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1. Szenen im Wartezimmer

In der großen Augenarztpraxis gibt es eine Reihe von Warteräumen. Selbst die schmalen Gänge sind bestuhlt, und dennoch werden die Sitzplätze oft knapp. Von weither kommen die Patienten, um sich untersuchen, behandeln und operieren zu lassen. Das Gedränge in den Durchgängen und vor den beiden Tresen erinnert an die Versorgung von Menschenmassen in einem Krisengebiet der Dritten Welt. Dabei ist es nicht einfach, überhaupt einen Termin zu bekommen. An einem Vormittag finden dreißig Operationen statt.

Die Sprechstundenhelferinnen – ihre Zahl ist gewiss zweistellig – arbeiten sehr angespannt. Ab und zu eilt eine von ihnen durch die Wartezimmer und ruft die Namen von Patienten aus. Hat sie wieder einen gefunden, malt sie ihm mit Tintenstift ein Kreuz neben das kranke Auge. So ähnlich markiert man Schafe vor der Schur oder Bäume vor der Fällung. Manchmal träufelt die Helferin einem Kranken Tropfen in ein Auge. „Halt, nicht dieses“, wehrt ein Patient ab, „das ist doch mein Glasauge. Das andere bitte.“ Nachher lacht er: „Darauf fallen sie oft herein.“

Ein Stuhl wird stets frei gehalten. Er steht vor dem Eingang zum Operationstrakt, auf ihm ruhen sich die eben Operierten kurze Zeit aus, wenn sie herausgeführt werden. Im Zehn-Minuten-Takt kommen sie zurück, mit grünem Umhang, Operationshaube und Stoffüberschuhen. Rasch tritt der Angehörige, der sie in die Praxis begleitet hat und bald darauf wegbringen wird, zum Patienten oder der Patientin. Die ersten Worte nach der Operation werden gewechselt. In diesem Augenblick wird ein Stück Innenleben sichtbar, der Grad an Zuwendung wird ablesbar. Eine Helferin nimmt Umhang, Haube und Überschuhe fort.

Auf einmal wird es noch enger. Ein Krankentransport schafft sich Raum. Sie bringen im Rollstuhl eine Greisin, ihr Gatte geht nebenher. Die kleine alte Frau ist derart in sich zusammengesunken, dass sie nur noch Kindergröße hat. Sie ist still, fast apathisch. Ihr Mann dagegen wirkt sehr gesund, er ist drahtig und behände. „Für den Rollstuhl ist hier aber kein Platz“, stellt eine Sprechstundenhelferin klar. Der kurzgeschorene, stiernackige Krankentransportmann sagt: „Sie kann auf normalem Stuhl sitzen, sie hat einen Rollator, ich bring ihn her.“ Dann trägt er den Rollstuhl zwischen den zurückweichenden Menschen hinaus. Die Greisin sitzt auf einem Stuhl zwischen anderen wartenden Patienten, ihr Mann steht neben ihr oder geht ein wenig vor ihr auf und ab.

Die beiden sind um die achtzig und gehören offenbar einem gut situierten hanseatischen Bürgertum an. Sie sind sehr sorgfältig gekleidet, doch ohne Extravaganz. In ihrer Schicht ist es sonst nicht üblich, in der Öffentlichkeit durch auffälliges Benehmen auf sich aufmerksam zu machen. Doch die bisherigen Alltagsgesetze gelten für sie jetzt nicht mehr. Die Frau ist ängstlich, verwirrt, sie stößt kleine, besorgte Klagelaute aus. Und er, der solide, zurückhaltende hanseatische Gatte, tut, was er sonst peinlich vermeidet: Er agiert vor fremden Menschen wie auf einer Bühne, spricht laut und überdeutlich, unterstreicht mit vielen Gesten, was er ihr Beruhigendes sagt: „Nein, ich gehe doch nicht fort. Ich bleibe hier bei dir, bis du fertig bist. Ganz bestimmt bleibe ich in deiner Nähe.“ Und um sie noch mehr zu besänftigen, fügt er hinzu: „Du warst doch schon mal hier, erinnerst du dich nicht? Alles ging so schnell, war so schnell vorbei – da hast du gesagt: Machen wir es bald auch auf der anderen Seite …“ Sie scheint sich nicht zu erinnern.

Immer wieder gehen alte Menschen unsicher, ängstlich in den Operationsraum hinein und kommen ein wenig erleichtert und von fremder Hand gestützt später wieder heraus, einen ganzen Vormittag lang.

 

2. Paradies der Alten

Meine vorvorige Wohnung lag im Parterre eines gerade fertiggestellten Hauses. Über mir zog eine Witwe aus Berlin ein, die Krause hieß. Von sechs Wohnungen standen vier noch leer. Das Haus wollte sich lange nicht füllen.

Eines Tages sagte Frau Krause: "Hören Sie nur, es gibt eine Interessentin für die Wohnung neben mir. Eine alte Dame, ich habe sie im Handarbeitsladen kennen gelernt. Morgen hat sie einen Termin beim Eigentümer. Sie wohnt jetzt in einer Pension. Es wird hier nicht mehr so einsam sein ..."

Frau Steiner zog bald ein. Sie war fünfundachtzig, klein, schlank, unscheinbar. Sie sagte: "In der Pension haben wir nicht genug zu essen bekommen. Ich bin so froh, jetzt hier zu sein." Dankbar nahm sie es an, dass ich ihr gelegentlich die Einkaufstaschen nach oben trug.
     Nach einigen Wochen kamen erste Beschwerden: Die Treppe war ihr zu steil. Und links fehlte ein Handlauf. Sie beklagte sich auch über die Nachbarin: "Diese Frau hat mich hierher gelockt. Ach, das ist eine ..." Ich selbst stand mich gut mit Frau Krause.

Es wurde Winter. Frau Krause flog für zwei Wochen auf die Kanaren. Frau Steiner nahm mich im Treppenhaus beiseite und vertraute mir Folgendes an: "Sie hat einen Zweitschlüssel für meine Wohnung. Wenn ich weg bin, bestiehlt sie mich. Mein Schmuck ist nicht mehr da." Ich wollte es nicht glauben. In den folgenden Nächten wurde es laut in unserem sonst so stillen Haus. Frau Steiner ließ ihrem Zorn freien Lauf, sie randalierte. Es hörte sich an, als nähme sie die Einbauküche auseinander. Wie, wenn sie tobsüchtig alles unter Wasser setzte oder Feuer legte? Ich schlief unruhig.

Frau Krause kam gut erholt zurück. Nun gab es mitten in der Nacht Tumult im Treppenhaus. Frau Steiner heulte und brüllte dort abwechselnd, nicht wie ein Mensch - wie ein waidwundes Tier. Ich trat in den Hausflur, um nachsehen. Auf Zurufe von mir reagierte sie nicht. Frau Krause rief den Hausarzt der alten Dame an. Frau Steiner hatte sich inzwischen in ihre Wohnung zurückgezogen und verhielt sich jetzt ruhig. Nach wiederholtem Läuten ließ sie Doktor Schumann ein. Der Arzt sagte uns, sie wirke kaum anders als sonst. Gegen ihren Willen könne er ihr keine Spritze geben.

Er war kaum fort, als das Toben im oberen Hausflur erneut begann. Wir riefen die Polizei. Frau Steiner flüchtete vor den Beamten in ihre Wohnung und ließ sie nicht zu sich. Die Hüter der Ordnung, machtlos, ratlos, zogen bald ab.

Beim dritten Tobsuchtsanfall ging ich selbst hinauf. Ich packte Frau Steiner an den Schultern und schob sie unter Ermahnungen in ihren Wohnungsflur hinein. Ich weiß, ich hatte kein Recht dazu - und sie wusste es auch: "Sie dürfen mich nicht anfassen!" Ich zog die Tür vor ihr zu. Dann war es still für den Rest der Nacht.

Wir meldeten es den Behörden. Das Kreisgesundheitsamt schickte einen Arzt. Er rief mich nach der Untersuchung an: "Sie ist ein Grenzfall. Sie war schon mal untergebracht. Sie haben sie wieder entlassen ... Es ist noch zu früh für eine Entmündigung. Sie bekommt einen Betreuer, der regelmäßig nach ihr sieht."

Frau Krause sagte mir bald darauf: "Jetzt geht sie jeden Nachmittag in die Geschäfte und verleumdet mich. Das macht sie auch im Handarbeitsladen so. Ihre Kleider, ihren Schmuck, sogar ihr Geld, alles reiße ich mir unter den Nagel ... Sie soll dabei ganz normal wirken ... Ich halte das nicht mehr aus. Damit Sie es wissen: Ich habe gekündigt, ich gehe zurück nach Berlin."
     Auch Frau Steiner verließ unser Haus unerwartet rasch. Sie verschwand aus Stadt und Kreis und entzog sich damit fürs Erste weiterer amtlicher Beobachtung. Ein Makler soll ihr eine Wohnung in Hamburg vermittelt haben. Ich erfuhr noch, sie sei die Witwe eines höheren Beamten und gut situiert, dabei ganz auf sich allein gestellt.

Dann kamen neue Nachbarn, das Haus füllte sich doch noch. Und auch ich zog bald wieder um.

 

 

3. Lauter Idioten

„Wir sind doch von Idioten umgeben!“ – Wer hatte das oft gesagt? Ein früherer Kollege von mir, längst im Ruhestand, und gemeint waren damals andere liebe Kollegen, die er als Gschaftlhuber-Bürokraten einschätzte. Möge es ihm gut gehen.

In Berlin stieg ich einmal in die falsche Straßenbahn. Ich bemerkte es und blieb träge sitzen: Vielleicht lohnte sich die Fahrt ja doch. Nach dem letzten Plattenbauviertel kam ein vernachlässigter alter Dorfkern – Endstation. Ich verließ mit den verbliebenen Fahrgästen die Bahn, wir zerstreuten uns rasch. Da trat eine Frau auf mich zu und begann mir gleich Fragen zu stellen: „Wie heißt du denn? Und woher kommst du denn?“ So in Berlin angesprochen zu werden, noch dazu von einer Wildfremden, kann einen stutzig werden lassen. Ich war also baff. Sie war nicht mehr jung, der Haut und den Haaren nach um die fünfzig, doch im Ausdruck kindlich geblieben. Ich antwortete: „Das möchte ich dir jetzt nicht sagen.“ – „So, das willste also nich?“ Sie überlegte, ob sie schmollen sollte oder auf andere Weise reagieren könnte. Plötzlich lief sie fort, einem anderen Ausgestiegenen hinterher, und ich hörte noch: „Wie heißt du denn? Und woher kommst du denn?“

Einmal im Gebirge, da war eine kleine Stadt, eine sehr kleine Stadt. Als ich an einem Dönerladen vorbeiging – so etwas gab es auch dort schon -, wurde ich von einem jungen Mann um die zwanzig freundlich gegrüßt, vielleicht sollte ich schreiben: begrüßt. Er tat es mit Nachdruck, mit Würde. War es vielleicht der Sohn des Inhabers, einen Kunden in spe in mir vermutend? Doch nein, er ging dann wie ich in Richtung Omnibusbahnhof und überholte mich unterwegs. Da kamen uns Schulkinder entgegen, alles Grundschüler. Sie umringten ihn, riefen ihm wiederholt etwas zu, das ich nicht verstand, ein Schlüsselwort in ihrer Sprache offenbar. Und er wiederholte es, immer wieder, und bog sich dabei und machte sich kleiner und lachte gezwungen und schien sich zugleich über sich selbst und die Situation zu ärgern. Kurz: Er machte sich zum Affen und litt darunter. Es lief wie ein lange eingeübtes Ritual ab.

Am Busbahnhof beobachtete ich ihn weiter. Er wartete auf keinen Bus. Er hielt Ausschau nach Bekannten und wenn er einen gefunden hatte, sprach er lange mit ihm und machte eine höchst sachverständige Miene dabei. Später stellte er sich neben mich, musterte mich von der Seite und wartete, wartete … Ich schwieg verlegen, wie aus Zwang, und begann mich meinerseits zu ärgern, über mich oder die Situation.

Einige Tage später sah ich ihn aus einem fahrenden Bus heraus noch einmal. Es war sehr heiß, fast so heiß wie im Fegefeuer. Er ging barhäuptig neben der Landstraße dahin, auf einer Anhöhe über der kleinen Stadt, erkennbar ohne Ziel. Er sah sich fortwährend um, alles ihm Begegnende mit großem Ernst und großer Anstrengung in sich aufnehmend und darüber sinnend. Er schien mir in einer Welt zu leben, in der nichts ohne tiefere Bedeutung ist.

In Lars von Triers Film „Idioten“ konfrontiert und schockiert eine Gruppe junger Menschen ihre Umwelt mit gespielt idiotischem Verhalten. Ihre Überzeugung dahinter: „Ein Idiot zu sein, ist ein Luxus und ein Fortschritt. Ein Idiot ist ein Mensch der Zukunft.“

Lasst uns alle Idioten sein.

 

4. Eine Ratte im Rosengarten

Ich bin in einer üblen Lage - ich muss meinen schlechten Ruf verteidigen. Das ist mühsamer als man denkt.

Früher schrieb ich fast nur Besinnliches. Ich war der Quotendingsbums, na, Sie wissen schon. Machte pro Artikel zwei, drei kleine Scherze. Daher hielt man mich für harmlos, friedfertig. Aber dann … In den Weiten des Internets begegnete ich immer öfter Gestalten, die sich noch im Jahr 1960 wähnen – sie reagieren ausgesprochen bissig, wenn man sie nicht in diesem Glauben belässt. Und ich war so töricht, mir dieses oder jenes Widerwort entschlüpfen zu lassen. Dafür hassen sie mich nun ein bisschen.

Viel Feind, viel Ehr? Darauf könnte ich verzichten. Aber ich will die Braven nicht noch mehr erschrecken. Sie haben nun mal dieses Bild von mir, wenn es auch falsch ist. Besser dieses als gar keins. Totale Verunsicherung soll nicht um sich greifen. Also mache ich weiter wie zuletzt.

Aber was schreibe ich heute Skandalöses, wie errege ich wieder Ärgernis? Ich war zuerst auf der Bank und wurde leider enttäuscht. Keiner wollte mir Derivate aufschwatzen. Schade, Bankenschelte läuft so gut, und wenn ich es antikapitalistisch verpacke, regen sich noch mehr Leute auf.

Mein Weiterweg führte mich in einen Park. An seinem Rand steht ein altes Untersuchungsgefängnis. Da ging ich eine Weile auf und ab - es tat sich nichts. Weder wurden Kassiber herausgeworfen noch Briefchen hinein. Ich hörte auch keine Schmerzensschreie, überhaupt nichts Inspirierendes. Und wie gern würde ich über Abschiebehaft schreiben, aber so wird das nichts.

