ohne den Blick auch nur einmal abzuwenden. B. ging an ihm vorbei und der andere folgte sofort ins Pissoir. Dann stand B. am Becken, zwei Meter weiter der Kölner, an die Wand gelehnt. B. war klar, dass es auf eine Sache an Ort und Stelle hinauslief, vermutlich in einer Kabine. Keine gute Idee …
Einer stellte sich zum Pissen neben ihn hin. B. tat so, als wäre ihm das unangenehm, und verließ den Raum. Aber er ging nicht hinunter, das hätte den Kölner nach diesem Vorspiel sicher verärgert. B. wartete im Durchgang zu den Einzeltoiletten. Er machte sich nicht klar, mit welcher Absicht eigentlich.
Der andere kam auch jetzt hinterher. Sie standen allein im Durchgang. B. lächelte, er hoffte, der Kölner würde es auch tun. Aber Toni blieb ernst, er sah ihn intensiv an, wobei die Augen nervös hin- und herhuschten. In der hellen Beleuchtung konnte B. ihn zum ersten Mal näher betrachten. Er schätzte ihn auf Ende zwanzig, war sich nicht sicher. Kindergesichter wie seines haben etwas Altersloses. Dem schlichten Ausdruck war etwas Raffiniertes beigemischt, das Rätsel aufgab. Er hatte feine Züge wie auf einer orientalischen Miniatur, persisch oder indisch, auf jeden Fall exotisch …
B. hielt sich lieber ans Stoffliche. Die Wangen waren frisch rasiert und schimmerten bläulich. Auf der bleichen Kopfhaut schwarze Haarstoppeln. Auch der schwarze Schnurrbart war sehr kurz, nur dichter als das Haupthaar. Die Blässe des Gesichtes verriet, dass er nicht viel draußen war. Während er still dastand und B. erwartungsvoll ansah, wurde die weiche Form eines kleinen Bauchansatzes unter dem schwarzen T-Shirt sichtbar. Eine Bewegung lief durch die Schenkel, die in eng geschnittenen Chaps und kurzen schwarzen, fast zu schweren Stiefeln steckten. Offenbar wollte er die nähere Bekanntschaft nicht weiter hinausschieben. Den Kopf umgewandt, ging er zur nächsten freien Toilette. B. hätte ihn gern noch in Ruhe betrachtet, sich tiefer in seinen Anblick versenkt. Er folgte ihm und der andere verriegelte hinter ihnen die Tür.
Nun waren sie zum ersten Mal für sich – abgesehen von den Geräuschen aus der Nachbarkabine. Zuerst blieb alles, wie es gewesen war. Sie sahen sich wieder nur intensiv an, schärfer als zuvor, es war wie gegenseitiges Belauern. Keiner brach das Schweigen. Man stellt sich nicht vor, wird man plötzlich so intim miteinander.
B. wurde zuerst aktiv. Er lehnte den Kopf gegen Tonis linke Schulter. Damit Toni das nicht falsch verstand, verwischte B. den Eindruck wieder, indem er mit der Rechten Tonis scharf ausrasierten Nacken entlangfuhr, gegen den Strich, eine besitzergreifende Geste. Da erschien es dem Kölner an der Zeit, ihr Spiel richtig zu beginnen, und das hieß, ihm gleich eine eindeutige Richtung zu geben. Er zog B. das weiße T-Shirt aus dem engen Bund der schwarzen Lederhose und rollte es ihm über Bauch und Brust hinauf, bis beide Brustwarzen frei handhabbar dalagen. Im Nu hatte er zwei Brustklammern in den Händen. B. versuchte zu lächeln, und zwar nur aus Verlegenheit - nicht dass er sich Lust versprochen hätte. Toni führte ihm die Klammern bedeutsam vor Augen, als wären es wirklich peinliche Instrumente, und B.’s Lächeln erstarb, nicht weil er Furcht an sich empfand, sondern weil er Unlust fürchtete und seine Verlegenheit noch größer geworden war.
Toni spannte die zwei Sterne in ihre Marter und fragte nach kurzem: „Ist es in Ordnung so?“
B. antwortete: „Es tut verdammt weh.“ Er hoffte auf rasche Erlösung. Der Schmerz und der Wunsch, Toni möge ihn unverzüglich zum Verschwinden bringen, waren seine einzigen Empfindungen. Toni unternahm nichts, sondern sah ihn wie vorhin prüfend an. Sein Gesicht wies keine Anzeichen befriedigter Grausamkeit auf, B. sah auf ihm nur scheinbar rein sachliche Neugierde, und den Schmerz ertrug er, B., nur, um Toni noch eine Weile beobachten zu können. Der Schmerz war schon weniger stark zu spüren und B. sagte sich, es sei doch seltsam, von wem er sich da quälen ließ. Er fühlte sich Toni in keiner Weise unterlegen. So wenig fühlte er sich ihm unterlegen, dass es tatsächlich in seiner eigenen Macht stand, so mit sich verfahren zu lassen oder es nicht zu tun. Er betrachtete Toni jetzt mit der allmählich einsetzenden Empfindung von Lust. Ja, Toni diente in Wahrheit seiner Lust! Der Schmerz war fast verschwunden, es war ein beinahe angenehmes Gefühl. Toni löste die Klammern rasch und steckte sie weg.
Als Nächstes legte er B. beide Hände um die Kehle – nur mittelgroße und ziemlich weiche Hände, wie B. dachte – und begann, vorsichtig zuzudrücken. Er riskierte nichts und ließ die Hände bald sinken. Dafür musste ihn B. küssen. Toni wich dem Kuss nicht aus. Mit derselben Neugierde, mit der er B.’s Schmerzempfindung geprüft hatte, gab er sich dem Kuss hin, brach ihn aber mitten drin ab. Er begann sofort, B. erneut zu würgen.
Das alles waren für Toni nur Vorspiele. Er kam endlich zur Hauptsache und fragte: „Lässt du dich anpissen?“
Es war eine sachliche Frage, die er in höflichem Ton stellte. Es schien sich um eine Dienstleistung zu handeln, die er anbot. B. konnte sie ebenso gut annehmen wie ablehnen. Er sagte: „Ja“ und versuchte nicht einmal, eine Gefühlsregung vorzutäuschen, Abscheu oder Begierde beispielsweise. Was auf ihn zukam, war ihm gleichgültig.
Toni öffnete rasch den Schlitz der ausgebleichten Jeans, die er unter seinen Chaps trug. Er zielte auf B.’s Brust und überschwemmte sie im Nu. Seine Blase war gut gefüllt, sicher ein zusätzlicher Reiz für ihn. Rasch wirkten sich die Zentrifugalkräfte aus, der Strahl stieg unvermittelt steil an und noch ehe B. ausweichen konnte, hatte er einen Schwall im Gesicht und im linken Auge.
„Nicht in die Augen!“ Toni war nicht weniger erschrocken als B., der bei sich dachte: Zu spät, das hättest du dir vorher selbst sagen sollen.
Sie taten, als wäre nichts Besonderes passiert – der Zwischenfall blieb hoffentlich ohne Folgen – und machten lustvoll weiter. Die Sache nahm den gewöhnlichen Verlauf. Nachher hatte es Toni eilig wegzukommen, doch war er bemüht, dies nicht offensichtlich werden zu lassen. Er lächelte sogar beim Abschied. Als B. aus dem Waschraum in die Bar zurückkehrte, waren alle drei verschwunden: Marius, Toni und auch der Dritte von vorhin.
3
Nicht in die Augen! – Es war hoffentlich kein Unglück geschehen.
B. dachte in den folgenden Tagen oft an das kleine Abenteuer. Seine Gedanken kreisten vor allem um das, was für Toni der Höhepunkt gewesen war. Wassersport nannten sie es. Ihn selbst hatte diese Variante von jeher ziemlich kühl gelassen. Es war in all den Jahren nur selten vorgekommen und an Details erinnerte er sich kaum. Zwei- oder dreimal hatte er andere berieselt, auf ausdrücklichen Wunsch und ohne Nennenswertes zu empfinden. Es war nicht schwer, diese Art von Befriedigung zu verschaffen. Oder etwa doch? B. dachte an einen Fall, über den man neulich im Village gelacht hatte. Ein junger Bursche, ohne Erfahrung in diesen Praktiken, hatte geglaubt, sich damit wichtig machen zu müssen, dass er mit gelbem Tuch in der linken Gesäßtasche herumstolzierte. Als dann einer auf Erfüllung des Versprechens bestand, mühte er sich eine Viertelstunde vergeblich und gestand schließlich, nichts als Hemmung zu verspüren, unüberwindliche Hemmung. Diese Blockade war schon wieder verdächtig.
Es passiv zuzulassen, versuchte er, wenn irgend möglich, zu vermeiden. Es war nicht gut für die Klamotten.
Sind diese Praktiken nicht doch ekelerregend? Das behaupten die meisten, die es nie probiert haben. Ist Ekel angeboren oder anerzogen? Schon darüber gehen die Meinungen auseinander. B. selbst ekelte sich vor vielem, vor Taubendreck und Hundescheiße, vor den Ausdünstungen chronischer Alkoholiker und vor Erbrochenem in unterirdischen Bahnhöfen. Für ihn waren das jeweils ursprüngliche Regungen, vor jeder Erziehung vorhanden. Unser Abscheu ist übrigens unzuverlässig. Schon Freud hat auf eine solche Inkonsequenz des Ekels hingewiesen: Empört weisen wir das Zahnbürstchen der jungen Frau zurück, die wir so gern auf den Mund küssen … Nun, das Beispiel passte nicht sehr gut. Ihm war der Mund der jungen Schönen ebenso gleichgültig wie ihre Zahnbürste.
Hatte er Ekel empfunden, als Toni sich auf ihm erleichterte? Keineswegs. Er prüfte seine Erinnerung noch einmal und stieß nur auf Indifferenz. Woran lag das? Vielleicht daran, dass Urin auf nackter Haut ein so schwacher körperlicher Reiz ist? Ja, es kommt dabei mehr als bei den meisten anderen Praktiken auf die Vorstellung an, die man davon im Kopf hat. Was an sich wenig reizt, wird durch Gefühle und Gedanken auf- oder abgewertet, die man an die Sache heranträgt. Und ist es nicht sonst ähnlich? Wie enttäuscht war er als junger Mann nach seinen ersten Küssen gewesen ... Erst nach einigem Üben kam er auf den Geschmack. Und hieß das nicht, er würde sich vielleicht daran gewöhnen können, bepisst zu werden? Er legte nur keinen Wert darauf. Je mehr er allerdings nachdachte, umso klarer wurde ihm, er würde es bei Toni erneut zulassen.
Außerdem hatte die Sache noch einen besonderen Vorteil gehabt: Er hatte in Ruhe beobachten können. Ihm kam es vor allem darauf an, sich ein bleibendes Bild zu verschaffen. Der Körper des anderen erschien ihm auch in seiner heftigsten Bewegung wie eine Plastik, von der er am liebsten einen Abguss behalten hätte.
Er spürte weiter der Faszination nach, die von Toni ausging. Sein Kuss war merkwürdig gewesen, er entsprach nicht der sonstigen Rolle. Wenn es mehr als nur Konzession gewesen war, konnte man darin Lust am Wechsel erkennen.
Er sah Toni jetzt deutlich vor sich, die Haltung des Körpers, die Züge des Gesichtes, und erkannte die Lust am Probieren, die kindliche Neugier. Gerade bei seinen sadistischen Spielchen wirkte er harmlos und gutartig. War das die ursprüngliche, noch nicht kanalisierte und noch keinen Zwecken zugeführte Sexualität, über die lange viel geschrieben worden war? Aber so hatten ihre Theoretiker es sich vermutlich nicht gedacht.
Naiv war Toni war nicht, das verriet seine Mimik. Ihm waren die Prinzipien einer gesunden Sexualmoral bekannt. Das Bewusstsein, für pervers zu gelten, vermischte sich mit seinen natürlichen Bedürfnissen und bewirkte jene zweite Gemütsschicht, die sich zeitweise in ihm durchsetzte und seine freundlichen Züge für kurze Zeit entstellte. Die Lippen kräuselten sich dann ein wenig, der Mund öffnete sich in lustvoll verkrampft und der Blick aus dunklen Augen bekam etwas Stechendes. Doch es waren Zutaten, ein Beigeschmack, ein aparter Firnis, Produkt einer lustvollen Reflexion über sich selbst, bereits jenseits der eigenen Ursprünglichkeit. Er genoss sich und sein Gegenüber einmal voraussetzungslos und sah sich dann mit den Augen streng gesonnener Instanzen und bezog aus diesem Kontrast eine sekundäre Lust, die sich auf seinem Gesicht abmalte.
Wie schwach mussten diese Instanzen bereits sein, die auf solche Weise benutzt und der eigenen Lust dienstbar gemacht wurden: Schemen, die bei Verlangen zitiert werden konnten und dann eine flüchtige Gestalt annahmen oder sich in nichts auflösten, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort. Es waren notwendige Attrappen von Tabus, ohne die alles gestaltlos, gleichgültig geworden wäre …
So lösten sich B.’s Gedankengänge vom Vorgefallenen und bezogen sich schon aufs Allgemeine - er versuchte sich an Hypothesen. Da unterbrach ihn ein Anruf seines Bruders.
B. ließ sich ungern an ein Versprechen erinnern: Bruder und Familie zu besuchen. Ferdinand lud ihn jetzt fürs Wochenende ein. Mit schönem Wetter sei zu rechnen, sie könnten die Tage in ihrem Haus in der Eifel verbringen. Er konnte nicht wissen, was B. jetzt beschäftigte, nur war das keine Entschuldigung. Gerade in seiner Ignoranz bestand die Schuld des Älteren, immer schon war es so gewesen … B. empfand den Vorschlag als Zumutung, als störende Ablenkung. Innerlich noch damit befasst, die Eindrücke von Toni zu verarbeiten, sollte er nun Interesse fürs Familienleben heucheln – unmöglich. Er sagte, er habe schon etwas anderes vor, er wolle einen Gegenvorschlag machen und werde ihn demnächst anrufen.
Minuten später fiel ihm ein, dass der Weg in die Eifel über Köln führt. Vielleicht würden sich die für unvereinbar gehaltenen Interessen doch ergänzen. Warum nicht eine Nacht in Köln verbringen, sich wieder einmal dort umschauen und dann zur Erholung aufs Land? Er könnte den Montag freinehmen … Sofort rief er in Düren an und erklärte, er habe sich doch freimachen können, wenn auch erst ab Samstagabend. Ferdinand wollte ihn in Gerolstein vom Bahnhof abholen, sie würden am Freitagmittag aufs Land fahren. Den Zug hatte B. schon aus dem Kursbuch herausgesucht.
Dann telefonierte er mit Johannes, um sich erklären zu lassen, wo in Köln freitags etwas los war. B. sagte, er müsse seinen Bruder und dessen Familie besuchen und wolle sich vorher noch etwas Zerstreuung gönnen. Johannes schien das zu glauben. Wahrscheinlich täuschte er es nur vor.
