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Liebestod mit Doubles

Präludium

 

Ich war Hoffmanns Kameramann beim Interview mit Marian Matecki, dem Regisseur von Liebe und Tod in Masuren. Jaron saß neben Olek und dem Filmemacher auf dem Podium und sagte kein einziges Wort. Mein Gott, wie schön er war … Und wie gleichgültig war mir jetzt das, was der Meister auf Englisch von sich gab. Dabei sagte Matecki nichts über die Finanzierung des Films: deutsches Geld für polnische Filmkunst. Jaron sah ständig zu ihm hinüber und ich brachte Jaron so gut wie nur möglich ins Bild: sein dunkelblondes Haar über dem Rundschädel, das ebenmäßige, friedvolle Gesicht, die Stämmigkeit andeutende Schulterpartie. Wie Hoffmann später einmal sagte: Er war ein göttliches Landei, wenn auch in Wahrheit aus Warschau kommend. Aber er hatte einen Mörder aus Masuren gespielt, nach einem authentischen Fall … Der schwarzhaarige, schlaksige Olek sagte ab und zu etwas Kluges.

Nachher gingen wir alle in die Bar Zopot. Marian redete unaufhörlich weiter, so als wäre das Mikrofon noch nicht abgeschaltet, und schob zugleich für die Presseleute Olek ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Olek war im Film von Jaron erdrosselt worden, dafür jetzt umso lebhafter … Jaron saß allein und selbstzufrieden, so schien es von weitem, an seinem kleinen Tisch an der Seitenwand und trank Pilsner aus der Flasche. Ich setzte mich zu ihm, schaute ihn an. Aber er sah nur stumm zu mir herüber, ausdruckslos. Er kam mir vor wie ein Stein, den man erst glattreiben, polieren müsste, damit er glänzt. Ich fing damit an, stellte ihm auf Englisch eine Frage: Ob er mit der überwiegend positiven Reaktion des Publikums gerechnet habe, zufrieden sei? Er schwieg eine Weile und sagte dann auf Deutsch, das er erstaunlich gut sprach, mit nur wenig Akzent: „Ich weiß nicht. Das ist so eine Sache …“ Ich verstand ihn sofort, er wollte nicht auf Rollen wie diese festgelegt werden.

Jaron war vierundzwanzig und sah viel jünger aus. Im Film nahm man ihm ohne weiteres den Neunzehnjährigen ab. So unverbraucht und fast unberührt er wirkte, er war schon länger im Ausland gewesen, auch ein knappes Jahr in Berlin. – „Und was hast du da gemacht?“ – „Bin viel spazieren gegangen. Und hab ein bisschen Tanzen gelernt.“ Auch das überraschte mich, dabei konnte es das kaum, gehört Tanzen doch zu diesem Beruf. Aber ich sah noch so sehr den Arbeiter vom Land in ihm, den er im Film gespielt hatte, als säßen wir zwei nicht in einer Bar in Warschau und versuchten ein Gespräch über das Handwerk des Filmemachens zu führen.

„Du hast vorhin nichts gesagt und sie haben dir auch keine einzige Frage gestellt.“ – „Ist schon okay. Olek kann das besser. Und wer spricht schon gern mit einem Mörder …“ Das hätte ein kleiner Scherz sein können, wenn er dazu gegrinst oder es wenigstens um die Mundwinkel gezuckt hätte. Er blieb noch immer ausdruckslos und sah mich kaum an, sogar dann noch nicht, als ich ziemlich plump ergänzte: „ … vor allem nicht, wenn es ein schwuler Mörder ist und einer, der nicht mal ein richtiges Motiv hat.“

Auf einmal sagte er, er würde gern wieder eine Weile in Berlin sein. Da könne er versuchen, Kontakte zu knüpfen, und würde vielleicht sogar ein Angebot bekommen. Keine Frage, dass ich ihm gleich anbot, bei mir zu wohnen. Und so fuhr er schon am nächsten Tag mit mir und der Dokufilm-Crew nach Westen. Als wir über die Oder rollten, legte er kurz seine Hand auf meinen Oberschenkel und zog sie nach Sekunden wieder zurück, mehr nicht. Doch mir kam’s nachher lange und nachdrücklich vor.  

 

 

Hauptstück

 

Ich küsste ihn aufs rechte Schulterblatt, als er am zweiten Tag in Berlin einmal vom Küchenfenster in den Hof sah. Er trug nur ein hellgraues, ärmelloses Unterhemd, das diese mächtigen Schaufeln und die gebräunten Muskelkugeln seiner Oberarme nackt zeigte: verlockend. Jaron ließ es geschehen, weiter ernst dreinblickend, stumm bleibend. Nur aus der nachgiebigen Reaktion seiner Haut und dem leichten Vibrato der Atmung schloss ich, dass es ihm nicht unangenehm war. Meine Hand berührte seinen Nacken, strich am Hinterkopf über das leicht lockige, sehr dunkle Blond seiner Haare. Er blieb passiv, seufzte leicht. War es schon lustvoll für ihn? Ich wollte ihm Zeit lassen und wandte mich ab, fragte nach seinen Plänen. Er hatte keine oder verriet sie nicht und zuckte mit den Achseln.  