Da, eine hohe Platane, der älteste Baum im Park, gepflanzt 1821. Ich wollte schon ehrfürchtig zu ihr aufblicken, besann mich aber noch rechtzeitig. Abendschön, du wirst doch nicht von Natur säuseln wollen! In diesem Moment drang von fern großer Lärm an mein erfreutes Ohr. Ich liebe Kakophonien, überhaupt alles Disharmonische … Nichts wie hin. Ach, es war nur das kreischende Duett von Rasenmäher und Laubsauger. Wieder über was Ökologisches schreiben: gegen Verlärmung, Spritvergeudung und Kleinstlebewesenzerhäckselung? Alle würden gähnen. Das hatten wir schon viel zu oft.

Ich ging in den Rosengarten hinein. Die Rosen blühten trotz des miesen Wetters unverdrossen vor sich hin, rot und rosa, gelb und weiß. Zwischen ihnen blaue Herbstastern und letzte Sonnenblumen. Die reinste Idylle, für meine Zwecke wieder ungeeignet. Plötzlich bewegt sich etwas zwischen den Beeten, ganz in meiner Nähe. Graues Fell, spitze Schnauze, Knopfaugen, sehr langer, dünner Schwanz – das kann doch nur eine Ratte sein. Dich schickt der Himmel! Hat man je von einer Ratte in einem Rosengarten gelesen?

Ich hatte mein Thema. Da lässt sich was draus machen. Das Schöne und das Biest. Bölls „rattenhafte Wut“ und Proust, der Ratten mit Hutnadeln stechen lässt. Die Ratte als Symbol – Kloakenbewohner immigriert ins Reich der Düfte - die Ratte als Identifikationsmuster … Ich strebte schon aus dem Park. Schnell an den Schreibtisch!

Die Ratte sah im Weiterlaufen noch einmal zu mir herüber, bevor sie in einer niedrigen Buchsbaumeinfassung verschwand. Ich glaube, wir nickten uns sogar zu.

 

5. Ferner Ursprung

Es war der Morgen der Abreise, ich packte die letzten Sachen ein. Dabei fiel mein Blick aus dem Fenster. Im Nachbargarten stand ein kleiner Junge, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Seine Gesichtszüge fremdartig, die Haut etwas dunkler als bei den meisten hierzulande. Er kann vom Mittelmeer kommen, dachte ich.

Das Kind sah in den wolkenverhangenen Himmel und hob beide Hände. Es streckte sie den waldbedeckten Hügeln entgegen. "Es wird Winter", sagte der Junge, freudig bewegt, wie es schien. Tatsächlich war es Mitte Mai. Seine Gebärde, die Art, wie er den vermeintlichen Winter begrüßte, das kam mir gleichfalls fremdartig vor.

Nachher fuhr meine Wirtin mich zum Bahnhof. Unterwegs überholten wir zwei Fußgänger, einen noch jungen Mann und einen kleinen Jungen - es war das Kind von vorhin.
     "Das ist mein Sohn", sagte meine Wirtin, "mit seinem Adoptivkind." Ich ließ mir das Nähere erzählen. Der Kleine war aus Nepal. Jemand hatte ihn bald nach der Geburt in Kathmandu vor einem Waisenhaus abgelegt.

"Er ist jetzt vier ... Er war eineinhalb, als er zu uns kam ... Bisher ist alles gut gegangen. Er nennt seine neuen Eltern Papa Horst und Mama Gerlinde. Und er weiß, dass es da irgendwo noch eine Mama gibt. In seinem Zimmer hat er an der Wand eine Karte von Nepal hängen. Später wird er sich wohl mit den anderen vergleichen und Erklärungen haben wollen ... Nein (sagte sie auf meine Nachfrage), keine Geschwister hier. Mein Sohn und die Schwiegertochter haben sich zuerst in Russland nach einem Kind umgesehen. Doch dann haben sie erfahren, dass russische Waisen oft die Kinder von Alkoholikern sind ... Für einen Nepalesen hat er eine auffallend helle Haut. In Kathmandu hat man ihn daher für ein Kind aus dem Hochland gehalten."
     Erst jetzt passte für mich alles zusammen: sein Blick, wie zu fernen, immer schneebedeckten Riesenbergen, die Sehnsucht nach dem Winter, die verzückte Gebärde und die Heimat Himalaya. Er war so früh verpflanzt worden und doch zum Teil Asiate geblieben. Tragen wir Bilder im Kopf, in unserer Seele, die wir nicht eigener Anschauung verdanken - Bilder, die älter sind als wir selbst?

 

6. Auch ich bin sexistisch

Einmal kam ich nach sieben- oder achtstündiger Wanderung durch die Spessartwälder auf dem Bahnhof von G. an. O, wie gut es mir da ging … Atmung und Kreislauf in Hochform, maximale Ausschüttung von Glückshormonen. Und ich hatte die Anstrengungen hinter mir, kein Berg mehr heute! Nur noch ein bisschen durch die Altstadt bummeln, dann essen gehen, nachher vielleicht Musik hören, dann einschlafen, einfach wegsacken, traumlos. Ein schönes Programm …

Die Unterführung. Der Bahnhofsvorplatz. Eine Menge Leute vor und hinter mir. Ich nahm sie nur undeutlich wahr als Menschenmenge, durch die ich mich schob. Und blieb dabei für mich. Ich stimmte mit mir überein, nur mit mir. Begann zu summen, dann zu pfeifen. Bin zwar unmusikalisch, doch pfeifen kann schließlich jeder, wenn ihm danach zumute.

Dann an der Fußgängerampel ein seltenes Erlebnis – eine dreht sich nach mir um. Sie ist jung, vermutlich vom Balkan oder aus der Türkei stammend. Sie zischt mich an: „Hör auf zu pfeifen!“ Es ist ihr ernst, sehr ernst. Wie viel Energie sie hat und jetzt auch einsetzt. Sie glaubt wirklich …? Mädchen – aber Mädchen darf ich schon mal nicht sagen … Junge Frau also, Zeitgenossin, Mitbürgerin, Sie haben das ganz falsch aufgefasst. Ich bin nämlich …

Quatsch, ich höre einfach auf zu pfeifen und gehe ernüchtert und ein bisschen verstimmt in die Stadt hinein. Schade um den Abend.

7. Harzreise zurück

Er hatte als junger Mensch dies und das angefangen und wieder abgebrochen und hatte dann doch einmal durchgehalten. Vor der Abschlussprüfung besuchte er ein halbes Jahr lang eine Akademie im Harzvorland. Wie sehr er Berlin dort vermisste … Von seinem Zimmer im siebten Stock sah er in der Ferne ein großes Stahlwerk, dahinter die Harzhöhen.

Es dauerte beinahe vierzig Jahre, bis er wieder in die Gegend kam. Sie hatten ihn vor kurzem gehen lassen, dafür musste er dankbar sein. Wie seinerzeit in den Ernst des Lebens hineingestolpert, so auch aus ihm herausgefallen … Jetzt war er Herr über die restliche Zeit, konnte gehen, wohin er wollte; war allerdings ein wenig fußkrank – er versuchte es zu überspielen.

Er reiste in den Harz, nicht auf Goethes oder Heines Spuren, nur auf den eigenen. Was für eine schlimme Zeit damals auf der Akademie - er war doppelt unglücklich verliebt gewesen. Es hätte ihn glücklich gemacht, einfach nur unter Zurückweisung zu leiden. Doch es zeigte sich, dass man ihm offen und neugierig entgegenkam. Das war zu viel Glück und die innere Versagung wurde wirksam.

Die Akademie organisierte für alle einen Ausflug in den Harz. Einer von den drei Bussen war ein Veteran und kam bergwärts kaum noch voran. So schlich ihr kleiner Konvoi mit fünfzehn Stundenkilometern zum Torfhaus hinauf. Das erste Ziel war ein Bergdorf dicht an der Grenze gewesen. Gleich am Tag nach seiner Wiederkehr ging er in einem großen Bogen durch die Wälder dorthin.

Er erkannte zunächst nichts wieder und ging Kaffee trinken. Dabei kam die Erinnerung an seine Lieblingskollegin von früher. Immer ist sie zum Jahreswechsel hierhergefahren, dachte er, hat mit ihrem Mann eine Ferienwohnung in einem der Hochhäuser gehabt. Keine Kinder – und in der Mittagspause ist sie oft in ein kleines, feines Puppengeschäft gegangen, hat sich Püppchen gekauft und sie nachher herumgezeigt. Sie ist Halbwaise gewesen, der Vater noch in den letzten Kriegstagen gerade hier im Bergdorf gefallen, vor ihrer Geburt. Und sie hat Jahr für Jahr das Grab an der Grenze besucht - bis sie auf einmal in die Psychiatrie gekommen ist und sich, kaum entlassen, umgebracht hat; ist auch schon Jahrzehnte her.

Nachher fand er den Parkplatz wieder, auf dem sie aus den Bussen gestiegen waren. Damals hatte man von dort Stacheldraht, Wachtürme und Todesstreifen aus großer Nähe betrachten können. Die Ausflügler und die Urlauber waren hingekommen, um ein wenig zu staunen und dann kopfschüttelnd weiterzufahren. Jetzt waren die Grenzanlagen längst abgebaut, ihre letzten Spuren von einer sich selbst überlassenen Natur überwachsen. Nur der Parkplatz war unverändert, als seltsames Museum mit altem Kiosk und leerer Schauvitrine. Er zählte die Jahre zurück.

Und wie war es damals privat weitergegangen? Ganz am Schluss des Lehrgangs war nur noch Verachtung für ihn zu spüren gewesen. Recht so. Dann die Prüfung bestanden im Bewusstsein, umfassend versagt zu haben. Im Rückblick erschien ihm auf einmal das verflossene Leben wie die Reaktion von Tintenfischtentakeln. Wenn sie verstümmelt werden, zucken sie noch eine Weile.

Es war ein Fehlstart ins Leben gewesen. Immerhin, er lebt noch, ist wieder da. Am Abend stellt er fest, er ist heute dreißig Kilometer gegangen. Das wenigstens kann er noch, das bleibt ihm noch. Er wird heute Nacht gut schlafen und morgen besser eine andere Richtung einschlagen.

 

8. Die Kammer in der Kammer

Er fuhr mit der U-Bahn zum Gericht, seine Terminsvollmacht in der Aktentasche. Sie schickten ihn zum ersten Mal dorthin. Der Fall konnte nur gewonnen werden. Sie hatten ihn so instruiert: Und wenn die Vorsitzende sagt: Die Beklagte beantragt ... und Sie dabei anschaut, dann sagen Sie: ... die Klage abzuweisen. Sonst nichts. - Er war niemals vorher zu Gericht gegangen, auch nicht in eigener Sache.

Gott, was für ein hässliches Gebäude! Erbaut 1848, sagte eine Inschrift neben dem Eingang. Auch mit preußischer Schlichtheit kann man es übertreiben. Diese langen Flure, das hohe Treppenhaus: alles grau, karg, schmucklos. Könnte eine Kaserne gewesen sein; war es aber nicht. Er fand die Tür zum Sitzungssaal. Sein Termin war als letzter für heute angeschlagen: Josefine Streitbauer, Klägerin, gegen sie, die Beklagte. Er huschte durch die offene Tür hinein.
     Drinnen war kein Mensch. War der Termin davor so schnell zu Ende gegangen? Es roch muffig und staubig nach alten Akten und blassen Büromenschen. War das überhaupt ein Gerichtssaal? Er zweifelte stark. Es sah eher wie die Gemeinschaftsküche in einer Notunterkunft aus und war auch nicht viel größer. Nein, ein Saal war das nicht. Vielleicht lag er hinter der offenstehenden Tür an der Stirnseite des Raumes? Er durchschritt sie ...
     ... und geriet in einen schmalen Durchgang. Da war am Ende noch eine offene Tür. Weibliche Stimmen drangen heraus. "Meine Liebe", hörte er sagen, "haben Sie Doktor Pfundshammer wieder einmal gesehen?" - "Aber ja, und dick ist er geworden, unglaublich!" Er ging hinein. Da saßen drei Damen an einem länglichen Tisch. Er sah gleich, dies musste die Spruchkammer sein - die Vorsitzende mit den zwei Beisitzerinnen. Also würde hier demnächst verhandelt werden. Aber klein war auch dieser Raum, noch kleiner als der erste. Er grüßte und tat unbefangen und setzte sich mangels weiterer Sitzgelegenheit zu ihnen an den Tisch. Sie grüßten zerstreut zurück.

Die eine verriet gerade ein Kochrezept: "Koriander, unbedingt. Vielleicht auch Nelken ..." - "Einen Moment, bitte", sagte die Vorsitzende. Sie wandte sich ihm nun zu und fragte sanft: "Kommen Sie für die Beklagte? Hier können Sie nicht warten." Und sie führte ihn zurück in den "Saal". Trottel, zischte er sich selbst und unhörbar für sie zu. Das hat es noch nie gegeben: Der Vertreter der Beklagten zieht sich vor der Verhandlung mit den Richterinnen ins Beratungszimmer zurück - so serviert man Befangenheit auf dem Silbertablett. Zum Glück waren Frau Streitbauer und ihr Anwalt noch nicht da.

Alles Weitere verlief programmgemäß. Wortlos reichte er die Vollmacht hinüber. Er hielt den Mund, bis die Vorsitzende mit dem Finger in seine Richtung schnippte: "Die Beklagte beantragt ..." - "... die Klage abzuweisen", fiel er ihr geradezu ins Wort. Übereifrig, wie meistens.

 

9. Frau mit Blüte

Fischbach ist eine S-Bahnstation am Rand von Nürnberg. Rundum große Wälder und ein Gewerbegebiet, parallel zur Bahn eine laute Schnellstraße. Die Wohnviertel liegen weiter entfernt. Die Gegend wirkt unwirtlich, hier hält man sich nur auf, solange man muss.
     Die Züge stadtein- wie stadtauswärts halten am selben Bahnsteig, ich will hinaus. Außer mir warten nur wenige Menschen, sie stehen weiter weg. Da nähert sich mir eine kräftige junge Frau. Sie ist blond, scheint etwas unsicher und spricht mit russischem Akzent. Ich soll ihr erklären, wie sie einen Fahrschein ins Zentrum von Nürnberg lösen kann. Wo mag sie jetzt herkommen, hier treten gewöhnlich keine Ortsfremden eine Fahrt an. Und wer aus einem der Wohnviertel kommt, hat den Bus hierher genommen und den Fahrschein schon in der Tasche.
     Ich versuche ihr mein Wissen zu vermitteln. Während ich für sie die Tasten bediene, fällt mir auf, dass sie nicht vollkommen ahnungslos sein kann. Sie bemerkt einen Fehler, den ich mache, und unterbricht meine Aktion. Dann wird der Fahrpreis angezeigt und es erweist sich, dass ihr Kleingeld dafür nicht ausreicht. Es fehlen etwa fünfzig Cent. Ich biete ihr gleich eine Münze an - doch das ist nicht in ihrem Sinn. Ihr Deutsch, vorher recht flüssig, versagt auf einmal. Sie sieht mich mit unbestimmtem Ausdruck an und hält jetzt eine Fünfzig-Euro-Note gefaltet zwischen den Fingern der rechten Hand. Das erinnert ein wenig an einen Zaubertrick. Ich soll wechseln? Aber nimmt der Automat nicht doch einen so großen Schein? Ich biete ihr erneut fünfzig Cent an.