4
Am Freitagnachmittag fuhr er von Hamburg nach Köln. Er brach unmittelbar vom Büro auf, wo sein umfangreiches Reisegepäck zu erstaunten Blicken geführt hatte. Die graue Reisetasche enthielt die Dinge, die er beim Bruder auf dem Land benötigen würde, der schwarze Koffer verbarg die spezielle Garderobe für das abendliche Ausgehen in der Stadt. Der Zug war nach Merkur benannt, doch im Unterschied zu dem Götterboten hatte er keine Sandalen dabei, vielmehr am Vorabend die schwarzen Polizeistiefel eingepackt; sie beanspruchten allein schon den halben Koffer; dann noch die schwere Jacke, Lederhose, Gürtel usw.
Der Zug war voller Soldaten, die über das Wochenende heimfuhren. Einer von ihnen, ein hübscher, schlanker Bursche in Uniform, sprang diensteifrig auf, als B. das Abteil betrat, und half ihm, das Gepäck zu verstauen. Sein Eifer amüsierte B., ohne dass er es zeigte. Unterwegs vermied er es, an Marius und Toni zu denken.
Sie kamen beinahe pünktlich an. Er schleppte seine Sachen in das kleine Hotel, in dem er früher schon gewohnt hatte. Obwohl Jahre vergangen waren, fand er das Haus unverändert. Der Wirt war ein androgyner Typ, der – statt die auseinanderstrebenden Teile seiner Persönlichkeit zu versöhnen – im Gegenteil die weiblichen Aspekte in sich selbst karikierender Weise unterstrich. Damit ging er B. nicht weniger auf die Nerven als früher.
Da nicht mehr viel Zeit war und er noch auf dem Bett ruhen und sich gründlich waschen und sorgfältig anziehen wollte, ging er nicht groß essen, sondern stopfte sich rasch in einem Imbiss in der Nähe mit allerhand Nahrhaft-Eiweißreichem voll. Gegen elf brach er auf. Der Wirt hatte noch immer die Unart, plötzlich im Treppenhaus zu erscheinen, wenn er Schritte auf den Stufen hörte. Die Rezeption befand sich im ersten Stock, das Zimmer lag noch weiter oben. Als er B. herunterkommen sah, aufgezäumt, wie er nun war, markierte er Überraschung und Bewunderung: „Ah … Passen Sie auf, dass Sie nicht unter die Räder kommen!“ Als er fortfuhr, sackte seine Stimmlage auf einmal ab: „Aber es hat sich ja ausgerollt.“ B. wünschte kühl einen Guten Abend und ging die Treppe weiter hinunter und auf die abendlich belebte Straße hinaus.
Er fand den Weg zu der Bar, die Johannes ihm genannt hatte. Sie war neu für ihn, aber er kam nicht dazu, die Räume ruhig zu betrachten. Es war schon recht voll und er sah auf den ersten Blick, dass ihn der eine oder andere reizen könnte. Er müsste es nicht einmal bedauern, wenn er Toni nicht begegnen sollte. Er tigerte eine Weile auf und ab und sortierte im Kopf. Wieder einmal erwies sich, dass der erste allgemeine Überblick ihn zu unbegründeter Euphorie verführt hatte. Die Reize dieser ihm zum größten Teil noch unbekannten Männer verflüchtigten sich, sobald er näher hinsah. Mal war es die Figur, mal die Aufmachung, mal die Mimik, die nicht seinen Vorstellungen entsprach. Es blieb nach einer Viertelstunde nur einer übrig, auf den er sich dann konzentrierte. Ein attraktives Geschöpf, noch sehr jung, weich und herb. Auf seine Art wirkte auch er androgyn. Doch hier stimmte es, er balancierte es aus und äußere Zeichen für dieses Bemühen voller Anmut waren für B. die beiden großen Ohrringe und die Art, wie der andere sie trug und wie er den Kopf hielt.
Zu seinem Verdruss stellte er bald fest, dass der Junge nicht allein da war. Der Drache an seiner Seite war gut doppelt so alt und seine Miene drückte Gegensätzliches aus. B. erkannte darin die Entschlossenheit, sich den Schatz nicht rauben lassen zu wollen, und zugleich das Interesse an dem neuen Gesicht. B. vermutete, er habe es mit einem Vogelfänger samt Lockvögelchen zu tun, und beschloss, keinesfalls auf den Leim zu gehen. Er entfernte sich quer durch die immer dichter werdende Masse schimmernd schwarz gekleideter Leiber. Jedoch folgten ihm die beiden beharrlich und bezogen in seiner Nähe Posten. Der Junge mit den Ohrringen war sehr verführerisch …
Plötzlich entdeckte B., dass er noch aus einer anderen Richtung beobachtet wurde: Toni stand da in einer Gruppe einheimischer Männer. Marius war auch unter ihnen. Toni sah angestrengt zu B. herüber, als bemühe er sich, einer Erinnerung auf die Spur zu kommen. B. fiel nichts anderes ein, als zu lächeln und mit dem Kopf zu nicken. Toni löste sich ohne Umstände aus der Gruppe und kam zu ihm herüber.
Er war diesmal gleich sehr lebhaft und stellte B. kurz hintereinander eine Reihe von Fragen.
„Hatten wir nicht gerade erst miteinander zu tun? Wusstest du, dass ich in Köln wohne? Spielen Entfernungen keine Rolle mehr?“
B. sagte, er sei erst vor drei Tagen von seinem Bruder eingeladen worden, er sei rein zufällig hier und bloß auf der Durchreise, morgen fahre er in die Eifel … Ach ja, jetzt falle es ihm wieder ein, irgendwer habe ihm letzten Samstag gesagt, dass sie beide aus Köln seien; er habe schon wieder vergessen, wer es gesagt habe, und er habe in der Zwischenzeit nicht mehr daran gedacht. Jetzt sei er wirklich überrascht, angenehm natürlich.
„Natürlich“, sagte Toni, „und morgen geht es also schon weiter.“ Er zog die Oberlippe hoch und schnüffelte mit der Nasenspitze im Schnurrbart. Wie ein kleines Nagetier, wenn es Witterung aufnimmt, dachte B. … Toni hatte offenbar schon herausgefunden, woher der Wind wehte, seine Züge entspannten sich und er lächelte, geradeso wie beim Weggehen neulich.
Er trug an diesem Abend eine eng sitzende schwarze Motorradhose mit schmalen weißen Längsstreifen an den Seiten, zum Motorrad fahren sicher viel zu eng, aber darauf kam es hier nicht an. Erleichtert stellte B. fest, dass heute keine gelbe Nacht war. Anstelle des gelben Tuches war ein anderes Accessoire getreten, eine schmale silberfarbenen Kette, die, an einer der breiten Gürtelschlaufen befestigt, von der rechten Hüfte herabhing und bei jeder Bewegung des Körpers wie eine Schlange um den weißen Längsstreifen zu züngeln begann.
Sie redeten eine Weile Belangloses über die Stadt und ihre Lokale. Toni kam dann bald zur Sache: Er habe voriges Mal leider nicht viel Zeit für ihn gehabt und ihn nicht nach Hause einladen können. „Heute ist es zum Glück anders. Hast du Lust, nachher mit mir zu kommen?“
B. entgegnete, er sei doch wohl nicht allein da. „Und Marius?“
„Sieh mal an, den Namen hast du behalten“, lachte Toni, „und ich brauche mich dann auch nicht mehr vorzustellen. Was hat man dir noch erzählt? Und wie heißt du?“
Offenbar war es Toni angenehm, dass über ihn und Marius geredet wurde. B. nannte ihm seinen eigenen Namen.
„Hat man dir auch gesagt, dass ich den Spitznamen Nummer sieben habe?“ B. verneinte und erfuhr, Toni sei letzten Sommer unter dieser Zahl bei einer Misterwahl in Amsterdam angetreten, natürlich ohne einen Preis zu gewinnen.
Alles war so einfach, so natürlich für Toni. Auch mit Marius würde es keine Probleme geben. „Er verfolgt seine eigenen Interessen. Ich muss ihn nur kurz informieren, bevor wir aufbrechen. Trink dein Bier aus, ich geh schnell zu ihm.“
Toni verließ ihn für ein paar Minuten. Er zog Marius aus dem Kreis heraus, in dem er sich weiter unterhalten hatte, ohne auch nur einen Blick auf Toni und B. zu werfen - so war es B. jedenfalls vorgekommen. Allerdings hatte er selbst während ihrer Unterhaltung fast nur für Toni Augen gehabt. Marius sah jetzt ein- oder zweimal flüchtig herüber. Toni kam schon zurück und B. hatte sein Kölsch noch immer nicht ausgetrunken. Der Rest schmeckte schal, er stellte die Stange in der Nähe ab. Er merkte, Toni hatte es eilig mit dem Aufbruch. Dann standen sie auf der Straße und Toni winkte ein Taxi heran.
Es ging in rascher Fahrt auf eine der Rheinbrücken hinauf. Sie rasten einem hohen Pylon entgegen und als sie durch das Tor in ihm schossen, schob Toni seine Hand unter B.’s Oberschenkel. Später zog er sie zurück, um B.`s Wange kurz zu streicheln, wobei er leise lachte. Der Wagen fuhr schnell über eine Stadtautobahn, fuhr unter breiten Brücken hindurch und über andere Brücken hinweg. Von der Stadt war außer fernen und oft wechselnden Lichtern nichts zu sehen. Die Taxe fädelte sich rasant aus der Strecke aus, glitt einen verwickelten Knoten entlang und befand sich schon auf einer anderen Autobahn, die weiter von der Stadt wegführte. In einer lang gezogenen Kurve sank Tonis Kopf auf B.’s Brust und blieb da liegen, bis Toni sich auf einmal aufrichtete und zum Fahrer „Hier stopp!“ sagte. Dem Fahrer war nichts anzumerken, er mochte oft Kunden wie sie haben.
Es war eine nächtlich stille Seitenstraße am Stadtrand, links und rechts schmale Reihenhäuser, vermutlich aus den frühen sechziger Jahren. Toni führte ihn auf eine der vollkommen gleich aussehenden Haustüren zu, im Vorgarten unter dem schwachen Schein einer Pilzleuchte ein reich blühender Goldregen. In der Diele hingen, neben dem Garderobenspiegel, drei oder vier schwarze Lederjacken. Toni ging voran, die Wendeltreppe hinauf, die frei schwebend um einen Betonpfeiler ins obere Geschoss führte. Er öffnete die Tür zu einem Raum von mittlerer Größe.
„Das ist mein Schlaf- und Arbeitszimmer.“
„Wohnt Marius auch im Haus?“
„Ja, aber er haust unten.“
Die Möbel waren aus Kirschbaumholz. Auf einem kleinen Schreibtisch verbreiteten weiße Lilien ihr süßes und reines Parfüm, verdünnt durch Nachtluft, die durch ein spaltbreit geöffnetes Fenster einströmte. Toni schloss das Fenster und sorgte für die übliche Hintergrundmusik. B. liebte diese Gewohnheit nicht, doch voller Freude erkannte er schon bei den ersten Takten dieser Musik für Klavier und Orchester eines seiner Lieblingstücke, Manuel de Fallas Nächte in spanischen Gärten. Dann führte ihn Toni vor das Oval des Spiegels neben dem Schreibtisch und ließ ihn alles betrachten: sich selbst, Toni in seinen Armen und die weißen Lilien.
War es nicht zu schön, um wahr zu sein?
Die Töne, träumerisch oder bewegt, perlten durch das schöne Gehäuse, das sie umgab. Toni war zu B.’s Erstaunen heute nur auf Küsse und Zärtlichkeiten aus und bei aller Lust, bei all dem sehr Erregenden war eine Grundströmung zu spüren, irgendetwas Forciertes, als wäre diese Lust etwas Verbotenes.
Der Kontrast zu ihrem Abenteuer neulich auf der Toilette war augenfällig. B. wusste, welche Bedeutung die Kette rechts hatte. Von der Zärtlichkeit zur Unterwürfigkeit war es nur ein Schritt. Aber als er Tonis Brustwarzen zu foltern versuchte, wehrte Toni entschieden ab, drehte ihm die Arme auf den Rücken und zog ihn mitten in einem langen Kuss aufs Bett.
B. war wieder einmal – es muss zu seiner Schande gesagt werden – nicht vollkommen bei der Sache. Wie, wenn er es mit einem Doppelgänger zu tun hätte? Das Motiv war ihm so oft in der Literatur begegnet, von E.T.A. Hoffmann bis zu Heimito von Doderer, nur niemals im wirklichen Leben. Im Leben waren alle, mit denen man es zu tun bekam, mehr oder weniger ähnlich, doch zwei Einzelne niemals wirklich identisch. Vermutlich kamen daher die Missverständnisse und in ihrem Gefolge das Unglück. Man brauchte bloß sie beide jetzt anzusehen, beide gleich groß, gleich dunkel, in sehr ähnlicher Haltung und Aufmachung – und dennoch war es unwahrscheinlich, dass Toni jetzt von ähnlichen Zweifeln und Bedenken erfüllt war wie er selbst. Was mochte überhaupt in ihm vorgehen?
Die Zimmertür wurde abrupt geöffnet und Marius blieb für einige Sekunden mit hässlicher Grimasse in ihr stehen. Dann ging er zur Musikanlage, die Spanischen Gärten verstummten.
„Ihr habt euch also amüsiert?!“
B., überrascht und verlegen, wollte die Antwort gern Toni überlassen, der ihm übrigens noch immer oder schon wieder die Arme auf den Rücken bog. Toni schien nicht verlegen, ja nicht einmal überrascht. Er ließ kein Auge von Marius, so als fasziniere ihn die sich abzeichnende Entwicklung. Statt Marius zu antworten – was vielleicht ohnehin unnötig war -, flüsterte er B. zu:
„Keine Angst, es ist alles in Ordnung.“
Diese Bemerkung erstaunte B. noch mehr: War alles nur Komödie? In diesem Augenblick warf sich Marius auf ihn, riss B.’s Hände aus Tonis Händen und sagte mit einer Art Kommandostimme: „Los, die Handschellen!“
Das ging jetzt doch zu weit. „Was soll das? Seid ihr beide verrückt?“
Marius hielt ihn fest, er konnte ihn nicht abschütteln. Schuld war auch dieses Kostüm, die enge Hose, die schweren Stiefel. Und Toni griff flink in einer Schublade seines Schreibtisches nach den blitzenden Dingern. Halb betäubt vor Verblüffung und vielleicht auch vom Lilienduft, hörte B. die Handschellen einrasten. Sie führten ihn schnell aus dem Zimmer, die Wendeltreppe hinab, wobei sie gut aufpassten, dass er nicht stolpere, und Toni raunte ihm noch einmal zu: „Es ist doch alles in Ordnung!“ Es war wohl wirklich eine Komödie, nur keine sehr geschmackvolle. B. verzichtete auf jede Gegenwehr und sagte kein weiteres Wort. In diesem Zustand aus dem Haus geworfen zu werden, konnte er sich auch nicht wünschen. Toni öffnete die Kellertür, helles Neonlicht flammte die Treppe hinunter auf. Marius ging hinter ihnen und seine Hand lastete schwer auf B.’s Schulter. Dieser Druck war B. nicht einmal unangenehm. Halt, sagte er sich, sie haben dich in jedem Fall hintergangen und du entwickelst Gefühle, die in einen mittelmäßigen Porno passen.
