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1. Wer war Clara Haskil?

Gedenkt man ihrer noch? Clara Haskil war eine der großen Pianistinnen des 20. Jahrhunderts. Geboren 1895 als Kind rumänischer Juden in Bukarest, stand sie bald als Halbwaise unter der Vormundschaft eines überaus ehrgeizigen Onkels. Er erkannte früh ihre außerordentliche musikalische Begabung und brachte sie 1902 zur Ausbildung nach Wien, 1905 nach Paris. Er isolierte sie von allen Gleichaltrigen, ihre Kindheit war so wenig kindgerecht wie nur denkbar.

1909 begann ihre Konzertkarriere. Vielleicht war sie zu früh geboren. Sie entsprach in keiner Weise den Vorstellungen des damaligen Konzertpublikums, das dem spätromantischen Klangrausch verfallen war. Ein Kenner wie Feuchtwanger formulierte dagegen: „Zartheit war ihre Stärke.“ Sie konzertierte jahrzehntelang, vor allem in Frankreich, Holland und in der Schweiz, ohne den großen Durchbruch zu erreichen.

Clara Haskil litt unter chronischem Lampenfieber. Sie machte als junge Frau eine schwere Skoliose durch, musste lange Zeit ein Korsett tragen. Mitten im 2. Weltkrieg erkrankte sie an einem bedrohlichen Tumor. Ihr Leben konnte nur durch eine schwierige Operation gerettet werden. 1942 gelang es ihr, in die Schweiz überzusiedeln, und sie blieb auch nach dem Krieg dort.

Spät erst, ab etwa 1950, setzte sie sich international durch. Sie spielte vor allem Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und Chopin. Wie es scheint, passte ihr klarer, werkgetreuer, bei aller Zartheit doch kraftvoller Stil hervorragend zum Kunstverständnis und kulturellen Lebensgefühl der fünfziger Jahre. Leider gibt es nur wenige Schallplattenaufnahmen von ihr.

Clara Haskil starb 1960 nach einem spektakulären und für ihr gesamtes, immer gefährdetes Leben bezeichnenden Unfall: Sie war im Brüsseler Südbahnhof eine Treppe hinuntergestürzt.

Wie oft höre ich von ihr Schuberts Klaviersonate Nr. 21 … Da ist alles ausgedrückt, der ganze Schubert und die ganze Clara Haskil: genial und zerbrechlich, wie sie beide waren.

 

2. Eisenhut - schön und sehr giftig

 

Vor gut dreißig Jahren ist er mir zum ersten Mal ins Auge gefallen, der dunkelblaue Eisenhut, und zwar auf einer Reise in die Schweiz. Wir wanderten damals im Spätsommer zwei Wochen lang durch das Engadin. Besonders im Schweizerischen Nationalpark erschien er mir als die charakteristische Blütenstaude schlechthin. Seine Horste gruppierten sich entlang der Pfade, vorzugsweise auf feuchtem Untergrund. Dass er stark giftig ist, wusste ich damals noch nicht. Da ich von Natur zurückhaltend bin, Schönes am liebsten aus einigem Abstand betrachte und Früchte und Grünzeug nur aus dem Handel verzehre, bestand keinerlei Gefahr für mich.

Jahre später legte ich einen Garten mit einer größeren Staudensammlung an. Im Garten-Center stieß ich auf Eisenhut-Jungpflanzen. Ich dachte an die Alpen und das herrliche Dunkelblau erschien mir für den Hoch- und Spätsommer unverzichtbar. Vielleicht gab es im Gartenmarkt einen kleinen Hinweis auf die Giftigkeit, in meinem dicken Gartenratgeber zu Hause findet er sich nicht. Ein Freund sprach mich auf das Thema an, als die zwei Eisenhutgruppen ihren Platz schon im Garten gefunden hatten. Im Lauf der Zeit pflanzte ich sie um, und zwar, wie bei mir üblich, ohne Handschuhe.

Inzwischen weiß ich viel mehr über das Risiko. Wikipedia nennt Eisenhut die giftigste heimische Pflanze Europas. Sie spielt ihre unheilvolle Rolle auch in anderen Erdteilen. Erschreckend die Statistiken aus China, sie führen dort Buch über die jährlichen Todesopfer, gegliedert nach Provinzen und nach Mord, Selbstmord und unglücklichem Zufall. Letzterer ereignet sich ab und zu infolge Verwechslung beim Herstellen von Arzneien für die traditionelle chinesische Medizin. Wenige Milligramm Aconitin je zehn Kilogramm Körpergewicht sind bereits tödlich. Ich weiß jetzt, wie viele Gramm aus der Wurzel oder den Blättern oder Blüten dieser Dosis entsprechen, es sind sehr wenige. Mehr dazu nicht, ich will nicht den Ratgeber für Giftmischer spielen. Gärtner haben sich schon dadurch vergiftet, dass sie den Wurzelballen in ihren bloßen Händen trugen.

Das aufgenommene Aconitin wirkt bald auf die Muskulatur und das Nervensystem und führt unbehandelt vom Beginn der Symptome an in drei Stunden zum Tod. Der Kranke bleibt unter stärksten Schmerzen bis zum Schluss bei vollem Bewusstsein.

Ein typisches Beispiel für eine Eisenhut-Vergiftung ist der Fall des kanadischen Schauspielers André Noble. Geboren 1979, hatte er seinen ersten großen Erfolg in John Palmers Film „Sugar“ von 2004, in dem er die Hauptrolle spielte. Der Film war gerade auf dem Markt und erntete erstes Lob, als Noble einen Campingurlaub in seiner Heimatprovinz Neufundland verbrachte. Am 30. Juli 2004 unternahm er eine Bootsfahrt mit Freunden. Sie erkundeten eine kleine Insel vor der Küste. Als Noble am Abend bei seiner Tante aß, setzten die Symptome einer Aconitin-Vergiftung ein. Er konnte nicht schnell genug ins Krankenhaus gebracht werden. Die pathologische Untersuchung ergab, dass er, der Vegetarier und ausgesprochene Naturliebhaber, während des Ausflugs mit anderen Pflanzen Eisenhut zu sich genommen haben musste.

Denken wir an sein Schicksal, wenn wir die schönen Blüten betrachten, in Parks oder in Privatgärten.

3. Nixon in China - Oper

Aus Nixons Staatsbesuch in China 1972 hat John Adams eine Oper gemacht, sie wurde 1987 in San Francisco und London uraufgeführt und steht gelegentlich auf dem Programm anderer großer Häuser. Da ist tolle Handlung, schmissige Musik und alles herrlich ironisch. Muss ich sagen, wer John Adams ist? Nun, ein US-Amerikaner, geboren 1947, einer der großen lebenden Komponisten und neben Philipp Glass und Steve Reich Hauptvertreter der Minimal Music.

Die Musik kann ich hier nicht zum Klingen bringen. Sprechen wir über die Hauptfiguren und ihre Charaktere. Der Präsident ist ein extrovertierter und mediengeiler Naivling. Er findet: „News has a kind of mystery“ und berauscht sich vor allem an der Vorstellung, wie sein Auftreten in China zu Hause auf die Fernsehzuschauer wirkt. Er schmettert: „It’s primetime, it’s primetime in the USA!“ Ehefrau Patty, zart, verwundbar, wird später beim Besuch der Großen Mauer von bösen Vorahnungen befallen. Der Zuschauer kennt ja das Ende der Geschichte: Watergate.

Auf chinesischer Seite imponiert vor allem Tschu-En-Lai. Er ist als einzige Figur durchweg positiv gezeichnet, ein hochgebildeter Philosoph auf dem Ministerpräsidentenstuhl, der herrliche und gefühlvolle Arien singt. Nixon überschlägt sich beim Bankett fast vor Begeisterung und beschuldigt sich selbst, er sei ein Gegner Chinas gewesen: „I was wrong!“ Gelegentlich zischelt ihm Berater Kissinger entgeistert zu: „Mr. President, Mr. President …!“

Maos Frau ist eine hyperaktive Furie. Die Gäste werden in die Peking-Oper gebracht und sehen dort ein Stück der Gattin des Großen Vorsitzenden. Es zeigt eine erfolgreiche Aktion von Soldatinnen der Roten Armee. Sie befreien im tropischen Südchina Frauen, die bis dahin unter der Knute eines Großgrundbesitzers gestanden haben. Die Staatsbesucher und die Gastgeber werden selbst in die Handlung einbezogen. So wird aus Kissinger ein Helfershelfer der Ausbeuterklasse. Er vergreift sich auf sadistische Weise an den armen Frauen. (Armer Kissinger, du hast keine gute Presse mehr. Gore Vidal ruft dir in einem Interview sogar nach: „Er ist ja nicht blöd, sondern nur Kriegsverbrecher.“) Und dann kommt noch ein Tropensturm auf … Aber der ist noch nichts gegen das große triumphale Solo „I am the wife of Mao Tse Tung“.

Um ehrlich zu sein: Ich habe bisher weder eine Aufführung der Oper im Theater noch eine Aufzeichnung gesehen. Ich kenne nur den bei Nonesuch erschienenen Querschnitt (Dirigent: Edo de Waart, Orchestra of St. Luke’s). Er allein genügt schon, um die Qualität dieser hinreißenden Musik zu erkennen. Und wenn ich sie anhöre, sehe ich die Szenen deutlich vor mir. Nehmen wir nur diese pompös-komische Landung der Präsidentenmaschine …

Fehlt noch eine Oper über George W. Bush. Ich sehe den Einwand voraus, seine Vita sei für eine ironische Oper ungeeignet. Richtig – doch Adams hat auch eine ernste Oper geschrieben, und zwar über die Ermordung einer Geisel: The Death of Klinghoffer.

 

4. Es wurde jung gestorben

Wieder einmal gehe ich über den Hamburger Friedhof Ohlsdorf. Er könnte mit 1,7 Millionen bestatteten Menschen das kollektive Gedächtnis der Stadt sein. Wenn nur die Toten nicht so schweigsam wären und die Erinnerungen der Lebenden nicht so schwindsüchtig … Ich bin auf die Grabinschriften angewiesen, wenn ich etwas über die Geschichten der Toten erfahren will.

Da liegen drei junge Männer zwischen zwanzig und dreißig in einem Grab, dem Anschein nach nicht miteinander verwandt gewesen. Unter jedem Namen ist als Relief ein altmodisches Propellerflugzeug herausgearbeitet. Dazu lese ich, die drei seien 1937 den Fliegertod gestorben. Ich denke an Proust und Agostinelli und wüsste gern mehr über die hier.

Ein Elternpaar hat seinen im März 1918 in Frankreich gefallenen Sohn so geehrt: Wer den Tod im Ehrenkampf fand / Ruht auch in fremder Erde im Vaterland. Makaber – sie machen auch noch die Toten dem Annexionsstreben dienstbar. Vielleicht hat der Sohn in der Schule gelernt: Ubi bene, ibi patria – wo es mir gut geht, da bin ich zu Hause. Nun soll er sagen: Wo ich ins Gras gebissen, auch da ist deutsche Erde … Und ich gehe über das Gräberfeld der toten Soldaten des Commonwealth, Weltkrieg II. Es sind Hunderte und Aberhunderte, die meisten Anfang zwanzig, viele Australier darunter.

Ein Wegweiser macht mich auf die Primus-Gräber neugierig. Davon habe ich noch nie gehört und erfahre jetzt: Es sind die Opfer der bisher größten Schiffskatastrophe auf der Elbe. 1902 rammte ein Schlepper den Vergnügungsdampfer Primus, an Bord die Liedertafel Eilbek. Die Bordkapelle soll noch gespielt haben: Nach Hause, nach Hause gehn wir nicht … In der Tat – von den 101 Toten liegen 78 hier im Massengrab. Die meisten waren zwischen zwanzig und vierzig, es waren auch Kinder darunter.

Ob ich sein Grab wieder finden würde? Ich bin nur einmal da gewesen und es gibt Hunderttausende Gräber hier … Ich will mich jetzt nicht an die Friedhofsverwaltung wenden und begnüge mich mit Erinnerungen. Damals hat er eine Kunstreise nach Berlin betreut und ist nicht über Nacht bei mir geblieben – nachher. Und er hat gesagt: Ich geh lieber ins Hotel zurück und lass mich wecken. Ist schon mal in Basel schief gegangen, am Morgen die Gruppe ohne mich im Museum … Im Jahr darauf hat er mich zuerst nicht erkannt, er hat es noch mal bei mir versucht, ich habe gelacht und ihm ist’s peinlich gewesen.

Umtriebig ist er gewesen, ist oft nach New York geflogen, hat Riskantes gemacht. Und Jahre später sitze ich in einem Zug in Österreich und lese die Süddeutsche und mein Blick bleibt an seiner Todesanzeige hängen - also auch er … Kann sein, seine Liegezeit ist schon um. Übrigens hat er noch ein Buch über Majoliken geschrieben, man kann es antiquarisch bekommen. Schade, dass ich so wenig Interesse für Majoliken habe.

 

5. Wer war Ernst May?

Sein Name ist heute außerhalb von Frankfurt einer breiteren Öffentlichkeit kaum noch bekannt. Dabei war er zu Lebzeiten einer der Erfolgreichsten, Angesehensten seiner Zunft. Von keinem anderen deutschen Architekten dürfte ein vergleichbar hoher Baubestand erhalten geblieben sein. Keines anderen Wohnhäuser dienen so vielen Menschen noch heute hierzulande als Heimstatt. Oder nur als Unterkunft? Wer war Ernst May und wo sind seine Bauten?