Sie wirkt frustriert und verlässt mich, ohne noch etwas zu sagen. Sie geht zu den anderen Fahrgästen und verhandelt mit ihnen. Es ist so weit weg, dass ich nichts davon verstehen kann. Sie hat noch immer keinen Fahrschein. Da kommt meine Bahn nach Altdorf. Und während sie langsam am Bahnsteig einläuft, sehe ich, wie die junge Russin die Station verlässt und rasch die Treppe zum Bahnhofsplatz hinuntergeht. Er ist wie eine Sackgasse angelegt. Einige Autos parken dort. Im Wegfahren kann ich noch erkennen, dass sie auf eines von ihnen zugeht, um einzusteigen.
     Zehn Jahre ist das jetzt her, ich sehe den Ablauf noch vor mir. Sagen Sie nicht, ich hätte die Polizei anrufen sollen. Unterwegs habe ich nie ein Telefon bei mir. Dieses eine Mal habe ich es bedauert.

 

10. Eines Fremden Würde

A... ist ein Wintersportort in den Alpen, recht elegant, traditionsbewusst und - nicht ganz billig. Im Sommer sind die Unterkünfte preiswerter und die Berge gratis. Nur essen gehen ist genauso teuer wie in der winterlichen Hochsaison. Abendschön, der etwas knickrig ist, sucht lange nach einem Esslokal, das er sich leisten will. Endlich findet er im alten Dorfkern eine Wirtschaft aus früheren Zeiten mit landestypischen Gerichten. Er geht hinein.

Drinnen ist bis auf die Speisekarte und das einfache Inventar alles orientalisch. Der Wirt ist ein Araber, der Koch ist arabisch, die Bedienung ist arabisch. Die Speisekarte fasst sich kurz. Sie machen Kaasnockerln, doch mit dem Salat hapert es. Dann noch ein, zwei Fleischgerichte, Gulasch oder Schnitzel Wiener Art. Alles ist essbar, für A... ist es billig. Sie haben nicht viel anzubieten, doch vielleicht kommt es von Herzen?

Meistens bedient ein junger Araber, ein großer, schlanker Mann Ende zwanzig. Er sieht aus wie ein Mittelschichtsohn, der zum Studium nach Europa gegangen ist - sagen wir Maschinenbau - und dann hat es mit dem Studium nicht geklappt. Er ist freundlich und vor allem würdevoll. Er bedient rasch und zuverlässig und zugleich mit sehr gemessenen Bewegungen. Er hat eine Doppelnatur und führt sie eindrucksvoll vor: Er ist ein durchschnittlicher Kellner, an dem es weder etwas zu tadeln noch viel zu loben gibt - und er ist jenseits der Arbeit ein Mensch mit Intelligenz und Seele.

Abendschön schaut durch das Fenster auf die Berge, von denen er einige bestiegen hat. Sie sind auf eine erhabene Weise schön. Dann sieht er zu dem arabischen Kellner hinüber. Es ist unwichtig, ob er auch ihn schön finden könnte. Angenehm ist dieser freundliche, offene und dabei seiner Würde sehr bewusste Charakter, der ihm aus den Augen schaut. Er wirkt denkbar uneuropäisch. Da ist wieder dieser Eindruck einer größeren Nähe zu Transzendenz, wie ihn nur Orientalen oder Inder vermitteln können.

Gast und Kellner sind sich sympathisch. Der Gast kommt fast jeden Abend und der Araber freut sich sichtlich über sein Erscheinen. Sie reden jeweils einige Worte miteinander. Das Wetter ist selbst für A..., wo es oft regnet, sehr schlecht geworden. Dennoch reist der Gast noch nicht ab, erst in drei Tagen, sagt er.

Dann geht er zum letzten Mal ins Gasthaus. Er bestellt sein Essen, sein Bier. Da wird er gefragt, ob er heute, am letzten Abend, einen Extra-Schnaps auf Kosten des Hauses trinken wolle. Und jetzt macht der Gast einen Fehler - er überlegt. Er sagt sich, er müsse noch packen und alle Unterlagen für die Reise ordnen. Er will einen klaren Kopf behalten. Also lehnt er den Schnaps ab. Sogleich erkennt er staunend Größe und Tragweite seines Fehlers. Der Kellner hat sich verfärbt, er wirkt tief verunsichert, er ist mehr als gekränkt, durchaus beleidigt. Stumm notiert er die Bestellung und entfernt sich rasch.

Er kommt nicht mehr zum Tisch zurück. Das Essen bringt der Koch aus der Küche und stellt es dem Gast hin. Der Kellner macht sich weiter entfernt zu schaffen, traurig, verdüstert. Die meiste Zeit meidet er den Gastraum. Als der Gast seine Mahlzeit beendet hat, räumt der Wirt schnell ab und stellt erstmals selbst die Rechnung aus.

Nur einen Schnaps abgelehnt! Es ist nicht mehr gutzumachen.

 

 

11. Das Ende der Welt

Gestern bin ich zu spät ins Bett gekommen und jetzt zu früh aufgewacht. Es ist erst halb neun, ich brauche noch nicht aufzustehen. Wo bin ich überhaupt? In einer Pension in Köln, nicht weit vom Rhein, seit gestern. Vielleicht kann ich noch mal in den Halbschlaf zurückfinden.
     Stattdessen fangen draußen auf einmal Sirenen an zu heulen. Es ist ein Dauerton. Er dringt umso mehr durch, als das Zimmer zu einem ruhigen Hof hin liegt. In der Pension ist und bleibt es still. Das Zimmer liegt im obersten Stockwerk, Empfang und Frühstücksraum befinden sich weiter unten.
     Ich will noch immer nicht aufstehen, jetzt noch weniger als vorher. Nur ist da die Frage: Was hat das zu bedeuten? Es ist nicht die für einen Probealarm übliche Zeit. Ein Wunsch gewinnt bei mir die Oberhand: Es soll aufhören, sofort. Dann könnte ich den Kopf unter die Decke stecken und das Geräusch schnell vergessen.
     Der gellende Dauerton hält bereits eine Minute an, vielleicht schon zwei. Er bleibt auf immer gleicher Tonhöhe, schrill und kraftvoll. Ich blicke zum Dachfenster - am grauen Himmel zeigt sich nichts.
     Nach einer Reihe von Minuten verstummen plötzlich alle Sirenen. Ich stecke den Kopf jetzt doch nicht unter die Bettdecke. Dafür hat es zu lange gedauert. Ich sehe wieder vom Bett zum Fenster und durch das Fenster in den Himmel. Wird sich bald etwas zeigen? Sind Raketen im Anflug? Ich überlege, von wem ich mich in diesem Fall gern noch verabschieden würde. Wen müsste ich dann anrufen? Der Kreis ist sehr klein.
     Es geschieht nichts, natürlich nicht. Die Stille verliert mit jeder halben Minute etwas mehr von ihrer Bedrohlichkeit, wird am Ende zu einer fast ungetrübten harmlosen Vormittagsruhe. Ich stehe auf und gehe frühstücken. Der Wirt bedient selbst die wenigen Gäste. Keiner erwähnt den Alarm, auch ich nicht. Unsere Ruhe hat etwas Gekünsteltes. Mir scheint, wir alle fürchten, an etwas zu rühren.

Ich bin schon aufgestanden, um nach oben zu gehen, da dreht der Wirt das Radio lauter – die Lokalnachrichten. Ich höre im Weitergehen, es sei vorhin ein Fehlalarm gewesen. Und einige hätten sofort begonnen, ihre Badewannen volllaufen zu lassen, aus Furcht, es könnte wieder Gift im Rhein sein. Ich sehe zum Wirt hinüber. Er zuckt nur mit den Achseln und ruft mir zu: „Schönen Tag noch!“

 

12. Amok in der Fußgängerzone

Der turnusmäßige Besuch beim Vater stand an. Die Mutter brachte die zwei Scheidungswaisen bis an die Haustür des Exmannes. Der Summer ertönte, der Sechsjährige drückte die Tür auf, verschwand im Hausflur, gefolgt von seiner vierjährigen Schwester wie von einem Schatten.

Die Kinder fanden den Papa heute etwas komisch - oder noch komischer als sonst. Merkwürdig, er wollte heute nicht mit ihnen daheimbleiben: "Wir fahren spazieren." Im Auto lagen hinten zwei Gasflaschen, wie der Junge vom Beifahrersitz aus staunend feststellte. Seine kleine Schwester drückte sich auf dem Rücksitz ängstlich in eine Ecke.
     Es ging ins Stadtzentrum. "Papa, was machst du?! Wohin fahren wir?" Er war gerade von der Fahrbahn abgebogen und lenkte schon in die Fußgängerzone hinein. An ihrem Anfang liegt der Hauptplatz der Stadt, wo die Straßenbahnen und Busse abfahren und immer viele Leute warten. Ihr Papa fuhr wieder und wieder auf Menschengruppen zu. Die Leute sprangen panisch zur Seite und schrieen, und es schrieen auch die Kinder im Auto. Sie pressten sich gegen die Scheiben und sahen die Menschen draußen flüchten.
     Dann flogen Gegenstände durch die Luft: Fahrräder, die Stühle eines Straßencafés. Sie schlugen von drei Seiten auf der Karosserie auf und blieben auf den Steinplatten liegen. Ihr Papa fuhr jetzt Slalom um diese Hindernisse. Kurz darauf kam das Auto plötzlich vor einem Baum zum Stehen. Es war sofort von Passanten eingekreist. Einige zertrümmerten schon mit den Stühlen die Scheiben. Der Papa schrie außer sich: "Alles umfahren - alles umbringen!" Ein Mann griff jetzt durch das Loch in der Heckscheibe und schraubte hastig die offenen Ventile der Gasflaschen zu.

Die Polizei war schon zur Stelle. Sie räumte gerade den Platz. Bald war alles vorbei. Der Papa war auf dem Weg in die Psychiatrie. Die Kinder noch unter Schock und schon bald wieder bei der Mutter. Einer Passantin war das Auto über den Fuß gerollt.

 

13. Wie man`s zu was bringt

Sigis Leute kamen aus dem Osten. Seine Eltern wurden als Halbwüchsige aus Pommern vertrieben und heirateten später in der Sowjetzone. Als der Großgrundbesitz aufgeteilt wurde, kamen sie zu einer kleinen Landwirtschaft. Die Kollektivierung zehn Jahre später schmeckte Sigis Vater nicht. Er brachte die ganze Familie - Frau, drei Kinder und die Oma - in zwei Trupps mit der S-Bahn nach Westberlin. Sie landeten am anderen Ende Deutschlands und fingen wieder von vorn an. Sigis Eltern arbeiteten beide, es waren die Wirtschaftswunderjahre. Die Oma versorgte die Kinder, später kamen noch zwei dazu.
     Sie zogen oft um, von einer kleinen in eine größere Wohnung, aus dem Hochhaus in ein Eigenheim, dann in ein anderes mit noch mehr Land. Bei jedem Umzug fiel mehr Krempel an, den sie loswerden mussten. Einmal fuhr Sigis Vater ihn in den Wald und kippte ihn da auf den Boden. Nur dumm, dass ein Briefumschlag mit seiner Adresse dabei war. Die Forstverwaltung schickte eine Rechnung für die Müllbeseitigung.

"Nutze deine jungen Tage, lerne beizeiten, klüger zu sein." (Goethe) - Die beiden Ältesten gingen schon aufs Gymnasium. Gisela manipulierte gern den Fahrausweis für Bus und Straßenbahn. Um den Geltungsbereich ihrer Wochenkarte zu erweitern, besaß sie zwei Stammkarten, doch immer nur eine Wertmarke. Sie trug die Nummer einer Karte auf der Marke ein und radierte sie bei Bedarf aus, um sie durch die andere zu ersetzen, mehrmals in der Woche. Manchmal schöpfte ein Schaffner Verdacht, dann gab es Gezänk.

Sigi bastelte neben der Schule Kreuzworträtsel und bot sie erfolglos Verlagen an. Um die Portokosten niedrig zu halten, löste er Marken von den Umschlägen zugestellter Briefe und radierte die Stempelspuren sorgfältig weg. Dennoch kamen ihm die Spürhunde der Post auf die Schliche. Er zog sich aus der Schlinge, indem er alles auf Gisela schob - sie war noch nicht strafmündig.

Er war mein erster Freund am Gymnasium. Der flachsblonde Sigi imponierte mir vor allem dadurch, dass er reines Hochdeutsch sprach. Auch ich fing jetzt an, etwas wegzuradieren, die Reste meines heimatlichen Dialekts. Wir redeten jahrelang viel miteinander, wir sprachen dabei die gleiche Sprache. Dennoch verlief unser beider späteres Leben so verschieden wie nur möglich. Er ist Studienrat geworden und mir schon längst aus den Augen gekommen. Inzwischen muss er siebzig geworden sein.

 

14. Der kleine Patient

Wir warten alle auf unsere Tests, Infusionen oder Röntgenaufnahmen. Neben mir sitzt eine dreiköpfige Kleinfamilie. Der Junge dürfte fünf Jahre alt sein. Die beiden, die er seine Eltern nennt, reden nur Polnisch miteinander. Mit dem Kind spricht die Mutter Deutsch mit leichtem Akzent. Das Deutsch des Kleinen ist akzentfrei. Er spricht spontan und flüssig. Sein Vater redet nur selten mit ihm und wenn, dann auch in Deutsch. Wenn er ihn ansieht, drückt seine Miene verhaltene Freude aus.

Der Kleine ist recht hübsch und das, was man aufgeweckt nennt. Er ist lebhaft, ohne zu nerven. Die Mutter geht immer wieder auf ihn ein. Sie drückt ihn manchmal an ihre Brust und streichelt ihn. Aufkommende Unarten verweisen ihm beide Eltern sofort mit Nachdruck, doch ohne Strenge im Ton. Er gehorcht immer.

Einmal läuft er einige Meter weiter. Eine Patientin kommt gerade aus einem Behandlungszimmer und nimmt nichtsahnend seinen Platz ein. Er läuft zu ihr und protestiert lebhaft. Die Dame sucht sich lächelnd einen anderen Stuhl. Die Eltern machen dem Kleinen klar, dass das Bedürfnis der Dame Vorrang gehabt hätte. Sie erörtern den Fall noch eine Weile zu dritt. Es scheint, dass der Sohn vor allem zweierlei fürchtet: Die Familie könnte auseinandergerissen werden oder Vater oder Mutter müssten stehen.

Die Tür zu einem Behandlungszimmer steht offen. Der Kleine stellt sich in sie und fragt den Mann drinnen nach Krankheit und Behandlung aus. Der Mann soll zwei Spritzen in die Unterarme bekommen. Da zeigt der Junge die Pflasterverbände oberhalb der eigenen Handgelenke vor. Er gibt dem Älteren treuherzig Ratschläge, spricht ihm Mut zu. Alle rundum lächeln.