Hell erleuchtet lag auch der Vorraum da, den sie unten zuerst betraten. Toni öffnete eine Eisentür zu einer kleinen, fast leeren Kammer, drehte dort ein mattes Licht an und ging bis ans Ende der Kammer. Marius folgte ihm. Er bedeutete B., im Vorraum zu bleiben, und verschloss die Tür der Kammer von innen. B. hörte noch, wie sich der Schlüssel im Schloss bewegte, dann war es lange Zeit still. Da ließen sie ihn tatsächlich allein stehen!
Er horchte angestrengt. Nach einer Weile begann Marius zu sprechen. Toni antwortete ab und zu, immer nur kurz. B. verstand wenig von dem, was sie drinnen verhandelten, doch war ihr Tonfall beredt genug. Marius bestimmte den Verlauf, nachdrücklich, fordernd, anklagend und dem anderen öfter das Wort abschneidend oder, wenn Toni zögerte, auf Antwort bestehend. In Tonis Stimme lag Angst, er unterbrach sich häufig, er schien sich zu entschuldigen. Sie führten, wie B. allmählich klar wurde, eine Art Verhör durch – oder vielmehr imitierten sie den Verlauf einer peinlichen Befragung, denn über den Sachverhalt, Tonis Küsse und Zärtlichkeiten, gab es ja keinen Zweifel.
Hörte er richtig, so lieferte Toni nach etwa zwanzig Minuten eine Art von Geständnis ab: „Ja, ich habe mich vergangen …! Und Marius hörte er kurz darauf sagen: „Er kann dir jetzt überhaupt nicht helfen.“ Nicht lange danach setzten Schläge ein, offenbar von Peitschenhieben herrührend. Sie sprachen jetzt kaum noch. B., der bis dahin wie gebannt gelauscht hatte, spürte leichten Ekel in sich aufsteigen. Das Seufzen und Stöhnen, in das ihr Gespräch überging und das seine Nähe zu gesuchter und dann gefundener Lust nicht verleugnete, stieß ihn ab. Das würde ich mir gern ersparen, sagte er sich und entfernte sich einige Meter von der Tür. Das Echo der Schläge blieb hörbar. Er konnte sich nicht einmal die Ohren zuhalten. Ob Marius auch ihn in die Kammer holen würde? Oder benötigten sie ihn nur als stummen Zeugen, um sich noch raffiniertere Lust zu verschaffen? Er lehnte sich gegen die Kellerwand.
Plötzlich ging die Tür auf. Marius kam heraus und befreite ihn sofort von den Handschellen. Als Nächstes griff er nach einer kleinen Glasflasche, die in der Nähe auf einem Regal stand. Er gab B. die Flasche, sagte nur noch: „Los, spiel jetzt die Caritas!“ und ging dann die Treppe hinauf.
B. sah, dass die Flasche eine Tinktur enthielt. Drinnen saß Toni mit nacktem Oberkörper auf einer einfachen Pritsche, nach vorn gebeugt. Die Aufschrift auf der Flasche war in einer unbekannten Sprache abgefasst. War es Portugiesisch? Toni stöhnte ein wenig und krümmte den nackten Rücken. B. begriff endlich: Er sollte ihn verarzten. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er auch die breiten Striemen. Er machte sich an das mildtätige Werk. Toni wirkte erschöpft und zugleich beinahe fiebrig. Er war schweißnass, so dass B. auf den Gedanken kam, ihn zuerst abzutrocknen. Zu diesem Zweck zog er seine eigene Jacke aus und dann auch sein T-Shirt, um damit Tonis erkaltenden Schweiß aufzusaugen. Anschließend trug er die Tinktur auf, die einen bitteren und reinen Geruch verströmte.
Sie sprachen kein Wort. B., von Tonis Nähe bald wieder erregt, wünschte sich, Toni noch einmal küssen zu dürfen. Und er gab diesem Wunsch nach, jetzt frei von Zweifeln, bedenkenlos.
5
Warum war er nachher gleich ins Hotel zurückgekehrt? Sie hatten ihm doch angeboten, bei ihnen zu übernachten. Aber er ließ sich lieber von Marius in die Stadt zurückfahren. Toni, der schon halb eingeschlafen war, kam nur bis zur Haustür mit und sagte beim Abschied bloß: „Also, bis bald.“
Als sie losfuhren und B. sich nach seiner Gewohnheit zur Seite wandte, um einen letzten Eindruck vom Haus zu erhalten, geriet eben im Vorgarten der Goldregen gelbgrün ins Scheinwerferlicht und alles Übrige versank schon in der Finsternis. Marius schwieg zuerst längere Zeit, auch B. sagte nichts. Wenn B. sich nicht täuschte, fuhren sie dieselbe Strecke, die er mit Toni aus der Stadt herausgekommen war. Sicher war er sich nicht, die Szenerie bot eben nichts Markantes und was lag schon daran … Es hätte ja nicht einmal Köln sein müssen.
Marius ließ sich Zeit. Auch beim Fahren hatte er es nicht eilig und vermied den Eindruck, es rasch hinter sich bringen zu wollen. Dafür war B. ihm dankbar. Jetzt aufs Tempo zu drücken, hätte das Vorgefallene in einem noch fragwürdigeren Licht erscheinen lassen. Um nicht nur zu schweigen, begann Marius von einer Reise durch Portugal zu erzählen, die er im Vorjahr mit Toni unternommen hatte, ein ziemlich entlegenes Thema, wie B. schien. Sie waren also nach Lissabon geflogen und hatten sich einen Leihwagen genommen und waren drei Wochen lang durch den Norden des Landes gezuckelt. Das sei ein grünes und kontrastreiches Land, wo man alles Mögliche tun oder auch lassen könne … B. hörte ihm schweigend zu, als er von Porto und den Hügeln sprach.
Toni und er bräuchten auch mal echte Abwechslung. „Toni kann nie genug bekommen. Wir fahren jedes zweite oder dritte Wochenende weg: Amsterdam, Berlin, München … Einmal im Jahr muss eine längere Pause sein.“ Er zog die Mütze tiefer in die Stirn, er hatte sie schon den ganzen Abend getragen. B. hatte ihn noch nie ohne gesehen. Doch sie hinderte ihn beim Sehen, er tippte gegen den Schirm und schob sie zurück. Dieses Jahr würden sie wieder nach Portugal gehen, im September.
Jetzt waren sie schon auf der Brücke über den Strom und fuhren genau auf die Kulisse der Stadt zu.
Als Marius ihn vor dem Hotel absetzte, lud er ihn ein, sie wieder einmal zu besuchen. Er kramte im Handschuhfach nach einer Visitenkarte und als er sie B. gab, schlug er ihm mit der Linken aufs Knie und grinste auf eine Art, die B. trotz allem sympathisch fand.
Er war zurückgekehrt, um die Bilder dieser Nacht in sich aufbewahren zu können, wozu er sie entwickeln musste, ehe sie von neuen Eindrücken überlagert würden. Und dann wollte er versuchen, nachzudenken und hinter die verdrehte Mechanik zu kommen, die alledem zugrunde lag. Zuerst: er selbst – welch klägliche Rolle hatte er gespielt. Als er die Stiefel auszog, erinnerte er sich, von Marius die Caritas genannt worden zu sein. Vielleicht auch noch die Caritas von Giotto? Heiliger Swann! Jedenfalls eine gestiefelte, wenn auch nicht gespornte Caritas … Was lag daran!
In den folgenden Stunden kam er weder zur Ruhe noch zu tieferer Einsicht in den Ablauf der Nacht. Je deutlicher die Bilder vor sein inneres Auge traten, je plastischer sie wurden, umso weniger war er imstande, Gedanken darüber zu entwickeln, was dem sonderbaren und abrupt wechselnden Verhalten der beiden Freunde zugrunde lag. Die Bilder waren zu suggestiv, das machte jede Theoriebildung unmöglich. Einmal sank er für kurze Zeit in unruhigen Halbschlummer, erwachte und sah vor sich ein Modell, das alles zu erklären schien. Er war wie geblendet von der Folgerichtigkeit der Gedanken, die ihm in diesem Zustand zuflogen. Als er aber bald darauf im Morgengrauen vollends wach dalag, war das herrliche Gebäude zu einer Ruine aus blassen Schemen zusammengesunken. Die Erinnerungsbilder durchdrangen strahlend den Nebel aus Syllogismen und Kurzschlüssen. Er gab es auf und das hieß: Er nahm alles hin.
Er stand auf, ging duschen und zog sich dann für die Eifel passend an. Es war schon mitten am Vormittag, als B. den Frühstücksraum betrat. Unter den wenigen Gästen, die ihn alle kurz und prüfend musterten, erkannte er ein Gesicht wieder. Es gefiel ihm gut. Leider versagte sein Gedächtnis, als er es nach Einzelheiten auszuforschen versuchte. Da war nur das unbestimmte Gefühl, als seien hier noch Wünsche oder eine Rechnung offen.
„Guten Morgen!“ Aufreizend war die Fröhlichkeit des Wirtes, der seine Gäste selbst bediente. „Oh, wenn ich Sie so sehe, glaube ich, ich mache Ihnen gleich einen doppelt starken Kaffee.“ B. verwünschte innerlich das Schandmaul, ließ sich aber nichts anmerken. Er frühstückte lange und ausgiebig. Es war noch sehr viel Zeit, erst gegen sechs Uhr fuhr der Zug nach Gerolstein. Als die übrigen Gäste schon alle abgereist oder irgendwohin aufgebrochen waren, saß er noch immer am Tresen und ließ sich vom Wirt unterhalten. Sie hätten letzten Sommer auf der Rückreise von Westerland in Hamburg Station gemacht und seien durch diese herrlichen Passagen flaniert, sagte der Wirt, nein, so etwas hätten sie hier in der Stadt leider nicht zu bieten, wirklich elegant … Er, B., hätte den Vormittag vielleicht auch anders nutzen können.
B. deponierte sein Gepäck im Hauptbahnhof und ging über die Hohenzollernbrücke. Das rechte Rheinufer lag ihm jetzt innerlich näher. Er verspürte sehr viel Bewegungsdrang, ging den ganzen Rheinpark hinunter und kehrte auf dem gleichen Weg ins Stadtzentrum zurück. Um sich abzulenken, ging er ins Diözesanmuseum – den großen Sammlungen in den anderen Häusern fühlte er sich jetzt nicht gewachsen – und stand lange vor Stefan Lochners Madonna mit dem Veilchen, die ihn früher schon beeindruckt hatte. Der Titel des Bildes brachte ihn auf etwas anderes und er sah schließlich durch die Leinwand hindurch und da war nur noch Toni mit der Lilie und Toni lächelte.
Danach durchquerte er die gesamte innere Stadt und saß eine Stunde in einem Cafe am Ring. Auf dem Rückweg musterte er die Passanten, die die Schaufenster entlangpromenierten und den Schaufensterpuppen begehrliche Blicke zuwarfen. Der Offenbachplatz ließ ihn an die Puppe Olympia in der Oper Hoffmanns Erzählungen denken und an des Dichters Aufschrei im Augenblick der Desillusionierung: „Ein Automat?!“ B.’s Denken war heute nur lose zusammenhängend.
Überhaupt die Straßennamen. Perlenpfuhl war auch recht hübsch, eine volkstümliche Redensart kam ihm in den Sinn. Der Name versprach mehr, als die Ecke hielt: Rückfronten von Häusern an der Hohen Straße, nur für Lieferanten von Belang. Eine andere Seitengasse der Hohen Straße hieß Salomonsgäßlein. Seid klug wie die Schlangen, fiel ihm dazu ein. Er bezog es auf sich und die Schlange brachte ihn auf die silbrige Kette neben Tonis linkem Hosenbein, nein, es war das rechte gewesen.
Endlich lief sein Zug ein. Er warf die Reisetasche in die Ablage und sich selbst ins Polster. Der Koffer war im Schließfach geblieben. Kurz vor Euskirchen sah er, als der Zug eine Kurve befuhr, erstmals die grüne Mauer im Süden: verheißend oder abweisend, wer konnte das sagen … Es war noch Tag, als er in Gerolstein aus dem Zug stieg. Sein Bruder war auf dem Bahnsteig und umarmte ihn.
6
Am Sonntagmorgen unternahm er mit dem Bruder einen Gang aus dem Dorf hinaus. Seine Schwägerin wirtschaftete in der Küche, die Kinder waren nach dem Frühstück im Nachbarsgarten verschwunden, wo die Gesellschaft Gleichaltriger lockte.
Sie erklommen einen Hügel, der frisch grün und von Sonne überglänzt dalag. Der Weg war steil, der Anstieg fiel dem Bruder nicht leicht. Die Aussicht war beschränkt, der Weg auf beiden Seiten von Schlehenhecken gesäumt. Sie standen noch in Blüte, hier oben kam das Frühjahr später, in einer Woche würde es damit vorbei sein. Durch Lücken in den Hecken sah B., wie sich der Schwarzdorn auf den Wiesen dahinter ausbreitete: überall niedriges, weiß überschäumtes Gebüsch und eine Hasenfamilie, die schon Nachwuchs hatte. Durch ihre Tritte aufgestört, zogen die Hasen sich langsam hinter weiter entfernte Hecken zurück. Ferdinand wies mit der Hand in ihre Richtung und bog wortlos vom Weg ab, um sich in junges Gras fallen zu lassen, das wie der Erdboden schon von der Sonne erwärmt war. B. hockte nieder, die Arme auf die Knie aufgestützt, und sah in die Runde. Auf der anderen Seite des Wiesentals begrenzte ein bewaldeter Höhenrücken die Aussicht. Wie viele verschiedene Grüntöne es an jenem Hang gab … Schwach ertönte Glockengeläut aus einem weiter talauswärts gelegenen Dorf. B. schien es, er dürfe hier einmal ausatmen. Ferdinand sah in den reinen blauen Morgenhimmel hinein.
„Heute bist du ausgeschlafen“, hörte B. den Bruder sagen.
„Ja, gestern Abend war ich sehr müde.“
„Weiß Gott. Und nur von der Reise? Du bist ja schon schlafen gegangen, kaum dass die Kinder im Bett lagen.“
B. wollte nichts erklären. Er sagte dem Bruder, wie schön er ihr Fachwerkhaus finde. Erst im März hatten sie es von einer Tante übernommen, die in ein Heim übergesiedelt war.
Sie hätten sich schon sehr an das alte Haus gewöhnt, sagte Ferdinand, es sei ihnen jetzt lieber als ihre Stadtwohnung, hoffentlich könnten sie es behalten.