Geboren 1886 in Frankfurt, wuchs er dort auf und ging zum Lernen, Studieren eine Zeitlang nach England, machte sich mit den dortigen Gartenstädten vertraut. 1913, nach beendetem Studium, sehen wir ihn als selbständigen Architekten in seiner Heimatstadt. Dann wird er Soldat und geht nach dem Krieg nach Schlesien. Er arbeitet an Landsiedlungen und an Bebauungsplänen für Breslau und Umgebung.

1925 wird er Stadtbaurat in Frankfurt. Seine erste große Zeit beginnt: May, der Mitentwickler und Organisator des Neuen Bauens, entwirft eine Reihe neuer Stadtrandsiedlungen, z.B. die Hellerhofsiedlung, die Römerstadt, Praunheim. Die große Wohnungsnot jener Zeit ist zu beseitigen. Mays Ziele gehen darüber hinaus, er will fortschrittlichen, menschenwürdigen Wohnraum für die breiten unteren Schichten bauen. Mit der Wirtschaftskrise endet die rege Bautätigkeit abrupt.

May geht 1930 in die Sowjetunion, entwirft Bebauungspläne am Ural und in Sibirien, für Magnitogorsk und Kusnezk zum Beispiel. May hat Differenzen mit den staatlichen Stellen, für die er arbeitet, und kehrt 1933 nach Deutschland zurück – um es rasch wieder zu verlassen. Seine Person und seine Art zu bauen sind daheim nicht mehr willkommen. Er geht nach Kenia, hat eine eigene Farm, dann ein Architekturbüro in Nairobi, bis ihn die Briten bei Kriegsausbruch internieren.

Nach dem 2. Weltkrieg kommt Mays wirkungsvollste Zeit. Er arbeitet zeitweise für die Neue Heimat, betreibt ein eigenes Architekturbüro. Von ihm sind Entwürfe für zahlreiche Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit. Wir finden sie noch heute z.B. in Hamburg (Neu-Altona), Bremen (Neue Vahr), Wiesbaden oder Darmstadt. Er stirbt 1970 in Hamburg.

Fragt man heute einen Hamburger nach Neu-Altona, kann man zur Antwort bekommen: Ach, das ist da, wo die hässlichen Hochhäuser sind … Dagegen lobte Wilhelm Westecker in seinem Buch „Die Wiedergeburt der deutschen Städte“ von 1962 den Entwurf für das Viertel als „vorbildlich“. Und: „Die zwölfgeschossigen Hochhäuser haben einen harmonischen Fensterrhythmus und eine ansehnliche Gestalt.“

Sein sachlich-funktionaler Stil, seine überwiegende Verwendung von vorgefertigten Bauteilen, die extreme Höhenabstufung seiner späteren Siedlungen, die angestrebte starke soziale Durchmischung der Stadtteile, all das kommt spätestens seit dem Ende der siebziger Jahre erst aus der Mode, dann in Verruf. Und gleichzeitig bleibt er mit seinen frühen Siedlungen in Frankfurt unter Kennern eine Ikone der Architektur. Manches kommt unter Denkmalschutz. Diese Zweiteilung in der Wertschätzung ist absurd, zumindest inkonsequent. Mays Bauideal ist durchgehen dasselbe: sozial verantwortlich, rationell, funktional. May ist der Architekt der zu seinen Lebzeiten sozial aufsteigenden Schicht der Industriearbeiter und kleinen Angestellten. Die Vermutung liegt nahe, dass das ästhetische Verdammungsurteil über sein Alterswerk in Wahrheit eine Abkehr von seinen sozialen Idealen ist. Ist May etwa dafür verantwortlich, dass seine Quartiere nach seinem Tod teilweise sozial umgekippt sind? Die Kritik an seinem Bauen dient verschleiert der späteren sozialen Differenzierung. Aber der Niedergang der alten Arbeiterklasse und der Umzug der sozialen Aufsteiger in zeitgemäßere Viertel machen aus ästhetisch gelungenen Baukörpern und –gruppen kein schlechtes Bauen. Haben wir den Mut, seine Wohnsiedlungen mit neuen, unvoreingenommenen Augen zu betrachten!

Eines seiner letzten größeren Projekte war die Siedlung Winterfloß in Neunkirchen/Saar, um 1965 gebaut. Auf einem steil abfallenden Terrain, auch in sich topographisch unruhig, waren ca. 700 Wohnungen zu planen – eine schwierige, undankbare Aufgabe. May stellte dreizehnstöckige Hochhäuser an den oberen Rand, direkt vor die Waldkulisse, dann achtgeschossige Blocks an die ins alte Dorfzentrum abwärts führende Straße und an den Hang im Winkel zwischen den beiden dominanten Gruppen ein Viertel mit Eigenheimen, selbstredend alle mit Flachdächern. Der Anblick von weitem verrät Gespür für Balance. Wir sehen eine stark urbanisierte Umgebung von gewisser himmelstrebender Brutalität – und dennoch ist der Rahmen von hügeliger, waldiger Landschaft und altem niedrigem Baubestand nicht gesprengt.

Inzwischen haben sich viele der Eigenheime in der Siedlung Winterfloß ihres Flachdachs entledigt und ein Steildach aufgesetzt. Das stört nicht nur das Gesamtbild der Anlage empfindlich, es erscheint symptomatisch: Mit Egalität will, wer sozial aufstrebt, nichts mehr am Hut haben und setzt dafür seinem Haus – einen Hut auf. Besser wäre es: Hut ab vor Ernst May, einem der wirklich großen Architekten unseres Landes.

 

6. Clara Ward - Prinzessin von Chimay

Oh, diese Namen! Meine Clara Ward ist nicht die bekannte Gospelsängerin. Und Prinzessinnen von Chimay hat es viele vor ihr gegeben. Chimay ist eine Herrschaft im heute belgischen Hennegau, viel älter als Belgien, nacheinander im Besitz verschiedener hochadliger Familien, deren Häupter sich jeweils Prince und Princesse nennen. 19. Prince de Chimay wurde 1892 Marie Joseph Anatole Élie de Riquet. Er hatte 1890 jene Clara Ward geheiratet, um die es hier geht, eine Millionärstochter aus Detroit, geboren 1873. Sie schenkte ihm zwei Kinder, aber dann …

1894 entbrannte Clara in Liebe zu dem ungarischen Zigeunergeiger Rigó Jancsi und ging mit ihm durch. Sie trieben sich erst eine Weile an fashionablen Plätzen wie Paris herum und bezogen dann Quartier in dem einsam gelegenen Forstgasthaus Einemhof bei Lüneburg. Zwei Jahre lang war das ihr Liebesnest, und die Paparazzis von damals versorgten die Weltpresse mit den Details. 1897 wurde die fürstliche Ehe geschieden, Clara ehelichte ihren Teufelsgeiger. Sie gingen wieder nach Paris, Clara ließ sich in den Folies Bergère für Geld sehen, in hautengen Kostümen und plastischen Posen. Das erklärte sie zur neuen Kunstform. Toulouse-Lautrec hatte sie schon zuvor mit dem belgischen Prinzen lithographiert, und Clara ließ sich mal mit, mal ohne Rigó für Ansichtskarten fotografieren. Manche von ihnen werden noch heute weiterverkauft, z.B. über ebay.

Die zweite Ehe wurde rascher als die erste geschieden. Clara heiratete noch zweimal, zuletzt den Stationsvorsteher einer italienischen Lokalbahn. 1916 erschoss sie sich in Padua. Nach Rigó wurde eine in Budapest kreierte Schokoladencremeschnitte benannt. Er selbst starb 1927 in einem New Yorker Slum, nachdem er siebenmal verheiratet gewesen war.

In den Künsten wie in den Medien geistert die Dollarprinzessin, die eingeheiratete hochadlige Ehebrecherin seitdem als Femme fatale herum. 1926 gab es einen Stummfilm über sie: „Frauen der Leidenschaft – Im Glutrausch der Sinne“. Sie erstand wieder auf in einem Musical von Cole Porter. Und dann wird sie gern in wissenschaftlichen Publikationen erwähnt, wenn es um sexuelle Schlüsselreize geht, speziell um einen ganz bestimmten. Befragt, woran ihre Leidenschaft für Rigó sich denn entzündet habe, gab sie das kleine Geheimnis preis: Es war sein Geruch - nämlich der in der Achselhöhle.

7. Die große Gleichgültigkeit

Eine dunkle Straße, ein Gehweg bergauf und plötzlich ein Radfahrer, der auf mich zuraste. Er kam mir ohne Licht wie ein Geschoss entgegen. Ich konnte gerade noch auf die Fahrbahn springen. Es war ein junger Mann oder ein Halbwüchsiger, ich sah ihn nur vorbeifliegen.

Ich muss an etwas denken, das vor Jahren hier im Landkreis passiert ist, in einem der Dörfer. Es gibt dort am Ortsrand eine lange, ruhige Straße, die am Wald endet. Sie hat keine Seitenstraßen und wird nur von Einfamilienhäusern gesäumt. Hinter den Gärten beginnen die Felder und Wiesen.

In dieser Idylle machten sich zufällig zwei Radfahrer zur gleichen Zeit auf den Weg. Der eine wollte Zigaretten besorgen, der andere ich weiß nicht was. Es war später Abend und dunkel. Beide fuhren auf der vollkommen leeren Dorfstraße ohne Beleuchtung. Sie fuhren sehr schnell und prallten zusammen. Der eine erlitt eine Rückenmarksverletzung mit Querschnittslähmung. Er war damals erst achtzehn. Für den Rest seines Lebens ist er auf den Rollstuhl angewiesen.

Es gab einen Prozess gegen den anderen. Die Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Gegenüber so vielem Leid musste die verhängte Strafe geringfügig erscheinen.

Es wurde und wird weiter ohne Licht durch die Nächte gebraust, mehr denn je. Erstaunlich, wie abgestumpft Menschen sein können.

 

8. Neue Rechtschreibung

Beim Erstellen oder Archivieren meiner Texte benutze ich das Schreibprogramm von – ach, ich will die Firma jetzt nicht nennen. Reden wir einfach vom Korrektor, wenn ich die integrierte Rechtschreibprüfung meine. Der Korrektor springt mir oft bei, wenn ich mich vertippe oder einen Grammatikfehler mache. Doch manchmal fühle ich mich zu Unrecht bekrittelt. Ich habe mir da eine kleine Liste angelegt …

Beginnen wir mit dem Einfachsten, das mich am meisten frappiert. Unsere deutsche Sprache kennt die Eigentümlichkeit des zusammengesetzten Verbums, das innerhalb des Satzes in seine ursprünglichen Bestandteile zerlegt wird. Beispiel: Schröder löste Kohl als Kanzler ab. Keine Beanstandung, warum auch. Jetzt tippe ich: Der Wind flaute ab. Und siehe da: Der Korrektor moniert flaute und schlägt mir stattdessen flauste vor. Das ist kein Einzelfall.

Ist mittelgradig eine Wortschöpfung von mir? Wenn es leicht- und hochgradig gibt und Mittelmaß und – wert, sollte auch mittelgradig durchgehen. Stattdessen kommt mir der Korrektor mit mittelgrasig.

Die Karawanken sind ihm wie die meisten geographischen Begriffe unbekannt. Ich lese erstaunt von wild zerrissenen Karawanen. Er muss das Städtchen Lauenburg nicht kennen, so wenig, wie ich das ihm bekannte Laugenburg - vielleicht der Ort, an dem die Laugenbrezel erfunden wurde?

Vom Kapitol hat unser Korrektor noch nie gehört, er rät mir zu Kapitel oder Kapital. Überhaupt denkt er oft ans Geld, denn wenn ich von Lottchen (wie „Doppeltes Lottchen“) schreibe, korrigiert er mich: Lottochen!

Ich will nicht kleinlich sein, über englische Wörter in deutschem Text darf er stolpern. Aber dass er Expressways durch Expresswams ersetzen will, lässt mich schmunzeln.

Für das Schmierenhafte z.B. an einer Komödie oder einer Parlamentsdebatte hat er keinen Sinn – ich soll schmierenhart schreiben. Ja, schon recht, wenn man nur lange genug abwartet, wird jede Schmiere einmal hart.

Im Zusammenhang mit Kopftuch und Kreuz ist seit Jahren auch oft von der Kippa die Rede. Diese Debatte ist am Korrektor spurlos vorbeigegangen. Er streicht mir die jüdische Kopfbedeckung mit wegwerfender Gebärde durch: Kippe!

Manchmal geht seine Unwissenheit doch zu weit. Wie oft müssen wir im Zusammenhang mit Doping (das er nicht beanstandet) von Urinproben hören oder lesen – er aber kennt nur Uranproben

 

9. Bilder aus dem SIMPLICISSIMUS

Es wurde und wird behauptet, der Deutsche an sich sei humorlos. Sogar Tucholsky hat sich einmal in einem Geburtstagsartikel für Hermann Hesse in diesem Sinn geäußert. Nun, was ist der Deutsche an sich – es gibt Fragen, die mich mehr beschäftigen. Tatsächlich hat in Deutschland jede Generation eine Fülle großer humoristischer und satirischer Talente hervorgebracht, von Otto Julius Bierbaum, Otto Reutter und Wilhelm Bendow über Loriot und Robert Gernhardt bis Hape Kerkeling. Es durfte und darf gelacht werden. Wenden wir uns also vom Nationalcharakter ab und den Erzeugnissen zu, und zwar heute den Karikaturen.