Einige Tage später versuchte ich es abends wieder, mit mehr Erfolg. Er stand mitten im Wohnzimmer, unschlüssig wirkend. Ich berührte sanft seine Brust, die von einem sehr knappen, dunkelblauen T-Shirt umspannt war. Jaron sagte: „Warum ziehst du es mir nicht aus?“ Ich versuchte es und tat mich schwer damit. Der leichte Baumwollstoff verhakte sich erst am Übergang vom Schultergürtel zum Hals und wollte sich dann nicht über den Kopf streifen lassen. Ich brach es ab: „Ich will dich ja nicht strangulieren.“ Da lachte er leise und befreite sich selbst mit einem Ruck. Die Bewegung führte mir spielerisch seine gesamte Brust-, Arm- und Schultermuskulatur vor. Wie kräftig er war, kräftig und schön. Erstmals sah ich jetzt seinen massiven und dabei wunderbar modellierten Oberkörper ganz nackt und vor allem real vor mir – ich hatte ihn so bisher nur im Film gesehen. Bald zog er mich an sich und warf uns beide in einen Sessel. Da lagen wir sehr beengt halb aufeinander, ich konnte mich kaum bewegen. Er hatte etwas mehr Spielraum für seinen rechten Arm und streichelte mein Gesicht. Ich küsste seine Flanke unterhalb der Achselhöhle, dann eine Brustwarze. Wir schmusten ziemlich lange. Ich spürte seinen Atem in meinem Bart. Wollten wir uns drüben hinlegen? Nein, er wollte nicht: „Ein anderes Mal.“ Er verschwand in seinem Zimmer und ich sah ihn den ganzen Abend nicht mehr.

Allmählich entdeckte ich ein Muster in seinem Verhalten, das mir dann vertraut wurde, es vielleicht gar nicht erst zu werden brauchte. Ich entdeckte es nur wieder, wir vollzogen da etwas uns Eingeschriebenes, so kam es mir vor. Jaron stand immer wieder verlockend vor mir, ließ sich anfassen, wurde selbst zärtlich und entfernte sich dann mit grübelndem Gesichtsausdruck. Ich wurde nie ärgerlich, ich sah ja, langsam kamen wir uns näher. Meine Neugierde auf ihn und den Fortgang der Geschichte wuchs.

Er ging wenig aus, war manchmal im Sportstudio oder ging wirklich wieder spazieren. Er suchte keine Kontakte, er kannte außer mir und Hoffmann keinen Menschen in Berlin. War er allein meinetwegen hergekommen, blieb er nur, um mir noch näher zu kommen? Ich wusste es nicht.

Zehn oder vierzehn Tage waren vergangen und wir lagen nun doch nackt auf dem Bett nebeneinander. Jaron machte mir gerade klar, dass keiner, auch ich nicht, in ihn eindringen durfte. Bei mir hat er es danach auch selbst nie versucht. Er sagte: „Ich bin nicht wie die meisten von euch …“ – „Ach wo, du bist bloß noch sehr jung, acht Jahre jünger als ich. Ging mir früher ebenso.“ – Wir liebten uns also wie sehr junge Burschen, minimalistisch und mit viel Gefühl. Dabei sah er noch knabenhafter aus als sonst. Nachher fragte er: „Weißt du, dass ich im Film gedoubelt wurde? Man kann es im Abspann lesen, aber die meisten tun es nicht.“ Es war auch mir entgangen und ich verstand das, was er damit sagen wollte, auf diese Weise: Ich bin jetzt Adam – Adam, den er im Film verkörpert hatte, nur eben nicht in letzter Konsequenz. Oder noch genauer gesagt: Ich bin wieder Jaron, wie er Adam spielt.

Von da an führten wir es immer wieder auf. Wir sprachen noch nicht darüber. Auch ich tauchte in die Filmszenen ein, als wäre ich Karol, von Olek dargestellt. Und sah ich Olek tatsächlich nicht ein wenig ähnlich? Also war ich von nun an Karol, sein Verführer, nein, ich war es schon zu Beginn gewesen.