Eine Mutter kommt mit einem etwa vierjährigen Sohn, der still und teilnahmslos neben ihr verharrt. Der Polenjunge schaut immer wieder zu dem anderen hinüber. Der verhält sich ja wie ein großes Wickelkind – was ist mit ihm los?

Jetzt kommen zwei Bonbons zum Einsatz. Die Polin nimmt sie aus ihrer Handtasche, händigt sie ihrem Jungen aus und er findet die Idee gut, einen davon gleich dem Kleinen da drüben zu bringen. Er tut es und kehrt sofort zurück. Nun wickeln beide ihren Bonbon aus dem Papier und fangen an zu lutschen.

War das nun eine typisch polnische Erziehung? Jedenfalls finde ich, Szenen wie diese erlebe ich sonst viel zu selten.

 

15. Der gelähmte Verlobte

Auch Tante Alma wohnte in einem der älteren Reihenhäuser der Straße. Ihres und das meiner Großeltern waren nicht aneinandergebaut, es führte zwischen ihnen ein zwei Meter breiter Durchlass in den Garten der Tante. Den Abstand der Gebäude empfand ich als bezeichnend für die Verhältnisse: Tante Alma wahrte ihn auch.
     Ich glaube, Tante Alma war nur sehr weitläufig mit uns verwandt. Sie hielt sich tagsüber viel in ihrem großen und gut bestellten Garten auf. Den Blickkontakt vermied sie nach Möglichkeit, wenn einer von uns in ihrer Nähe erschien. Einen Gruß gab sie nur kurz und etwas muffig zurück und bückte sich gleich wieder über ein Beet. Sie trug stets weite, dunkle Sachen. Als ich Kind war, mochte sie in den Fünfzigern stehen.
     Zu anderen Malen kam es doch zu Gesprächen über den Zaun oder vor den Häusern. Dabei wurden die üblichen Themen behandelt, das Wetter, Blumen und Früchte des Gartens, mein Wachstum. Sie blieb meistens ernst und erschien fast immer etwas bedrückt. Wo andere lachen, huschte nur eine Andeutung von Schalk über ihr Gesicht. Tante Alma brachte - das drückte alles an ihr aus - ein lebenslanges Opfer. Sie haderte nicht mit uns, doch vielleicht mit dem Schicksal. Sie war allerdings entschlossen, sich treu zu bleiben.
     Ihre Geschichte war sehr einfach. In einer Kaufmannsfamilie in guten Verhältnissen aufgewachsen, lernte sie als heiratsfähig gewordene Frau einen ihr zusagenden jungen Mann kennen. Sie verlobten sich. Während der Verlobungszeit traten bei ihm erste Symptome einer allmählich fortschreitenden Lähmung auf. Tante Alma entschloss sich, die Verlobung nicht rückgängig zu machen. Sie heiratete ihn und wurde seine Pflegerin für Jahrzehnte. Fraglich, ob die Ehe vollzogen werden konnte. Zu meiner Zeit war der Gelähmte schon sehr lange nicht mehr berufstätig. Und Tante Alma sah aus wie eine in innere Glaubenskämpfe verwickelte katholische Nonne. Doch sie würde durchhalten, keine Frage.
     Sie lud mich damals einige Male zum Fernsehen in ihr Haus ein. (Meine Großeltern schafften sich erst später ein Gerät an.) Es war ausgerechnet die Serie "Soweit die Füße tragen". Den Herrn des Hauses - übrigens ein gescheiter, freundlicher, wenn auch stark leidender Mann - trugen sie schon lange nicht mehr. Sie betreute ihn noch weitere Jahrzehnte dort im Haus, bis zu seinem Tod. Etwas später siedelte sie in ein Altenheim über. Ich stelle sie mir als Witwe so vor: ernst bis zur Verdüsterung und mit diskreten Anzeichen von Stolz und Befriedigung. Da war ein starker Wille gewesen, der alles überwunden hatte.

 

 

16. Fischverkäufer wird Geheimagent

Das Geheimnis des Erfolgs liegt darin: Mehr scheinen als sein - und über kleine Peinlichkeiten lächelnd hinweggehen.

A. war eine Zeitlang mein Untermieter. Er sprach sich gern bei mir aus. Ich erfuhr so mehr über ihn als er über mich. Ich hörte aufmerksam zu, prägte mir viel ein, hielt manches schriftlich fest, als wäre ich ein Agent und hätte Berichte über ihn abzufassen. So war es aber nicht. 

Manches kam mir auch hintenherum zu Ohren, wie zum Beispiel das Folgende. A. machte einmal privat eine Bekanntschaft. Sie wechselten nur wenige Sätze. A. sagte zu dem Fremden, er sei Bankangestellter. Bald darauf ging jeder seiner Wege. Was A. nicht wusste: Der andere war beruflich nach Berlin gekommen, er war Generalvertreter einer bayrischen Molkerei. In dieser Eigenschaft besuchte er am Tag darauf das große Kaufhaus und kontrollierte, ob ihr Joghurt angemessen präsentiert wurde. Auf einmal erblickte er hinter dem Fischverkaufsstand den angeblichen Bankangestellten A. Sie grüßten sich von weitem. A. lächelte ungezwungen, worin er, wie ich wusste, viel Übung besaß. Als sie später wieder einmal aufeinander trafen, lachten sie über den kleinen Vorfall. Der Molkereimann hat ihn mir dann berichtet.

A. setzte alles daran, vom Fisch wegzukommen. Wie er an sich den Geruch hasste … Er blieb in der Lebensmittelabteilung und hatte nun vor allem mit Honig und Konfitüren zu tun. Zu solchen Produkten passte seine Art zu lächeln auch besser.

Das Kaufhaus veranstaltete eine Ungarische Woche mit Honig zum Schleuderpreis. Die Aktion war fast zu Ende, als eine empörte ältere Kundin sich an A. wandte: Da habe sie doch gestern im Honig aus Ungarn eine tote Biene gefunden! – Tatsächlich? Sie war tot? fragte A., um Zeit zu gewinnen, und fuhr fort: Ach, Sie haben sie gefunden – nein, so ein Pech! - Pech wolle sie das nicht gerade nennen, meinte die Kundin, es sei nur einfach ekelhaft: tote Tiere im Honig. – Und dann band er ihr den Bären auf, es sei ein Preisausschreiben gewesen. Wer die Biene, die einzige in all den Gläsern, gefunden hätte, hätte den ersten Preis gewonnen, ein Jahr lang jede Woche ein Glas Honig. Nur leider sei die Meldefrist schon gestern abgelaufen. Aber es würden bald wieder neue Preisausschreiben veranstaltet. Schauen Sie doch wieder einmal vorbei … Die Kundin wurde auf sich selbst ärgerlich: Sie hätte eher kommen müssen. Sie ahnte nicht, dass ihr da alles andere als Honig ums Maul geschmiert wurde. A. lachte, als er mir davon erzählte.

Er zog fort und kam mir aus den Augen. Jahre später traf ich ihn zufällig in einer Bar. Nein, er sei schon lange nicht mehr beim Kaufhaus, er arbeite jetzt für einen Geheimdienst. Es klang, als wolle er mir etwas anvertrauen. Welcher Geheimdienstler plaudert das sonst so offen aus? Ich habe ihn danach – nein, ich habe ihn weder hinter einem Bankschalter noch als Kellner in einem Fischrestaurant entdeckt. Schon möglich, dass er tatsächlich ein Schlapphut geworden ist. Und in diesem Fall war die Versuchung, mir darzulegen, er sei mehr als er sonst scheine, wohl zu groß für ihn gewesen.

Man lügt nicht aus Spaß am Lügen, wenn man nicht gerade krank im Kopf ist. Man lügt unter anderem, um sich Geltung zu verschaffen. Und zu diesem Zweck gibt man auch einmal die Wahrheit preis, selbst wenn es unter anderen Gesichtspunkten ein Fehler ist. (Diskretion war noch nie meine Stärke.)

 

17. Taxi ... Taxi!

Nachts um halb drei im Hamburger Westen. Ich döse auf dem Rücksitz, wir kommen zügig voran, kaum Verkehr auf den Straßen. Der Taxifahrer versucht, mir ein Gespräch aufzudrängen. Er ist lange nicht so müde wie ich. Er glaube, sagt er, die Rombergstraße sei nach einem schlesischen Adelsgeschlecht benannt. Von dieser Familie habe ich noch nie gehört, ihm scheint sie am Herzen zu liegen. Und ich bin wieder herzlos und kläre ihn auf: „Nein, das waren Hamburger Ratsmusikanten in der Barockzeit.“ Plötzlich eine Vollbremsung, mein Kinn am Vordersitz. „Da, da, haben Sie das gesehen – wie er mich geschnitten hat, kam plötzlich von rechts aus dem Dunkel, dieser Beknackte …!“ Der also Bezeichnete - natürlich ein Radfahrer, wir sind ja in Eimsbüttel – ist schon im Dunkel verschwunden. Es kann hier sehr finster sein.

Dieselbe Strecke, dieselbe Uhrzeit, irgendwann in jenen Jahren … Meine Taxifahrerin heute ist mehr als spröde. Meinen Gruß beim Einsteigen lässt sie unerwidert und sagt auch kein Wort, als ich das Ziel genannt habe. Sie fährt sofort los, Richtung Lombardsbrücke, mit gesträubtem Nackenhaar. Im Rückspiegel kann ich ihr Gesicht betrachten: Da ist nur eisern schweigende Ablehnung. Ich sehe ja ein, dass es eine Zumutung ist, einen Mann fahren zu müssen, und noch dazu einen wie mich … Die Großstadtbevölkerung besteht aus lauter einzelnen Stämmen, und sie sind einander feindlich gesinnt. Sie fährt wie von Furien gehetzt, und wir sind in Rekordzeit in meiner Straße angekommen. Die Fahrerin überlässt es mir, den Zahlbetrag selbst vom Taxameter abzulesen. Sie wendet sich nicht einmal um, als ich das Geld abgezählt nach vorn reiche. Hier ist nichts geschehen, nur die allgemeine Unverbundenheit ins Extrem gesteigert worden.

Ein anderes Mal wird es dafür richtig erotisch, nur dass ich wieder viel zu müde bin. Er ist noch sehr jung, ein bisschen zu geschmackvoll angezogen. Schon beim Einsteigen spüre ich den Strom zwischen uns. Er sagt das Übliche, aber wie er es sagt! Er ist elektrisiert und will mir zugleich zeigen, wie gut er drauf ist, wie gut er fahren kann. Er fährt daher, obwohl tief in Gedanken, hochkonzentriert - Gott sei Dank, denn er ist auch schrecklich nervös. Meistens nur eine Hand am Lenkrad und die andere auf dem Oberschenkel gespreizt auf- und abwippend. Wir sind schon da, schade. Wir sagen nur das Übliche, aber wie wir es sagen …

Hier im Kurort, wo ich seit langem lebe, hält das Taxigewerbe andere Überraschungen bereit. Da kann es vorkommen, dass die Dame in der Zentrale sagt: Ja, ja, der Wagen kommt – er kommt aber nicht. Und mein Zug geht in sechs Minuten! Also rufe ich wieder an und höre: „Ach Gott, sie wollten zum Bahnhof, ich habe es andersrum verstanden …“ Mein Taxi wartet also dort auf mich, wo ich erst hin will.

Hier ein Taxi zu bestellen, verschafft einem ohne Aufpreis noch etwas Nervenkitzel: Kommt es und kommt es auch rechtzeitig? Aus Schaden klug geworden, warte ich daher meist vor dem Haus und sehe die Straße hinunter. Immer noch nichts in Sicht – und dann kommt ein außergewöhnliches Gefährt, ein Uralt-Opel, der jedes Veteranentreffen zieren würde. Aber ich will stattdessen schnell zum Bahnhof. Dumm, wenn ich dann in dieser Kalesche sitze und der Motor nicht wieder anspringen will. Der Fahrer steigt aus und versucht seine Tricks …

Ich habe mir einen Rollkoffer gekauft und gehe zu Fuß zum Bahnhof. Wenn ich die stillen Straßen passiere, hört es sich an wie Panzerkettengerassel.

 

18. Auch ich war mal im Keukenhof

(Aus einem alten Tagebuch)

 

Am Mittwoch folgte ich Jans Rat, zum Keukenhof zu fahren. Leider vertraute ich mich dazu einem Reisebüro am Damrak an. Wir wurden in einem alten und langsamen Bus über Haarlem nach Lisse verfrachtet. Mag sein, dass ich seiner übertriebenen Klimatisierung die Erkältung verdanke, an der ich noch immer laboriere.

Der Bus klapperte und die Fremdenführerin klapperte auch. Fortgesetztes Stoßgebet: Wenn sie doch nur zehn Minuten still wäre! Aber sie hielt es mit Tucholsky und dessen Ratschlägen für einen schlechten Redner: „Wenn einer spricht, müssen die anderen zuhören – das ist deine Gelegenheit! Missbrauche sie …“ Es war goldiger Blödsinn. In Amsterdam: „An Ihre rechte Hand sehen Sie eine Fabrik für Kölnisch Wasser – und jetzt an Ihre rechte Hand einen Gasometer.“ In Haarlem gab es „an Ihre linke Hand“ einen hässlichen Backsteinbau. Sie wies uns darauf hin, dass dies eine Höhere-Töchter-Schule sei und verbreitete sich nun über die allgemeine Schulpflicht.

So wurde die „Grand Flower Tour“ zur Stilblütenrallye. Unterwegs wurden wir in Vogelenzang genötigt, bei einem „Züchter“ auszusteigen – wir sollten dort Blumenzwiebeln bestellen. Wir kamen viel später am Keukenhof an, als ich gedacht hatte. Gerade eine Stunde blieb uns für den großen Park, der so intensiv durchgestaltet ist. Mir wurde rasch klar, dass Blumen nicht im Vorbeigehen angesehen werden wollen. Ich riskierte, zu spät zur Rückfahrt zu kommen, und blieb gelegentlich ein oder zwei Minuten still vor einer Gruppe von Kaiserkronen oder einem Beet Hyazinthen stehen.

Keukenhof ist eines der wenigen großen Touristenziele, die mich nicht enttäuscht haben. Die Ausstellung ist wie Musik, sagen wir eine Sinfonie von Mozart, voller Freude, Lust und Beschwingtheit. Einen ganzen Tag hätte man dort verbringen, jeden Teil der Riesenkomposition staunend genießen sollen. Ach, es war uns nicht vergönnt …

 

19. So was von peinlich

In einer Harzer Pension schwebt über dem Frühstücksbüfett unübersehbar ein Zettel mit folgender Bekanntmachung: Aus gegebenem Anlass weisen wir darauf hin, dass die hier angebotenen Speisen nur für das Frühstück im Hause gedacht sind. Wenn Sie sich trotzdem damit auch noch verproviantieren wollen, müssen wir Ihnen ein zweites Frühstück in Rechnung stellen!