Der „Simplicissimus“, gegründet 1896 in München, war die erste große satirische Wochenschrift hierzulande. Viele der dort abgedruckten Karikaturen reizen noch heute unwiderstehlich die Lachmuskeln. Es lohnt sich, in einem Band mit Nachdrucken zu blättern …

Da sitzen auf einer Soirée zwei bereits leicht verlebte Lebemänner auf einem Rundsofa, Menschentiere aus einem Jugendstilzoo, elegant, blasiert und am eigenen Lebensüberdruss schwer leidend. Einer zündet seine Zigarette an der des anderen an. Dialog: „Deine Kleine hat sich erschossen?“ – „Nee, vorbeigeknallt - schwer verwundet.“ – „Fatal, was wirst du nun tun?“ – „Werde ihr Schießunterricht geben lassen.“ (1900)

Merkwürdig aktuell: Zwei evangelische Pastoren, ganz in Schwarz, mit Beffchen, sich selbstzufrieden reckend und streckend, einer mit vor der Brust gekreuzten Armen, der andere händereibend: „Ein günstiges Jahr, teurer Amtsbruder, drei Sittlichkeitsverbrechen weniger als auf katholischer Seite.“ (1901)

Drei männliche Figuren in einer Badeanstalt, die Lebensstufen vom Kleinkind bis zum Greis, von rachitisch bis schmerbäuchig. Und der alte Gymnasiallehrer sagt: „Beim Betreten eines Schwimmbades denken wir unwillkürlich an die Schlacht bei Arausio, wo unsere tapferen Vorfahren durch den bloßen Anblick ihrer Leiber den Schrecken der Römer erregten.“ (1902)

Ein Chirurg im OP, mit der Physiognomie eines Landmetzgers, wäscht seine Hände und sagt zur Schwester: „Einmal habe ich einen Patienten mit dem Leben durchgebracht – da hatten wir nämlich eine falsche Diagnose gestellt.“ (1907)

Auch sehr jugendstilig: Sie ist der Typ weißblonde Göttin, unnahbar in weich fließendem Gewand auf schwellendem Sofa – er zerfallender Lebemann, hinter ihr auf die Rückenlehne gestützt: „Weisen Sie meine Hand nicht zurück! Ich bin mit zweihunderttausend Mark in der Lebensversicherung und habe einen vorgeschrittenen Leberkrebs.“ (1908)

Noch makabrer der Dialog zweier bekümmerter alter Herren im Nippessalon: „Wie hat denn die Kranke die weite Reise überstehen können?“ – „Nicht sehr gut. Aber ein Leichentransport hierher ist doch bedeutend teurer.“ (1912)

Nach der Novemberrevolution in einer Münchner Opernloge: Der Bauer als Kriegsgewinnler, die Gattin feist-selbstzufrieden, vor ihnen auf der Brüstung ein Brathuhn. Er schraubt den Champagner auf. Logendiener fragt: „Befehlen die Herrschaften vielleicht ein Opernglas?“ – „Nein, dank schön, mir trinken glei’ aus der Flasch’n.“ (1919)

Eine bekümmerte Schwangere auf einer Bank im Grünen, allein mit ihren Gedanken. Das Gesicht wie von Käthe Kollwitz. Sie denkt so für sich: „Ob Bub oder Mädel, ist gleich. Sie stellen sich ja später doch um.“ (1926)

Das war nur eine kleine Auswahl aus einem Riesenarchiv bester Satire.

10. Ein Modell von Robert Mapplethorpe

Mapplethorpe hat ihn 1979 porträtiert und im selben Jahr bin ich seinem Modell begegnet. Jahrzehnte später entdecke ich die Schwarzweißfotografie im Internet. Nur allmählich erkenne ich ihn wieder …

Mapplethorpe hat ihn auf seinem Brustbild, wie bei ihm üblich, stilisiert und sexualisiert, als einen Mann von dreißig Jahren, ein friesischer Johnny Depp als Pirat, mit schwarzer Augenklappe, die Ärmel des Jeanshemdes bis zum Bizeps hochgekrempelt. Der blonde Schnauzbart unterstreicht den Eindruck viriler Wachheit und lässt die Oberlippe frei. Die Lippen sind einen Spalt geöffnet. Was für ein Mund: sinnlich und schwermütig, mitfühlend auch, vielleicht ein wenig bitter. Es ist ein sensibler Pirat, der studiert hat. Das unverdeckte Auge wie das eines Renaissance-Malers, prüfend, unbestechlich. Mapplethorpe lässt ihn wie Leonardo auf dem bekannten Selbstbildnis in die Kamera blicken, wenn auch aus anderer Perspektive – Halbprofil - aufgenommen. Es ist dieser sich dem Ernst der Welt bewusst aussetzende Blick Leonardos … Je länger ich Mapplethorpes Fotostudie betrachte, umso präziser finde ich sie. Wenn die Augenklappe zuerst wie ein bloßer Gag erscheint - sie lenkt den Blick des Betrachters zwingend auf das schauende Auge des Modells, auf sein Künstler- und Malerauge.

Ja, gemalt hat er auch, malt vielleicht noch immer. International bekannt geworden ist er als Bühnen- und Kostümbildner, Sparte Tanztheater. Unglücklicherweise bringe ich so gut wie kein Interesse fürs Ballett auf, daher bin ich den Produktionen, an denen er beteiligt war, nie begegnet. Jetzt sehe ich mir dazu das eine oder andere Video im Internet an und lese nach, was ich mir damals über seine Bilder notiert habe.

Sein Atelier, mit einem Hochbett mitten drin, war etwa vierzig Quadratmeter groß. Während er den Kaffee zubereitete, ging ich herum, besah mir seine Bilder und versuchte in ihnen die Züge wiederzuerkennen, die ich an ihm schon wahrgenommen zu haben glaubte. Eines zeigte den Blick durch ein Holz- und Eisengerüst hinaus auf eine Wasserfläche und jenseits von ihr auf eine düstere geschlossene Häuserzeile – in ihrer teils matten, teils glänzenden Schwärze brannten einzelne intensive Lichtpunkte. War das ein für ihn typischer Blick auf die Welt? Ernsthaft und nachdrücklich war das Auftreten des Malers ja selbst. Und bei allem Ernst vermittelte er zugleich ein Gefühl von Geborgenheit, sogar von Sicherheit.

Eines der größeren Bilder – es maß etwa zwei mal zweieinhalb Meter – empfand ich als besonders suggestiv. Man sah auf ihm eineinhalb rote Geranienblütenköpfe, deren vollständiger einen Durchmesser von einem Meter hatte, dazu maßstäblich passend zwei grüne Blätter der Pflanze und zwei graue Flächen, die ich als obere und untere Begrenzung eines Balkons auffasste, sowie einen breiten hellblauen Streifen dazwischen. Es war ein aufdringliches Bild, und doch fühlte man sich in keiner Weise belästigt. Ich will es so ausdrücken: Es war ein auf wohltuende Weise unverschämtes Bild. Die roten Blüten hatten etwas Gewaltsames – wie eine Explosion - und zugleich war alles sehr sanft aufgefasst. Es war, mitten in der Zivilisation, der stille Triumph der Natur über die Kultur.

Der Kaffee war fertig. Wir gingen hinunter und durch ein langes Ess- oder Herrenzimmer zu einem hübschen Essplatz mit Blick in den Garten. Eine Glastür führte hinaus unter die Bäume. An dieser Seite der Gracht gab es keine Straße. Mitten in Amsterdam frühstückten wir wie auf dem Land. Worüber redeten wir? Unter anderem über seine geplante Ausstellung im großen Kunstmuseum der Stadt. Ich erfasste, dass er viel beschäftigt war, wenig freie Zeit hatte.

Wenn ich ihn mir heute vergegenwärtige, als Mann wie als Künstler, kommt er mir merkwürdig unzeitgemäß vor in seiner Mischung aus Kraft und Güte. Dabei gehörte er nicht zu jenen, die auf Anhieb sympathisch wirken – aus einem einfachen Grund: Seine Ausstrahlung war dafür zu stark. Ohne von seinem Beruf, seinem bisherigen Werk schon zu wissen, spürte man bereits bei der ersten zufälligen Begegnung seine außerordentliche Begabung. Sie äußerte sich als eine noch unbekannte Last, die er zu tragen schien, als rätselhafte Aufgabe, der er sich mit großem Ernst widmete, als Energie, die von ihm ausging. Er schien um diese Wirkung zu wissen, vielleicht darunter zu leiden. Er nahm sich ständig zurück, wie sehr nahm er sich zurück … All das hat Mapplethorpe in seiner Charakterstudie eingefangen. Ich sehe sie mir an, ich staune und bin dankbar: dafür dass es das auch für mich gab.

 

11. Wer war Albert Weisgerber?

Albert Weisgerber, geb. 1878 in St. Ingbert/Saar, zählte als Maler und Graphiker zu den großen Talenten des frühen 20. Jahrhunderts. Er kam bereits 1894 nach München, um sich hier ausbilden zu lassen, u.a. von Franz von Stuck. München blieb auch später sein Lebensmittelpunkt. Die Liste der Berühmtheiten, mit denen er näher verkehrte, ist lang: Klee, Kandinsky, Slevogt, Kubin, Ringelnatz, der junge Theodor Heuss (den er porträtierte). Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit Arbeiten für die Zeitschrift „Die Jugend“.

Weisgerber, ein fleißiger Maler und Zeichner, steht zwischen dem späten Impressionismus und dem frühen Expressionismus. Er verarbeitete Anregungen sowohl aus der älteren Malerei (z.B. El Greco) wie aus den neuesten Strömungen in Frankreich (vor allem Cézanne). Seine Werke weisen einen farbig-dekorativen Übergangsstil auf und überzeugen auch durch die Vielfalt der Motive. Sie reicht von Selbstporträts über Park- und Biergartenszenerien bis zu religiösen Themen. Über den Hl. Sebastian hat er einen ganzen Zyklus geschaffen. Er unternahm Studienreisen nach Paris und Italien. In den letzten Jahren vor dem 1. Weltkrieg häuften sich Ausstellungen in renommierten Galerien. Einige große Museen kauften bereits Bilder von ihm für ihren Bestand.

Er fiel 1915 in Flandern, ein für die deutsche Kunstgeschichte ebenso unersetzlicher Verlust wie der von Franz Marc. Wie Marcs Bilder wurden auch seine Werke von den Nazis als entartete Kunst eingestuft. Was seine Witwe bei ihrer Emigration von seinen Werken zurückließ, fiel als „Judengut“ an den Staat. Seine Geburtsstadt St. Ingbert erwarb die Sammlung. Nach dem Krieg wurde dieser Grundstock durch Zukäufe erweitert und in einem Museum ausgestellt. Es ist inzwischen geschlossen, doch soll in naher Zukunft ein neues Haus die Sammlung wieder zugänglich machen.

Einzelne Gemälde von ihm kann man in Kunstmuseen in Berlin, Hamburg, Oldenburg, Hannover, Halle, Dresden, Gelsenkirchen, Mannheim, Ludwigshafen, Kaiserslautern, Saarbrücken, Stuttgart und München sehen – falls sie nicht hier und da in den Depots verstauben. Der St. Ingberter Bestand geht bis zur Neueröffnung seines Museum auf Reisen, war schon in Schweinfurt, Berlin, Dachau, Radebeul, Neu-Ulm sowie in Polen zu erleben. Wer sich für herausragende Malerei der frühen Moderne interessiert, sollte die Chance einer Begegnung nutzen. Weisgerber ist unbedingt eine Wiederentdeckung wert.

Einige seiner Werke können ohne viel Mühe im Internet angesehen werden, möglichst vergrößert, z.B. bei Wikipedia. Dort ist auch das „Selbstporträt am Attersee“ zu finden. Hier tritt Weisgerber, wie auch auf anderen Selbstbildnissen, als scheu und introvertiert vor uns hin, ein vital-sensibler Fin-de-siècle-Künstler, seltsam unbehaust zwischen den Zeiten.

 

12. Albert Weisgerber - Versuch einer Annäherung

Wer sich im Herbst 2009 dem Landesmuseum in Hannover näherte, entdeckte an der Fassade die überdimensionale Reproduktion eines männlichen Porträtbildes. Es war ein Ausschnitt aus dem Selbstbildnis des Malers Albert Weisgerber (1878 – 1915) aus dem Jahr 1908. Mit ihm wurde – auch auf Plakaten und als Titelbild in Druckschriften - für eine Ausstellung geworben: „That’s me! – Das Portrait von der Antike bis zur Gegenwart“ (13.11.09 – 28.02.10). Weisgerber überhöht sich auf diesem Bild zum souveränen Künstler und behält zugleich Züge von Verletzlichkeit. Dieser Doppelcharakter verleiht dem Werk eine Strahlkraft, die Ausstellungsbesucher anlocken sollte.

Ähnlich stark und zwiespältig war auf mich der Eindruck des ersten Bildes, das ich von Weisgerber sah: Selbstbildnis mit nacktem Oberkörper von 1911 (Pfalzgalerie Kaiserslautern). Ich notierte mir: scheu und aufreizend … verströmt unausgesprochene Autoerotik … Ausdruck einer Versenkung in sich selbst, fordert jedoch keinesfalls auf, sich zu nähern … Später las ich dazu die klugen Sätze in Bernd Apkes Buch „Blicke wie Pfeile – Selbstporträts und Sebastiansdarstellungen“ und fand dort kompetent dargelegt, was ich schon beim ersten Betrachten empfunden hatte.