„Weshalb denn nicht?“
Nun, die Tante sei fast achtzig, sie werde früher oder später nicht mehr da sein. Er wisse schon, wie das Testament aussehe: Alle erbten zu gleichen Teilen. Die Erbengemeinschaft dürfte kaum lange bestehen. Als einer von sechs Erben würde er die Übrigen auszahlen müssen, was ihm in vier, fünf Jahren leicht fallen sollte, nur gegenwärtig noch nicht. Die Praxis werfe nicht ganz so viel ab, wie er sich von ihr versprochen habe, auf der Dürener Wohnung laste eine Hypothek und das Bankdarlehen, mit dem er die Übernahme der Praxis finanziert habe, sei auch noch nicht getilgt. Er hoffe allerdings, in Zukunft regelmäßig als Gutachter für die Gerichte tätig zu sein.
B. fragte nach dem Schätzwert des Hauses. Wie sich herausstellte, würde im Erbfall auf ihn kaum mehr entfallen, als er im Quartal durch seine Arbeit verdiente. Er bot dem Bruder spontan an, auf sein eigenes Erbteil zu verzichten.
Ferdinand protestierte lebhaft: „Nein, nein! Nicht deshalb habe ich davon angefangen. Ich hätte besser gar nichts gesagt. Reden wir nicht mehr darüber, ich bitte dich darum.“
B. war schon so gut wie entschlossen, die für ihn bedeutungslose Summe auszuschlagen. Und er wusste, dass sein Bruder – mochte er auch in aller Unschuld davon angefangen haben – sich jetzt im Stillen auf diese Zusage verließ. Sie brauchten also in der Tat über die Sache kein Wort mehr zu verlieren.
Ferdinand wollte danach nicht mehr auf die Kuppe des Hügels gehen. Die Aussicht sei von dort oben auch nicht umfassender. Sie kehrten ins Dorf und auf einem Umweg auch zum Haus zurück. Sportplatz, Feuerwehrgerätehaus und die Dorfkirche von 1907, darin erschöpften sich schon die Reize von K.. Das alte Fachwerkhaus war fast das einzige Gebäude im Ort, das einem gefallen konnte.
Der Bruder führte ihn durch den Obstgarten, der stark verwildert war, und erklärte ihm, was er alles verändern wolle.
Wie schon am Abend davor war die Sitzordnung bei Tisch klar und eindeutig. B. saß an der Schmalseite des lang ausgezogenen Speisetisches, Mechthild hatte ihm den Platz angewiesen, sie selbst zu seiner Rechten, links von ihm sein einziger Bruder. Nichte und Neffe – Gundula also und Bärenhart, neun und sieben Jahre alt – grummelten weiter unten in die Suppe hinein. War es auch Absicht, dass die Geschlechter über Kreuz saßen: Gundula neben dem Vater, Bärenhart an der Seite der Mutter? Hier herrschte in allem Symmetrie. Allerdings fehlte ihm selbst das Gegenüber, der Platz am anderen Ende war unbesetzt. Dafür prangte dort in runder, bauchiger Glasvase ein Feldblumenstrauß, von Gundula gestern gepflückt: Margeriten und Wiesenschaumkraut. Das Schaumkraut welkte bereits dahin, die Margeriten hielten sich aufrecht und dufteten herb. Gundula sah nach jedem Löffel oder Bissen schweigend zu ihm herüber. Bärenhart, ein unbefangenes Bürschchen, stopfte sich mit Behagen voll.
„Schmatz nicht so!“ fuhr ihm Ferdinand dazwischen.
„Ich schmatze doch gar nicht“, entrüstete sich Bärenhart, „der Salat schmatzt.“
Alle Übrigen lachten, hörbar erleichtert.
Während des Essens bewunderte B. im Stillen, wie viel Geschmack sein Bruder bewiesen hatte, er selbst hätte keine bessere Wahl treffen können, wäre er in der Verlegenheit gewesen. Mechthild war eine attraktive Frau und tüchtig und gescheit. Aus Liebhaberei hatte sie zunächst Musik studiert, war dann, um Geld zu verdienen, Programmiererin geworden und hatte endlich, aus lauter Liebe, geheiratet und Kinder bekommen und dafür, bis auf ein wenig Cellospiel, alles aufgegeben: eine Frau, wie ein Mann sie sich wünschte. Sie wollte jetzt auch gute Gastgeberin sein und tat dabei des Guten etwas zu viel. Vielleicht hätte sie einen gewöhnlichen Gast nicht so oft gefragt, wie es ihm munde, ihn seltener aufgefordert, sich noch einmal zu bedienen. Etwas Forciertes war im Spiel, er hatte es früher schon bemerkt. Sie war eine aufgeklärte Frau, sie hielt sich selbst dafür und wollte, dass jeder sie so ansah. Und es sollte in allen Lagen so bleiben, auch dann, wenn der schwule Schwager zu Besuch kam, einer, hatte sie erfahren, mit speziellen Wünschen bei seinem ohnehin besonderen Geschmack. Das war der Gipfel der … Sie mochte in ihrem Wortschatz kramen und nichts Passendes finden. Perversion ging ja nicht an, das Wort würde sie sich niemals erlaubt haben. Und sie wollte auch nicht genau ins Bild gesetzt werden! Ohne es sich selbst einzugestehen, fühlte sie ihren guten aufgeklärten Willen ein wenig missbraucht. Indessen blieb ihre Devise doch, bei aller Gereiztheit: Immer nur lächeln und reden, reden …
Sie sprach flüssig über Musik und Theater. Wie ihm denn die Romane der Allende gefielen? Er gab zu, nichts von ihr gelesen zu haben. Sie unterdrückte ein Erstaunen und bat ihn, ihr von einem Buch zu erzählen, das ihn im letzten halben Jahr besonders beschäftigt habe. Er nannte ihr Zwiefalten von Bodo Kirchhoff, er wollte aber, aus Rücksicht auf die Kinder, jetzt nicht näher darauf eingehen.
Ferdinand erbarmte sich und schlug B. vor, am Nachmittag mit ihnen ein Eifelmaar zu besuchen. „Und du“, wandte er sich an Mechthild, „willst du wieder zum Friedhof?“ Mechthild wies ihn darauf hin, dass sie schon drei Wochen nicht mehr am Grab von Tante Lisa gewesen seien. Das war die ältere Schwester jener Tante, die ins Heim gegangen war.
„Fahren wir doch gleich nach dem Essen zum Friedhof. Dann ist später noch Zeit für den Ausflug“, sagte sie.
„Gut, aber die Kinder brauchen nicht mit ans Grab. Das langweilt sie nur. Ich kann ja mit den beiden in das Café an der Straße zum Friedhof gehen. Vielleicht hat dein Schwager Lust, mit reinzugehen?“
B. war einverstanden. Mechthild wiederholte: „ … das Café an der Straße zum Friedhof, von Ota Filip. Das ist gut.“ Sie las stets alles, was zum Kanon gehörte. Ohne die Bestsellerliste des Spiegel zu kennen, war sie imstande, beim Buchhändler die Titel auszuwählen, die seit Monaten auf jener Liste standen. Das war ihre spezielle Art von Somnambulismus.
Also fuhren sie nach Tisch ins Nachbardorf, auf dessen Friedhof sich das Grab der Tante befand. B. ging mit Mechthild durch das weit geöffnete Tor. Ferdinand machte sich mit den Kindern zum Café auf, das nahe beim Parkplatz lag.
Mechthild schwieg, während sie ihn die Wege entlang führte. Sie schwieg auch, als sie das Grab erreicht hatten. Stumm entfernte sie die halb verfaulten, halb vertrockneten Reste von Schnittblumen aus der ins Erdreich gesteckten metallenen Vase. Sie war so in sich gekehrt, dass er nicht einmal wagte, ihr zur Hand zu gehen. Er hätte doch frisches Wasser holen können … Er stand neben ihr und dem Grab, auf dem sie ernst und gemessen für Ordnung sorgte. Sollte auch hier etwas demonstriert werden? Er hatte gut und reichlich gegessen, die Sonne stach vom Himmel – ihm war nicht nach Psychologie. Übrigens war die Tante, der er selbst nur wenige Male begegnet war, schon elf Jahre tot, laut Inschrift auf dem Grabstein.
Sie zupfte noch an der Bepflanzung herum und war endlich fertig – nein, nicht ganz, sie musste noch, mit gesenktem Blick und übereinander gelegten Händen, für zwei oder drei Minuten stumme Zwiesprache halten. B. wandte sich ab und begann, die Inschriften auf den Nachbargrabsteinen zu studieren. Da lag ein Fräulein Nachtnebel, gestorben 1927 im Alter von dreiundsiebzig Jahren … Die Schwägerin trat zu ihm und sie verließen den Friedhof wortlos. Vor dem Tor sagte sie:
„Ich möchte jetzt einen Kaffee. Du auch?“
Ferdinand goss sich gerade die zweite Tasse aus seinem Kännchen ein, als sie auf der Café-Terrasse ihm gegenüber Platz nahmen. Der Nachwuchs war noch mit dem Eis beschäftigt. Mechthild stand gleich wieder auf, um sich die Hände waschen zu gehen.
„Deine Frau scheint immer noch sehr an Tante Lisa zu hängen.“
„Ach was, sie hat sie doch gar nicht gekannt …“ Der Bruder erklärte ihm nicht, was es mit diesem Totenkult auf sich hatte. B. sagte sich: Irgendeinen Sparren haben wir alle.
Sie fuhren auf schmalen, gewundenen Landstraßen zum Kratersee. Als sie ihn nach zwanzig Minuten erreichten, bat Mechthild, den Wagen nicht auf dem großen Parkplatz abzustellen, sondern drüben an der Einmündung eines Feldweges. Von dort sei der Abstieg länger und schöner, B. habe dann mehr davon.
Sie ließen ihn vorangehen. Die Kinder trödelten hinterher. Es ging durch dichten Laubwald abwärts, einen steilen Hang hinunter. Man schien in dieses weiche, von flirrendem Licht durchsetzte Maigrün zu versinken, ein lustvoller Abstieg, als ließe man sich fallen und würde weich und federnd aufgefangen. Gleichzeitig verschaffte einem der seitliche Blick einen weiteren Genuss: Unterhalb vom Wald lag der See, ein lichter Himmel in der Tiefe, bereit, den Wald rundum zu spiegeln und aufzuhellen. So viel Transparenz war beglückend. Immer weiter so mühelos voranzukommen … Das Licht vom See nahm ständig zu. Irgendeine Art von Klärung, von Durchbruch schien ihm nahe zu sein.
Vollkommen ruhig lag dann die Oberfläche des kreisrunden Sees da, der die Sohle des Kraters ausfüllte; seine Wände, rundum bewaldet, standen in der gleichen Ruhe da. Gegenüber sah man kleine Figuren, Ausflügler, die vom Parkplatz abgestiegen waren. Ferdinand machte ihn auf die ungewöhnliche Farbe des Sees aufmerksam, ein sehr südlich wirkendes Blau, fast Azurblau … Das komme von den unterirdischen Quellen. Der Kratersee habe sie überlagert, werde von ihnen durchströmt und aufgefrischt und der Überschuss an Wasser versickere in Abflüssen unter dem Wasserspiegel.
Schweigend gingen sie hintereinander einmal um den See. Die Kinder liefen jetzt weit vor ihnen. Später kehrten sie auf dem gleichen Weg nach K. zurück. B. hing den Bildern vom erloschenen und verwandelten Vulkan nach.
Der Sonntag neigte sich, es wurde noch harmonischer. Sie saßen bis Sonnenuntergang im Garten und redeten über Alltägliches. Nach dem Abendessen ging Bärenhart früh schlafen, er ließ sich, ohne zu murren, ins Bett schicken. Gundula saß noch eine Weile bei der Mutter. Als diese ans Klavier ging, zog sie sich auch zurück.
Das Klavier hatte Tante Sophie dagelassen. Mechthild erklärte, sie spiele wirklich nicht besonders gut, aber sie beide würden es wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Sie spielte drei kurze Stücke von Rachmaninow. B. und sein Bruder tranken Portwein, für Mechthild stand ein Glas bereit.
B. ließ die Töne verklingen, ohne näher hinzuhören. Da bin ich doch noch imstande, sagte er sich, die Idylle hier zu genießen, wahrscheinlich auch eine Idylle mit kleinen Webfehlern. Übrigens, wenn Ferdinand mich morgen nach Köln bringt, darf er nicht mit in den Bahnhof hineinkommen. Ich muss unbedingt an den Koffer im Schließfach denken, aber er soll ihn nicht sehen …
7
B. dachte nicht daran, bald wieder nach Köln zu fahren. Er dachte überhaupt nur wenig an die Tage, die er dort und in der Eifel verbracht hatte. Die Eindrücke waren zum Teil stark gewesen und er suchte Abstand zu ihnen. Da kam es ihm recht, als Johannes im Juni vorschlug, mit ihm über ein Wochenende nach Frankfurt zu fahren. Diese kurzen Reisen hatte er vor Jahren aufgegeben – jetzt nahm er sie wieder auf.
Am Montag vor der Fahrt nach Frankfurt traf ein Brief aus Düren ein. Ferdinand schrieb ihm, vorgestern sei Tante Sophie nun doch gestorben und in acht Tagen werde die Beerdigung sein. B. konnte sich nicht erinnern, von irgendeiner Erkrankung der Tante gehört zu haben. Er wusste nur, dass er nicht zur Beerdigung fahren wollte – und eben daran teilzunehmen, schien ihm der Brief des Bruders nahe zu legen. Warum hatte Ferdinand ihn diesmal nicht angerufen, wie es sonst zwischen ihnen üblich war? Er, B., hatte die Tante so gut wie nicht gekannt. Er selbst wird jetzt mit Ferdinand telefonieren. Übrigens muss er noch in Frankfurt anrufen, um ein Zimmer zu bestellen.
Er wählte eine der beiden Nummern und verstand wie so oft nicht, wer sich meldete, und bat um Reservierung des Zimmers für Freitag. Er hatte aber die Nummern verwechselt und Ferdinand, der erkältet war, an der Stimme nicht erkannt. Sein Bruder lachte und nahm es einfach hin, als B. ihm sagte, zur Beerdigung werde er nicht kommen. Gut, er könne sie dafür im Sommer wieder einmal besuchen. B. sagte rasch zu. Über seine Reise nach Frankfurt sprachen sie nicht.
Die Tage in Frankfurt verliefen so, wie er es von früher kannte: Obwohl im Ganzen unbefriedigend, weckten sie infolge neuer Eindrücke das Verlangen nach mehr Eindrücken, also nach weiteren Reisen, wobei er annahm, sie würden erfreulicher verlaufen.