Der Gast schämt sich ein wenig für diese Unverschämten und fragt sich: Werde ich am Ende auch verdächtigt? Wie leicht kann es da zu Missverständnissen kommen …

Dann erinnert er sich an einen Zwischenfall, der einmal ein grelles Licht auf das gelegentlich gespannte Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber geworfen hat. Er hatte eine Kollegin nach ihrem Urlaub gefragt: Waren Sie zufrieden in Oberbayern? – An sich schon, Herr Abendschön … Wenn es nur nicht diesen Missklang gegeben hätte – nein, so schön es sonst war, diese Ferienwohnung nehmen wir bestimmt nicht mehr! – Was hat es denn dort gegeben? – Sie wissen doch, fährt die Kollegin fort, uns hat eine Freundin begleitet, mit uns den Urlaub in M. verbracht. Mein Mann und ich, wir hatten die Ferienwohnung und sie ihr Zimmer in einer Pension am Ort. Nun ist die Freundin oft tagsüber bei uns gewesen, und eines Tages klingelt es Sturm an der Wohnungstür – die Vermieterin unangemeldet. Beschuldigt unsere Freundin, illegal die Wohnung zu nutzen! Und wir hätten bei Vertragsabschluss falsche Angaben zur Personenzahl gemacht. Eine Person mehr hätte pro Nacht sechs Euro zusätzlich gekostet … Wir haben sofort richtig gestellt und sie hat sich etwas lahm entschuldigt. So was von peinlich!

Tja, liebe Gastgeber, seid misstrauisch und wachsam, aber nicht übereifrig.

 

 

20. Angst vorm Ertrinken

Erinnern wir uns …

Damals, zum ersten Mal im Salzkammergut … Ja, da war der Traunsee …Wir nahmen ein Elektroboot, fuhren weit hinaus und als Nichtschwimmer hattest du große Angst vorm Kentern und Ertrinken. Und … Nichts und! Mehr gibt die Erinnerung nach Jahrzehnten nicht her. Alles andere verschwunden, ausgelöscht.

Dann fischst du den Ordner mit dem alten Tagebuch aus dem Aktenschrank und liest nach. Und da steht, mit blauem Kugelschreiber hastig heruntergeschrieben:

Heute vor vier Wochen hatte er morgens in Vöcklabruck zu tun gehabt. Er nahm mich mit und setzte mich in Gmunden ab. Ich spazierte den Traunsee entlang zum Schloss Orth. Zum ersten Mal im Salzkammergut! Bis wir uns in dem Café im alten Rathaus trafen, hatte ich noch Zeit, die schöne Pfarrkirche zu besichtigen. Er brachte mich am Nachmittag nach Traunkirchen. Ich bestieg den Johannisberg, während er nach Altmünster zurückfuhr, um noch eine Besprechung zu führen. Eine Stunde später war er wieder da, und wir nahmen ein Elektroboot. Es war ein wunderschöner Tag, wir hatten den See ganz für uns allein. Der Traunstein, dieser massige Berg am anderen Ufer, zeigte von jeder Ecke des Sees eine völlig andere Silhouette …

Nur ein Tag in der Vergangenheit – und nun vergleiche man, was von ihm im Orkus des Vergessens schon verschwunden war: Schloss und Café, Pfarrkirche und zwei Berge, dazu das Hin und Her zwischen Freizeit und geschäftlichen Besprechungen. Unsere Erinnerung ähnelt gewöhnlich einem stark verstümmelten Datensatz auf einem Monitor. Wohl dem, der eine Sicherungskopie hat.

Andererseits: Misstraue auch dem Niedergeschriebenen. Selbst der alte Text ist nicht nur getreuer Spiegel, auch er verfälscht. Aus den ambivalenten Gefühlen während der Bootsfahrt macht er einen wunderschönen Tag, so glatt wie die Oberfläche des Sees, in dem du in Wahrheit damals zu versinken fürchtetest.

Seine Erinnerung allmählich zu verlieren, das ist auch eine Art zu ertrinken.

 

21. Wackrer Meister tot

Es war an der Oberelbe … Halt, das muss ich erklären: Von Dresden aus gesehen meint Oberelbe: Pirna, Bad Schandau, Sächsische Schweiz – und von Hamburg: Geesthacht, Lauenburg, Bleckede. Ich bin also zu Fuß an dieser unteren Oberelbe unterwegs. Es riecht stark nach Süßwasser, Gras und Laub. Artlenburg ist ein adrett-behäbiges Dorf am Flachufer, gegenüber der bewaldete Steilhang. Ich habe mir die alte Kirche schon angesehen und suche den Zugang zum Deich.

Als ich um die Ecke biege, nimmt ein Lastauto fast die ganze Straßenbreite ein, es ist ein Wagen der Sperrmüllabfuhr. Dann ein schepperndes Geräusch. Im Weitergehen entdecke ich den Arbeiter, dem beim Hochwerfen von allerlei Krempel etwas zu Boden gefallen ist. Mein Blick tastet den Asphalt ab und bleibt an etwas Gerahmtem hängen. Vom Text hinter Glas kann ich nur die Großbuchstaben entziffern: MEISTERBRIEF. Der verwendete Schrifttypus war in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts beliebt.

Was mag er gewesen sein: Fleischermeister, Glasermeister, Friseurmeister? Heute nennen sich einige Fernsehmeister … Wie viel Mühe hat ihn der Meisterbrief gekostet? Erst Lehrling sein, vermutlich auch damals kein Zuckerschlecken, selbst wenn er Konditor gelernt haben sollte, dann Jung-Geselle, Alt-Geselle, endlich der Meisterkurs – so viele Stationen, die absolviert werden wollten. Er wird beim Erreichen einer Stufe jeweils erleichtert gewesen sein, am Ende bestimmt auch etwas stolz.

Junge Meister heiraten gern in ältere Betriebe ein – und versuchen, selbst nicht in die Lage ihrer Vorgänger zu kommen. Der Meister will immer einen Meistersohn zeugen und sich ihn als Nachfolger großziehen. Der Meister und die Meisterin haben daher gewöhnlich zwei Söhne, zur Sicherheit. Diesem hier scheint es nicht geglückt zu sein, entweder das Zeugen oder das Großziehen. Wie roh, wie pietätlos: das Dokument seiner Bewährung von den Erben für überholt und künftig nutzlos erklärt. Auf den Kehricht damit. Eine Lebensleistung dem Vergessen anheimgegeben. Und an anderen Häusern prangt noch das Ehrenschild im Giebelfeld, wenn einer mal Schützenkönig war - 1884! Das Leben ist ungerecht. Und das ist eine Phrase.

Ich gehe weiter und höre es dann hinter mir klirren. Blicke mich noch einmal um: Die schützende Glasplatte war beim Herabfallen zerbrochen, Dutzende von Fragmenten und Splittern sind beim Wiederaufheben aus dem Rahmen gefallen. Der Arbeiter hat viel Mühe, den Glasbruch aufzusammeln und dem ruinierten Meisterbrief und dem übrigen Geraffel hinterherzuwerfen. Mit seinen Händen in ihren dicken Schutzhandschuhen fegt er immer weitere Bruchstücke auf dem Asphalt zusammen. Dann reicht es ihm – er gibt dem Fahrer ein Zeichen: Weiter! Es wartet ja noch so viel anderer Schrott vor den Türen der Leute.

Ein Schulfreund von mir zitierte gern das folgende Sprüchlein: Wo die Pfuscher haben Brot / Leiden wackre Meister Not …Oder sie nähren sich redlich und sind irgendwann tot und vergessen.

 

22. Demenz schockiert

Morbus Alzheimer oder andere Formen der Altersdemenz äußern sich oft in spektakulärer Weise, fast möchte man sagen: bühnenreif. Doch der überraschte Zuschauer weiß, dass er es gerade nicht mit einer brillanten Leistung zu tun hat. Dieser Auftritt ist in Wahrheit Teil eines Abtritts von der Bühne des Lebens. Wenn die Umnachtung einsetzt, wird die Szene ab und zu durch grelle Blitze erhellt. Leider ist es nicht der Geist, der da noch einmal aufleuchtet. Es sind Kurzschlüsse, die uns frappieren.

Eine Firma nahm frühere Kollegen mit auf den Betriebsausflug, darunter einige Rentner über siebzig. Der Tag verlief bis in den Nachmittag hinein wie geplant. Es wurde Kaffee getrunken und die Belegschaft löste sich in kleine Gruppen auf. Man ging spazieren. Auf einmal begegnete der noch aktive X mit seiner Begleitung am Waldrand dem Rentner Y. Sie hatten jahrzehntelang zusammen gearbeitet. Y hatte vorhin alle bloß en bloc begrüßt, er schien noch recht mobil zu sein. Jetzt trat er allein zwischen den Fichten heraus, er war verwirrt. Er fragte: „Wer sind Sie? Und wo bin ich?“ So ist wahrer Schrecken beschaffen.

Abendschöns letzter Besuch bei seiner Großmutter verlief so: Er, der einzige, geliebte Enkel, klingelte am Weihnachtsmorgen an ihrer Haustür. (Er war für einige Tage aus Hamburg gekommen und wohnte im Haus der Eltern.) Die Großmutter öffnete und zeigte sogleich ein ihm noch unbekanntes Gesicht, misstrauisch, abweisend: „Was wollen Sie?“ - „Ja, erkennst du mich denn nicht?“ Nicht einmal am Klang der Stimme identifizierte sie ihn. „Wer sind Sie?“ Da nannte er ihr seinen Vornamen. Endlich begriff sie. Er hatte sie zuletzt genau ein Jahr davor besucht und sich seitdem kaum verändert. Nur mit seinem Namen verband sie noch Erinnerungen. Er wusste, sie hatte den Heiligen Abend bei einer ihrer Schwestern verbracht, und fragte sie danach. Sie sah ihn erneut voller Misstrauen an. Auch die Erinnerung an den Vorabend war ihr schon vollständig entschwunden. Nein, sagte sie, sie sei nirgendwo gewesen. Es war ihre letzte Weihnacht.

Tucholsky erzählt irgendwo von einem früheren Präsidenten Spaniens, dem gegen das Ende hin sogar der Name seines Landes entfallen war. „Sagen Sie“ fragte er seine Ärzte, „wie hieß das Land, dessen Präsident ich war?“

Nicht erst der Tod, schon die Demenz macht die Menschen weitgehend gleich. Wenn wir uns eine Reihe von Demenzkranken vorstellen, sehen wir einen modernen Totentanz vor uns.

 

23. Zu heiß für Eis

Die Szene ist in ***, einer Kleinstadt gleich hinter der östlichen Berliner Stadtgrenze. An der Hauptstraße nimmt ein Eiscafé das ganze Parterre eines neuen großen Eckhauses ein. Drinnen wie draußen viele Tische, die Mehrzahl besetzt, doch einige noch frei. Hinein! Wir zwei lechzen nach Erfrischung und studieren, Platz genommen, die Eiskarte. Dann warten wir auf die Bedienung.

Nach zehn Minuten winkt uns die Serviererin von ferne freundlich zu: Komme gleich. Man weiß, was das bedeutet: Kann noch ein Weilchen dauern. Immerhin ist erst eine Viertelstunde vergangen, als sie an unseren Tisch tritt und den Bestellblock zückt. Nach diesem Vorspiel geht es richtig los, ich sage:

Für mich bitte ein Spaghettieis … Sie unterbricht mich sofort sehr entschieden: Nein, das stellen wir bei der Wärme nicht her. – Sonderbare Begründung, die ich noch nie gehört habe, und es sind nicht mehr als fünfundzwanzig Grad. Liegt’s vielleicht am Preis? Das Spaghettieis gehört zum Billigsten auf der Karte. Ich bestelle den etwas teureren Eierlikörbecher – das wird sogleich akzeptiert – und einen schwarzen Tee, womit ich erneut ihren Widerspruch herausfordere: Aber was wollen Sie denn bei der Wärme mit heißem Tee?! – Davon dass man Hitze mit Hitze bekämpfen kann, scheint sie noch nie gehört zu haben. Oder ist es wieder nur eine Preisfrage? Ich sage, leicht verärgert: Also, wenn hier alles nur Probleme macht, dann sind wir vielleicht im falschen Lokal?! – Sie, schon etwas heftig: Ach, ich mein`s doch nur gut, wegen der Wärme … Und leicht gallig fügt sie hinzu: Sie werden doch Spaß verstehen. – Es wird sich noch herausstellen, wem der Spaß zuerst vergeht. Mein Begleiter, Besuch aus Hamburg, hat mit seiner Bestellung keine Probleme. Sie zieht ab, Richtung Tresen.

Und dann warten wir. Und warten. Und warten. Wir haben den Tresen ständig im Blick. Da arbeiten mehrere Angestellte. Oder vielmehr: Meistens arbeiten sie nicht, zumindest nicht an unserer Bestellung. Nach einer weiteren halben Stunde beschweren wir uns. Nun kommt eine andere Bedienung, zückt ihren Bestellblock und das Spiel soll noch mal beginnen. Da gehen wir lieber.

Draußen stellt mein Begleiter dann die für den Westler naheliegende Verbindung zur DDR-Vergangenheit her. Er ist früher wiederholt drüben gewesen und hat da seine Erfahrungen mit Eiscafés gemacht. Zu warm für Spaghettieis, dummdreist sei das, ganz wie früher! Aber ich wehre ab, ich hätte in Amerika mal was Vergleichbares erlebt, in einem Seebad nicht weit von New York, abends in einem Restaurant. Ich wollte keines ihrer Riesenfleischgerichte und wagte es, stattdessen ein Omelett zu bestellen, das auch auf der Abendkarte stand. Sie lehnten mit der Begründung ab: Wir haben keine Eier mehr. Um den Gast zu gängeln, um mehr Umsatz zu machen oder weniger Arbeit zu haben, ist keine Ausrede zu primitiv. Das ist keine Systemfrage.