Ich sah viele Bilder von ihm und begann mich auch für den Menschen zu interessieren. Als Fundgrube erwies sich der 2006 von Gerhard Sauder herausgegebene Band „Ich male wie ein Wilder – Albert Weisgerber in Briefen und Dokumenten“. Aufschlussreich ist schon das darin enthaltene Klassenfoto: Weisgerber im Zentrum, alle Schüler um ihn angeordnet, der Lehrer unter ihm. Als Einziger legt Weisgerber einen Arm auf die Schulter seines Nachbarn und die herabhängende Hand des späteren Malers kommt bedeutungsvoll ins Bild.

Mit seiner Schulbildung in St. Ingbert scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Noch in München ist sein Briefstil überaus schlicht und voller Rechtschreibfehler. Er schreibt, wie er spricht, z.B. läntlisch. Nur aufgrund seines großen Talentes ist er zum Kunststudium zugelassen worden. Die Bildungsdefizite verschwinden im Lauf der Zeit. Die Geldnöte begleiten ihn durch die Jahre. Er finanziert seine Ausbildung zum großen Teil durch Arbeit als Illustrator und Karikaturist. Geschenke nach Hause müssen schon mal verschoben werden. Er hat Erfolg, macht sich früh einen Namen und bleibt meist mit dem Erreichten unzufrieden. Er beklagt Zeit- und Geldmangel und spricht sogar von „Kunstprostitution“.

Beim Todeskampf der Mutter ist er dabei und sieht in Kunstwerken nach diesem Erlebnis nur noch „Glassteine unter Diamanten“. Über der Heimatstadt liegt vor allem „Dunst“, nicht nur im wörtlichen Sinn. Die Zeit in Paris wird ein „einziger moralischer Kater“. Er schreibt von einer „Affaire“ – ist auch damit der Schock gemeint, den dort die neueste Malerei bei ihm auslöst? Oder er berichtet von der Seine: „Wir nahmen 2 Cocotten mit und erfreuten uns am Spiel ihrer lesbischen Liebe. So was sah ich in meinem Leben noch nicht, es war wirklich schön. Gar nicht unästhetisch …“

Wenig später heiratet er eine Jüdin aus Prag. Sie kommt aus großbürgerlichem Haus, ist viel intellektueller als er und malt auch. Es scheint keine konventionelle Ehe gewesen zu sein. Sauder schreibt: „Allem Anschein nach haben sich Weisgerber und Grete Pohl von vornherein eine gewisse Lizenz für weitere erotische Kontakte eingeräumt.“ Die Briefe des Malers an seine Frau beweisen Achtung, Wertschätzung, viel Zuneigung. Als sie ihm einmal Fotos von sich geschickt hat, antwortet er: „Dein Blick traf mich ein bisschen wie ein Vorwurf, ich sollte so sein wie Du.“ Gelegentlich hat die Gattin Briefstellen von ihm unkenntlich gemacht, auch ganze Briefe von ihm vernichtet. Das Bild ihrer Beziehung bleibt undeutlich.

Das Ehepaar war lange mit dem Maler Eugen von Kahler befreundet. Er war ein entfernter Verwandter von ihr, bewunderte sie als Frau und ihn als Maler. Tuberkulös und todkrank will er 1911 endlich seine erste Bilderausstellung haben. Albert Weisgerber wird sie ihm wenige Wochen vor seinem Tod im Herbst noch verschaffen. Im Mai aber ist Kahler unzufrieden. Er beklagt sich, dass Weisgerber ihm nicht antworte, und fährt fort: „Von mir wirst du alles wissen durch Grete, und meine Briefe an sie sind immer auch für Dich, mit Ausnahme der Stellen, wo ich ihr den Hof mache und welche in Folge des § 175 nur an Deine Frau gerichtet sein können. Hoffentlich zerstört das keinerlei süße Hoffnungen bei Dir …“ Es soll nur ein Scherz sein – oder doch eine freundschaftliche Erpressung? Weisgerbers engster Malerfreund, Gino von Finetti, berichtet lange danach: „In jener Zeit und auch wohl später wurde W. von einer Gruppe neidischer Kollegen mit allen Mitteln bekämpft. Man wollte unbedingt einen Skandal provozieren …“ Wir erfahren keine Details. Gino von Finetti stellt 1918 für die erste Weisgerber-Biographie nur gekürzte Abschriften von Briefen des Malers an ihn zur Verfügung – und vernichtet danach die Originale.

Unaufgehellt bleibt auch, warum Weisgerber überhaupt in den Krieg zog. Er scheint anfangs vom Chauvinismus angesteckt gewesen zu sein, doch das verfliegt weitgehend nach dem ersten Fronteinsatz. Und schon an seinem letzten Abend in München sah man ihn sehr bedrückt. Nachdem er gefallen ist, setzt sogleich die Debatte ein, ob sein Verlust nicht zu vermeiden gewesen wäre. Der große Adolph von Hildebrand schreibt an den bayrischen Kronprinzen, vor der Reichsgründung seien Künstler von Wert vom Kriegsdienst verschont geblieben. Infamerweise führt er jetzt Weisgerbers Kriegsteilnahme auf eine sozialdemokratische Zeitströmung zurück. Ein Schulfreund von Weisgerber, der Maler Rudolf Schwarz, klärt uns Leser von heute auf: Die Möglichkeit der Befreiung gab es in Bayern auch 1914 noch, er selbst habe von ihr Gebrauch gemacht. Schwarz vermutet Eheprobleme im Hintergrund.

Weisgerber malt im Krieg nicht mehr. Er macht eine neue Karriere, bekommt das Eiserne Kreuz, führt eine Kompanie. Seine kurzen Berichte nach Hause sind ungeschminkt, vermitteln das Grauen des Krieges. Allein schon diese Dokumente machen das Buch lesenswert. Er teilt furchtbare Opferzahlen mit. Zu Weihnachten 1914 kommen die Gegner aus den Schützengräben und beschenken sich, bis die Oberen das Fraternisieren verbieten. Am 6. Mai 1915 schildert Weisgerber seiner Frau, wie Männer seiner Kompanie vier Engländer auf vorgeschobenem Posten überraschten. Sie wollten sich ergeben, doch die Deutschen erschossen sie unter dem Vorwand, sie nicht verstanden zu haben. Vier Tage später durchdringt eine englische Kugel Weisgerbers Schläfe. Er ist sofort tot. Bei der Bestattung tags darauf erklingt Beethovens Trauermarsch. Die Grabrede könnte so für Prousts Saint Loup gehalten worden sein. Die Zeremonie wird sogar von einem Zeichner im Bild festgehalten – bevor sie abgebrochen werden muss: Die heftigen Kämpfe sind wieder aufgeflammt.

Später ist das Buch ausgelesen und ich lege es mit gemischten Gefühlen zur Seite: so viel erfahren und doch kein wirkliches Bild gewonnen. Zensur und Selbstzensur haben, scheint mir, ihre Ziele weitgehend erreicht. Es bleiben im Dunkeln die Grundmuster von Weisgerbers Verhalten innerhalb von Beziehungen und in deren Krisen. Die große Biographie des Malers ist noch nicht geschrieben, sie nachzuholen vielleicht unmöglich. Ich sehe mich auf seine Werke zurückverwiesen.

 

 

13. Hundertwasser, der Meister des Klimbims

Meine erste Begegnung mit den Werken des Meisters fand in einem Warenhaus statt. Damals, in den Sechzigern, konnte man Poster von ihm in den Kunstabteilungen der Kaufhäuser zwischen vollbusigen Zigeunerinnen und Engeln mit dicken Backen antreffen. Ich sah mir von ihm ein reichlich schematisches rot-grünes Gitterwerk an, das vergeblich so tat, als wäre es keines, und entschied für mich: hingeschmierte Kaufhauskunst, belanglos. Auf dem Gymnasium hatten wir seinerzeit Kunstunterricht bei dem Maler Paul Antonius und vermutlich verdankte ich ihm bereits einiges an Kritikfähigkeit.

In DuMonts Bild-Lexikon der Kunst von 1974 lese ich zu den Bildern des Malers Hundertwasser: „ … beziehen ihre Inspirationen vom Wiener Jugendstil, von Klimt und Schiele sowie von Klee, ohne allerdings deren ursprüngliche und geistige Kraft zu erreichen.“ Oder auf gut Deutsch: Er war ein schwächlicher Epigone. Da mit der Malerei nicht viel Staat zu machen war, warf er sich auf die Architektur und wandte dort die gleiche Arbeitsmethode des skrupellosen Abkupferns an. Vom Katalanen Gaudi bis zu den Pueblo-Indianern wurde alles, was bunt und kurvenreich war, statt geistig verarbeitet einfach vergröbert und verwässert, nachgeahmt und zusammengerührt.

Was sind die speziellen Merkmale der Bauten Hundertwassers? Das zwanghafte Vermeiden ebener Grundflächen und des rechten Winkels, das so selbst zu einem bornierten Manierismus wird. Die engen, höchst unpraktischen und nicht selten bedrückenden Innenräume. Die Wiederholung der immergleichen an Schlichtheit der Erfindung nicht zu überbietenden Accessoires an der Außenhaut. Also überall goldene Kugeln, wie originell. Paul Antonius pflegte uns Schüler damals, wenn wir hastig etwas fabrizierten und uns dabei immer nur einfallslos wiederholten, so anzupflaumen: „Das ist doch genudelt!“ Hundertwasser nudelte, was das Material hergab.

Eines der krassesten Beispiele für genudelte Architektur ist sein Kurzentrum von Bad Blumau in der Steiermark. Man betrachte einmal Aufnahmen der wie Betonlindwürmer sich krümmenden Flügel oder die endlosen stupiden Dächer. Eine Sammelgarage nach einem Erdbeben ist ästhetisch interessanter.

An meinem vorigen Wohnort hatte ich den nach Hundertwassers Entwurf umgebauten Bahnhof Uelzen als weiteres Beispiel vor Augen. Anfangs war der niedersächsische Denkmalschutz strikt gegen die geplanten Eingriffe am geschützten alten Bahnhof. Die lokale Polit-Mafia hat sich schließlich durchgesetzt, sie bekamen ihre architektonische Rüdesheimer Drosselgasse. Den Bahnhof muss man tatsächlich gesehen haben, um das ganze Ausmaß dieses Elends von Pseudoarchitektur ermessen zu können. Alle Räume, die Menschen aufnehmen oder sie passieren lassen sollen, sind viel zu eng. Uelzen ist eine bedeutende Umsteigestation und Treppen und Verbindungsgänge sind oft beängstigend überfüllt. Die Haupthalle im Innern ist mit funktionslosen Säulen zugestellt. Die Bahnsteige wurden nachträglich uneben gestaltet. Dysfunktionalität um jeden Preis war offenbar das vorherrschende Gestaltungsprinzip. Ein Wartehäuschen auf einem Bahnsteig wurde beim Umbau verbreitert und so nahe an die Bahnsteigkante herangebaut, dass inzwischen sogar eine Warntafel vom Aufenthalt dort abraten muss.

Theoretisch unterfüttert hat der Meister sein produktives Schaffen mit einem ebenso schlicht-wackeligen Gedankengebäude, dessen Steine Plattheiten waren und dessen Mörtel modischer Konformismus. Nur ein so phantasieloser Baumeister wie Hundertwasser benötigte eine derart aufgeblähte Ideologie der Phantasie. Sie steht zu seiner Praxis in krassem Gegensatz. Nur das war und ist das wahre Geheimnis des Erfolges bei ihm: eine gut geölte, genau auf die Mentalität unkritischer Massen abgestimmte Reklamemaschinerie. Sie funktioniert auch nach seinem Tod noch vorzüglich und ist inzwischen eine viel Profit abwerfende Allianz mit dem billigen Allerweltstourismus eingegangen.

Hier noch ein Zitat aus Hermann Bangs Roman „Stuck“. Es beschreibt bereits die Methode Hundertwasser, hundert Jahre vor ihm. Bang charakterisiert seinen Baumeister Martensen so: „ …machte weiter in Fassaden, Vergoldungen und Spiegelglas, gepackt von einem wahren Fieber nach Imitation und leuchtenden Farben … Dann hatte man angefangen über seine Bauten zu reden; und die Beachtung trieb ihn zu neuen Raffinements an … Stets aber bewahrte er sich die Vorliebe des kleinen Mannes für das Grelle in den Farben, und unweigerlich baute er alle seine Häuser … unbequem, eng und beschränkt, unbewusst den Vorstellungen des Arbeiters entsprechend, der an die kleinen Räume gewöhnt ist, deren Wände man mit den Händen greifen kann, und an dumpfe Luft.“

Hundertwasser ein Originalgenie? Er war nicht einmal als Epigone wirklich kreativ und hatte außer Eklektizismus billigster Sorte nichts zu bieten. Unfassbar, dass dieser gebaute Schwulst als schön empfunden wird.