Jaron selbst erschien mir wie ein überaus reizvolles Porträt vor einer großen, leeren weißen Wand. Er sprach nie über seine Vergangenheit in Polen. Nichts erfuhr ich über Verwandte, Freunde, andere Beziehungen. Wir redeten überhaupt nur wenig, wenn wir uns nahe waren, und berührten unser Verhältnis zueinander im Gespräch nicht. Dafür diskutierten wir einige Male über den Film, der ihn bekannt gemacht hatte. Wie plausibel war der Schluss, warum tötet Adam den Geliebten? „Gewiss, er hat viel Stress gehabt - “, sagte ich. – „Ja, das ist wahr, aber nur die eine Seite. Es ist seltsam, dass die meisten Zuschauer mit dem Schluss nicht klarkommen.“ Jaron sagte, als Adam habe er sich unmittelbar vor dem Mord seelisch auf dem absoluten Höhepunkt gefühlt, eine Vereinigung zweier Männer, so innig wie nur möglich, unwiederholbar. „Da war nur noch Abgrund rundherum. Und da ist er eben gesprungen …“ – „Indem er als Erstes den Freund tötet? Bringt Adam sich denn nach dem Mord selbst um? Das zeigt der Film nicht.“ – „Das ist doch gleichgültig. Er ist auf jeden Fall nur noch eine leere Hülle.“

Ich lernte von Jaron, wie Kontemplation zu Entgrenzung führt. Wir lagen oft ein, zwei Stunden lang, uns nur zeitweise sachte einander berührend, auf dem Bett. Er verlangte es so, ich gewöhnte mich rasch daran. Nichts geschah. Wir atmeten nur leicht, sprachen nicht. Seine Gegenwart wurde übermächtig, übergegenwärtig. Zugleich erweiterten sich mein Bewusstsein, mein Wahrnehmungsvermögen, mein Zeitgefühl ins Unermessliche. Sollte ich  den endlich erreichten Zustand Glück nennen? Nein, es war kein Glück - er und ich, wir waren einfach die Welt. Einmal nahm ich dabei seine Hände in meine und führte sie an meine Kehle und übte Druck aus. Er entwand sich meinen Händen und umfing mit seinen dann meinen Kopf, hielt ihn, sagte: „Nein, das nicht. Oder noch nicht.“

Eine Woche später kam ich von der Arbeit heim und er war ausgezogen. Auf meinem Schreibtisch lag ein Brief von ihm: „Lieber Kameramann, du hast alles so schön aufgenommen. Was zwischen uns  sein konnte, alles oder fast alles. Ich lasse dich mit dem Material jetzt eine Weile allein hier. Ich bin schon in Polen, wenn du das liest. Matecki will wieder mit mir drehen. Aber unser Film hier ist auch noch nicht zu Ende. Ruf mich jetzt nicht an, ich muss arbeiten.“

 

 

 

Epilog

 

Einige Tage nach Jarons Abreise war ich mit Hoffmann im Spreewald. Wir bereiteten in Lübben einen touristischen Werbefilm vor. Auf der Rückfahrt wurde er persönlich: „Du wirkst so bedrückt, schon den ganzen Tag über. Ist es, weil das liebe Pfannkuchengesicht nach Polen heimgefahren ist? Wir sollten mal darüber reden … Er kam auf dem Weg zum Bahnhof bei mir vorbei. Das wusstest du wohl nicht? Er war ab und zu bei mir.“

Ich versuchte ihm auszuweichen. „Habt ihr über den neuen Film gesprochen? Matecki bietet ihm eine Rolle an – das ist alles, was ich weiß.“ – „Jaron wollte erst nichts mehr mit Matecki machen, nichts im alten Stil, aber der neue Stoff hat es in sich, ganz was anderes. Spektakulär und doch sehr eingängig. Bewährtes Erfolgsrezept: mit Wurst nach Speckseite werfen.“ – „Worum geht’s?“ – „Stockholm-Syndrom, das ist natürlich abgedroschen. Aber die Hauptrolle, das ist jetzt ein Geiselnehmer auf einer Geriatrischen Station, mit drei Krankenschwestern als Garnierung. Tu meiner Oma nichts an, das wird zünden, garantiert. Und unser Jaron wird es wieder stemmen …“

Ich sagte, dann würde er diesmal ohne Double auskommen, oder? – „Ja, wenn er nicht auf dem Motorrad zur Klinik brausen muss. Das Motorradfahren war letztes Mal gedoubelt, nur das.“ – „Der richtige Sex doch auch …?“ – „Nein, das ist eine Legende fürs breite Publikum. Es nützt ihm.“

Ich hatte daran zu kauen. Da brach schon ein Stück weg aus dem Bild, das ich noch von ihm hatte. Ich wollte nicht mehr reden, schwieg lange, Hoffmann ließ mich in Ruhe. Erst auf dem Berliner Ring kam er mit dem heraus, worum es ihm wirklich ging. „Jaron ist ein bisschen in Sorge um dich. Du könntest ihn vermissen, stark vermissen, allzu stark. Schau, irgendwann wirst du ihn wieder vor dir haben. Und dann wird sich das Weitere ergeben. Bis dahin: Tu dir nichts an. Versprochen?“

„Hoffmann, wie kommst du darauf? Das würde ich nie tun, vorzeitig in den Tod gehen, solange noch Aussicht auf einen viel schöneren später besteht.“ – „Gut für dich, wenn du schon wieder Witze darüber reißen kannst.“ Er begriff nicht, dass es mir ernst war. Jaron wird wiederkommen oder auch nicht. Ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll. Er ist ja nicht einmal wirklich fort, er ist mir doch immer ganz nah.