 

 

24. Die Wanze am Körper

„Die Fahrausweise …!“ Sie hat nicht bitte gesagt. Oder doch? Ich lese weiter, sie ist erst am Wagenanfang und mein Platz in der Mitte. Langsam arbeitet sie sich vor, ich fingere schon mal Onlineticket, Kreditkarte und Bahncard heraus, halte alles in der Linken bereit. Aber dann gibt es eine Stockung …
     „Sie haben keinen Fahrausweis?“ – „Nein, die Zeit war zu knapp.“ Die andere ist der Stimme nach eine junge Frau. Sie sitzt genau hinter mir, ich kann sie nicht sehen.
     „Dann sind Sie also ohne Fahrausweis im Zug. Das heißt …“ – „Ich löse nach, natürlich.“ – „Ist bei uns nicht mehr möglich – das sollten Sie schon wissen …“ Dann eine Pause, ich muss an zwei Fechter denken, Angriff und Parade – und was dann?
     „Dann brauche ich Ihren Personalausweis.“ – „Ich hab keinen dabei.“ – „Sonst irgendein Dokument, Führerschein oder was anderes?“ – „Nichts.“ – „Sehen Sie doch mal in Ihrer Tasche nach.“ – „Nein, da ist auch nichts.“ – „Sie schauen ja nicht mal rein … Also müssen wir’s anders machen. Sie bleiben hier am Platz.“
     Unmittelbar danach die Durchsage: Ob ein Polizist im Zug sei, er möge in Wagen sechs kommen. Die Zugbegleiterin scheint fest mit ihm zu rechnen und während sie auf ihn wartet, kontrolliert sie gegenüber andere Fahrgäste. Ich kann die Angestellte aus dem Augenwinkel sehen. Sie hat alles unter Kontrolle, auch die ohne Fahrausweis hinter mir.
     Der Bundespolizist kommt flott heran. „Die da?“ – „Die da.“ – „Ihren Ausweis, bitte.“ – „Hat sie angeblich nicht“, sagt die Angestellte und dann liegt auf einmal etwas wie Triumph in ihrer Stimme: „Sie hat aber ein Handy dabei.“ – „O, das ist gut, das ist viel besser als ein Ausweis. Ein Handy – das ist die Wanze am Körper.“
     Und dann geht das Theater weiter. Die junge Frau sagt, ihr Handy funktioniere gerade nicht. Die Angestellte hat vorhin was anderes gesehen: „Schalten Sie’s schon ein …“ – „Na, also“, sagt der Polizist, „geben Sie es mir, bitte.“ Er hat bitte gesagt und scheint jetzt das Gerät zu bedienen. Kurz darauf: „Soweit sind wir dann schon. Jetzt kommt Harburg, sie steigen dort bitte mit mir aus. Die Formalitäten erledigen wir oben.“
     Auf dem Bahnhof kann ich die beiden durch das Zugfenster sehen. Die junge Frau: eine unauffällige Erscheinung, wie sie jetzt neben ihm die Treppe hinaufgeht, ausdruckslos. Wie irgendein Haustier, kommt mir in den Sinn, das ausgebrochen war und nach einem Betäubungsschuss die Rampe des Transporters hinaufgeschoben wird.

 

25. Versprecher der Woche

Ja, ich gebe es zu, wenn auch ungern. Man soll es nicht tun, es ist eine schlechte Angewohnheit. Das ist nun mal so: Ich schaue beim Abendessen fern – jetzt ist es raus. Zu allen anderen Zeiten beinahe TV-abstinent, ziehe ich ins Wohnzimmer um, sobald alles vorbereitet ist, die Schnittchen, der Ostfriesentee … und das Obst abgewaschen. Was sehe ich mir beim Essen an – Nachrichten, regionale Magazine. Ich überzeuge mich so davon, dass die Außenwelt noch existiert, ganz unabhängig von mir und meinem Treiben. Das ist sehr beruhigend - meistens. Doch vorgestern hätte ich mich beinahe verschluckt …
    Das Magazin, das ich gerade eingeschaltet, war fast zu Ende und der Moderator – jung, blond, sympathisch - warf nur noch den obligatorischen Blick aufs Programm des folgenden Tages. Mit bedeutungsvoller Miene sprach er aus, worum es dann gehen sollte: bedingungsloses Grundeigentum. Dann war er vom Bildschirm verschwunden.
     Wie bitte? Bedingungsloses Grundeigentum? Ach, wär das schön: jedem seine Finca auf Mallorca, sein Penthouse in Schwabing, und alles ohne Voraussetzung oder lästige Konsequenzen – bedingungslos? Aber gern, mit mir jederzeit. Und bitte nichts mehr von Mietpreisbremse oder Vermögensteuer. Na ja, natürlich ging es bei Götz Werner dann doch nur ums bedingungslose Grundeinkommen.
     Nur ein lustiger Versprecher? Oder vom Teleprompter falsch abgelesen, vielleicht ohne die Bedeutung des wahren Begriffes zu kennen? Sie werden es ihm nachher erklärt haben. Und dann wird er leise oder laut geübt haben: BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN – BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN – BEDINGUNGSLOSES GRUNDAUFKOMMEN – BESINNUNGSLOSES GRUNDAUFKOMMEN - BESINNUNGSFREIES GRUNDABKOMMEN … Oder wie jetzt noch mal? Bis morgen muss das aber sitzen!

 

26. Homophob, aber sonst gut erzogen

Ich muss zum Bahnhof Friedrichstraße, ich werde die U-Bahn nehmen. Auf der Station unten läuft gerade ein Zug ein, schnell hinein! Aber da streitet ein Trio in der Tür, es sieht bedrohlich aus. Ein ganz Junger zetert, die beiden um die dreißig knurren - wenn sie nur nicht aufeinander einschlagen. Nein, der eine bleibt drinnen, die anderen verlassen die Bahn. Die beiden könnten Männer aus dem Süden oder Südosten sein, Migranten oder deren Söhne oder Touristen, was weiß ich. Jetzt aber in die U-Bahn!

Der Junge beugt sich an mir vorbei auf den Bahnsteig hinaus und schreit den Weggehenden hasserfüllt etwas nach: „Ihr Schwuchteln!“

„Du, hör mal“, sage ich so laut, dass die Umsitzenden es mitbekommen, „ich will das nicht hören. Ich bin selbst schwul und du hast auch mich beleidigt.“

„Sie haben in der Bahn geraucht, da haben wir gestritten“, sagt der Junge. Und dann: „Aber ich weiß, man sagt das nicht.“ Er kann Oberschüler sein, kurz vor dem Abitur, Kind deutscher Eltern, proper angezogen.

Er steigt schon eine Station weiter aus und an mir vorbeigehend entschuldigt er sich: „Tut mir leid.“ – „Ist schon in Ordnung.“ Ich frage mich danach, ob er tatsächlich bereut oder ob ihm nur die Bloßstellung peinlich war. Ehrlich gesagt, in seinem Affekt fand ich ihn überzeugender. Da war er ganz bei sich, nach dem treffendsten Schimpfwort suchend, dem, das am meisten verletzen muss, seinem Gefühl nach. Nachher gab er eher den Musterschüler, der schon weiß, was sich gehört.

Und die Umfragen? Sie glänzen mit ihren Ergebnissen, sprechen für Akzeptanz und Toleranz in hohem Grad. Ich misstraue ihnen. Da werden vermittelte Kenntnisse abgefragt und die erwarteten Antworten prompt geliefert, pflichtschuldig und fast mechanisch. Doch im gleichen Atemzug verschließen sich Herz und Hirn des Befragten – und öffnen sich wieder im Zorn.

Aber Sie werden doch nicht bestreiten, dass … Die Entwicklung der Gesellschaft ist weiter als … Wer’s glaubt.

 

27. Ein Brief aus besonderem Anlass

Hallo Michael!

 

Ich sehe schwarz für diesen Text. Die Vorzeichen sind sehr ungünstig, doch nichts kann mich aufhalten. So fest entschlossen war ich noch nie. Diese Nachricht wird geschrieben, da kenn ich nichts. Warum? Genau weiß ich das selbst nicht. Es steht eben auf meinem Zettel, schon länger, aber … Ich muss das doch wohl nicht begründen?!

Als Lohn für die Mühe wartet da drüben mein Bett. Ich hoffe bloß, dass ich nicht vorher auf dem Stuhl einschlafe. Sicherheitshalber halte ich die Zigarette bereit, an der ich seit gestern rauche. Hier hat ein gewisser Kevin sie versehentlich liegen gelassen (noch einer aus unserer Abiturklasse!). Muss ich ihm jetzt dafür dankbar sein? Heute ist übrigens der 10. Februar und ich will gar nicht wissen, wie spät es schon wieder geworden ist: zwei Uhr sechsunddreißig in der Nacht.

Was wird heute sonst noch sein? Ich weiß nicht - vermutlich gar nichts. Am besten, wenn ich den Tag verpenne, aufstehen lohnt ja nicht. Das Gute an meiner Lage: Ich brauche nicht zu befürchten, irgendwas zu versäumen. Nur wenn ich Pech habe, holt mich wieder ein ungebetener Gast aus dem Bett, wie gestern. Schulfreunde sind wir gewesen? – Glaubt er vielleicht.

Dabei sehne ich mich schon lange nach Abwechslung, ein Wunsch, der viel zu selten wahr wird. (Könnte zum Teil an mir liegen.) Doch ab nächsten Montag ist für mehr Stress gesorgt als mir lieb sein kann. Ich lasse mich dann sechs Wochen lang ausbeuten – immer noch besser als die Semesterferien zu Hause rumzuhängen. In der Stunde sollen zehn Euro zwanzig für mich drin sein, brutto. Den Job bekam ich, indem ich zwei Trümpfe ausspielte: meine Programmierkünste und das eine unbezahlte Praktikum. Tja, mit so was kann man punkten. Die Stelle ist mir sicher, nur der exakte Stundenlohn noch nicht ganz, haha … Na ja, die paar Mäuse sanieren mich auch nicht, und vielleicht verlerne ich bis dahin das Programmieren wieder.

So, nun ist es endlich soweit - ich kann mich gleich aufs Ohr legen. Es bleibt mir nur noch, auf „Senden“ zu klicken und die Mail dann abzuhaken.

 

Sven

 

P.S. Jetzt fiel mir wieder ein, warum ich diesen Brief schrieb. Der Anlass war dein Geburtstag. Ich wollte auf keinen Fall versäumen, dir für die nächste Zeit Zum-Teufel-noch-was-denn-eigentlich zu wünschen.

 

 

28. Nichts passiert

Wie komme ich dazu, in Hohenschönhausen Kaffee zu trinken? Recht einfach, mit der Bahn. Sie hat mich vom Land zurückgebracht und dies ist der erste Bahnhof in Berlin. Nachher gehe ich in der Nähe spazieren, sehe mir die monumentalen Wohnblocks an, das viele Grün um sie herum. Dann stehe ich schon am Rand. Da ist eine Endschleife der Straßenbahn und in ihr ein China-Restaurant, das ich mir fürs Abendessen vormerke.

Ich streife einige Zeit durch die freie Landschaft. Es gibt einen großen See und einen kleinen Wald und vor allem ungenutzte Flächen, in denen Bäume und Büsche nach Lust und Laune wachsen dürfen. Es ist später Samstagnachmittag, der Tag vor der Walpurgisnacht. Die Sonne scheint intensiv, doch es weht zugleich ein kalter Wind aus Nordost. Der Landschaftspark ist recht belebt, die meisten vermutlich aus dem Stadtteil. Die Atmosphäre ist friedlich, sehr entspannt. Kein Lärm, keine Vermüllung. Normalität kann so angenehm sein.

Ich nähere mich wieder den Häusern. Es ist noch zu früh, essen zu gehen. Ich könnte doch woanders hinfahren. Die Straßenbahn geht in zwei Minuten. Der Zug wartet für mich unsichtbar hinter Gebüsch. Die Haltestelle ist vom vielen Grün förmlich eingepackt. Von weiter abgelegenen Wohnblocks kommen bloß die oberen Etagen ins Blickfeld. Nur ein junger Mann wartet schon, er sitzt im Wartehäuschen, ich bleibe außerhalb stehen.

Dann kommt noch einer. Ich sehe kurz hin: Bei dem eisigen Wind geht der mit bloßem Oberkörper … Er wird höchstens fünfundzwanzig sein. Ich beachte ihn nicht weiter, stehe acht oder zehn Meter von ihm entfernt. Allmählich dringt mir ins Ohr, dass er unaufhörlich redet, sonderbar brabbelt. Hat wohl etwas geschluckt. Was sagt er da, meint er mich? Ich sehe bewusst nicht hin.

Jetzt steigt er ins Gleisbett, bückt sich nach Steinen. Er bricht die Aktion schon ab, geht ins Häuschen und beginnt, mit voller Wucht gegen die Plexiglaswände zu treten. Er probiert, ob er sie eintreten kann. Es misslingt. Er brabbelt weiter und meint jetzt doch mich: „Mit dir kann man gar nichts anfangen!“ Dann steigt er wieder ins Gleisbett, wählt einen Stein aus. Der andere junge Mann ruft ihm zu: „Mach keinen Scheiß!“ Der Schotterstein fliegt in meine Richtung. Er hat nicht auf meinen Kopf gezielt, nur auf die Füße – der Stein bleibt einen halben Meter vor mir liegen. Ich könnte das für ein Spiel halten, hätte er nicht eben Wände eintreten wollen. Ruhig bleiben, die Tram kann jeden Moment kommen.

Und sie kommt und zugleich noch ein dritter junger Mann. Es ist ein Trio, das die Walpurgisnacht drinnen in der Stadt feiern will. Dem einen von ihnen will ich lieber nicht wieder begegnen, und schon gar nicht zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens auf einem U-Bahnhof. Muss ich ja auch nicht. Aber andere vielleicht.


 

29. M 29

Die richtige Bushaltestelle zu finden, ist nicht einfach – am Hermannplatz gibt es so viele. Es ist die an der rückwärtigen Schmalseite von Karstadt, am Anfang der Urbanstraße. Die Linie M 29 fängt hier an. Kommt der Doppeldecker aus der Wartestellung, heißt es: möglichst als Erster hinauf und nach vorn auf einen der Logenplätze. Ich ergattere den idealen, den über dem Fahrersitz. Von hier hat man den besten Blick in den Straßenraum vor einem.

Hinter mir drängt eine Mutti mit zwei Buben nach. Die Kleinen nehmen die Doppelbank rechts vorn, die Mutter schräg dahinter. Sie palavern über alles Mögliche, auch über den Verein, wo die beiden Fußball spielen. „Wie feuert ihr eure Mannschaft immer an?“ fragt Mutti etwas unbedacht. Bald braust der Schlachtruf wie Donnerhall durchs Oberdeck, immer wieder. Zum Glück steigen sie bald aus.

Die erste Viertelstunde ist schon die eindrucksvollste. Der Bus fährt drei Blocks die Neuköllner Sonnenallee hinunter, biegt dann links ab und überquert den Landwehrkanal, fährt in Kreuzberg weiter, unter der Hochbahn durch und die von so vielen Restaurants gesäumte Oranienstraße entlang. Es ist ein bisschen wie 3D-Kino, das einen ins frühe 20. Jahrhundert zurückversetzt. Geschlossene Altbaufronten mit vier, fünf Stockwerken kommen permanent auf einen zu, ein Bild, wie es sich nur an wenigen Punkten in Europa so noch bietet. Dabei ist es eher die schiere Masse, die einen beeindruckt, weniger die Schönheit der Fassaden. Das hier waren die meiste Zeit Kleine-Leute-Viertel gewesen, auch wenn der Reuterkiez vor dem Landwehrkanal durch Zuzug gerade sozial aufsteigt. Immerhin ist es bunt geworden nach der Wende. Als die Mauer fiel, waren auch die Tage des Ost- wie Westberliner Einheitsgraus gezählt.