 

 

14. Willkommen in der Christlichen Mitte

Nun lebt er wieder in Berlin. Wohnung und Umfeld scheinen gut gewählt, die Nachbarn angenehm. Man hört und sieht nicht viel von ihnen in diesem großen Haus. Ab und zu ergeben sich flüchtige Begegnungen zwischen Haus- und Wohnungstür, darunter eine etwas mehr versprechende Treppenhausbekanntschaft. Die nicht mehr ganz junge Dame plaudert gern länger mit ihm, im Eingangsbereich, auf dem Treppenabsatz, vor ihrer Wohnungstür. Sie reden über die Angelegenheiten des Hauses, über Nachbarn. Allerdings – er hat es nicht gern, wenn sie im Gespräch jene Richtung einschlägt. Ist das ihr großes Herzensanliegen: die Sorge um Überfremdung, der Widerstand gegen die Islamisierung Europas, Deutschlands, Berlins? Er hört, dass sie auf einer Demonstration von Pro Deutschland war: „ … mitten im Mohammedanerviertel – ein fürchterliches Publikum“. Sie sei insoweit auch im Internet aktiv, lässt sie wissen.

Er schweigt zu alledem – es sind nur kleine Einsprengsel in längere Unterhaltungen. Er ist nicht feige, er denkt nur, Politik und politische Differenzen halte man von Hausgemeinschaften besser fern. Er versucht, eine ausdruckslose Miene zu machen. Indessen versteht sie seine Reserve wohl falsch …

… denn sie bietet ihm nach einiger Zeit ein Buch an mit Analysen zu jenem Thema, absolut gerichtsfest, wie sie versichert. Er murmelt: Hm, ja? Und denkt: Vielleicht vergisst sie’s. Oder er wird sehen, was da kommt. Zwei Tage später hängt eine Plastiktüte an seinem Wohnungstürknauf, darin ein dickes Buch von Adelgunde Mertensacker. Den Namen hat er nie gehört. Aus dem Band fallen Broschüren zum selben Thema heraus. Beim Durchblättern des Buches zieht er ein Gesicht. Das kann lustig werden, er muss wohl darauf reagieren, irgendwann später. 

Aber dann ist er doch neugierig und recherchiert sogleich im Netz. Frau Mertensacker war also Gründerin und langjährige Vorsitzende der Christlichen Mitte? Er liest auch, was er über die fundamentalistische Kleinpartei findet und kann sich bald ein Bild von ihrem Profil machen: islamfeindlich, antisemitisch, schwulenfeindlich, in jeder Beziehung erzreaktionär. Homosexualität gehört ins Strafrecht und ist außerdem behandelbar? Jetzt ist er auf hundertachtzig und schreibt der Nachbarin sofort einen kleinen Brief. Dass er keinen Bedarf an Schrifttum dieser Sorte hat, dass er die Ansichten von Frau Mertensacker in keiner Weise teilt. Und noch etwas von Religionsfreiheit und deren grundgesetzlich garantierter Ausübung. Im Übrigen sei er selbst nicht religiös und skeptisch gegenüber allen drei monotheistischen Religionen. Am anderen Morgen hängt die fatale Tüte an ihrem Türknauf.

Nachher findet er den Ablauf selbst ein wenig komisch. Als reiferer Homo kehrt er zurück nach Berlin, in die Stadt seiner frühen Selbstverwirklichung – und gerät bald einer derart rigiden Person vor die Flinte. Übrigens hätte er das Buch behalten sollen. Sie habe, stand auf beigelegtem Zettel, noch einen größeren Vorrat davon - spricht für emsige Propaganda.

Bezeichnend findet er ferner, dass sie seine persönlich motivierte Ablehnung nicht vorausgesehen hat. Sie hat ihn doch öfter in Begleitung seines Lebenspartners gesehen – sie wohnen freilich getrennt -, und ab und zu hat er im Gespräch seinen Freund erwähnt. Aber so sind sie wohl: Ihre Hassobjekte sind reine Kopfgeburten, die dazu passenden realen Subjekte werden oft nicht einmal erkannt. Oder es war in seinem speziellen Fall noch anders: Der Makel wurde in Kauf genommen, um ihn als Kampfgenossen gegen ein anderes Übel anzuwerben. Aufräumen mit Leuten wie ihm kann man später immer noch …

 

15. Hass und Selbsthass

Kann es Bedrückenderes geben als die Erkenntnis: Ich habe andere töten wollen, da ich mich selbst nicht annehmen konnte? 

Ein krasses Beispiel dafür sehen wir in Everett Lewis’ Film „FAQs“. Zwei junge Männer, Quentin und Guy, können nicht anerkennen, dass sie sich lieben – sie machen stattdessen Jagd auf andere Homosexuelle, bereit, auch zu töten. Guy, der Mitläufer, steigt aus und konfrontiert den bis dahin dominierenden Quentin mit der Wahrheit hinter ihren Hetzjagden. Quentins dramatischer Lernprozess bringt noch einmal andere und jetzt auch ihn selbst in Lebensgefahr. Am Ende ist er ein seelischer Pflegefall. 

Wie realistisch ist ein solcher Ablauf? Dass Homosexuelle sich ihrer speziellen Neigungen erst spät bewusst werden, oft erst um die dreißig, kann häufig beobachtet werden. Ich kann es zwar persönlich nicht nachvollziehen, doch ich habe selbst Beispiele dafür vor Augen. Was aber ist dran an der Theorie von der verborgenen Homosexualität vieler Homophober? Dazu gibt es eine aufschlussreiche Studie von Prof. Henry E. Adams, University of Georgia, aus 1996. Er bildete aus 64 sich selbst als heterosexuell bezeichnenden Probanden zwei Gruppen, die eine homophob und die andere ohne solche Einstellung. Er zeigte ihnen einschlägige Videos und stellte in der ersten Gruppe bei 54,3% der Probanden eindeutige Zeichen sexueller Erregung fest. In der Kontrollgruppe ohne feindselige Einstellung waren es nur 24,1%. 

Die Entstehung von Hass aus Selbsthass ist weit über die Sexualität hinaus von Bedeutung, z.B. im Rassenhass. Besonders anfällig für Aggression aufgrund fehlgeschlagener Identitätsbildung können Individuen sein, deren ethnische Herkunft gemischt oder unklar ist oder deren kulturelle Zugehörigkeit unter Zwang verändert wurde. Beispiel aus jüngerer Zeit: das damalige Jugoslawien, in dem der Rassenhass bezeichnenderweise im ethnisch zerklüfteten Bosnien-Herzegowina am verheerendsten tobte. Denken wir auch an die Janitscharen. Um zuverlässigere Soldaten zu bekommen, bedienten sich die osmanischen Sultane zwangsrekrutierter und zum Islam zwangsbekehrter Knaben christlicher Untertanen. 

Gelegentlich ist vom jüdischen Selbsthass die Rede, manchmal zu Unrecht. Ich suche Beispiele und finde sie bei Personen mit nur teilweise jüdischer Herkunft. So kannte ich eine Frau mit einem jüdischen Großvater, sie selbst geboren bald nach dem 1. Weltkrieg und im Dritten Reich zur Schule gegangen. Zeit ihres Lebens befreite sie sich nicht von den antisemitischen Stereotypen ihrer Jugend. Sie heftete sie vor allem ihrer eigenen ungeliebten Mutter und deren Schwestern an, obgleich diese mental und in ihren Biographien höchst unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Sie tat alles, um ihrer eigenen mater semita unähnlich zu sein – und wurde ihr mit jedem Jahrzehnt ähnlicher. 

In der älteren Schönen Literatur finden wir oft eine ambivalente Haltung zum Judentum, vermischt mit Anzeichen von Antisemitismus, sogar in einem so bedeutenden Werk wie dem von Proust, dessen Mutter selbst jüdisch war. Das jüdische Personal seines Romans erscheint zumeist in Verbindung mit den Klischees des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bloch, der Schulfreund des Erzählers, ist ein intelligenter Streber, unkultiviert, aufdringlich und geistlos. Blochs Familie kommt ebenfalls schlecht weg, sein Onkel ist überdies ein zu Ausschweifungen neigender Liebhaber junger Männer, eine sowohl Mitleid erregende als auch lächerliche Figur. Die gleiche Vorstellung vom sittenlosen Orientalen vermittelt auch Léa, die jüdisch-lesbische Freundin von Mademoiselle Vinteuil. Und Swann? Er hat neben positiven Eigenschaften einen großen Fehler: Snobismus. 

Bei Dostojewski stoßen wir auf eine besondere Variante des Musters misslungener Identitätsbildung, ich will sie die passive, selbstzerstörerische nennen. In seiner Biographie wie in seinen Werken taucht gelegentlich die Figur des Rivalen um eine geliebte Frau auf. Autor wie Held fixieren sich auf ihn, und zwar in der Weise, dass sie sich dem Konkurrenten verstehend, liebend unterordnen. Das eigene Glück wird fremdem geopfert. In „Der Idiot“ findet dieser innere Konflikt seinen abschließenden Höhepunkt darin, dass Myschkin aus Passivität die geliebte Nastassja Filippowna an Rogoshin verliert, der sie im Affekt tötet. Am Ende warten die beiden Männer gemeinsam am Tatort neben der Leiche darauf, von der intervenierenden Außenwelt abgeholt zu werden – Rogoshin als Mörder, Myschkin als hoffnungsloser Idiot. Große Literatur – und Visconti hat das Thema in „Rocco und seine Brüder“ noch einmal cineastisch aufgegriffen. Doch auch im Realen kann das lebensgefährlich sein: sich selbst zu hassen und diesen Hass auf andere zu projizieren.

 

16. Doppelter Doppelmord - Der Göhrde-Mörder

Zeugen hatten ihn damals im Wald gesehen, als er zu seinem ersten Doppelmord unterwegs war. Sie schilderten ihn später als einen großen, kräftigen Mann mit braunem Haar. Er habe einen Beutel in der Hand getragen, gefüllt mit etwas – nur womit? Sie hatten den Mann so genau gesehen, dass ein Phantombild möglich war. Trotzdem konnte er in zwanzig Jahren nicht aufgespürt werden – der Göhrde-Mörder.

Die Göhrde ist ein etwa 75 Quadratkilometer großes geschlossenes Waldgebiet südöstlich von Lüneburg, still, abgelegen, auch die weitere Umgebung sehr dünn besiedelt. Einige Male am Tag fährt ein Zug am Nordrand entlang, hält auf verträumten Stationen. Hier zieht sich auch eine Bundesstraße hin. Von ihr zweigt eine Stichstraße zu einem alten Forsthaus ab, dort kann man parken. Ein Hamburger Ehepaar um die fünfzig tat genau das am 21.5.89, einem Sonntag. Sie gingen dann zu Fuß einige Hundert Meter tief in den Wald, vermutlich um sich auf einer Lichtung zu sonnen.

Wir wissen nicht, wie sie getötet wurden. Ihre Leichen wurden erst am 12.7.89 von Blaubeersammlern entdeckt und waren so stark verwest, dass der Tathergang nicht zu rekonstruieren war. Erschossen, erschlagen, erdrosselt? Die Polizei fand heraus, dass Fundort und Tatort etwas auseinander lagen. Der Mann, der die Leichen in die Senke hatte schleppen können, musste tatsächlich kräftig gewesen sein.

Die Polizei suchte wochenlang die Umgebung ab. Am 27.7. 89 stieß sie auf zwei weitere Leichen. Die beiden waren ein ehebrecherisches Liebespaar gewesen, das in der Göhrde hatte allein sein wollen. An ihnen stellte man einen Kopfschuss, Strangulierungen und Schädelbrüche fest. Durch Autopsie konnte der Todestag ermittelt werden – es war jener 12. Juli, an dem 800 Meter weiter die Polizei den Forst erstmals durchkämmt hatte. Hatte der Täter es mitbekommen, hatte es ihn angestachelt? Man weiß es nicht.

Die Polizei hat viel herausgefunden und zusammengetragen, nur den Täter nicht ermittelt. Ohne Zweifel hat nur einer beide Doppelmorde auf dem Gewissen. Er hat dem einen männlichen Opfer ein Fernglas abgenommen und dem anderen eine Kamera. Er ist jeweils mit dem Wagen seiner Opfer weggefahren, hat den ersten in Winsen/Luhe und den zweiten in Bad Bevensen abgestellt. Beide Orte haben Bahnhöfe an der Hauptstrecke Hamburg – Hannover. Wir wissen nicht, wie der Mörder in die Göhrde gekommen ist. Psychologen gehen davon aus, dass er aus pathologischem Hass getötet hat, dabei vielleicht sexuell erregt war.

Neulich las ich, dass die Kripo noch zwei Haare aus einem der Wagen hat. Sie können weder den Opfern noch ihrer Umgebung zugeordnet werden. Erst heute sind DNA-Analysen ausgefallener Haare möglich. Man wird sie jetzt durchführen und das Ergebnis deutschlandweit abgleichen.

Die Göhrde ist fünfzehn Kilometer Luftlinie von meinem Haus entfernt. Ich bin nie dort gewesen, habe den dunklen Wald nur einige Male von ferne gesehen. Manchmal stelle ich mir vor, was die Opfer in ihren letzten Minuten empfunden haben müssen: pures Grauen.

 

(Text geschrieben 2009. Inzwischen geht die Polizei von der Täterschaft des 1993 verstorbenen Lüneburger Serienmörders Kurt-Werner Wichmann aus. Ein möglicher Mittäter konnte bisher nicht ermittelt werden.)

 

17. Wer war Maximilian Harden?

Um es vorwegzunehmen: Harden war einer der großen deutschen Publizisten um 1900, gewissermaßen ein Josef Augstein seiner Zeit oder fast ein deutscher Zola, allerdings mit wesentlich anderen Mitteln und Zielen. Er hat durch gezielte Indiskretion den größten Sittenskandal des Kaiserreichs öffentlich gemacht, ja, mehr als das: Er hat diesen Skandal erst kreiert, um damit Politik zu machen – und hat damit wahrscheinlich in den Ablauf der Weltgeschichte eingegriffen.