Ende Juni erhielt er vom Amtsgericht Nachricht über die Tage zuvor erfolgte Testamentseröffnung. Wie Ferdinand es vorausgesagt hatte, erbte er zu einem Sechstel. B. fühlte sich an sein Angebot gebunden und war entschlossen, die Erbschaft auszuschlagen. Vorher sollte er sich allerdings mit den Regularien vertraut machen. Sicher gab es Fristen zu beachten. Ob die Erbmasse womöglich mehr als nur das Haus umfasste? Dann machte er sich klar, dass er mit dem Verzicht nicht allein den Bruder begünstigte, sondern auch die übrigen Miterben, die er zur ferneren Verwandtschaft zählte und mindestens zehn Jahren nicht gesehen hatte. Er sollte es noch einmal durchdenken. Aber es würde, da die Sache schon entschieden war, nichts mehr ändern. Also verzichtete er darauf, den Dingen auf den Grund zu gehen. Doch verschob er die Erklärung gegenüber dem Gericht von Woche zu Woche.
Viel mehr beschäftigten ihn neue Reisepläne. Da er dem Bruder einen weiteren Besuch versprochen hat, stellt sich die Frage: Soll er wieder in Köln Zwischenstation machen? Ja, natürlich. Und er entwickelt einen für ihn ungewöhnlichen Elan, ruft in Köln an und hat Marius am Apparat. Es ist, als wäre er gerade erst aus dem Auto gestiegen, damals nachts vor dem Hotel. Sie einigen sich auf das letzte Juliwochenende.
Diesmal rief auch B. nicht an, sondern schrieb dem Bruder, er komme am Samstagnachmittag um halb vier in Düren an. Er könne bloß bis Sonntagmittag bleiben. Sollten sie jedoch in der Eifel sein, genüge ein kurzer Anruf und er fahre dann wieder bis Gerolstein. Allerdings sei die Zeit vielleicht etwas knapp dafür … Es kam kein Anruf aus Düren.
Während der Zugfahrt unterhielt er sich damit, den Eindrücken der letzten Monate nachzuhängen. Ostern hatte es begonnen, nach einem trüben, flauen Winter. Er dachte an eine lange Nacht und das Bild jenes Paares war wieder da, in der hellsten und freundlichsten Beleuchtung. Es waren Amerikaner, ein Weißer, etwa Anfang fünfzig, und sein viel jüngerer Freund, Ende zwanzig, mit rundem Gesichtsschnitt und von kaffeebrauner Hautfarbe.
Wie er sie jetzt wieder vor sich sah, kam ihm ein alter amerikanischer Film in den Sinn: Spiegelbild im goldenen Auge. Man hätte glauben können, die Tragödie hätte nicht stattgefunden und der Film ein Happy End gehabt. Der Major, von Marlon Brando gespielt, hatte es doch noch geschafft und den kleinen Soldaten rumgekriegt. (Im Film war es allerdings ein Weißer mit dunklem Teint.) Der Soldat war nicht hinter Liz Taylor her gewesen, kein Schuss war gefallen – Brando hatte sich einfach von der Taylor scheiden lassen. Dann quittierte er den Dienst, wurde Berater einer Rüstungsfirma in Massachusetts und nahm den Kleinen mit in den Norden. Er konnte Chauffeur oder Gärtner bei ihm spielen. Inzwischen waren zehn, zwölf Jahre vergangen. Brando war faltiger geworden, der Kleine hatte etwas Fett angesetzt, bei noch immer guter Figur. Und jetzt ihr erster Europatrip: Rom – Athen – Berlin – Paris – Amsterdam in acht Tagen. Brando in schwarzem Leder, weit und faltenreich, passend zu Gesicht und Figur. Der Kleine ebenfalls in Montur, doch adrett, knapp sitzend, mit Schlips und um den rechten Stiefel unten eine kleine Kette gewickelt. Trotz der vielen Flüge wirkten sie ausgeruht, das kam vom soliden Leben daheim. Sie blickten freundlich in die Runde und musterten B. beide interessiert. Mit der Taylor wäre der Major in den Louvre gegangen, auf der Akropolis hätten sie geschwitzt. Mit dem Kleinen saß er in den Bars herum. Es lief aufs selbe hinaus. Sie brachen nicht zu spät auf und kamen rechtzeitig in ihr Hotelbett.
B. blieb gegen alle Vernunft noch stundenlang. Wie freundlich war der Kaffeebraune gewesen, mit seinem runden, intelligenten Gesicht. Für diese erfreuliche Erscheinung gab es keinen Ersatz. B. geriet im Kontaktraum an einen blonden Nordeuropäer, groß, kräftig, Ende dreißig. Auffallend war, dass der sonst obligate Schnauzbart fehlte. Nichts an ihm war sympathisch, doch auch nichts abstoßend. Er war einfach nur ein Brocken und er war brutal sadistisch. Zum ersten Mal fand B. Geschmack daran. Der andere stieß B.s Kopf wiederholt gegen die Steinwand. B. nahm alle Vernunft zusammen und ging von ihm fort. Als sie einander wieder begegneten, empfing B. einen Blick strafender Verachtung. Im Spiegel entdeckte er die Platzwunde an der Augenbraue.
Jetzt im Zug kehrten die Gedanken zu den beiden Amerikanern zurück. Wie hielten sie es, was trieb der Yankee mit dem Schwarzen? B. hätte ihnen gern zugesehen. Übrigens – das fiel ihm noch ein – handelte es sich bei ihnen um den seltenen Fall, in dem Herr und Diener die gleiche Art Uniform tragen, den Diener die seine jedoch viel besser kleidet.
Da waren schon der Deutzer Bahnhof, die Hohenzollernbrücke, die bröckelnde Masse des Doms, davor der menschenwimmelnde Bahnsteig, an dem entlang der Zug sehr langsam einlief. Er war wieder da.
8
Er nahm die Straßenbahn. Sie verlief streckenweise unterirdisch. Die Treppen in den Untergrund, die Gänge, die Hallen, die Tunnels, es hatte sich, obwohl höchstens ein Vierteljahrhundert alt, bereits dem Bild der oberirdischen Stadt angepasst und wirkte teils altehrwürdig, teils leicht verkommen. Die Stadt oben zeugte von einer vor sich hin modernden Modernität, durchsetzt von absurden Relikten eines scheinbar unvergänglichen Mittelalters, der Untergrund verströmte das ortstypische Aroma aus Beton und Moder, seine Bestandteile waren eine unauflösliche Verbindung eingegangen.
B. atmete auf, als die Bahn zügig ins Freie und Grüne rollte, hinaus in die Gartenstädte. Da war auch die Haltestelle, die Marius ihm genannt hatte.
Toni öffnete ihm. Er griff gleich hastig nach B.’s Koffer und schleppte ihn in die Diele. B. solle ihm folgen, sie könnten das Gepäck ins Gästezimmer schaffen. Marius komme bald aus der Stadt zurück. Dann könnten sie gemeinsam essen gehen, wenn es ihm recht sei. B. folgte ihm die Wendeltreppe hinauf. Toni war zivil gekleidet, blaue Jeans und ein einfacher Pullover in derselben Farbe.
Das Gästezimmer war klein und nur mit dem Nötigsten möbliert. Toni ging nervös einige Male in dem kleinen Raum auf und ab. Dann sagte er: „Zieh dich gleich um!“ und ließ ihn allein.
B. dachte, ihr Fetischismus sei mindestens so anstrengend wie vergnüglich. Da kleidete er sich jetzt um, als ginge es gleich in eine Bar, doch zum Essen würde er voraussichtlich wieder wechseln müssen und später am Abend vielleicht noch einmal. Er war kaum fertig, als Toni in der Tür stand, genau so angezogen wie bei seinem Besuch in Hamburg. Durch eine Kopfbewegung machte er ihm klar, er solle mit ihm hinuntergehen. Wie zu erwarten, schloss sich im Erdgeschoss Marius an. Sie wiederholten ihre frühere Prozession die Kellertreppe hinab.
B. sah, dass Toni nicht einmal das gelbe Tuch vergessen hatte. Wozu - sie waren hier unter sich und kannten ihre Vorlieben gegenseitig schon. Es war wie ein Theaterzettel, nur war Tonis Repertoire nicht sehr umfangreich. Sie konnten das kleine Abenteuer in der Kabine als Generalprobe betrachten und seine genaue Wiederholung jetzt als Premiere. Sicherheitshalber schloss Toni B. die Hände mit Handschellen auf dem Rücken zusammen. Es sollte nicht wieder zu störenden Improvisationen kommen: fort mit Händen, die den Nacken gegen den Strich liebkosten. Überhaupt klappte diesmal alles vorzüglich.
Marius, der B. weder mit einem Wort noch mit einem Blick begrüßt hatte, saß auf einem Hocker am Eingang des kleinen Kellerraumes und sah ihnen unbewegt zu, so schien es. Er trug die gewöhnliche Montur mit Mütze. Als alles vorüber war und Toni schon wieder lächelte und B. beinahe glaubte, Marius werde ihnen vielleicht applaudieren – war doch nicht alles vorbei. Marius und Toni wechselten die Plätze, Marius befreite B.’s Hände, jedoch nur, um sie ihm vor dem Unterleib erneut zusammenzuschließen.
Hinter ihm stehend, fing Marius an, ihn recht konventionell zu ficken. Er war dabei durchaus kraftvoll und ohne Zärtlichkeit, doch schon in seinem Verzicht auf jede Peinigung oder Erniedrigung, auf alle gewohnten Verhaltensweisen lag jetzt etwas wie Liebkosung. Es war Rücknahme und Rücksichtnahme. Er hielt B. an den Schultern fest, um ihn im Gleichgewicht zu halten. Einmal schoben sich seine Hände weiter vor, jedoch nicht bis zu den Brustwarzen, sondern sie hielten vorher inne, zögerten und übten nur für längere Zeit sanften Druck auf den Brustkorb aus. Die Hände schienen sich dabei ihrer selbst und des anderen Körpers bewusst zu werden. B. war es wieder, als lasse er sich fallen und werde weich und federnd aufgefangen. Auflösung, dachte er, vollkommene, wohltuende Auflösung …
Toni hatte sich inzwischen auf der Liege ausgestreckt. B. konnte nicht sehen, ob er sie im Blick hatte, es war B. jetzt gleichgültig. Er sah zu Boden und stellte fest, dass er mit einer Gummimatte ausgelegt war, die ein großflächig genopptes Muster hatte. Er hob den Blick und entdeckte, dass sie gerade unter einer Kellerluke standen, durch die jedoch kein Lichtstrahl herabfiel. Seine Sinneswahrnehmung sah sich auf den Akt zurückverwiesen, dem er sich weiter passiv hingab. Die Empfindung von Lust verstärkte sich. Er fühlte, was es bedeutete, dass er als Mann es mit männlichem Fleisch zu tun hatte, Fleisch, das ihm jetzt vollkommene Sympathie einflößte. Sympathisches Fleisch – nur eine Phantasie seines erregten Gehirnes? Oder mehr: etwas Immaterielles? Ausstrahlung vielleicht? Nein, gewiss nicht nur Idee, nicht bloß Gefühl. Haltung, Atmung, Puls, der Druck der Schenkel, die Berührung der Hautoberflächen – all das war sympathisch, das genaue Gegenteil von abstoßend. Dafür ein Wort finden, eines, das rein positiv und nicht abgenutzt sein und äußerste Lust wiedergeben würde … Er fühlte sich jetzt durchdrungen, aufgehoben, war eins mit jenem sympathischen Fleisch – nur ein Wort gab es dafür nicht.
Hinterher duschten sie, einer nach dem anderen. B. sah, dass seine Gastgeber danach in der gleichen Weise gekleidet waren wie zuvor im Keller. Er machte es wie sie.
Während der Fahrt ins Stadtzentrum sprachen sie wenig miteinander. B. saß vorn neben Marius. Vom Rücksitz aus umhalste Toni ihren Gast und schmuste auf seine Weise. Marius fuhr sehr zügig. In der Innenstadt parkte er in der Nähe des Restaurants, in dem Toni einen Tisch bestellt hatte. Die Küche war italienisch, das Lokal gut besetzt. Der Kellner tat vertraut, aber Toni erklärte, er gehöre nicht zur Verwandtschaft. Es fiel B. auf, wie wenig Aufsehen sie hier erregten. Ihre Aufmachung störte die ruhige Atmosphäre gediegener Bürgerlichkeit offenbar nicht. Marius wies ihn ausdrücklich darauf hin. Schrieb er sich selbst gut, was nur die gute Erziehung der anderen bewies? Marius genoss die taktvolle Zurückhaltung wie einen persönlichen Triumph, als wäre sie einer Art Zähmung oder einem Dressurakt zu verdanken. So müsse es sein, sagte er, und so werde es auch überall sein, man müsse nur genügend selbstbewusst auftreten.
Selbstbewusstsein? B. hätte am liebsten erwidert, dass man sich bei dessen Anwendung leicht in der Dosis irre und dass es gefährlich sei, Reserve mit Akzeptanz zu verwechseln. Stattdessen erzählte er, um die Stimmung aufzulockern, eine Anekdote aus Berlin:
„Ich bin damals nur hingefahren, wenn ich mal wieder zum Schneider musste – und einmal quartierte ich mich in einem kleinen Hotel am Kudamm ein. Ich war zum ersten Mal da und erkannte manches Gesicht wieder – beim Personal, die Kundschaft war eher spießig. Nun, nach der ersten Nacht kam ich erst am Nachmittag zurück und wollte die schwere Montur gegen was Bequemeres vertauschen. Mein Aufriss von der Nacht wartete unten im Auto, um dann mit mir zum Wannsee zu fahren … In der Halle stand nur eine Dame in mittleren Jahren herum und der Mann von der Rezeption, beide im Gespräch. Mich sehen, erbleichen und mit schlecht gespielter freudiger Überraschtheit laut ausrufen: „Ah, Stammgäste!“ war für den Angestellten eins. Dabei war ich, wie gesagt, alles andere als ein Stammgast, wirklich zum ersten Mal da. Und der Plural brachte mich erst recht zum Grübeln: Entweder verdoppelte sich für den Ärmsten meine bedrohliche Erscheinung – oder er meinte mich und jene Dame, fasste uns also zusammen und stellte uns auf eine Stufe, wogegen ich doch allerhand einzuwenden gehabt haben würde.“
Toni wieherte. Atemlos vor Lachen warf er den Kopf auf den Tisch. Marius lachte einige Male tief auf und begann, mit dem Stuhl zu schaukeln, wobei er sich mit den Händen am Tisch festhielt. So viel Zwanglosigkeit führte nun doch zu einigen erstaunten Blicken von den Nachbartischen herüber.
Sie amüsierten sich auch im weiteren Verlauf des Abends und stimmten in fast allem überein. Sie lachten über den lange unentschiedenen Kampf einer weiter entfernt sitzenden alten Dame mit einem langbeinigen, vielgliedrigen Insekt. Es flog aufgeregt um sie herum und immer wieder auf sie zu, bis der Kellner gerufen wurde. Er zerdrückte es mit einer Serviette an der Fensterscheibe. Als sie von ihren Reisen erzählten, zeigte sich, dass sie alle drei die entlegenen Landstriche liebten und Großstädte an sich verabscheuten. Sie lebten nur notgedrungen in großen Städten und es war ein Glück für sie, dass das eng umgrenzte Milieu, in dem sie hauptsächlich verkehrten, einem Dorf mitten in der Großstadt zu vergleichen war. Freilich war es ein über die ganze Stadt oder besser noch: über alle Großstädte verteiltes Dorf, in dem sie sich jederzeit frei bewegen konnten und das den gewöhnlichen Stadtbewohnern so gut wie versperrt war. Diese Intimität mitten in der Anonymität war sehr reizvoll und das Leben machte doch Spaß.