Eine Bürogeschichte

Wenigstens Liane war heute wieder im Büro. Maaß sah durch die offenstehende Tür in ihr Zimmer hinein und sagte, er freue sich, die zwei Tage ohne sie seien fürchterlich gewesen.

     Er nannte sie bei sich Liane, das Mädchen aus dem Urwald – warum eigentlich? Es waren in ihrem Fall doch nur die Schluchten des Balkans und sie war inzwischen vollständig germanisiert. Außerdem war sie schon zweimal Mutter – und dennoch Kindfrau geblieben, wenn auch nicht in der Art einer Lolita, das hätte ihm nicht zugesagt. Was Maaß an ihr auffiel, ihn immer wieder aufs Neue frappierte, war dieser Gegensatz zwischen ihrem mächtigen Slawinnenschädel, matronenhaft, und dem Ausdruck kindlichen Eifers auf dem Gesicht, ein Eifer, der allezeit bereit, ja darauf aus war, sich in Entrüstung zu verwandeln.

     Maaß ging einen Schritt in Lianes Büro hinein. Erst jetzt sah er, dass sie nicht allein war. Auf dem Stuhl vor dem leeren Schreibtisch ihr gegenüber fläzte sich Lars. Er lag da mehr, als dass er saß, lang ausgestreckt, mit den Schulterblättern gerade eben die Rückenlehne berührend, die Füße wiesen am Schreibtisch vorbei zur leeren Zimmermitte hin.

     „Ich bin auch noch da, Herr Maaß“, sagte er und lachte, „ich halte noch die Stellung.“ Er war etwas aufgekratzt, was Maaß an ihm sonst nicht kannte. Sie duzten sich nicht – Maaß duzte keinen im Büro. Er war ein wenig irritiert: In zehn Jahren hatte Lars sich nicht einmal so direkt an ihn gewandt. Auf den ersten Blick sprach auch alles dafür, dass sie beide sich denkbar fern standen. Doch gibt es eine Distanz, die ihren Grund in großer innerer Nähe hat. Vielleicht war das hier der Fall, Maaß hatte es schon manchmal gedacht.

     Wie Lars jetzt dalag, es hatte rein gar nichts Dominantes. Ähnelte seine Haltung nicht sogar einer bei vielen Säugetieren vorkommenden Geste der Unterwerfung? Wirklich, er machte Männchen, man konnte es so sehen. Das Menschliche geht oft ohne klar erkennbare Abgrenzung ins Tierische über … Lars würde niemals irgendwo Chef werden … Mit unseren Verwandten im Tierreich soll man sich nicht zu sehr einlassen, schon gar nicht bei ihnen auf Vergleiche mit uns. Lässt man es da an Distanz fehlen, kann es schnell peinlich werden. Maaß dachte an ein Zwergschimpansenmännchen im Zoo, es hatte, als es von Maaß durch die Stäbe seines Gitters betrachtet wurde, mit einer auch jedem Menschenmann vertrauten Handlung begonnen, die Maaß dennoch schockiert hatte, obwohl sie es eigentlich nicht tun konnte. So etwas war intim und sollte es auch bei Affen bleiben.

     Lars machte an diesem Morgen den Eindruck, irgendwo einzutauchen oder unterzugehen, jedenfalls zu verschwinden. Und so war es auch: Er versank für sie beide, Liane und Maaß, wie sie für ihn. Lars hatte gekündigt, es war sein vorletzter Tag im Büro.

     Es ging der Firma seit längerem nicht mehr gut. Die Fusion mit einer anderen war so gut wie beschlossen. Nun wusste fast jeder, sie würden von einem ebenso maroden Betrieb geschluckt werden. Daher zog Lars einen Neuanfang woanders dem absehbaren Tohuwabohu hier vor. Das war eine mannhafte Reaktion. Maaß würde auch gern so gehandelt haben, wäre er viel jünger gewesen. Ihr Altersunterschied belief sich auf etwa zwanzig Jahre, er wusste es nicht genau.