Geboren 1861 in Berlin als Sohn eines jüdischen Seidenhändlers, wurde Harden zunächst Schauspieler, dann Journalist und verschaffte sich mit Talent, Fleiß und Engagement bald einen Ruf. Seit 1892 gab er seine eigene Wochenzeitung heraus: Die Zukunft. Politisch stand er Bismarck und dessen Kreis nahe, verfolgte den Kurs des jungen Kaisers überaus kritisch. Wilhelm II. war in seiner frühen und mittleren Periode noch nicht durchgehend der Eisenfresser und Säbelrassler, als den man ihn sich heute zumeist vorstellt. Er stand lange unter dem Einfluss des Liebenberger Kreises, dessen Haupt Philipp Fürst von Eulenburg war. Eulenburg, von preußischem Uradel, musisch veranlagt, war Offizier gewesen, wurde dann Diplomat, war englandfreundlich und Gegner jeder imperialistischen Politik.

Um den Kaiser anzugreifen, musste Harden dessen Umgebung neutralisieren. Zuerst geriet ihm Kuno Graf von Moltke ins Visier. Harden nahm Kontakt zur geschiedenen Frau des Grafen auf und bekam, neben der Kenntnis weiterer intimer Details, einen sehr persönlichen Brief Eulenburgs an Moltke in die Hände. Damit soll er ab 1902 Eulenburg erpresst und ihn zur Aufgabe des Botschafterpostens in Wien gezwungen haben.

In der 1. Marokkokrise (1906) erschien der Kaiser als Bremser, wollte keinen Krieg mit Frankreich riskieren. Eulenburg war an den Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts beteiligt. In der Folge veröffentlichte Harden Artikel gegen die Politik des Kaisers und gab verklausulierte Hinweise auf dessen Umgebung. Man verstand: Der Kaiser war dem Einfluss verweichlichter Homoerotiker erlegen – statt die Interessen des Reiches kraftvoll zu vertreten. Schließlich bezichtigte Harden sowohl Moltke als auch Eulenburg offen damals strafbarer homosexueller Handlungen.

Die Folge war ein sich über Jahre erstreckender Wust von Zivil- und Strafprozessen sowie Militärgerichtsverfahren. Eine Vielzahl von Personen trat auf, als Kläger und Beklagte, Angeklagte, Zeugen, Gutachter. Selbst der damalige Reichskanzler von Bülow prozessierte. Magnus Hirschfeld spielte als Sachverständiger eine wenig glückliche Rolle. Moltke setzte sich gegenüber Harden letztlich durch. Und Eulenburg? Er ließ sich als Angeklagter ärztlich Prozessunfähigkeit bescheinigen, das Verfahren blieb bis zu seinem Tod (1921) in der Schwebe.

Wilhelm II. brach mit dem gesamten Liebenberger Kreis. (Mit Eulenburg war er seit zwanzig Jahren eng befreundet gewesen.) Er öffnete sich neuen Ratgebern und änderte zunehmend seine Politik. Sie wurde nun eindeutig imperialistisch. Die 2. Marokkokrise (1911) löste beinahe schon den 1. Weltkrieg aus. Als er endlich da war, konnte sich Harden fast am Ziel seiner groß- und alldeutschen Wünsche sehen. Er forderte in den ersten Kriegsjahren äußerste Anstrengungen. So befürwortete er warm den uneingeschränkten U-Boot-Einsatz, vor dem Deutschland lange zurückschreckte: „Das U-Boot ist so gutes Kriegsgerät als irgendeins.“

Gegen Ende des Krieges gingen Harden die Augen auf. Er wandelte sich zum Anhänger eines Verständigungsfriedens, nahm nach dem Krieg sogar sozialistische Positionen ein, propagierte die europäische Einigung. Seine bisherigen Leser dankten es ihm nicht, die Auflage seiner Zeitschrift ging stark zurück. 1922 versuchten gedungene Rechtsextreme ihn in Berlin zu töten. Er überlebte und erlebte einen beschämenden Prozess voller Nachsicht für die Mordbuben. Harden stellte die Zukunft ein und siedelte in die Schweiz über. Dort ist er 1927 gestorben.

Die Harden-Eulenburg-Affäre losgetreten zu haben, bezeichnete er am Ende seines Lebens als seinen größten politischen Fehler überhaupt.

Maximilian Harden – ein heller Kopf und eine trübe Gestalt. Er ist der Prototyp des Journalisten, der mit allen Mitteln Politik macht.

 

18. Die Mörder von Lebach

 

- Ein Beitrag zur Archäologie der alten BRD -

 

Da stand jahrzehntelang ein Buch in meinem Bücherschrank, nie zu Ende gelesen. Zweimal brach ich die Lektüre nach einem Dutzend Seiten ab – warum? Vertagen wir die Frage … Nun habe ich einen argentinischen Film über ein verwandtes Thema gesehen und es noch einmal mit dem Buch versucht.

Es heißt: „Kleinstadtmörder. Spur 1081. Hintergründe zum Fall Lebach“. Erschienen ist es 1971 bei Hoffmann und Campe, heute nur noch antiquarisch zu bekommen. Sein Autor Jürgen Neven-du Mont (1921 – 1979) war einer der großen Journalisten der Nachkriegszeit, er hat auch Dokufilme gedreht und Sachbücher geschrieben. Das über die Lebach-Mörder hat er gemeinsam mit dem Leitenden Regierungskriminaldirektor Karl Schütz und Rainer Söhnlein verfasst.

Zur Erinnerung und für die Nachgeborenen: Am 20.1.1969 wurde in Lebach/Saar ein Munitionsdepot überfallen, dabei wurden vier Soldaten im Schlaf erschossen, ein weiterer schwer verletzt. Nach einer bis dahin beispiellosen Fahndung wurden drei Täter Ende April 1969 festgenommen. Zwei von ihnen hatten den Überfall ausgeführt, einer war an der Tatvorbereitung beteiligt gewesen. Sie kamen aus geordneten bürgerlichen Verhältnissen, aus teils sogar gut situierten Familien im pfälzischen Landau. Fuchs (geb. 1943), der Kopf des Trios, war Bankkaufmann, Ditz (geb. 1942) Justizbeamter im mittleren Dienst. Den dritten Mann nenne ich hier „Knabe“, diesen Decknamen hat ihm seinerzeit der SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz gegeben. Knabe (geb. 1945) war Zahntechniker.

Was die drei verband? Unzufriedenheit mit dem Brotberuf (teilweise unter familiärem Druck ergriffen) und mit der Außenseiterrolle von Homosexuellen in einer kleinen Provinzstadt. Fuchs und Ditz kannten sich schon seit ihren Schultagen. Ihr Verhältnis war auf verhängnisvolle Weise platonisch. Der intelligente, wendige Fuchs las sehr viel, von Schopenhauer, Nietzsche, Ortega y Gasset, Wittgenstein bis zu Freud, Adler, Jung und Konrad Lorenz, auch Machiavelli, Hobbes und buddhistische Schriften. Er entwickelte daraus eine radikal gesellschaftsfeindliche Weltanschauung, die er in langjährigen Diskussionen mit Ditz und später auch Knabe, seinen Schülern oder Jüngern, immer mehr vertiefte. Fuchs und Knabe hatten auch eine sexuelle Beziehung. Das Trio schloss sich nach außen hin ab. Sie verschmähten es, ein freieres Leben in einer Großstadt zu führen, sie wollten den entgegengesetzten Weg einschlagen. Es entstand der Plan, gemeinsam auf einer Hochseeyacht nur für sich zu leben – und sich die Mittel dafür durch ein Gewaltverbrechen zu beschaffen.

Die Tat von Lebach sollte nur der Anfang sein. Mit den erbeuteten Waffen wollte man anschließend reiche Mitbürger erpressen und gerade die Grausamkeit des Überfalls auf die Soldaten sollte die späteren Opfer gefügig machen. Tatsächlich war der gesamte Plan von Beginn an unrealistisch gewesen, rein phantastisch. Die Vorbereitung erstreckte sich über Jahre, die Ausführung wurde immer wieder verschoben. Die Spannungen in der Gruppe nahmen so sehr zu, dass die Tat zum Notausgang wurde und dabei alle vorhandenen Energien aufbrauchte. Danach folgten bis zur Festnahme nur inkonsequente, mutlose Versuche der Erpressung.

Der Prozess in der Saarbrücker Kongresshalle im Sommer 1970 wurde viel kritisiert als Monster-Schauprozess, der Tatmotive und Täterstrukturen nicht einmal in Ansätzen herausarbeitete. Was z.B. Gerhard Mauz im SPIEGEL dazu sehr treffend formulierte, findet der Interessierte mit wenigen Klicks im Internet. Fuchs und Ditz wurden zu Lebenslänglich verurteilt, Knabe bekam sechs Jahre.

Neven-du Monts Buch ist das Ergebnis umfangreicher Recherchen quer durchs Land und bei zahlreichen Zeugen. Es verbindet gute Einblicke in äußere Abläufe mit nicht immer überzeugenden Analysen der Täter. Die Autoren wollten die vom Gericht unterlassene Motivaufklärung in aller Gründlichkeit nachholen und sind dabei selbst gelegentlich das Opfer von Nichtwissenkönnen, Oberflächlichkeit und Kurzschlüssen geworden. Deutlich wird dies z.B. an Knabe, den sie immer wieder als hübschen, inhaltsleeren Trottel darstellen. Knabe hat es ihnen dann gezeigt: Neven-du Monts Verfilmung des Stoffs durfte nach dem von ihm erwirkten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 nicht im Fernsehen gesendet werden. Ditz wurde 2006 aus der Haft entlassen. Fuchs sitzt jetzt im zweiundvierzigsten Jahr ein, der dienstälteste unter allen deutschen Strafgefangenen. Eine Rolle spielt möglicherweise, dass er sein früheres Geständnis im Gerichtsverfahren widerrufen hat und noch immer daran festhalten soll, nicht am Überfall beteiligt gewesen zu sein.

Ein Reiz des Buches: Man begegnet oft Personen der Zeitgeschichte, Prominenten von damals. Da sind u.a. der zehn Jahre später ermordete Siegfried Buback, der berühmt-berüchtigte Finanzmakler Rudolf Münemann oder die Wahrsagerin Buchela.

Ich habe das Buch jetzt mit großer Anteilnahme zu Ende gelesen. Warum missfiel es mir früher? Einige Sätze in Neven-du Monts Vorwort geben mir einen Fingerzeig: „Seit ich denken kann, ärgert es mich, dass Menschen ihre Scheußlichkeiten als unmenschlich verfemen – so tun, als seien sie kein Bestandteil ihrer Natur. Wir verweigern uns dem Anblick unseres wahren Gesichts. Mord ist nicht unmenschlich … Wir nennen sie Unmenschen, als hätten wir nichts mit ihnen zu tun … Der Mord als Spiegel unserer Gesellschaft …“

Tatsächlich erscheint mir vieles an der Vorgeschichte von Lebach jetzt heimlich-unheimlich vertraut. Es beginnt schon mit dem regionalen Rahmen. Dazu hieß es seinerzeit in einer Reportage für das Schweizer „Sonntags-Journal“: „Kaum ein Hauch modernen Lebens belebt jene an Lothringen grenzenden kleinen ‚vergessenen Gebiete’, denen die Täter von Lebach entsprangen. Der Provinzialismus dieser Gegend ist niederschmetternd. Das ‚Establishment’ von Landau bis Kaiserslautern und Saarbrücken ist so festgefügt, wie wenn es nie einen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte. Für Außenseiter und Nonkonformisten irgendwelcher Art ist da kein Platz …“ Exakt, so war es damals dort. Und dagegen die Welt der Bücher. Und die Frage, wohin geht man, wenn man nicht bleiben kann: in die Großstadt oder in die Einöde?

Alle Schuld ist plötzlich, sagt Hans-Henny Jahnn. Aber hier trifft einmal das Gegenteil zu: Ihre Schuld war wie ein in langen Jahren und von vielen Zufällen genährter Tropfen in einer Tropfsteinhöhle. Zufrieden sei, wer ihr entkommen konnte.

In der Tat sind die Morde von Lebach nicht so singulär, wie es zunächst scheint. Sie ordnen sich ein in einen größeren Zusammenhang. Nach dem 2. Weltkrieg galten noch die alten Sexualnormen, doch ihr Anspruch wurde zunehmend in Frage gestellt, eine kritische Situation, die zu mörderischer Gewalt führen konnte. Frühes Indiz für das Interesse an diesem Zusammenhang ist Hitchcocks Film „Cocktail für eine Leiche“ von 1948, in dem er den Mord von Leopold und Loeb (Chicago 1924) aufgreift. Ab Mitte der sechziger Jahre treten schwule Gewaltverbrecher für einige Jahre gehäuft paarweise auf: Brignone und Dorda (Buenos Aires 1965), die Deutschen Duft und Bassenauer (Griechenland 1969), Fuchs und Ditz (Lebach 1969), Rammelmayr und Todorov (München 1971). Untersucht man die sehr verschieden gelagerten Fälle näher, findet man zumeist Querverbindungen zu gleichzeitigen politischen Phänomenen mit emanzipatorischem Anspruch, von den argentinischen Peronisten bis zur RAF. Das private Verbrechen ist nie nur privat.