Gleich hinter dem Moritzplatz wandelt sich das Bild grundlegend. Das westliche Kreuzberg war im Krieg stark zerstört und ist durch Jahrzehnte in wechselnden Stilen wieder aufgebaut worden. So wirkt es wie eine Architekturausstellung, die weiträumig viel Mittelmäßiges zeigt, so mittelmäßig wie unsere Epoche. Gewiss kann man auch da wohnen, z.B. in der Otto-Suhr-Siedlung mit dem Waldeck-Park gleich daneben. Dann kommt die massige Bundesdruckerei ins Blickfeld. Es erscheinen mehr und mehr Bürobauten, beinahe schon beherrschend das Springerhaus rechts an der Rudi-Dutschke-Straße. Ob ihm das gefallen hätte, sein Name für eine Straße zu Füßen des konservativen Verlagshauses? Ich war Jahrzehnte nicht mehr hier und sehe staunend, dass das Haus sich mindestens verdoppelt hat. Quer zu der mir von früher bekannten goldenen Hochhausscheibe steht jetzt eine silberne und auf der anderen Seite ein mehrstöckiger Neubau - noch ein Einkaufszentrum.

Anhalter Bahnhof. Hier ist so viel gebaut worden, dass ich das alte Wohnhochhaus beinahe nicht entdecke. Da oben habe ich mal Kaffee getrunken – und jetzt sehe ich wieder hinunter auf die Ruine, das Portal des alten Fernbahnhofs. Er ist nicht wiedergekommen, den Nahverkehr wickelt man heute unterirdisch ab. Wo früher die großen Züge nach Süden abfuhren, wird nun Fußball gespielt.

Wir erreichen wieder den Landwehrkanal, bleiben noch diesseits. Rechts vor mir jetzt die Neue Nationalgalerie, für mich eines der schönsten Gebäude Berlins, und ich nehme mir vor, bald einmal das Mies van der Rohe–Haus in Hohenschönhausen zu besuchen. Kurz darauf noch ein aufregendes Gebäude, das Shell-Haus, um 1930 gebaut. Für Meinhard von Gerkan, den Architekten des Hauptbahnhofs, ist dieses nun das schönste der Stadt. Dann kommt noch der Glaspalast der CDU, aber wir biegen vorher links ab und sind schon am anderen Ufer.

Seit einiger Zeit sitzen neben mir ein älterer Mann und seine junge Verwandte. Vom Kontrastmittel reden sie, er ist geröntgt worden und hat vielleicht einen Eingriff vor sich. Nun zeigt er ihr während der Fahrt seine Stadt, er vergewissert sich ihrer auf diese Weise. Ich tue dasselbe still für mich, denn es war auch mal meine Stadt. In einer der Parallelstraßen habe ich jahrelang gewohnt, zuerst am einen, später am anderen Ende. Das eine Haus steht schon nicht mehr.

Ich schaue über einen griechischen Tempel – U-Bahnhof Wittenbergplatz - auf die Fassade des KaDeWe, die vor allem nach viel Umsatz aussieht – Stein gewordene Kaufkraft. Der Tauentzien wird gerade umgebaut, wie die ganze City West entschieden den Konkurrenzkampf aufnimmt, gegen den Alex und die Friedrichstraße. Hier im Westen wohnt die Mehrheit der Berliner, es ist natürlich, dass da auch das größte Geschäftszentrum liegt. Doch muss es so klotzig aussehen, wenn man klotzen will? Der Breitscheidplatz, die Ecke Joachimstaler, da ist es noch voller als früher, noch höher bebaut, aber ist es auch urbaner geworden? Ein so hässliches Wort wie Aufenthaltsqualität kommt mir in den Sinn – das ist es, was ich hier vermisse. Ich erhasche einen Blick auf den bald fertigen neuen Hotelwolkenkratzer und sehe vor ihm ein kleines Hochhaus, das ich noch nicht kenne – ach, es ist der Turm der alten Gedächtniskirche, eingerüstet und mit Platten abgedeckt, die eine Fassade nur simulieren.

Das Kranzler-Eck steht auch noch da, leicht verändert. Das Café jetzt in die Dachrotunde verbannt und nur noch mit Lift zu erreichen - unten soll man Waren einkaufen … Und wo sind die Kinos, sag mir, wo die Kinos sind … Jedenfalls nicht mehr am Kudamm, bis auf das Cinéma Paris an der Ecke Uhlandstraße – die Immobilie gehört dem kulturbeflissenen französischen Staat. Auch in der Uhlandstraße habe ich mal gewohnt, und zu jeder Nebenstraße fallen mir jetzt Geschichten ein. Am Lehniner Platz konnte man früher billig Pizza essen oder griechisch oder sonst was. Und heute? Ist da ein Spielsalon, und das gleich neben der Schaubühne. (Psst, hier in der Nähe, habe ich gehört, hat ein neulich abservierter Parteivorsitzender seine Berliner Wohnung.)

Die Stadt feiert gerade 125 Jahre Kudamm. Ich habe nach einer Dreiviertelstunde Fahrt schon genug und steige in Halensee aus. Wundere mich, wie schlecht die Luft da ist und dass Mieten und Immobilienpreise in dieser Gegend trotzdem rasant steigen. Ich gehe zur Ringbahn hinunter und fahre mit der S-Bahn zum Wedding. Ohne mich rollt der M 29 weiter zum Roseneck, ins Villenviertel Grunewald, dahin wo die wirklich feinen Leute wohnen.

30. Ein Friedhof in Berlin

Wenn ich es hier auf dem Land nicht mehr aushalte, reise ich nach Berlin. Und was treibe ich da - nach dem Frühstück fahre ich aufs Land. Brandenburg kann so schön sein. Auf der Rückfahrt denke ich an Erich Kästner, der in der Einleitung zu einem seiner Jugendbücher schildert, wie er gern durch wildfremde Berliner Stadtviertel spaziert, bis er sich genügend elend fühlt und schnell mit der Straßenbahn zum Kaffeetrinken nach Hause fährt. Ich trinke oft bei einem Bäcker im Gesundbrunnen-Center Kaffee. Danach bleiben mir vor dem Abendessen noch zwei, drei Stunden, um à la Kästner fremde Stadtgegenden zu durchstreifen.

Goethe sagte bekanntlich: Frankfurt steckt voller Merkwürdigkeiten. Der Wedding auch (sage ich). Nun sitze ich in der Straßenbahn M 13, der Berliner Verdrusslinie oder Todestram. Sie ist Mitte der Neunziger vom Osten her einige Kilometer ins frühere West-Berlin verlängert worden, als Extratrasse mitten auf einer sehr breiten Ringstraße, die erst Osloer, dann Seestraße heißt. Sie ist gegen Unvorsichtige bestens mit Gittern bewehrt, trotzdem passiert es gerade hier immer wieder, keiner weiß warum: Die Bahn fährt heran, und die Unseligen stürzen vor sie und fahren dahin …

Die M 13 endet am Rudolf-Virchow-Klinikum, heute eine Filiale der altehrwürdigen Charité. Gegenüber liegt, eine etwas pikante Nachbarschaft, ein großer alter Friedhof. Genau genommen sind es deren drei: St Paul-Kirchhof I, Nazareth-Kirchhof I, St. Johannis-Kirchhof II. www.berlingeschichte.de weiß dazu Folgendes: „Die Friedhöfe der drei evangelischen Gemeinden wurden zwischen 1865 und 1888 angelegt und sind durch die durchgehenden Längsachsen als Ganzes – insgesamt 98 803 qm – gestaltet. Sie stehen unter gemeinsamer Verwaltung, und alle drei Gemeinden nutzen eine Kapelle, die 1953/54 von Fritz Berndt auf den Fundamenten einer älteren errichtet wurde. Die Wandgrabmale der drei Friedhöfe sind denkmalgeschützt.“

Dort an der Friedhofsmauer haben sich früher die Honoratioren nebst Anhang begraben lassen, noch im Tod Abstand zum gemeinen Volk haltend. Man wusste, was man sich schuldig war. Es sind meist neobarocke Grabdenkmäler, eher groß als schön zu nennen, groß im Sinn von hoch und breit. An Material wurde nicht gespart – auch nicht an erhebenden Sprüchen. Ein Gewitter liegt in der Luft, ich will nicht mehr viel auf- und abgehen. Ich verweile vor den Prunkgräbern und studiere die eingemeißelten Texte. Da gab es Standardformulierungen, die sich mir rasch einprägen. Die am meisten verwendete lautet: „innig geliebt und herzensgut“. Fast ein jeder wurde damals, in der guten alten Zeit, innig geliebt und, wenn alles vorbei war, auch für herzensgut befunden. Immerhin, einigen wenigen Verblichenen wurde nur das Attribut „gut“ zuerkannt, als wäre es ein Pejorativum, gewissermaßen eine hüstelnde Kritik der Hinterbliebenen.

Oft weht einen der Geist des Wilhelminismus an, er drückt sich nicht nur in der üppigen Bildhauerei aus, er tut es auch in der Sprache, die die Zeiten auf Stein überdauert hat. Man bediente sich gerne großtönender Zitate und Vergleiche. Dabei kam es weniger auf das wirklich Treffende als auf die enorme Wirkung an sich an, das Bombastische eben. Und beim Griff in den Zitaten- und Sprüchetopf unterlief mitunter der eine oder andere Fehler. Vielleicht war der Auftraggeber infolge des Trauerfalls ein wenig durcheinander, und dem Steinmetz war’s egal … So findet sich manch Unpassendes. Einer starb mit zweiundachtzig, und sie riefen ihm in die Ewigkeit nach: „Du warst so gut, du starbst zu früh“ – und für ein Gemeinschaftskindergrab wählten sie eine beliebte Stelle aus der Offenbarung Johannis, in der vom „Ausruhen“ nach vollbrachten „Werken“ die Rede ist. Die zwei hier Bestatteten waren nur ein bzw. vier Jahre alt geworden!

In einem Fall geht der materialistische Geist jener Zeit eine besonders aufschlussreiche Verbindung mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit ein. Da wird dem teuren Hingeschiedenen ein Wiedersehen dermaleinst mit den annoch trauernden Hinterbliebenen zugesichert, oder vielmehr: Sie versichern es sich selbst und kennen den Ort dieser Wiedervereinigung schon ziemlich genau. Es ist, behaupten sie, eine der fernen Milchstraßen, ein Jenseits „hinter Millionen Sternen“. Die Auferstehung von den Toten findet weiterhin statt, aber aus Rücksicht auf die moderne Wissenschaft wird sie an einen Ort verlegt, den diese nicht erreichen kann - noch nicht. Das ist der Geist des faulen Kompromisses. Ich sehe noch mal auf: Wo bleibt das Donnerwetter? Es bleibt aus, das Gewitter ist ohne Entladung weitergezogen. Und ich Spätgeborener verlasse jetzt den Friedhof und gehe essen.

 

 

31. Irre werden

Ist es tatsächlich so? Ich lebe also wieder in dem alten Haus in Winterhude, in das ich heute Nacht sehr spät heimkehre? Habe ich es denn jemals verlassen in diesen, in jenen Jahrzehnten? Wieder steige ich die Außentreppe hinauf und öffne die Haustür mit einem der Schlüssel im Bund. Es wird, wie das meiste im Leben, halb automatisch geschehen sein – oder ist die Tür gar nicht verschlossen gewesen? Dann habe ich noch die breite steinerne Innentreppe vor mir und stehe im Hochparterre vor der Wohnungstür rechts. Es fällt mir nicht ein, ich könnte jemals drei Treppen höher gewohnt haben. Schnell soll es jetzt gehen, aber ich weiß bald, ich kann nicht hineingelangen. Der fehlgeschlagene Versuch muss ebenso halb unbewusst erfolgt sein – verwundert betrachte ich meine Schlüssel, gehe einen nach dem anderen durch. Es erscheint mir jetzt aussichtslos, auch nur einen von ihnen ins Schloss einstecken zu können. Was tun?

Auf einmal steht ein Paar mittleren Alters neben mir und müht sich seinerseits an der Nachbarwohnung mit Schlüsseln ab, die nicht passen. Ich habe die beiden noch nie gesehen. Die Frau sagt: Wir sind zu Besuch hier bei unserer Tochter. - Ihr Mann ergänzt: Sie ist gerade auf Mauritius. - Die Frau sagt: Gestern gab es noch keine Probleme. Was machen wir jetzt, Eberhard? - Und der Mann befindet: Erst mal zu Tantchen fahren … Sie gehen schon die Treppe hinab.

Mir fällt nun auf, dass die Abschlusstür rechts zweiflüglig und komplett weißlackiert ist. Meine Tür, wie ich sie kenne, ist einflüglig und hat in der oberen Hälfte eine dicke, schraffierte Glasscheibe. Keiner hat Durchblick, nur die Treppenhausbeleuchtung dringt durch und ihr Anspringen wie Verlöschen stört mich oft, eine der Unbequemlichkeiten der Wohnung; ich nehme es wie so vieles hin. Ich würde es auch jetzt tun, sehe nur ein, dass ich im Haus vorerst nicht weiterkomme und verlasse es wie die beiden vorhin, doch ohne ein bestimmtes Ziel.

Ich gehe meine Straße ein Stück hinunter. Aus dem Schlüsselladen an der Ecke dringt Licht. Ist er noch oder schon wieder geöffnet? Ich betrete ihn und finde weder einen Menschen darin noch Schlüssel. Der Kram deutet auf Altwaren hin: leere Dosen, Papierstöße, Fotoalben mit abgegriffenen Einbänden. Aus dem Hinterzimmer kommt einer, den ich noch gut kenne: Frieder. Er redet gleich drauflos: Klar, Carola war damals enttäuscht. Schneit um diese Nachtzeit hier herein und wundert sich, wenn einer dann nicht mehr so frisch aussieht wie tagsüber. - Obwohl es mich nicht interessiert, frage ich: Ist sie trotzdem geblieben, den Rest der Nacht? Frieder antwortet nicht. Er steckt irgendwo zwischen seinen Altwaren.

Dann sitze ich auf einem Schemel, den ich höher und niedriger stellen kann. Als ich eine befriedigende Position eingenommen habe, fingere ich meine Brieftasche heraus. Ich will den Personalausweis untersuchen. Da ist die amtlich beglaubigte Anschrift - stimmt die Hausnummer? Es scheint so, ich werde mich doch nicht in der Adresse geirrt haben? Auf einmal fahre ich zusammen: Das Dokument in meinen Händen ist auf keinen Namen ausgestellt. Ich könnte statt der kleinen Plastikkarte einen beliebig bedruckten Wisch, herausgerissen aus uralter Akte und ohne jeden Bezug zu meiner Person, vor mir haben. Ja, wahrscheinlich ist es gerade so … Wie komme ich nun aus dieser Lage, aus diesem Ablauf heraus? Man müsste sich zuvor über vieles wieder vergewissern ...

Ich weiß einfach nicht weiter.