     Für Maaß war der Sommer des Lebens schon länger vorbei. Auch deshalb wäre es, sagen wir unpassend gewesen, sich in Lars zu verlieben. Das Tabu war dreifach: Einen Kollegen gleichen Geschlechts ließ man in Ruhe, zumal wenn er viel jünger war und, wie einem berichtet wurde, an Frauen interessiert. Und dann entsprach Lars trotz seines wirklich hübschen Gesichtes nicht vollkommen Maaß’ Geschmack. Sein Auftreten war ihm einerseits nicht viril genug und andererseits – so kompliziert ging es hier zu – doch auch wiederum nicht genügend unmännlich. Lars war einer von denen, die Marlboro rauchen, Motorrad fahren und mit Erfolg an ihrer Figur arbeiten, das heißt etwas aus ihr zu machen verstehen, das nicht in ihr angelegt ist. Abgründe lassen sich erahnen, wenn so einer über den Büroflur geht. Es ist eben kein festes Auftreten, er ist seiner selbst nicht sicher, dafür willig, sehr bemüht und knabenhaft, zwar nicht knabenhaft leicht, dennoch trabend. (Es trippeln zu nennen, würde Bosheit verraten.)

     Er war eine Art Waldbauernbub mit einem Römerkopf. Dass sie ihm zu Hause in Freiburg diesen Vornamen gegeben hatten, war vielleicht auch daran schuld, dass er mit Anfang zwanzig in den Norden ging. Man erzählte Maaß, er sei wegen einer jungen Frau nach Bremen gekommen und die Beziehung sei schon nach kurzem gescheitert, worunter Lars erheblich leide. Maaß bekam ihn damals nur selten zu Gesicht, Lars war weiter entfernt im Hause tätig.

     Vor drei Jahren brachte eine Reorganisation sie räumlich näher, ihre Zimmer lagen nun auf einem Flur einander schräg gegenüber. Ihr Verhältnis blieb unterentwickelt. Freiwillig suchte einer den anderen auch aus dienstlichem Anlass nur selten auf. Lieber ließen sie ihre Berechnungen von anderen Kollegen nachprüfen. Allerdings waren sie verpflichtet, sich im Fall von Urlaub oder Krankheit gegenseitig zu vertreten. Maaß, der es vermieden hatte, Sympathie für Lars zu entwickeln, lernte nun Lars’ Arbeit schätzen; er hatte sie wirklich gern. Da war alles, was notwendig und zweckmäßig war, dafür fehlten Schnörkel und Schwulst. Das war sehr nach seinem Geschmack. Und alles war leicht nachzuvollziehen. Fehler unterliefen ihm selten. Bald war Maaß sich darüber im Klaren, dass Lars der produktivste Kopf der ganzen Abteilung war – und, was sehr angenehm war, ohne es irgendeinen fühlen zu lassen. Er blieb still für sich, arbeitete rasch und viel. Maaß erkannte sich in ihm wieder, so wie er fünfzehn oder zwanzig Jahre früher gearbeitet hatte. Bald sah er auch, was sie unterschied: Lars war ohne die Schärfe, die ihn, Maaß, in seinen jungen Jahren oft schwer erträglich gemacht hatte. Dieser junge Mann, der Marlboro rauchte, Motorrad fuhr und an der Vervollkommnung seines Körpers arbeitete, erschien anderen gegenüber durchaus sanft. Die stilisierte Fassade war nur wie eine Halbmaske vor einer ganz anders gearteten Persönlichkeit. Er ließ im Umgang mit anderen Aggressivität vollständig vermissen und zog sich, wenn er sich verletzt fühlte, auf sich selbst zurück.

     Und wenn Maaß noch immer nicht gern etwas von ihm nachprüfen lassen wollte, dann weil er nun fürchtete, Lars könnte Fehler entdecken und ihn dann weniger schätzen als bisher. Denn mit nicht geringer Befriedigung hatte er vielen kleinen Anzeichen entnommen, dass ihre Wertschätzung gegenseitig war. Beide bemühten sich mit Erfolg, dies dem anderen wortlos, durch Gesten, Kopf- und Handbewegungen der Besänftigung und Begütigung – wo es im dienstlichen Verkehr doch gar nichts zu besänftigen gab – zu verdeutlichen. Wie Maaß sprach auch Lars schnell und undeutlich. Einem Beobachter, den es indessen nicht gab, würden sie in ihrem Verhalten ein merkwürdiges Schauspiel geboten haben: nuschelnd, voller Anerkennung, wenn nicht Ehrerbietung, die sie jedoch nie in Worten äußerten, sondern nur im Tonfall, in Blicken, in Gebärden. Und beide machten, dass sie immer rasch wieder aus dem Zimmer des anderen herauskamen.