Nachher hatten sie Lust auf einen Abstecher in jenes wunderbare Dorf. Sie fuhren zu der Bar, in der B. im Mai Toni wiederbegegnet war. Unterwegs erinnerte Marius Toni daran, dass sie nicht so lange wie sonst bleiben dürften. B. erfuhr jetzt erst, dass seine Gastgeber am Tag darauf nach Frankfurt fahren wollten. „Wir bringen dich zum Bahnhof und fahren dann gleich weiter“, sagte Marius.
Die Bar war auch diesmal gut besucht. Der eine oder andere hätte B. gefallen können, er fand an fünf oder sechs Männern nichts auszusetzen. Im Stillen bedauerte er es ein wenig, nicht auf die Jagd gehen zu können. Toni stand einige Meter entfernt und unterhielt sich mit dem Jungen, der die großen Ohrringe trug. Sie waren für ihn außer Hörweite, er sah, wie Toni mehrfach den Kopf schüttelte und dabei lachte. Marius blieb an B.’s Seite, dafür war er ihm dankbar.
Einer von Marius Freunden trat zu ihnen. B. wurde ihm vorgestellt, sie tauschten die üblichen Floskeln aus. Der andere wandte sich dann an Marius und sprach ihn auf eine Affäre an, in der dieser gut Bescheid zu wissen schien. B. schnappte nur wenig auf und kam nicht hinter die Geschichte.
„Und auch noch ein Stricher“, sagte Marius, „wenn ich so etwas mache, dann nur mit soliden Leuten. Und sie müssen einverstanden sein, zumindest stillschweigend.“
„Und du würdest ihm den Gefallen nicht tun?“
„Auf keinen Fall! Soll er sich seinen Zeugen besorgen, wo er will.“
„Und für mich kommt es auch nicht in Frage, selbst wenn ich wollte. Man hat mich in der Nacht in Wuppertal gesehen.“
Außer Konkurrenz vermochte B. dem Betrieb mehr objektive Eindrücke abzugewinnen als sonst. Er registrierte nicht mehr nur Einzelne, die ihn reizten, sondern die Typenvielfalt, die hier anzutreffen war. Und was waren die vorherrschenden gemeinsamen Züge? Eine gewisse unbestreitbare Vitalität, eine allgemeine gute Laune, die sich in witzigen Dialogen und betont freimütigen Blicken äußerten. So sehen Leute aus, die entschlossen sind, sich auszuleben. Die Atmosphäre war stromlinienförmig gay. Der eine oder andere Nachdenkliche fiel unangenehm auf. Dabei hatten doch die meisten irgendein Päckchen zu tragen. Worin bestand nur das Geheimnis dieser Fröhlichkeit, die sich von der in gewöhnlichen Kneipen unterschied, so offensichtlich forciert, wie sie schien? Es war das Gesetz des Hier und Jetzt. B. wurde bewusst, Zeuge einer genetischen Implosion zu sein. Fast alle diese herrlichen Mannsbilder würden in der folgenden Generation keine Spuren hinterlassen. Und dabei war das doch einer der mächtigsten Antriebe im Leben: eine Spur zurücklassen. Aber man versagte sich jede Traurigkeit; dafür war die Zeit zu kostbar. Es galt, die Gegenwart ganz mit dem anzufüllen, was man nicht in die Zeit verlängern konnte. B. hasste den Begriff gay. War Melancholie der Sache nicht angemessener? Für ihn ging von jenen nächtlich-erotischen Gestalten, die nie lächelten, ein viel größerer Reiz aus …
Toni löste sich endlich von dem Jungen mit den Ohrringen und kam zurück. Sie wurden sich einig, jetzt aufbrechen zu wollen. Es war halb zwei in der Nacht.
Offenbar mochten ihn die beiden wirklich gern. Sie boten ihm an, nicht allein im Gästezimmer zu schlafen, sondern mit ihnen gemeinsam. Marius hatte sich gerade für solche Fälle ein extrabreites Bett schreinern lassen. Sein Schlafzimmer, das auf die Terrasse ging, war geräumig und dabei klösterlich einfach: nur Fichtenmöbel, kein Schreibtisch, kein Spiegel, keine Lilien.
Sie nahmen ihn in die Mitte. Jeder von ihnen war schläfrig und Toni am meisten. Er lag rechts von B. und sagte, er schlafe auf der rechten Seite und werde ihm daher jetzt den Rücken kehren. B. war dieselbe Haltung gewohnt und drehte sich bald darauf in eine parallele Position hinein. Nur Marius beklagte sich, er müsse die ganze Nacht auf dem Rücken liegen und könne ihnen daher nicht ganz nahe sein.
Sie lagen unter recht dünnen Decken. B. vermisste seine gewohnten Daunen. Er rollte den Kopf nahe an Tonis Rücken heran, der, von der Decke entblößt und mit einem weißen T-Shirt bekleidet, dalag und betrachtet werden konnte. Toni schlief bereits, obwohl noch ein schwaches Licht brannte, Marius würde es hoffentlich bald löschen. In seiner jetzigen Lage erschien Tonis Rücken breiter als sonst, massiv aufgewölbt, Vertrauen einflößend, arglos im sanften und gleichmäßigen Rhythmus der Atmung. B. tauchte allmählich in den harmonischen Trancezustand ein, der bei ihm dem Einschlafen unmittelbar vorausging. Marius löschte jetzt das Licht, ohne seine Lage zu ändern. B. bemerkte noch, wie Marius seinen Arm auf dem Kissen nach ihm ausstreckte. Ihm war, als ob die Fingerkuppen seine Haarspitzen berührten, vielleicht –
B. erwachte als Erster – jedenfalls glaubte er es zunächst. Später sah er, dass Marius aus weit geöffneten Augen die Decke betrachtete, obwohl es dort nichts weiter zu sehen gab. Er selbst, B., hatte sich während des Schlafes auf die linke Seite gedreht und Marius daher voll im Blick. Toni schlief noch immer, es war am Atem zu hören. B. blickte sich um und sah, dass auch Toni die Seite gewechselt hatte und im Schlaf seinem Nacken recht nahe gekommen war.
Die Sonne schien durch die weißen Vorhänge. B. verspürte Lust auf die beiden neben ihm. Marius hatte während der letzten Stunden seinen rechten Arm unter B.’s Kissen geschoben. Als er nicht mehr zweifeln konnte, dass B. vollkommen wach war, nahm er die Rechte unter dem Kissen heraus und stand auf. Er zog die Vorhänge zurück. Sie gaben die Sicht in den kleinen, grün zugewachsenen Garten frei. Der Blick fing sich nach acht oder zehn Metern an einer Buchenhecke. Marius weckte Toni, indem er ihm mit der Hand über die blauschwarzen Haarstoppeln fuhr. Toni erwachte sofort aus seinem tiefen Schlaf und begann sich zu strecken. Er stand dann wortlos auf und verließ das Schlafzimmer, ohne sich umzublicken.
Marius sagte: „Du kannst auch aufstehen, wenn du möchtest.“ Vielleicht war es bei ihnen nicht üblich, am Morgen fortzusetzen, was sie am Abend begonnen hatten. Oder dachten sie schon an Frankfurt?
Toni sagte zu B.: „Ich warne dich, die Küche ist Marius’ Reich. Am besten, man lässt ihn da allein wirtschaften.“ Er lief dann im Haus hin und her und stapelte hinter der Haustür Sachen, die sie nach Frankfurt mitnehmen wollten.
B. ging die drei Steinstufen von der Terrasse in den Garten hinunter. Ein Plattenweg zog sich durch die kleine Sommerblumenwiese – es gab allein Mohn in sieben oder acht Farbtönen – und endete vor einem halbrunden Staudenbeet. Zurzeit blühten, nach der Höhe ihres Wuchses gestaffelt, Lupinen, Gladiolen und Rittersporn. Kleine Lücken dazwischen wiesen auf schon Abgeblühtes oder erst Knospendes hin. Seitlich verwehrte dichtes Buschwerk den Einblick aus Nachbargärten und rückwärtig schloss die hohe Buchenhecke alles hermetisch ab. Die beiden Freunde hatten sich auf kleinem Raum einen intimen Landschaftsgarten geschaffen, in sich abgeschlossen, insular und kulissenhaft.
Es war schon um die Mittagszeit, es gab jetzt einen ausgiebigen Brunch. Marius war nachlässig angezogen, eine alte Cordhose, ein Pullover mit dem Aufdruck Sausalito. Haare von glanzlosem Blond und ein häufig zu Boden wie ins Leere gerichtetes Lächeln. Er gehörte zu jenen schlankwüchsigen Männern, die mit zwanzig allzu mager sind und knapp über dreißig plötzlich die Achtzig-Kilo-Grenze überspringen. Das sympathische Fleisch ist dann nicht völlig proportional verteilt. Sie scheinen selbst verwundert über das Gewicht, das sie in letzter Zeit physisch wie charakterlich gewonnen haben, und dieses Staunen verleiht ihnen eine selbstironische Würde.
B. fragte, wie er zu seinem seltenen Vornamen gekommen sei.
„Kannst du es dir nicht denken? Es gibt beinahe nur eine mögliche Erklärung: Mein Vater war Lateinlehrer. Leider habe ich wohl seine Erwartungen enttäuscht. Von all seinen Bemühungen blieb nur der Name haften …“
Toni öffnete einen dicken Briefumschlag, der mit der Post gekommen war, Post aus Brüssel.
„Oh, Jean hat die Fotos geschickt. Wir können sie nach Frankfurt mitnehmen und dort zeigen.“
Die Bilder gingen von Tonis in B.’s Hände und der gab sie Marius. Es waren Porträts und Ganzkörperfotos von Toni, etwa ein Dutzend, einige in Posen, die B. schon in szenischer Darstellung erlebt hatte. Mit einer Ausnahme missfielen B. die Bilder sehr. Als hätte man den echten Toni, der zwar von fragwürdigem Reiz, doch immerhin wirklich reizend war, per Telefax in eine abstoßende Kopie seiner selbst verwandelt. Jede Natürlichkeit und alles Spontane waren verschwunden und durch aufdringlich eitle Posen ersetzt. Toni bemerkte den Unterschied nicht, er fand sich gut getroffen und war zufrieden. Marius grinste noch ironischer als sonst.
Während der Fahrt zum Bahnhof versprachen sie ihm fest, ihn noch vor ihrem Abflug nach Portugal in Hamburg zu besuchen. Als er sie wegfahren sah, Richtung Autobahn, fühlte er sich euphorisch wie seit langem nicht mehr. Diesmal, sagte er sich, bin ich doch ein gutes Stück vorangekommen. Er ging durch die Glastür in den Bahnhof hinein, um als Erstes den Koffer wieder in ein Schließfach zu tun.
9
Ob er Bruder und Schwägerin in Düren antreffen würde? Vielleicht hätte B. sich diese Frage nicht erst im Zug stellen sollen. Tatsächlich hatte er seit seiner Abfahrt aus Hamburg kaum an die Fahrt über Köln hinaus gedacht. Nun war es zu spät, womöglich fuhr er vergeblich dorthin, dann würde er noch heute heimfahren können. B. gestand es sich ein: Es würde ihm nicht ungelegen kommen.
Sein Bruder war auf dem Bahnsteig und umarmte ihn wie gewöhnlich. Im Wagen erfuhr B. als Erstes, er hätte sie jetzt nicht in der Eifel besuchen können, denn das Haus war seit dem Tod der Tante verschlossen. „Und so bleibt es auch, bis alles geregelt ist. Bei so vielen Erben muss es korrekt zugehen. Es geht ja auch ums Inventar … Übrigens sind die Kinder fort, bei meiner Schwägerin an der Mosel … Ja, es sind doch Schulferien, wusstest du das nicht? Mechthild ist bei mir geblieben. Für die Praxis haben wir jetzt neue Software angeschafft. Sie macht diesen Kram für mich, zeitaufwendig kann ich dir sagen … Sie ist in letzter Zeit etwas nervös geworden, finde ich zumindest … Urlaub? Aber ja, später, wir fliegen im Oktober in die Türkei … Auf dich ist sie übrigens nicht ganz so gut zu sprechen wie sonst. Ich muss es dir sagen, sie hat es direkt übel genommen, dass du nicht zur Beerdigung gekommen bist. Das ist natürlich kleinlich, ich bin in diesen Sachen ganz deiner Meinung. Aber sie engagiert sich halt wirklich für die Familie – meine Familie. Und wenn sie dabei übertreibt – man kann das sicher komisch finden. Oder auch rührend. Sie hat so viel aufgegeben, weißt du …“
B. beschränkte sich auf ein gelegentliches Aha oder Na ja. Er dachte: Ich habe doch gar nichts dagegen gesagt. Und den Erbverzicht hat er bisher nicht angeschnitten. Ich muss auf jeden Fall nächste Woche zum Notar gehen …
So vorbereitet fand er Mechthilds Verhalten ihm gegenüber dennoch unverändert. Sie begrüßte ihn gleich hinter der Wohnungstür und bugsierte ihn mit einer Vielzahl freundlicher Kopf- und Armbewegungen ins kleine Wohnzimmer – sie hatten auch noch ein großes - , und dann gab es verschiedene Säfte zur Auswahl und verschiedene Fragen nach dem Verlauf der Reise, die er, soweit möglich, wahrheitsgemäß beantwortete. Schon nach kurzer Zeit schlug die schöne Schwägerin vor, zum Stadtpark zu fahren. Die Rosen blühten jetzt herrlich dort und mit dem Wagen seien es nur drei Minuten.
Sie hatten ihn noch nie durch den Rosengarten geführt. An den Farben und Düften konnte man sich berauschen. Wie es sich für einen Homo gehörte, begann er Verse zu rezitieren, und zwar Rilkes berühmtes „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern“.
Die beiden kannten das nicht einmal und er sagte ihnen, dass es auch die Grabinschrift sei. „Allerdings haben sie später noch eine zweite große Tafel an der Kirchenwand angebracht, nämlich die dankbaren Bürger von Raron, die damit an den Besuch des Rilkegrabes durch den Doktor Helmut Kohl erinnern.“
Eigentlich liebte er Sprüche dieser Art nicht, aber er hatte sich nicht verrechnet: Sie lachten beide laut heraus. Ferdinand erinnerte daran, dass ja eine Rose nach dem Alten von Rhöndorf benannt sei, und dieser Doktor Kohl sei doch bekanntlich Adenauers Enkel oder Erbe, also sei es nur konsequent, jetzt an die Züchtung vielleicht einer Dahlie namens Helmut Kohl zu gehen.
„Und wie, stellst du dir vor, soll sie aussehen?“ fragte B. brav.