19. Lesefrüchte, leicht angefault

Wer schreibt denn so etwas: Unter ihren Gästen befinden sich ein paar wirklich hervorragende Vertreter der Kunst- und Finanzwelt. Außerdem sind einige bekannte Homosexuelle, Wüstlinge, Verschwender und andere Dekadente zugegen … Zwei Welten begegnen sich dort also, die Spitzen der Kunst- und Finanzwelt und - außerdem - jene anderen Spielarten der Spezies Mensch. Der Text ist vom amerikanischen Historiker und Literaturprofessor Herbert Joseph Muller (1905 – 1980) und bezieht sich auf Thomas Wolfes posthum erschienenen Roman „Es führt kein Weg zurück“. Die erwähnten Gastgeber, das sind Mr. und Mrs. Jack, deren Geschichte nicht nur in dem etwas angestaubten Buch nachzulesen ist, sondern neuerdings wiederum in dem vielfach rezensierten „Die Party bei den Jacks“ (dt. erstmals 2011 bei Manesse) – nur der gleiche Stoff in einer weiteren posthum aufgefundenen Version.
     Muller hat seine Wolfe-Biographie 1947 veröffentlicht. Sie beleuchtet die großen Vorzüge wie die allzu auffallenden Schwächen des Wolfeschen Gesamtwerks im Wesentlichen angemessen. Muller war ein kultivierter, fortschrittlicher, friedliebender Intellektueller, ein entschiedener Liberaler amerikanischer Prägung. Er war Mitunterzeichner des Zweiten Humanistischen Manifestes von 1973. Und von einer solchen Lichtgestalt der Wissenschaft nun eine Formulierung wie die eingangs zitierte – da wird das ganze Elend liberaler Geistesverfassung damals deutlich. Es ist nicht der einzige progressive Faux-pas, den er sich leistet. Starwick z.B., eine Gestalt aus Wolfes „Von Zeit und Strom“, entpuppt sich als Homosexueller … Horribile dictu, natürlich.
     Auf Deutsch kam Mullers Wolfe-Buch 1962 als Taschenbuch bei Rowohlt heraus, dieser Speerspitze verlegerischer Aufklärung im Nachkriegsdeutschland. Rowohlt sammelte bei fortschrittlich Gesinnten auch Pluspunkte, als es 1967 den Band „Homosexualität oder Politik mit dem §175“ auf den Markt brachte, mit Vorwort von Professor Giese. Und leider auch mit einem Beitrag des Starjuristen Jescheck (1915 – 2009, Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland 1984), der nach einer Übersicht über die Rechtslage in anderen Ländern seine Empfehlung an den deutschen Gesetzgeber so untermauert: Im übrigen zeigt die Homosexualität jene Missachtung von fundamentalen Forderungen der sozialen Moral, die zur Erhaltung des Rechtsgehorsams der Allgemeinheit nicht ohne staatliche Reaktion bleiben kann …
     Zwei weitere Blüten aus jenem pseudoliberalen Paradiesgärtlein. Eine West-Berliner Zeitung, nicht von Springer und eher linksliberal, rezensierte einmal einen Film und der Redakteur formulierte, der tragische Held sei schwer homosexuell. So sagt einer von seinem Onkel, er sei schwer zuckerkrank. Und ein schwer liberaler evangelischer Pfarrer jener Zeit, der es später bis zum Superintendenten brachte, betrieb in seinem Religionsunterricht am Gymnasium nebenbei Sexualaufklärung und zwar so: Homosexualität, wisst ihr, ist schließlich kein Verbrechen, es ist ja Krankheit, ungefähr so wie Krebs …
     Ja, so waren die Zeiten damals, Zeiten, in denen eine dicke Hornschicht sehr nützlich war. Wir wollen all das nie vergessen. Es geht aber nicht nur um Vergangenes und Literarisches. Wie sehr sich dieses Denken bis in die Gegenwart erstreckt, kann man z.B. der aktuellen Anklageschrift der Berliner Staatsanwaltschaft gegen den Rapper Bushido entnehmen; nachzulesen mit ihrer z. T. hanebüchenen Begründung im „Tagesspiegel“ (Oneline-Ausgabe) vom 16.01.2014.
     Und was noch Thomas Wolfe angeht: Seine Homophobie ist diskret, verschämt – unverschämt deutlich dafür sein Antisemitismus, vor allem in „Von Zeit und Strom“, erschienen erstmals auf Deutsch 1935 und später gern nachgedruckt - zuletzt 1989 - von Rowohlt. Aber das ist eine andere Geschichte …

 

20. Blick von außen auf die DDR

 

Verwandte drüben gab es bei mir nicht. Solange die DDR bestand, machte ich hin und wieder einen Tagesbesuch in Ost-Berlin. Außerdem durchquerte ich beim Transit oft dieses fremde Staatsgebiet. Es ergaben sich nur selten nähere Kontakte zu den Einheimischen. Welche tieferen Einblicke kann man so gewinnen?

Wie viele Besucher der Hauptstadt der DDR machte auch ich die Bekanntschaft Devisenhungriger. In meinen Fall waren es zwei junge Männer, die mich am Alexanderplatz ansprachen und über lange Zeit wortreich beknieten, ihnen doch zu einem für mich sehr vorteilhaften Wechselkurs DDR-Mark in D-Mark zu wechseln. Und es sei überhaupt kein Problem, nicht ausgegebene Ostwährung bei der Ausreise ganz legal wiederumzurubeln. Diesen Unsinn, verbunden mit einer langen Lügengeschichte, schwatzten sie mir zwar vor, doch nicht auf, so sympathisch sie im Übrigen auch wirkten.

Eine ähnliche Begegnung auf einem Parkplatz an der Autobahn zwischen Berlin und Magdeburg. Wir hätten da gar nicht halten dürfen, vielleicht wollte der Fahrer nach dem Motor sehen. Da kam ein junger Bursche, ein wenig verwildert, wie unter starkem Druck stehend, aus dem Gebüsch auf uns zu, bat um Westgeld, nicht gewechselt, sondern geschenkt. Wir waren auf der Hut und lehnten gleich ab. Er verdrückte sich sofort.

Mit Freunden war ich einmal zum Kaffeetrinken bei einem Brieffreund von einem von uns. Es war in einem Ost-Berliner Vorort, Kaulsdorf-Süd, glaube ich. Der Gastgeber war ein Orchestermusiker in mittleren Jahren. Wir saßen im Garten, umgeben von seiner Familie und Verwandtschaft. Die Gespräche waren lebhaft, offen, freimütig. Der Musiker fing selbst davon an, von einer möglichen Flucht zu sprechen. Ab und zu reise er ja mit dem Orchester ins westliche oder neutrale Ausland - wenn er einfach wegbliebe? Na ja, sagte er, er habe eben Familie, zuckte mit den Achseln und ging zu etwas anderem über.

Am meisten hat mich das Folgende beeindruckt. Ich kam von Kopenhagen und landete auf dem DDR-Flughafen Schönefeld. Eben war auch eine Maschine aus Budapest angekommen, mit vielen DDR-Bürgern. Die Pass- und Zollkontrollen für den Transit nach West-Berlin einerseits und die Einreise in die DDR andererseits erfolgten natürlich an verschiedenen Schaltern. Sie waren nicht weit voneinander entfernt, und ich konnte von meiner kleinen Schlange die größere drüben beobachten – und wie die Amtspersonen jeweils mit den Wartenden umgingen. Die Behandlung hätte kaum unterschiedlicher sein können. Während wir Westler distanziert-korrekt und durchaus höflich abgefertigt wurden, herrschte innerstaatlich ein ganz anderer Umgangston. Da wurde durchweg barsch aufgefordert und nicht selten auch kurz angeschnauzt, so dass man kaum glaubte, was man hörte und sah … Und die ließen sich das, ohne zu murren, alles gefallen? Und bekamen dabei mit, wie ganz anders international die Sitten waren?

Ich wähle einen Vergleich, um den Eindruck dieser Schönefelder Szene zu vermitteln: Stellen Sie sich eine Schafherde vor, um die ein Hütehund bellend herumspringt. Er hat nur eins im Sinn: die Herde gemäß den Befehlen seines Herrn beisammen zu halten und in die gewünschte Richtung zu drängen. Dass ihm ja keines ausbüchst oder Sonderwege einschlägt. Und in seinen Mitteln ist er nicht wählerisch, beißt auch schon mal in die Hinterläufe. Hauptsache, sie spuren.

Man kann es auch gehobener ausdrücken. Die DDR pflegte im Umgang mit den eigenen Bürgern gewisse preußische Tugenden. Wie Fontane mal sagte: Stramm, stramm, alles über einen Kamm. Oder Tucholsky über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Das Land war ein einziger Kasernenhof.

Alles vorbei und Geschichte, klar. Aber was ist nachher aus den Schäferhunden und –hündinnen geworden? Keiner mehr da zum Schurigeln? Und wie haben sich die Schafe von damals später entwickelt? Ach, das ist ein zu weites Feld … Mir scheint, einige von ihnen – nur wenige, hoffe ich - haben selbst Lust bekommen, den Schäferhundepart zu übernehmen. Ein Elend ist es zuweilen mit früher Prägung.

 

21. Journalisten und Objektivität

Von wem ist dieses Zitat: Wahrheit breitet sich nicht aus, hast die Zeitung du im Haus? Raten Sie mal, ist es von A) Joseph Goebbels oder B) Wilhelm Busch oder C) Kurt Tucholsky? Auflösung: Die richtige Antwort lautet C. Die Zeilen sind enthalten in dem 1927 veröffentlichten Gedicht „Week-End“, das sich kritisch mit dem Kontrast von zeitgeistiger Reklame und wirklicher sozialer Lage beschäftigt. Darin spielen die Zeitungen die Rolle eines Transmissionsriemens, der die zu popularisierende Botschaft massenhaft verbreitet und damit erst populär macht.

Tucholskys Formel deckt sich inhaltlich mit dem viel derberen „Lügenpresse“, das jetzt wieder in so vieler Munde ist. Im Hinblick darauf habe ich bei der Eingangsfrage die falsche Fährte Goebbels gelegt. Die aktuelle Diskussion tut gern so, als hätten die Nazis die Patentrechte für den Begriff, dem ist aber nicht so. „Lügenpresse“ ist viel älter und wurde generationenlang von den unterschiedlichsten politischen Strömungen zum Zweck der Diffamierung gebraucht. So habe ich denn auch Wilhelm Busch ins Spiel gebracht. Seine antisemitischen Tendenzen sind bekannt, die liberalen Zeitungen seiner Zeit hatten oft jüdische Verleger und Journalisten. Die Verse hätten auch von ihm sein können.

Radikale Kritik an Zeitungswesen und Journalismus hat es vor und nach dem Dritten Reich vielfach gegeben. Erinnern wir uns an die Anti-Springer-Kampagnen der Achtundsechziger, die über Jahrzehnte gingen und sich in der Tendenz nicht nur gegen Blätter aus dem Hause Springer, sondern gegen schlechthin alle „bürgerlichen“ Medien richteten. In diesem Zusammenhang kam es sogar zur Herausgabe neuer Zeitungen, die alles anders machen, d.h. auch wahrhaftiger sein wollten.

Vor hundert Jahren war einer der Großen unserer Literatur zugleich Fundamentalkritiker der Zeitungen und fanatischer Journalistenhasser: Karl Kraus. Zahllos sind seine Ausfälle in den Beiträgen für „Die Fackel“. Ich wähle beispielhaft einige aus „Maximilian Harden – Eine Erledigung“ aus:

Ich trage einen Hass unter dem Herzen und warte fiebernd auf die Gelegenheit, ihn auszutragen … Die Hölle der Neuzeit ist mit Druckerschwärze gepicht. Sei es! Sei’s unser Verhängnis, dass alles, was das Leben lebenswert macht, Geist und Schönheit hingemäht werde von diesen fürchterlichen Schnittern der Sensation, dass die Weideplätze der Kultur den neuen Hyksos ausgeliefert bleiben, und dass wir an der Revanche verbluten, die wir am Christentum genommen haben: an der Übertragung des Geisterbanns von der Kirche auf die Presse … Man hat die liberale Presse nie lauter jubeln gehört … Der Prozess Harden – Moltke ist ein Sieg der Information über die Kultur. Um in solchen Schlachten zu bestehen, muss die Menschheit lernen, sich über den Journalismus zu informieren.

Die Verteidiger des Journalismus heute machen oft folgende Doppelgleichsetzung: Fundamentale Kritik an Berichterstattung = Vorwurf der „Lügenpresse“ = rechtsextreme, demokratiefeindliche Gesinnung. Welcher Teufel reitet sie, eine derart manichäische Zurückweisung harscher, grundsätzlicher Kritik zu praktizieren? Auf diese Weise wird die Reaktion des Mediennutzers dazu missbraucht, die Stellung des Nachrichtenproduzenten unangreifbar machen zu wollen. Auch politisch ist dieser Versuch der Lagerbildung ein Hasardspiel. Die Burgverteidiger nutzen heranfliegende Steine, indem sie mit ihnen eine Mauer höher bauen. Der Wall wackelt trotzdem bedenklich.