     Einmal unterliefen Lars in einer Sache kurz hintereinander drei unbedeutende Fehler, die Maaß behutsam monierte. „Oh, ich kann gar nichts mehr …“ Lars wollte getröstet werden, und Maaß lobte ihn sehr sanft, wenn auch in negativer Form: „Nein, nein, so ist es nicht …“

     Manchmal fragte sich Maaß, wie der andere eigentlich sein privates Leben verbringe. War Lars verheiratet, hatte er Kinder? Alles war möglich und blieb unbestimmt. Er wollte sich nicht bei anderen danach erkundigen und blieb unwissend. Sonderbar war es, wenn Lars auf seine scheinbar schwerelose, unbedeutend erscheinende Weise über den Flur eilte, beschäftigt, vielleicht durch irgendetwas bedrückt und manches Mal so, als wäre er nicht ganz hier. Maaß erfuhr, er wohne seit einiger Zeit in einem wenig renommierten Viertel der Stadt, das Fremde gewöhnlich nicht zu Gesicht bekommen.

     Im Lauf der Zeit schlossen sich beide, Lars und er, jeweils von ihrer Seite Liane an, so dass sie insgeheim beinahe einen Dreibund bildeten. Lars und Maaß unterhielten über Liane einen indirekten Meinungsaustausch. Das hat mir Lars auch schon gesagt, war eine häufige Antwort von Liane.

     Lars ging also nach Freiburg zurück. Maaß wusste es seit vier Wochen.

     Im Bewusstsein der ablaufenden Zeit gaben sich beide freier, nahmen sich dienstlich öfter in Anspruch und lächelten schon einmal dabei, was früher so gut wie nie vorgekommen war. Den eigentlichen Durchbruch erreichte Maaß, als er Lars bat, ein relativ umfangreiches und kompliziertes Zahlenwerk zu überprüfen, und dabei erkennen ließ, er wende sich mit Absicht gerade an ihn, da die Sache schwierig sei.

     An diesem vorletzten Morgen gingen sie bald auseinander. Später begegnete Lars Maaß auf dem Flur und grüßte ihn noch einmal kopfnickend. Lars wirkte dabei bedrückt und Maaß nahm sich vor nachzuholen, was zehn Jahre unterblieben war: ein persönliches Gespräch. Diesen Vorsatz trug er schon Tage mit sich herum, seit einer Unterhaltung mit ihrem gemeinsamen Chef.

     Der Chef stand an Jahren Lars näher als Maaß und Lars und er duzten sich, ohne dass es viel zu bedeuten schien. So war es bei den jüngeren Kollegen nun einmal üblich. Liane hatte zu ihm, Maaß, eines Tages gesagt: Sie sind hier ja gewissermaßen eine Institution – und er hatte nur mit Mühe nicht ergänzt: Sagen Sie doch gleich Fossil.

     Maaß sprach also den Verlust an, den der Weggang von Lars bedeute, und dass es schlecht für den Betrieb sei, wenn einer wie er kündige. Der Chef gab ihm nur teilweise Recht. Sicher, Lars sei ungewöhnlich tüchtig und er sei auf längere Sicht nicht wirklich zu ersetzen, keine Frage, so sei es. „Aber es sind bei ihm private Gründe“, fuhr er fort, „er war sehr  unzufrieden. Unter uns und im Vertrauen: Im Winter war er einmal bei mir im Zimmer und hat sich beklagt, dass er hier keine Freunde findet. Und dabei hat er sogar geweint. Verstehen Sie, deshalb geht er fort.“

     Er musste da noch etwas in Ordnung bringen.

     Am Spätnachmittag ging er zu ihm. Seine Tür stand offen, und alle anderen, auch Liane, waren schon fort.

     „Nun haben Sie es fast hinter sich. Sind Sie froh?“

     Ja, er war es und zeigte es, indem er hörbar ausatmete. Den Umzug habe er schon im Voraus hinter sich gebracht, seine Sachen seien bereits bei einer Tante in Freiburg. Eine neue Wohnung habe er noch nicht. Nur eines sei sicher: Übermorgen früh verlasse er Bremen für immer.

     Maaß sagte, ein wenig kenne er sich ja in Freiburg aus, wo er dort arbeiten werde und ob er aus Freiburg selbst komme? So erfuhr er, Lars sei eigentlich aus dem Münstertal, später habe er in Waldkirch gewohnt, und seinen Zivildienst habe er in Lörrach absolviert. Maaß versuchte, das ungefähre Alter von Lars zu errechnen, und kam jetzt auf vierunddreißig Jahre. Erstaunlich, er war also gar nicht mehr so jung, wie er ihm immer vorgekommen war. Lars sagte, die zehn Jahre hier seien eine harte Schule für ihn gewesen.

     Er redete jetzt locker darüber, wie er in Freiburg an verschiedene Türen geklopft hatte, bis er genommen worden war. Während er über seine Zukunft sprach, dachte Maaß: Eigentlich ein ganz normaler junger Mann, man muss nur mit ihm reden, und schon verflüchtigt sich dieser Eindruck des Besonderen. Er wird vielleicht in Zukunft zufriedener sein, kein einsamer Benjamin mehr wie hier.