 

32. Memories of Würzburg

Statt einfach auf sein Ziel loszugehen, biegt er vom Hauptbahnhof nach Westen ab; da ist er früher nie gewesen. Entweder ist die Gegend nicht weiter bemerkenswert oder er heute unfähig, das Besondere an ihr zu entdecken. Er ist doch nur nach Würzburg gefahren, um ein Magazin zu besorgen … Ob die Wirtin seine Abwesenheit ausnutzen wird, um wieder in der Ferienwohnung zu schnüffeln? Immerhin war sie so ehrlich, es hinterher zu beichten: Ich habe meinem Mann gesagt, da muss ich doch mal nachsehen, wie so ein Einzelner mit der Wohnung zurechtkommt … Es sind freundliche Alte, offen, gesprächig, sie haben ihr ganzes Leben in der kleinen Stadt am Main zugebracht, und er, der einsame Wanderer durch die Spessartwälder, kommt ihnen zugleich sympathisch wie auch ein wenig seltsam vor; sie verbergen beides nicht.

Er umrundet einen Block und ist schon auf dem Rückweg ins Zentrum, da kommt ihm einer entgegen, gleichfalls zu Fuß, der Kleidung nach ein Motorradfahrer, die Maschine irgendwo abgestellt. Rascher Blick auf ihn: Wird Anfang bis Mitte dreißig sein, sieht nicht übel aus … So kurz der Blick ist, der andere fängt ihn auf, hält ihn fest, nickt dem Fremden zu, lächelt und ist weitergegangen. Was ist da gewesen? Das ist dem Stadtbesucher lange nicht passiert, ihm, der länger als zehn Jahre schon wie ein Weltmönch lebt. Er ist mittlerweile ein Mann von fünfzig Jahren, hat kein Problem damit und eines jetzt doch: zu verstehen, wie der andere ihn und seine Vorgeschichte im Nu hat durchschauen können. Denn gerade das hat im langen, eindeutigen Blick und der Gebärde gelegen, nicht misszuverstehen. Hätte er sich nach dem anderen umdrehen sollen? Gewiss nicht.

Am Hauptbahnhof verleitet ihn die Blumenpracht der Anlagen dazu, noch weiter ostwärts zu gehen, statt zur Fußgängerzone abzubiegen. In dieser Gegend lag früher jenes Hotel, da hatte er vor zwanzig Jahren, auf der ersten Reise nach Franken, zweimal übernachtet. Dazwischen die Tage im Spessart, und an der Tauber hatte es geregnet ... Er beeilte sich damals, den nächsten Bahnhof zu erreichen, übersah eine Schnecke, zertrat ihr Haus und konnte es all die Jahre nicht vergessen. Die Selbstanklage lautete: fahrlässige Tötung einer Weinbergschnecke … So sensibel zu reagieren, das könnte er mit zeitlichem Abstand - und solchem zu sich selbst auch - jetzt lächerlich finden, nur ist seine Distanz dafür noch immer nicht groß genug. Zeit, endlich die Buchhandlung zu suchen.

Der Zeitschriftenständer ist gut bestückt. Er dreht ihn hin und her, zieht dieses und jenes heraus, blättert darin, stellt es zurück und entscheidet sich nach ein paar Minuten für ein Fachmagazin. Sein Titel ist unverfänglich und es enthält doch, was er sucht: die kleine Rubrik mit verschämten Kontaktanzeigen. Bevor er zur Kasse gehen kann, wird er von links angesprochen: „Guten Tag, mein Herr … Entschuldigen Sie ... Ich wollte Sie etwas fragen: Haben Sie Arbeit für mich? Irgendeine Arbeit?“ - Es ist eine Frau in den späten Zwanzigern, mit slawischem Akzent, den er nicht genau einordnen kann. Er schüttelt bloß den Kopf und lässt sich nicht aufhalten.

Nachher steht er auf der Alten Mainbrücke, neben der mächtigen und beschützenden Josephsfigur, und sieht abwechselnd auf den dahinströmenden Fluss und die statischen Weinberge und sieht sie doch nicht. Würdest dich gern klein machen wie das Jesusknäblein unter dem Heiligen da, rein und unschuldig? Aber, fährt er in Gedanken fort, sie kann gar nicht gesehen haben, was ich dort im Heft kurz überflogen habe … Und wenn doch, er hätte ihr den Hintergrund nicht plausibel machen können: dass er an einem Roman schreibt und jene verklemmten Inserate für ihn nur Material dafür sind.

Noch einmal hinauf zur Festung. Er will heute nicht wieder ins Museum gehen, nur von oben auf die kompakte Masse der Altstadtdächer blicken. Vorerst streicht er unschlüssig die äußeren Festungsmauern entlang, als ob sie schwer zu überwinden, und lässt den Blick eine hohe Wand auf und ab gleiten. Tatsächlich interessiert er sich mehr für die Szene an ihrem Fuß. Da ist ein Besucher-Parkplatz, um einen Wagen herum stehen fünf Menschen, zwei Frauen und drei Männer verschiedenen Alters. Sie begrüßen einen Ankömmling, der sein Motorrad neben ihnen ausrollen lässt, den Motor abstellt und burschikos absteigt. Ist es der von vorhin? Nein, er ist ungefähr zehn Jahre jünger und, war der andere schon recht attraktiv, selbst noch viel besser aussehend. Bei sehr gefälligen Formen hat seine Ausstrahlung doch etwas Erkältendes, so dass man sich das Wort schön versagt. Es ist jetzt sein Auftritt, er weiß es und richtet sich danach. Er ist erwartet worden, die anderen sind die Kulisse. Das Quintett ist vor ihm daheim im Taubertal abgefahren und hängt jetzt an seinen Lippen, um zu erfahren, wie rasch und ungehindert er sie eingeholt hat. So trivial das ist, so großartig wird es geschildert. Dabei blickt der junge Mann keinen länger als drei Sekunden an, sein Blick ist zumeist himmelwärts gerichtet. Er scheint da eine nur ihm sichtbare riesenhafte Abbildung ins Auge zu fassen oder, indem er spricht, ein großes Standbild zu errichten. Wessen Bild oder wessen Statue? Dann bricht die Unterhaltung ab und alle gehen schweigend ins Innere der Festung. Man verschwendet keinen Blick an den Beobachter.

Der Weltmönch folgt der Gesellschaft nicht in den Festungshof, er bleibt noch eine Weile im Vorhof. Dann tritt er spontan den Weg talwärts an. Memories of …? Hier wird es jetzt kein Feuerwerk geben und kein Paar wird hinter einem schon versperrten großen Tor zurückbleiben. Er muss wieder an die Weinbergschnecke von der Tauber denken. Gut, dass sein eigenes Schneckenhaus noch intakt ist – so kann es lange bleiben.

 

 

33. Der Friseurstuhl als Theatersessel

Nur wenige Alltagssituationen scheinen so intim wie die Arbeit des Friseurs am Kopf seines Kunden. Der großen körperlichen Nähe entspricht jedoch keine innere der Beteiligten. Um die Pseudo-Intimität erträglich zu machen, beginnt der Friseur oft ein Gespräch mit dem Kunden. Zeigt der sich maulfaul, redet Figaro von eigenen Angelegenheiten. Er handhabt dann nicht mehr nur Schere, Kamm usw., sondern führt mit Worten, Tonfall, Gebärden ein kleines Stück auf. Er ist gleichzeitig Autor, Regisseur und einziger Akteur. Diese Privatvorstellungen fallen so verschieden aus, wie es die Friseure als Privatmenschen auch sind.

Solange ich klein war, kam ein Friseur zu uns ins Haus. Er gab sich mir gegenüber als Lehrer, Erzieher, väterlicher Freund. „Mein Junge“, sagte er beinahe jedes Mal leicht gravitätisch, „bei einem jungen Mann kommt es auf zwei Sachen an: auf die Schuhe und auf die Frisur. Nur darauf schauen die Leute. Merk es dir.“ Oder er äußerte sich über das noch junge Medium Fernsehen. Viele schafften sich damals ihr erstes Gerät an und sahen fast alles. Das sei doch nur Müll, warnte er mich leise, bekümmert, es sei nicht das wirkliche Leben. Er war in den Fünfzigern, sein Gang schwerfällig, er schnaufte dabei. Erst nach Feierabend schnitt er anderen für wenig Geld die Haare, im Hauptberuf arbeitete er körperlich schwer in der nahen Kohlengrube. Er sprach nur Hochdeutsch und von den Großeltern, deren Mieter er war, erfuhr ich, dass er aus Ostpreußen gekommen war. Auf der Flucht nach Westen war ihm 1945 die Frau an Typhus, Diphterie oder Entkräftung gestorben. Er lebte in Onkelehe mit einer Kriegerwitwe und sie zogen gemeinsam seine Tochter auf, alle drei gut miteinander auskommend, ernsthafte Menschen ihrer Natur nach wie auch schicksalsbeladen.

Als Oberschüler ging ich zu einem unserer Dorffriseure. Es war ein noch junger Mann, der zügig arbeitete und oft sagte: „Ja, alle drei Wochen muss man schon zum Friseur kommen.“ Ich ließ mich dennoch nur jede fünfte blicken und saß unter ihm, versunken in meine Gedanken. Einmal fuhr ich innerlich zusammen und durfte es nicht zeigen. Er hatte nach einem Jungen gefragt, für den ich mich insgeheim stark interessierte. Warum der Friseur gerade mich auszuhorchen versuchte? Ich blieb misstrauisch und begann ihm selbst einen Roman anzudichten. Waren wir am Ende beide so? Ich war mir ja selbst noch unsicher.

Mulmig wurde mir später auch in Berlin. In dem Friedenauer Salon arbeitete regelmäßig ein kleiner alter Buckliger an mir, er schnitt sorgfältig, meistens freundlich lächelnd. Ich sah, dass ihm das Haareschneiden bei seiner Statur nicht leicht fiel, und er dauerte mich. Was mich eines Tages schockierte, war seine Bemerkung: „Wenn man Ihnen den Nacken ausrasiert, bräuchte man unten gar nicht mehr aufzuhören, bei der starken Körperbehaarung.“ Er grinste anerkennend …

… und ich ging nächstes Mal zum Friseur ins Einkaufszentrum, wo die pointierte Szene sich erst an der Kasse abspielte. Ein junger Friseurgeselle hatte mich in Windeseile bedient und seine Kollegin machte sich an die Rechnung. Sie unterbrach sich auf einmal, starrte mich mit dem Ausdruck größten Entsetzens, ja unüberwindlichen Ekelgefühls an, stieß dumpfe Laute des Abscheus aus. Hatte ich Kopfläuse oder einen grindigen Ausschlag? Nie im Leben fühlte ich mich so verachtet. Dann geleitete sie mich zurück vor die verspiegelte Wand – der Kollege musste nacharbeiten, die Mängel des Schnitts ausbügeln.

Kein anderer Friseur hat mir so oft die Haare geschnitten wie Herr *** in Hamburg. Er war jenseits der fünfzig, arbeitete allein im eigenen Vorstadtsalon und erzählte viel aus seinem Leben, von seinem Alltag. Ich hörte immer gern zu und erfuhr, er sei als junger Mann jahrelang als Bordfriseur zur See gefahren, zwischen Europa und Südamerika. Seine Gattin beteiligte sich oft an Preisausschreiben und gewann ab und zu mehr oder weniger Nützliches, einmal auch eine Gratisreise für zwei Personen nach Rio de Janeiro. Das ergab weiteren Erzählstoff … Ich wusste, dass er in der Lüneburger Heide aufgewachsen war, und eines Tages sagte ich ihm, bald würde ich eben dorthin umziehen. Entgegen meiner Erwartung fiel seine Reaktion nicht positiv aus. Er schüttelte den Kopf, erzählte nichts von der Heide, sah wohl nur einen Kunden weniger in mir. Als dann der letzte Termin bei ihm da war, nach so vielen Jahren, hatte er keine Gedanken mehr frei. Seine Frau war gerade schwer erkrankt und er in großer Sorge. Wir trennten uns beide niedergedrückt. 

Zum Erzählen aufgelegt war auch die lebhafte junge Frau vietnamesischer Herkunft in einem Lichtenberger Salon. Ich war also zurück in Berlin und erfuhr immer wieder Neues über ihre Verwandtschaft, ihre kleine intelligente Tochter, über Reisen nach Vietnam. Sie selbst war so kleingewachsen, dass sie darum bitten musste, mich im Stuhl nicht aufzurichten, sondern im Gegenteil ein wenig zusammenzusinken. Sie war der Typ quirlige Berlinerin, mit exotischen Gesichtzügen und beinahe jungmädchenhaftem Gehabe, eine sympathische westöstliche Erscheinung. 

Inzwischen bin ich schon wieder umgezogen und Stammkunde in einem anderen mittelgroßen Salon mit lauter jüngeren Friseurinnen. Sie arbeiten gründlich und konzentriert und dennoch unterhalten sie sich gleichzeitig viel untereinander, mit mir eher nicht. Der große Abstand zwischen den Generationen ist erstmals fühlbar. Bei so hurtiger Wechselrede zwischen den Angestellten wirkt die Zuwendung zum einzelnen Kunden nur noch unpersönlich, und das ist mir heute ganz recht. Respektvoll höre ich eine Zeitlang zu und überlasse mich dann meinen Gedanken, Erinnerungen.

 

34. St. Pauli, Sehnsuchtsort

Einmal ließ ich mir alte Möbel, Familienerbstücke, aus Süddeutschland kommen. Der kleine Transporter hatte zwei Mann Besatzung, einen Fahrer jenseits der fünfzig und einen viel jüngeren Helfer. Sie taten sich schwer beim Einparken, wirkten in Hamburg überhaupt fremd und befangen. Dann waren die Sachen abgeliefert und die beiden wollten gleich den Rückweg antreten. Ich hörte den Älteren sagen: „Wir nehmen wieder die A 7, aber vor dem Elbtunnel fahre ich für dich einen kleinen Umweg durch St. Pauli. Wir halten da nicht, wir fahren bloß durch – nur damit du einmal die Reeperbahn gesehen hast.“

Nicht in St. Pauli, in St. Georg hatte ich damals in einer Samstagnacht Kai aufgegabelt. Er war Malergeselle in einer kleineren norddeutschen Stadt, ein, zwei Stunden von Hamburg. Ich fand ihn ungewöhnlich sympathisch. Wir fuhren in seinem Wagen zu mir und er blieb bis zu einem sehr späten Frühstück. Als er nach Hause wollte, kam ich ein paar Straßen weit mit, damit er die A 7 rasch fände. Unterwegs sagte er mir: „Morgen auf der Arbeit erzähle ich den Kollegen, ich wäre auf der Reeperbahn gewesen. Da haben sie dann was zum Träumen und stellen mir weiter keine Fragen.“

Unser Leben verläuft in engen Bahnen, doch der Himmel darüber - sehnsuchtsvolle Projektion - ist nicht für alle der gleiche. 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.03.2022

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