Kehren wir, um uns selbst einen Standpunkt zu erarbeiten, zu Tucholsky zurück. In seinem Artikel „Redakteure“ von 1932 analysiert er die Krise des Journalismus und ihre Gründe. Darin ist manches nur noch historisch, anderes nach wie vor zutreffend. Zur Illustration berichtet er eine Anekdote. Sein eigener Verleger Siegfried Jacobsohn zu einem fremden Redakteur: Aber bei euch genügen doch schon vier Beschwerdebriefe, und jeder von euch kann herausfliegen. Darauf der andere: Herr Jacobsohn, Sie irren sich. Es genügt schon einer. Der Redakteur ist noch immer einer, der von zwei Seiten in die Zange genommen wird, den Erwartungen seiner Leser und den Maßgaben seines Verlegers. Er ist nicht unabhängig wie ein Richter und wird daher zumeist nicht so objektiv sein können, wie es das schöne Ideal fordert. Der Journalist liefert Waren, die seinem Auftraggeber ökonomisch nutzen und dem Endabnehmer des Produkts gefallen sollen. Der Leser als Konsument will etwas in sich Widersprüchliches: Informationen, die sein Bild von der Welt bereichern, ohne es grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Journalist muss versuchen, den Erwartungen beider gerecht zu werden, ohne sich selbst zu verbiegen. Er ist arm dran und möchte doch selbst teilhaben, am materiellen wie am geistigen Wohlstand oder Reichtum.

Nutzanwendung für den Leser: Mach dir klar, dass du Käufer einer produzierten Ware bist, nicht Empfänger einer absolut feststehenden Wahrheit. Prüfe, für welchen Teilmarkt jeweils produziert wird. Vergleiche die angebotenen Waren untereinander, entwickele einen Sinn für den relativen Grad an Wahrheitsgehalt. Entscheide für dich selbst, was du für glaubhaft oder einsichtig hältst. Differenzieren, differenzieren! Lass dich in deiner Kritik nicht mundtot machen, es gibt mehr als genug Anlass dazu. Aber sei dir immer bewusst, du selbst bist in erster Linie für dein Bild von der Welt verantwortlich. Der Vorwurf der „Lügenpresse“ ist so ungerecht wie seine politische Ausbeutung in einem Lagerkampf für das Gemeinwesen gefährlich, und das gilt für jede Seite.

 

 

22. Außen schrill und innen bieder

Vor langen Jahren verwunderte sich im Gespräch mit mir ein Freund aus München: „Da ist doch diese Maria, die Transe – was ich nicht verstehe: Privat ist sie äußerst spießig, mit einer kitschigen Muttergottes im Schlafzimmer. Seltsam.“ Ich äußerte mich dazu nicht. Weder kannte ich Maria näher noch hatte ich eine allgemeine Erklärung des Phänomens anzubieten.

Heute, viele Jahre und Begegnungen später, sehe ich klarer. Maria ist nicht die eine große Ausnahme, vielmehr verkörpert sie einen nicht so selten vorkommenden Typus. Menschen wie sie erschöpfen all ihre Widerständigkeit bei nur einer Frage: ihrer persönlichen Unterordnung unter eine abweichende Kleidernorm. Was für andere eine Sache der Oberfläche, der Fassade, des Experiments oder bloß ein Jux sein würde, also eine sekundäre Geschmacksfrage, das hat für Maria existenzielle Bedeutung. Das hat Folgen: Die Kleiderfrage wird beherrschend, weist allen anderen Aspekten der Lebensführung eine bloß dienende Rolle zu. Maria definiert sich über ihr Outfit. Die Konflikte, die sich aus einem solchen Selbstbild ergeben, werden mit Unerbittlichkeit durchgestanden. Wenn Maria nicht mehr ganz jung ist, erscheint sie so: rigide, verhärtet, überempfindlich gegen Kritik und maßlos in eigener Selbstüberschätzung. Die Opferrolle lässt sie sich selbst als große Tragödin und unvergleichliche Heroine empfinden. Und wehe, andere sehen das anders!

Persönlichkeiten wie Maria sind erfahrungsgemäß in allen Fragen, die nicht mit sexueller Identität und vor allem deren Zurschaustellung zusammenhängen, mehr als angepasst, sie sind an jede gesellschaftlich herrschende Norm überangepasst. Mittiger als sie kann keiner sein. Es fehlt schon das Interesse, sich mit den großen Themen der Zeit wirklich auseinandersetzen. Maria weiß daher wenig über sie und akzeptiert gewöhnlich das allgemein am meisten Verbreitete. Die Münchner Maria von damals mag in den Fünfigerjahren in tiefer bayerischer Provinz sozialisiert worden sein. Ein oder zwei Generationen weiter verinnerlicht eine Maria von heute ganz andere Glaubensinhalte. Wahrscheinlich wird sie sich hoch erhaben über diejenigen ihrer Vorgängerin dünken und übersieht dabei vollkommen die strukturelle Nähe. Beide, die ältere wie die jüngere Maria, sind Randexistenzen, die sie nur unter Aufbietung aller Kräfte und auf Kosten jeder individuellen persönlichen Entwicklung aufrechterhalten. Gerade in Letzterem besteht ihre gemeinsame viel größere Opferrolle, größer als die, die sie uns permanent vorführen.

 

23. Über Literaturforen

Für mich ist dieses neue Phänomen, dass Hunderttausende bienenfleißig Literatur produzieren und sie im Internet kostenlos lesen lassen, zunächst einmal eine Sache der Massenkultur von heute. Da ist etwas zwischen Hoch- und Alltagskultur entstanden, dessen weitere Entwicklung noch nicht einzuschätzen ist. Irgendwann werden Soziologie und Literaturwissenschaft das näher untersuchen, einordnen und bewerten. Bis dahin hüte ich mich, mir aus meinen nicht seltenen Frustrationen (als Leser wie Autor) ein negatives Gesamturteil zu bilden. Ich erkläre mich selbst für befangen, habe nicht genügend Übersicht und sehe doch manches Positive an der Entwicklung. Sie bedeutet auch mehr Teilhabe, individuelle Selbstverwirklichung usw. Sie hat nicht nur die neuen technischen Möglichkeiten zur Basis, sondern auch ein allgemein gestiegenes Bildungsniveau. Und: Offenbar haben heute genügend Leute genügend Zeit dafür übrig. Diese Literaturinflation und Entprofessionalisierung scheinen mir Aspekte eines größeren Zusammenhangs zu sein. Es läuft im Kern auf die Frage hinaus, die man einem von der Piraten-Partei einmal entweder in den Mund gelegt oder die er wirklich so formuliert hat: Warum soll der Künstler von seiner Kunst leben? Und der Autor vom Schreiben und der Artikelverfasser vom Veröffentlichen? Journalisten und Berufsschriftsteller sehen das gern sehr verkürzt. Tatsächlich ist historisch gesehen der Zusammenhang zwischen Produktion und Bestreiten des Lebensunterhaltes nie so eng gewesen. Wer sich durchsetzte, tat dies um 1800 häufig auf der Basis von Mäzenatentum oder sonstiger Protektion (Pfründe, Ämter - z.B. Lessing, Sterne, Moritz). Um 1900 finden wir aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten materiellen Entwicklung auffallend viele schreibende reiche Erben (z. B. Proust, Gide, Karl Kraus).

Es scheint mir überhaupt problematisch, die Gegenwart an der Vergangenheit zu messen. Wir alle haben einen Kanon im Kopf, der sich erst nachträglich herausgebildet hat und der die Breite von damals nicht widerspiegelt. Mag sein, dass Gegenwart und Zukunft zum Kanon nichts mehr beitragen, da die Verhältnisse sich grundlegend geändert haben. Wäre das denn ein Unglück für die Gesellschaft, für die Kultur? Davon bin ich nicht überzeugt. Und es kann nicht ausschlaggebend sein, dass der Einzelne in einer solchen Massenkultur noch viel weniger Aussicht auf Ruhm oder Nachruhm hat. Man kann die obige Frage umformulieren: Warum soll ein Künstler (Autor, Filmemacher usw.) bekannt / berühmt / erfolgreich werden? Hat die Gesellschaft was davon oder wenigstens er selbst? Letztere Frage zu bejahen, erscheint allzu selbstverständlich. Man sollte stattdessen die Möglichkeit eines gerade ablaufenden größeren kulturellen Umbruchs in Erwägung ziehen. Ich kann mir recht gut eine Zivilisation vorstellen, in der fast alle auf irgendeine Weise kreativ sind und damit auch öffentlich werden, in der es aber keine individuelle Größe und Bedeutung mehr gibt. Das Selbstverständnis der meisten heute Kreativen (oder ihre Wunschvorstellung) ist ein bisschen anachronistisch. Es bezieht sich auf eine Situation, die es kaum noch gibt: herausragende Stellung aufgrund überragender Leistung. Sollen sie doch zufrieden sein, zu ihrer Lebenszeit an einem kulturellen Prozess beteiligt gewesen zu sein. Natürlich gibt es noch immer den kommerziellen Erfolg, im Wechselspiel von Marketing und glücklichen Zufällen. Nun, wer damit glücklich wird, falls er Glück gehabt hat ... Bloß mal ein Beispiel für das, was ich meine: Neulich ein Video entdeckt: „Katze löst Druckerproblem“ – das ist so komisch wie Loriot und viel witziger als alles vom ollen Heinz Ehrhardt, es kostet aber gar nichts und Hunderttausende haben es sich angesehen und der Macher ist weder berühmt noch reich geworden.

Wenn man aber schon Vergleiche zieht, so fallen sie nicht nur zugunsten der Zustände von früher aus. Auch die Professionalität von damals hat ungeheure Mengen an Minderwertigem hervorgebracht. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich immer war, wenn am Beginn eines Schuljahrs für Deutsch ein neues Lesebuch angeschafft wurde. Und war denn die Trivialliteratur von früher, die die Leser käuflich erwarben, wirklich besser als die Gratisprodukte heute im Internet – ich glaube nicht. Man kann sich über unendlich Vieles in der Gratiskultur ärgern oder lustig machen, sie bietet uns jedoch auch Zugang zu vielem durchaus Bereicherndem. Wie immer bin ich fürs Differenzieren. Wer sie sucht, findet auch im Internet mitunter hohe Qualität, eingestreut in und vermischt mit Mittelmaß und Trash. Außerdem unterscheiden sich die einzelnen Literaturforen und –blogs stark voneinander.

 

 

24. Bunt ist grau

Die diesjährige CSD-Saison hat begonnen. Nun flimmert das bunte Treiben wieder über die Bildschirme, wenn abends Tagesschau und andere berichten: unendlich viel Glamour, Lust an Exaltation und Provokation und vor allem ein nach außen gestülptes, scheinbar sehr starkes Selbstbewusstsein. Dieses in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit vermittelte Bild spiegelt indessen keineswegs die realen Stimmungen und Verhältnisse wider. So sind z.B. Transvestiten, entgegen ihrer zentralen Rolle in diesen überinszenierten Straßenshows, eine zahlenmäßig verschwindend kleine Randgruppe. Mit „Transen“ identifiziert sich die Masse männlicher Homosexueller keineswegs. Sie werden von jeher hingenommen, ertragen, als Ulknummern genossen und nun gern auch zum öffentlichen Nachweis eigener Toleranz demonstrativ bejubelt. Viel Mache und viel Claque jetzt also und wenig Substanz.

Die ursprünglichen CSD-Märsche sahen ganz anders aus. Die, die mitliefen, zeigten sich als eben jene, die sie wirklich waren, als ausdifferenzierte Normalbürger, die öffentlich darauf bestanden, ihrer Natur in einem zentralen Punkt entsprechen zu können. Je weiter Emanzipation und vordergründige Akzeptanz fortschritten, umso mehr wurde aus einer seriösen politischen Demonstration dann ein schriller, grotesker Straßenkarneval – von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr sinnentleert.

Natürlich ist das kein singulärer Prozess, er ist eingebettet in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die von Entpolitisierung, Übergewicht der Werbung, strikter Eigenstilisierung im Sinne von Marken, von Worthülsenkultur und Gags um jeden Preis charakterisiert sind. Was Tucholsky einmal satirisch für emsig beworbene Fabrikwaren formulierte: nur Ausstattung, keine Qualität, das gilt längst auch für Ideen, für geistige Bewegungen, für Machtspiele. Dieser kleine Beitrag wird daran nichts ändern.

Nur in einem Punkt will ich nachhaken: Stichwort bunt. Das soll sie ja seine, diese Kultur von Minderheiten. Ist sie es wirklich, im Alltag, im realen Leben? Als ihr Mekka gilt seit Jahrzehnten San Francisco. Mit dem Mythos San Francisco hat die finnische Filmemacherin Susanna Helke 2013 in ihrem Dokumentarspielfilm „American Vagabond“ nebenbei mit abgerechnet. In der Hauptsache ging es ihr um junge schwule Obdachlose in San Francisco. Einen der Höhepunkte bildet eine Folge von tief melancholischen Statements Betroffener, von der Stadt und auch von ihrer schwulen Subkultur Enttäuschter. Die sehr eindringliche, bewegende Reihe von authentischen Stimmen schließt mit diesen Eindrücken eines jungen Mannes:

 

„Ich dachte, dies sei die Stadt am Ende des Regenbogens. Das Gelobte Land der Schwulen. Der Ort, an dem ich in Sicherheit sein würde. Aber ich stellte fest, dass die Stadt grau war. Mit grauen Tauben, grauen Straßen, grauen Häusern und grauen Männern in grauen Anzügen. Graue Seelen, soweit das Auge reichte.“ (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bettina Arlt für Babelfisch Translations)

 

Seien wir auf der Hut, wenn das Wort „bunt“ inflationär gebraucht wird, nicht nur im Zusammenhang von sexueller Identität. Gehen wir mit offenen Augen durch unsere Städte. Was sehen wir dort tatsächlich?

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.03.2022

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