     Aber Lars sagte gerade: „Ach, wahrscheinlich kommt doch alles anders, als ich denke.“ Ein Hauch Resignation war schon zu spüren. Dachte er an den Beginn seiner Bremer Zeit zurück?

     „Lohnt sich der Wechsel auch sonst für Sie? Ein Stück Karriere?“

     „O nein. Keine Veränderung.“ Er sah zu Boden und fügte leise hinzu: „Das ist mir auch gleich.“ Es hatte etwas von endgültigem Verzicht. Maaß dachte: Und gerade ich müsste es begreifen, das will er auch sagen.

     Sie kamen sich noch näher. Ob Maaß wisse, dass er, Lars, sich letzten Winter hier im Haus um diesen speziellen Posten beworben habe? Maaß wusste wie üblich nicht einmal, dass etwas vakant war. Eine Entscheidung sei zwar noch immer nicht gefallen, aber für ihn, Lars, sei die Sache gestorben, als er erfahren habe, dass auch Nessler sich gemeldet habe und nicht einmal chancenlos sei.

     „Was, ausgerechnet Nessler?! Das kann nicht sein.“

     „Doch, und das war für mich das Signal. Sich das vorzustellen …“

     „Nun, wissen Sie, wenn er es wird: Er hat ja eine gewisse … Ausstrahlung.“

     Lars begriff sofort, wie das gemeint war: „Genau, alle müssen ihn für einen tollen Typen halten und er lässt andere die Arbeit für sich machen.“ Er lachte ärgerlich.

     Also Nessler war der Anlass gewesen. Mit diesem wenig tüchtigen, wenig beliebten, dafür stark geltungsbedürftigen Kollegen hatten sie beide zu verschiedenen Zeiten das Zimmer geteilt. Nur auf einem Gebiet war Nessler erfolgreich, eben jenem, auf dem Maaß gar nicht angetreten war. Die jungen Frauen schienen sich ihm wider besseres Wissen auszuliefern und verachteten ihn später für etwas, das in erster Linie sie selbst zu verantworten hatten. Nessler folgte nur seiner Natur. Er war abwechselnd Macho und Softie, wie es sich gerade ergab, dabei von seiner Rolle jeweils tief überzeugt. Jetzt also wieder Nessler, geschiedener Ranke, geborener Nessler. Er würde nicht zögern, den Namen erneut zu wechseln, es müsste sich nur etwas Glanz damit erborgen lassen. Der Nimbus war für ihn schon Inhalt. Seine Nähe war Maaß auch körperlich unangenehm gewesen. Er mochte nun einmal keine Männer, die die Frauen allzu sehr liebten. Und so einen hasste Lars geradezu? Sie bildeten in der Tat ein Paar extremer Gegensätze. Wenn Lars seiner Natur nach nicht anders konnte, als mehr zu sein als zu scheinen, so ertrug er den Triumph des Scheins doch nicht, ja nicht einmal dessen fortdauernde Existenz neben sich. Auch Lars wollte erkannt und anerkannt und vielleicht geliebt werden. Das Drama des spröden Tüchtigen, es war seines. (Er sagte im Zusammenhang mit seiner Bewerbung: „Die Meinungen über mich waren hier im Haus ja sehr geteilt.“ – Maaß antwortete: „O nein, nein, das ist gar nicht möglich.“)

     Sie würden sich morgen noch einmal sehen, beim Abschied, sagte Lars und dann machten sie Feierabend.

     Nein, er, Maaß, begehrte Lars körperlich noch immer nicht. Er war durchaus nicht sein Typ. Punktum. Nur seelisch harmonierten sie hervorragend. An diesem Abend wünschte er sich zum ersten Mal, die Sympathie offen zeigen zu können. Nur wie?  Nicht lächeln. Vielleicht den Arm um ihn legen. Aber er würde es nicht tun, es war nur eine Phantasie.

     Am folgenden Tag kam kaum einer von ihnen zum Nachdenken, so viel war im Büro zu tun. Lars hatte am Vortag angekündigt, an diesem letzten Tag werde er nichts mehr arbeiten. Aber Maaß sah, dass der Drucker noch immer Briefe auswarf, die Lars für den Betrieb versandte. In seinem Zimmer waren auf Tellern Süßigkeiten aufgehäuft, Maaß sah es beim Vorbeigehen an seiner offenstehenden Tür. Ab und zu war einer bei ihm, um sich zu verabschieden, doch kamen nicht viele. Maaß hörte einmal, wie Lars drinnen gerade einen Film rühmte, der ihm gefallen hatte: Das Kondom des Grauens. Identifiziert er sich mit dem einsamen Mackeroni? Und wer wird dann sein Billy sein?

     Zufällig war es für Maaß der letzte Tag vor einem längeren Urlaub. Er wollte seine Sachen zu einem gewissen Abschluss bringen und für die letzte Stunde stand noch ein Termin auf seinem Kalender. Auf dieses Gespräch bereitete er sich intensiv vor.