Mechthild trompetete: „Ich schlage vor: fleischig im Wuchs und die Farbe quittengelb.“
Die Stimmung war sehr gut. Bruder und Schwägerin bestritten von nun an fast allein die Kosten der Konversation. Sie unterhielten ihn aufs Beste, wie sie offenbar glaubten, mit lokalen Geschichten von bürgerlicher Korruption. Davon gingen, hörte man die beiden reden, weit stärkere und andere Düfte aus als von den Rosen, für die sich jetzt keiner mehr recht interessierte.
Mechthild kannte B.’s Vorliebe für slawische Komponisten. Sie sagte ihm, sie hätten eine neue und wirklich hörenswerte Aufnahme von Dvoraks Cellokonzert h-moll. Ob er Lust habe, sie anzuhören? Es war gegen das Ende des Abendessens, das unter harmlosem Geplauder dahingegangen war. Er bejahte und sie brachen kurz darauf auf, um vom Speisezimmer ins große Wohnzimmer hinüberzugehen.
In der Diele blieb Mechthild stehen, wandte sich an B. und sagte, schon im Weitergehen, leichthin zu ihm: „Können wir eigentlich noch damit rechnen, dass du auf deinen Anteil am Erbe verzichtest? Die Frist läuft bald ab und wir haben noch nichts von der Sache gehört.“
Ferdinand polterte gleich danach los und sah aus wie ein Mann, der ganz und gar nicht einverstanden ist mit dem, was seine Frau eben gesagt hat. Allerdings hatte er sie vorher ruhig ausreden lassen.
„Ich will es nicht! Und ich will noch weniger, dass du ihn unter Druck setzt! Verdammt noch mal, kannst du das nicht akzeptieren?!“
„Einer muss es ihm nun mal sagen. Übrigens, mein Freund, kein Grund, laut zu werden.“
B. versicherte stammelnd, er halte an seiner Absicht fest, er werde es umgehend erledigen. Ferdinand, als Letzter in ihrer Prozession, schlug die Tür hinter sich zu - sie waren im Wohnzimmer angekommen. Mechthild legte den Dvořák auf. In ihr gemeinsames Schweigen hinein erklangen die ersten Takte des bald mächtig auftrumpfenden Allegros. B. war wie betäubt und nahm, außer dem Gefühl, durch Lautstärke noch mehr betäubt zu werden, von der Musik nichts wahr. Während der leiseren Abschnitte des zweiten und dritten Satzes entschwand das Konzert vollkommen aus seinem Bewusstsein, das jetzt von der Gewissheit erfüllt war, etwas versäumt und verschuldet zu haben.
Diesmal tranken sie Malaga. Als das Konzert verklungen war, sprachen sie eine Weile über die Aufnahme. Mechthild hatte ihren üblichen Ton wiedergefunden. Hatte sie ihn zuvor überhaupt eingebüßt? Ferdinand verbarg nicht, dass er verstimmt war. B. fühlte sich bedrückt und kam sich linkisch vor. Er trennte sich früh von ihnen und ging hinüber ins Gästezimmer.
Am Morgen darauf erwachte B. gegen halb neun. Er hörte den Bruder und die Schwägerin in der Wohnung auf- und abgehen. Von der Küche wurden Speisen und Geschirr ins Esszimmer getragen. Dann hörte er, wie Ferdinand im Badezimmer verschwand und die Schwägerin hastig von einem Raum zum anderen lief. B. hatte es nicht eilig aufzustehen. Einmal glaubte er, die Wohnungstür zuklappen zu hören. Als die Geräusche sich beruhigt hatten, stand er auf.
Sein Bruder frühstückte allein. „Mechthild ist schon weggefahren. Sie lässt dich grüßen.“
„Sie ist weggefahren?“
„Ja, nach Cochem, zu den Kindern. Ich bringe dich am Mittag nach Köln und fahre dann hinterher. Mit zwei Autos im Haushalt lässt sich das ja machen … Ich glaube, wir sind gestern Abend nicht mehr dazu gekommen, dir zu sagen, wie wir es uns für heute gedacht hatten … Nun, schau mich nicht so an, ich will dir nichts vormachen, es war anders. Es war ein spontaner Entschluss von ihr. Sie ist gestern zu weit gegangen und hat es selbst eingesehen … Nein, sag jetzt nichts. Es ist ja alles in Ordnung.“
Während sie frühstückten, entwickelte B. eine Hypothese: Wie, wenn Mechthilds Abfahrt am frühen Morgen schon vor seiner Ankunft hier festgestanden hätte, eine lange geplante Geste, jedoch als spontane Reaktion maskiert? Diese Handlung, die nun ebenso gut aus Scham wie, im Gegenteil, aus Wut erfolgt sein mochte, war dann in Wahrheit nur ein weiterer Versuch der Pression, wobei die anfängliche wahrheitsgemäße Darstellung durch den Bruder hinterher als schwacher Versuch der Täuschung daherkam und die wirkliche Täuschung noch glaubwürdiger machte. Er war verwirrt und außer Stande, den Gedankengang weiterzuentwickeln. Und dann wollte er es auch nicht genau wissen!
Sie frühstückten ausgiebig. Ferdinand erzählte dabei von seiner Tätigkeit als Gutachter und Sachverständiger. Die Gebühren seien leider viel zu niedrig angesetzt. Daher sei er gezwungen, stets den Höchstsatz zu fordern, was ihm noch immer etwas peinlich sei. Aber schließlich müsse die Praxis Gewinn abwerfen … Es sei doch empörend, dass er sogar genötigt sei, Schreibgebühren zu schinden. Wähle man einen genügend großen Zeilenabstand, fülle dieselbe Textmenge mit etwas Glück die doppelte Seitenmenge – und vergütet werde pro Seite, nicht pro Zeile, ein ungerechtes System, er habe es nicht erfunden. B. verstand, worauf der Bruder hinauswollte: Mit all seinen Zynismen wollte er ihm die Bonität seines Unternehmens demonstrieren, in das man unbesorgt investieren könne. Als ob ihn das auch nur im Geringsten interessiert hätte.
B. stand als Erster vom Frühstückstisch auf. Es war kurz vor elf. „Ich packe schon mal meine Siebensachen. Wir sollten bald aufbrechen.“ Ferdinand sagte, er müsse rasch noch einige Unterlagen für ein Gutachten heraussuchen, er wolle es am Abend in Cochem diktieren.
Sie waren fast eine Stunde vor der Abfahrt seines Zuges in Köln und gingen am Rheinufer spazieren. Ferdinand vermied jetzt die Dürener Themen. Stattdessen erzählte er von den Überschwemmungen, von denen die Kölner Altstadt in letzter Zeit wiederholt heimgesucht worden war. Die Flutwellen liefen immer höher auf. Guter Rat sei teuer. Die Altstadt aufgeben? Immer höhere Schutzmauern errichten? Damit sei es nicht getan. Die Flut, heimtückisch, wie sie sei, ergieße sich auch ins Kanalsystem, presse das Dreckwasser des Stromes, vermischt mit dem Unflat der Kanäle, in die verrohrten Bäche. Fontänen aus lauter Jauche überschwemmten die Geschäftslokale und ergössen sich selbst in die Wohnräume im ersten Stock. Das waren ekelhafte Zeiten. Gott sei dank wohnte er woanders, sozusagen auf dem Trockenen.
10
Bevor B. auf den Bahnsteig ging, blieb er an einem Kiosk stehen. Die Samstagausgaben der großen Zeitungen waren ausverkauft und so nahm er die dickleibige Wochenzeitung mit, die er sonst nicht las. Er freute sich schon über ihren Umfang, so groß war sein Bedürfnis nach Zerstreuung. Jenes Blatt galt als seriös, er selbst schätzte es von jeher ebenso ein. Allerdings hatte es da ein Zwischenspiel gegeben, vor Jahren war er in einem Café beim Durchblättern auf einen Artikel gestoßen, der ihn näher anging. Er fand darin die Kreise beschrieben, in denen er gewöhnlich seine Lust suchte. Der Autor hatte eine Reihe von zufälligen und untypischen Beobachtungen gesammelt und zu einem grellen Tafelbild verschmiert. Je weniger er gedanklich eingedrungen war oder die tatsächlichen Strukturen auch nur gestreift hatte, umso stärker musste sein Elaborat dank professioneller Kniffe und rascher Fehlschlüsse auf Fernstehende wirken – und nur um diese Wirkung war es dem Verfasser zu tun gewesen. War das auch sonst das übliche Verfahren, mit dem die seriöse Zeitung interessante Artikel fabrizierte? Indessen lag jener Artikel schon lange zurück, das solide Äußere des Blattes wirkte wie vor zwanzig Jahren wohltuend auf Auge und Gemüt. Man kaufte und glaubte, Geistiges von Gewicht in hübscher Verpackung zu bekommen.
Im Inneren des Blattes entdeckte er einen Artikel über homosexuelle Paare, aus ihnen sollten jetzt Lebensgemeinschaften werden. Der Artikel war gut geschrieben, argumentativ, der Verfasser wohlmeinend, er sprach von Gleichberechtigung und Verantwortlichkeit – so etwas liest man immer gern. Dem Verfasser ging es also um das Lebensglück anderer: Hier war größte Vorsicht geboten!
B. vermutete hinter den juristischen Erörterungen etwas anderes: tief sitzenden Verdruss über den Lauf der Dinge seit den sechziger Jahren. Ein Zitat aus einem anderen Artikel schob sich in seiner Erinnerung nach vorn: Siebenhundert Lederbars in den Staaten – haben wir dafür gekämpft?
Die Lebensverhältnisse waren einfacher und freier geworden, kein Zweifel, aber man vermisste die vorzeigbaren Vertreter, die positive Persönlichkeit, den verantwortlich handelnden, zufriedenen, harmonischen, aufrechten Schwulen. Wo war er? Irgendetwas war falsch gelaufen, es war furchtbar: Nach Jahrzehnten der Emanzipation sahen sie nur Promiskuität, Einsamkeit, Leerlauf und Krankheit … Und in ihrem Dilemma, sich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen zu sehen, den Widerspruch zwischen dem eigenen hohen Menschenbild und der Realität ringsum nicht ertragen zu können, verfielen die alten Aktivisten und Theoretiker auf ein Mittel, das sie als Achtundsechziger noch verabscheut hatten: legalisierte Formen des Zusammenlebens, staatlich sanktioniert, womöglich die Ehe für Schwule … Das Leben war frei geworden, nun sollten ihm wieder die Korsettstangen von Sitte und Ordnung eingezogen werden. Davon konnte einem übel werden.
Er überflog die letzten Absätze des Artikels und blieb an einem Foto hängen, das zur Illustration eingerückt war. Zwei ältere Männer waren, umgeben von einer Schar jüngerer Freunde, vor einem Standesamt in Kopenhagen erschienen, um ihren jahrzehntelangen Bund auch behördlich registrieren zu lassen. Die beiden Alten strahlten über die faltigen Gesichter, ja, es schien als wären die Falten selbst Strahlen. Sie hatten eine Mission – nur welche eigentlich? Sie waren vom Gefühl ihrer eigenen Bedeutsamkeit durchdrungen. Sie waren die Ersten, es war ein historischer Augenblick – nur leider kein schöner Anblick. Tut nichts, wer schwul und politisch aktiv ist, muss nicht auch noch gut aussehen. B. genierte sich etwas für sie.
Verdrossen ließ er das Blatt sinken und malte sich aus, wie Marius und Toni vor dem Standesbeamten auftreten würden: in der gewohnten Aufmachung, selbstsicher und gut gelaunt, wie üblich. Das würde ein erfreulicher Anblick sein. Aber es würde niemals dazu kommen. Warum? Weil es für sie nur eine nutzlose, geschmacklose Veranstaltung sein würde. Sie lebten ohne den Staat dahin, heiter, im Wohlstand und im Gleichgewicht, und wenn sie ein Reglement benötigten, so schufen sie es selbst. Wohl wahr: Die Glückschancen sind ungleich verteilt, das Leben ist ungerecht. B. faltete die Zeitung zusammen und sah die Tiefebene draußen vorbeiziehen, feucht und grün, der Himmel verhangen.
11
Eine Woche später erklärte B. notariell beglaubigt den Erbverzicht. Die Frist war fast abgelaufen, mit Mühe hatte er einen Termin in der großen Kanzlei erhalten. Es war ein schwül-heißer Tag im August. Nachher fühlte er sich leicht und froh, während er über den Gänsemarkt ging. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Eine Taube kackte auf Lessings Schulter, als er am Denkmal vorbeikam, kein schöner Anblick, aber auch sie fühlte sich danach freier, flog über den Platz, aufs Marriott zu. Ohne es eilig zu haben, verschwand B. rasch im Schlund der U-Bahn. Erst unten in der Kühle wurde ihm bewusst, wie heiß der Tag war. Am ganzen Leib verwandelte sich der warme Schweißfilm in eisiges Kondensat.
Weder Bruder noch Schwägerin ließen danach von sich hören. B. dachte selten an sie, die Sache war erledigt. Bald würden Marius und Toni zu Besuch kommen. Eine Augustwoche nach der anderen verstrich, ohne dass sie ihn anriefen, und mit jedem Wochenende stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er sie am nächsten sehen würde – es waren so wenige vor ihrem Abflug nach Portugal übrig.
Ende August dachte B. selbst über Reisepläne nach. Zwei Wochen Urlaub standen bevor und gegen seine sonstige Gewohnheit hatte er sich diesmal noch nicht auf ein Ziel festgelegt. Er war offen für das, was vielleicht kommen würde. In den letzten Jahren war er oft allein verreist, manchmal auch mit alten Freunden. Beides hatte sich gelohnt. Diesmal hatte er Lust, mit einem neuen Freund aufs Land zu fahren. Nur eine neue Liebe war nicht in Sicht. Und ist sie erst da, sagte er sich, ist sie auch schon so gut wie vorbei.
Erster Samstag im September … B. traf gegen Mitternacht im Bronx ein. Er schob sich durch die Menge, fühlte sich fixiert – da standen Marius und Toni in einer Gruppe junger Männer, die er nicht mochte. Toni kam gleich zu ihm. Sie hätten leider seine Nummer nicht mehr gehabt und ihn gestern Abend nirgends gesehen. Sie wohnten bei L.. Mit ihm war B. durch tiefe Abneigung verbunden, deren Ursprung im Dunkeln lag, irgendeine dumme Geschichte, die zehn Jahre her war.
Marius kam auch herüber. Sie versprachen, morgen auf der Rückfahrt bei ihm vorbeizukommen, gegen fünf. Dann zogen sie mit L. und seiner Clique weiter. Am anderen Morgen fragte sich B.: Wie waren sie denn diesmal angezogen? Er hatte nicht darauf geachtet.
Sie waren pünktlich. Als er die Tür öffnete, standen drei Männer in Motorradkleidung vor ihm: Marius, Toni und noch einer, der einen Helm in der Hand trug. Er legte ihn an der Flurgarderobe ab. Das sei Guido, sagte Toni, sie hätten ihn in einem Café getroffen und sich nicht gleich von ihm trennen wollen. Es sei ihm hoffentlich recht.
B. erkannte ihn wieder. Im Mai war er der Dritte gewesen und die drei waren ihm unerreichbar erschienen. Jetzt kam B. darauf, dass er Guido noch einmal gesehen hatte, eine Woche später in Köln, beim Frühstück im Hotel. Wenn ich Sie so sehe, mache ich Ihnen am besten einen doppelt starken Kaffee … Auch seinetwegen war es ihm unangenehm gewesen. Damals hatte er ihn nicht wieder erkannt. Wie alles zusammenhing, müsste er noch herausfinden.
Sie saßen beisammen und Toni sagte, Guido sei mit dem Motorrad da und hinter ihnen hergefahren. Er komme nur selten nach Hamburg und kenne sich hier noch weniger aus als sie selbst.
B. fragte Guido, wo er herkomme, und Guido sagte, nicht weit von Göttingen, dreißig Kilometer. Toni fuhr dazwischen, er wohne bei einer Tante auf dem Land und komme viel zu selten unter die Leute, ein typischer Spätentwickler. Guido lachte verlegen.
B. hörte nicht mehr zu. Er musterte Guido und dachte, er hat ein nettes Gesicht, nur der ständig erstaunte Blick – strengt das auf Dauer nicht an? Guido war größer als Toni, vielleicht sogar größer als Marius? Da er sich nicht gerade hielt, blieb es offen. Wie alt wird er sein - vielleicht Ende zwanzig? Sein blondes, welliges Haar wies schon eine Lücke auf, genau auf der Schädelkuppe, und dennoch wirkte er jungenhaft.
Seine Gäste sprachen jetzt über das Bild an der Wand. Neulich hatte B. das Plakat mit den Strandhütten abgenommen. An seiner Stelle hing jetzt ein Farbholzschnitt, den Johannes ihm geschenkt hatte. B. sagte, Johannes habe ihn selbst hergestellt. Ob Marius und Toni wüssten, dass er auch Graphiker sei? Sie erinnerten sich nur schwer an ihn.
Der Holzschnitt zeigte nach Art eines Frieses eine Reihe ähnlicher Köpfe von Motorradfahrern im Halbprofil, das Visier halb oder ganz geöffnet, die Köpfe in verschiedenen Farben. Guido sagte, der Reiz des Bildes liege im Kontrast zwischen dem Schematismus der Haltung und der Variation in der Farbgebung.
Das habe er gut ausgedrückt, lobte B., er selbst habe es genauso empfunden. Marius fügte hinzu: „Wie auch immer, es ist jedenfalls sehr suggestiv. Unklar bleibt nur, ob es eine Variation desselben Kopfes ist oder eine Montage ähnlicher Profile.“
Toni sagte: „Irritierend.“ Er stand auf, um das Bild von nahem zu betrachten. Dann stand er vor Guido, der sitzen geblieben war, und schlug ihm vor, seinen Helm zu holen und aufzusetzen. Vielleicht sei er ja das Modell gewesen.
Guido sah ihn ruhig an, mit leicht erstauntem Blick. Toni hielt sich an Marius’ Schulter fest und stemmte seinen rechten Fuß mit dem kurzen, fast zu schweren Stiefel gegen Guidos linkes Knie. B. dachte: Guido hat hellblaue Augen und sie wirken sanft. Und seine Knie sind breit und knochig und zeichnen sich jetzt kräftig ab.
Toni sah Guido gespannt in die Augen, er fixierte ihn. Marius nahm Tonis Hand von der Schulter und drückte ihn auf den Stuhl neben sich.
„Die ganze Woche haben wir gelacht“, sagte Marius. „Das muss ich dir erzählen.“ Er wandte sich an B., seine Blicke streiften ab und zu Guido. „Toni und ich, wir waren voriges Wochenende in München. Wir hatten den kleinen Thomas dabei und wohnten bei einem Freund in Schwabing. Du kennst Thomas, nein? Macht nichts. Am Sonntag, heute vor acht Tagen, waren wir bei – na, der Name ist nicht so wichtig. Unser Gastgeber hatte jemand aus Zürich zu Besuch, es waren noch ein paar Leute in der Wohnung. Wohn- und Schlafzimmer liegen hintereinander, nur eine Tür dazwischen. Und irgendwann verschwindet unser Gastgeber mit dem Zürcher ins Nebenzimmer, es fällt kaum auf. Dann gewisse Geräusche, die nicht misszuverstehen sind. Man grinst oder schweigt taktvoll. Nur Thomas, dieses Rindvieh, springt auf, läuft ins Schlafzimmer – und gleich darauf kommt der Gastgeber als Erster heraus und hält sich den Bauch vor Lachen: ‚Ist der doof! Da kommt er herein und sagt zu mir: Nicht, du tust ihm doch weh … Ist der blöd!’ Wirklich komisch, ich glaube, Toni, wir haben das ganze Jahr nicht so gelacht.“
Toni lächelte. Er war aufgestanden und hatte den Arm um Guido gelegt. Guido grinste, auch er hatte die Geschichte verstanden.
„Du solltest ihnen dein Bett für eine Weile überlassen“, schlug Marius vor. B. verbarg seine Überraschung und zeigte den beiden das Schlafzimmer.
„Zum Glück gehen die Räume hier nicht ineinander über.“ Marius schien keine Lust mehr zu haben, amüsante Geschichten zu erzählen. Er und B. schwiegen eine Zeitlang.
„Wird Zeit für Portugal.“ Damit brach Marius ihr Schweigen, das schon Minuten gedauert hatte. B. fiel dazu nichts ein.
Marius fuhr fort: „Kein Kompromiss ist voll befriedigend.“
„Das ganze Leben ist ein Kompromiss.“
Marius wollte keinen Tee. „Mach Musik. Geräusche von nebenan will ich nicht hören.“ B. ließ ihn auswählen und Marius sagte, er solle etwas von Philip Glass auflegen. B. wählte einen der Tänze.
Marius wollte neben B. liegen, sie sollten nur ruhig zuhören. Er warf sich in der Mitte des Zimmers auf den Boden. B. tat es ihm gleich. Sie lagen nebeneinander und berührten sich an den Schultern. In der folgenden Viertelstunde sagte keiner ein Wort. Sie regten sich kaum und überließen sich der raffinierten Einförmigkeit der Musik.
B. denkt, die Grundmelodie seines Lebens ist eine Art von Minimal Music. Angezogen werden, sich binden lassen, zwei oder drei unabänderlich festen Gesetzen unterliegen und erleben, wie das monotone Räder- und Schleifwerk die Grundsubstanz des eigenen Wesens in unendlich vielen, unendlich kleinen Bewegungen transformiert. Wohin und wozu? Er hat es allmählich verlernt zu fragen, das ist zuerst mühsam gewesen. Er wird sich bewusst, nun fast allem entfremdet zu sein, was er lange gedacht und gefühlt hat, vor zehn oder vor fünfzehn Jahren. Aber weiter zurück, als er noch zur Schule gegangen und sich seiner selbst erstmals bewusst geworden ist, da kommt er sich wieder verwandt und vertraut vor und die Freude über die eigene Verwandlung verliert den süßen Beigeschmack des Unverantwortlichen. Sich selbst entfremdet werden und zu sich zurückfinden, das ist nun eins.
Marius atmet kräftig und gleichmäßig. Die Musik ist jetzt leise. Für eine Weile empfindet B. die Atmung des Mannes an seiner Seite wie ein Element der Musik, die sie beide anhören. B. verfolgt den Weg eines immer wieder schwach aufglimmenden Orgelpunktes. Er erscheint ihm in all dem linearen Wirbel wie das maximal reduzierte Individuum, das zeitweise die Kraft findet zu sagen: Es gibt mich noch. Und das ist für B. jetzt schon Freiheit, Glück - ein ausgesprochen passives Glück. Etwas von Kafka fällt ihm dazu ein - der Apparat in der Strafkolonie. Und wird es am Ende auch ihm ergehen wie jenem Offizier, an dem kein Zeichen der versprochenen Erlösung zu entdecken war? Ein trüber Gedanke, er verscheucht ihn. Sie liegen doch jetzt bloß auf dem Fußboden und genießen eine kontemplative Viertelstunde.
Das Stück war noch nicht zu Ende, als das Telefon klingelte. Ferdinand mokierte sich gleich über das „penetrante Gedudel“ und B. stellte die Musik leiser. Er habe sicher schon einige Zeit auf seinen Anruf gewartet? - B. sagte: „Ja“ und ließ dem Bruder Zeit. - Alles sollte doch, hieß es dann, geklärt und endgültig abgewickelt sein und das sei es nun, er danke ihm herzlich, auch in Mechthilds Namen. Sie sei übrigens heute in Cochem, wieder auf Besuch bei der Schwägerin. Ja, die Kinder auch … Dass er doch so rasch gehandelt habe, nach seinem letzten Besuch in Düren, das habe sie aus einer prekären Lage befreit. - „Wieso?“ frage B. und dachte bei sich: Vielleicht war es tatsächlich mein letzter Besuch dort. Ferdinand ließ ihn wissen, dass damals, Ende Juli, drei der übrigen Erben schon förmlich verzichtet hätten, nur eben die Kusine in München noch nicht, die boshafte Person. Erst mit B.’s Erklärung in der Tasche hätten sie sie weich bekommen und dazu noch extra nach Bayern fahren müssen. Immerhin, fuhr Ferdinand fort, sei Mechthild auf diese Weise wieder einmal nach München gekommen, wo sie studiert habe, und für die Kinder sei es das erste Mal gewesen.
B. gratulierte ihm. Nun sei ihnen das Haus in der Eifel sicher für alle Zeiten. Woraufhin Ferdinand ihn erneut dorthin einlud, auch einmal für längere Zeit, am besten noch diesen Herbst. Es stehe ihm auch zur Verfügung, wenn sie selbst während der Woche nicht dort sein könnten. B. sagte: „Ja, vielleicht bald, vielleicht …“ Unterdessen hatte Marius sich hinter ihm aufgesetzt, die Aufnahme war zu Ende. Er berührte mit den Fingerkuppen B.’s Haarspitzen.
Da sei noch etwas, sagte Ferdinand, das wolle er ihm nicht verheimlichen, doch erwarte er B.’s Verschwiegenheit, die Sache sei absolut vertraulich. B. fand nun bestätigt, was er zeitweise vermutet, dann wieder vergessen hatte: Die Tante war in der Tat nicht ganz ohne Vermögen gewesen. Wie viel in Barem oder auf Konten, wollte B. wissen. Ferdinand zögerte. B. wollte, wennschon keine Summe, dann doch die Größenordnung erfahren: fünf- oder sechsstellig? Sechsstellig, sagte Ferdinand, aber nur eben. B. schluckte, gut, dass sein Bruder ihn nicht sehen konnte. In sein Schweigen hinein bot Ferdinand an, mit ihm zu teilen, ein Drittel oder die Hälfte. Nur müsse alles unter ihnen bleiben, in jedem Sinn.
B. schwieg noch immer. Er lauschte in sich hinein und hörte da - vergleichbar einer Tonbandansage: Bitte warten, bitte warten – ein Zitat von irgendwoher. Es klang wie: Die Rache der Enterbten, die Rache der Enterbten … War das ein Buchtitel? Jedenfalls war es eine sinnlose Phrase. Hatten sich seine Haarspitzen zuletzt gesträubt? Marius fuhr ihm leicht übers kurze Haar, Marius streichelte ihn jetzt. B. beruhigte sich und sagte: „Nein, nein, ich will nicht. Ich bitte dich, reden wir nicht mehr darüber.“
Er gab dem Bruder keine Gelegenheit, noch etwas zu erklären oder vorzuschlagen. Er habe Besuch, er werde ihn demnächst anrufen, demnächst, irgendwann. Und legte auf.
Marius fragte: „Unangenehme Neuigkeiten?“
B. antwortete: „Ja und nein.“ Zu weiteren Auskünften war er nicht bereit.
Sie schwiegen eine Zeitlang. Marius erklärte ihm dann, mit Guido zu schlafen, würde ihm nie in den Sinn kommen.
Kurz darauf kam Toni ins Zimmer, Guido hinterher. Guido wirkte auf B. verstört. Er nahm auf dem gleichen Stuhl Platz, auf dem er vorhin gesessen hatte. Er saß ziemlich schlaff da und sagte kein Wort.
Toni ging im Zimmer auf und ab. Er wollte von B. wissen, wann er sie das nächste Mal in Köln besuchen werde. Da sie sich nun glücklicherweise wieder getroffen hätten, sollten sie die Verbindung nicht mehr abreißen lassen.
B. sagte, er wisse es noch nicht. Er schrieb ihnen noch einmal seine Telefonnummer auf und gab sie Marius. Zu Toni sagte er, er fahre jetzt auch erst mal in Urlaub. Wohin, das wisse er noch nicht. Es fehlten ihm nicht die Ideen, nur habe er sich noch für keine entscheiden können. Toni lud ihn ein, einige Tage in Köln zu verbringen, er könne ihr Haus haben, wenn sie in Portugal seien. Marius nickte.
B. antwortete, er wisse nicht einmal, ob er auf seiner Reise Köln überhaupt berühren werde.
Guido hatte sich inzwischen erholt. Der fragende Gesichtsausdruck kehrte allmählich zurück. Er stand auf und sagte, er müsse jetzt fahren, er brauche zwei Stunden bis Göttingen. Von Marius und Toni verabschiedete er sich im Wohnzimmer, kurz und ohne weitere Verabredung. Von B. wollte er wissen, wie er zum Elbtunnel komme.
B. ging mit ihm in den Flur und begann, es zu erklären. Als er die Zimmertür geschlossen hatte und Marius und Toni sie nicht mehr hören konnten, unterbrach ihn Guido: „Ich finde es schon. Hier hast du meine Karte, ruf mal an. Du kannst mich besuchen, auch für länger. Wir haben viel Platz.“ Mit der rechten Hand griff er nach dem Helm, öffnete die Wohnungstür und ging schnell hinaus. Auf der Treppe wandte er sich um und hob die Linke zum Gruß. Er lächelte nicht.
Toni sah ihm vom Fenster aus zu, wie er die Maschine startete. Marius studierte die Bücherrücken in den Regalen. B. dachte: Mit Guido? Jetzt bald oder erst später? Er sah ihn schon vor sich, wie er in einem halben Jahr auftreten würde: viel selbstbewusster und immer noch auf der Hut, erstaunt und doch Fragen im Blick. Vielleicht wird er dann links eine Kette tragen … Es war manchmal reizvoll, sich von sanften Männern quälen zu lassen. Von ihm, nicht von Marius.
Toni sagte, er müsse vor der Abfahrt noch duschen. Als er draußen war, schlug Marius vor: „Lass uns auch in dein Schlafzimmer gehen.“ Auf dem Flur fügte er hinzu: „Beeilen wir uns, wir haben nicht viel Zeit.“
Während sie ins Schlafzimmer hineingingen, dachte B.: Der Sommer war schön, trotz allem, eigentlich war er sehr schön - aber auch schnell vorbei.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2022
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