     Am Vormittag begegnete er Lars auf dem Flur. Es war vor den Aufzügen, Lars kam die Treppe herauf und grüßte ihn. Dabei machte Maaß eine für ihn neuartige Beobachtung. Er hatte gelegentlich in Büchern davon gelesen, dass seelische Anspannung die Augenfarbe des Menschen verändern kann. Was war schon dabei, auch die Wangen röteten sich so oder einer wurde blass … Nun nahm er erstmals bewusst diese Erscheinung wahr. Es gab das wirklich, ein Phänomen, blitzartig schnell und bestürzend intensiv. Er hatte Lars nie in die Augen gesehen und konnte nicht sagen, welche Farbe sie hatten. Das war auch jetzt nicht festzustellen, denn da war nur noch Strahlung, hellstes Licht, blendend aus der Tiefe. Lars lächelte nicht einmal, es waren auch keine glänzenden oder strahlenden Augen im gewöhnlichen Sinn. Er war um die Ecke gebogen, stand unvermittelt vor Maaß, und dann brach sofort das Licht hervor, wie eine Karstquelle plötzlich als Quelltopf mit starker Schüttung an die Oberfläche tritt. Sie sagten nichts und gingen gleich wieder auseinander. Etwas hatte sich soeben materialisiert, reine Heiterkeit, nur noch Bejahung. Es war eine Kraft unbekannter Herkunft und ungeahnter Stärke und Dauer. Sollte man es Seele nennen?

     Der Termin wurde in letzter Minute abgesagt. Maaß saß eine Weile untätig und unruhig herum. Gegen halb vier ging er hinüber. Als er ins Zimmer trat, kehrte ihm Lars gerade halb gebückt den Rücken zu. Er war dabei, letzten Krimskrams in eine Schachtel zu verstauen. Auf den Tellern lagen noch Berge von Süßigkeiten, es war wenig genommen worden.

     „Ich will mich jetzt auch von Ihnen verabschieden.“ Es erschien Maaß unpassend, Lars, der ihn nicht hatte hereinkommen hören, so von hinten anzusprechen.

     Lars richtete sich auf und drehte sich dabei um. „Ah ja, Sie sind es …“

     Er war anders als sonst angezogen. Statt der ewigen blauen Jeans und des blauen oder schwarzen Pullis etwas beinahe in der Art eines Jagdanzuges, vielleicht seine Reisekleidung, eine Jacke und eine Hose von für die Jahreszeit etwas zu dickem braunem Stoff. Er stand schon als Privatmensch vor ihm. Der konventionelle sportliche Dress war dem Älteren an Lars oft wie eine missglückte Verkleidung vorgekommen. Das Braun des Jagdkleides harmonierte nun ideal mit der Haarfarbe und dem dunklen Teint der Haut und der weiche, nachgiebige Stoff ließ dem Körper viel Freiheit, ein schöner Anblick, eine letzte Verwandlung. So wurde er für Maaß doch noch begehrenswert, kurz bevor er verschwand.

     Die Rollen waren neu verteilt. Lars schien zu spüren, dass er als der in die Freiheit Entschwindende den Verlust eines anderen erträglicher zu machen hätte, es mit untauglichen Mitteln versuchen müsste.

     „Nehmen Sie ein Bounty, nein, nehmen Sie zwei.“ Und Maaß nahm zwei, er, der sonst die Zimmer mied, in denen gefeiert wurde.

     „Alles Gute für Sie.“ Sie gaben sich zum einzigen Mal die Hand. (So also fasst ein Stück Leben sich an, das einem sympathisch ist.)

     „Und danke für Ihre Vertretung …“

     Lars würde noch mehr Unbrauchbares zusammengesucht haben, doch Maaß ertrug das nicht mehr und sagte auf seine allzu direkte Art, mit der er sonst andere oft vor den Kopf stieß: „Mir tut’s leid, dass Sie weggehen.“

     Das war bereits das Schlusswort, mehr gab es nicht zu sagen. Auf dem Gesicht gegenüber zuckte es schon, und B. wollte es nicht dahin kommen lassen, dass noch einmal geweint würde – nicht ausgeschlossen, dass sie es dann beide täten. Er murmelte nur noch einmal „Alles Gute“ und verließ das Zimmer.

     Draußen auf dem Flur traf er Liane, die gerade nach Hause ging. „Sie sind so verändert … Was ist mit Ihnen? Liegt es daran?“ Sie wies mit dem Kopf in die Richtung von Lars’ Zimmer.

     Maaß fand schon wieder die Kraft zum Lügen. „Nein, nein, ich hatte nur sehr viel zu tun, ausgerechnet am letzten Tag. Und dann ist eben noch ein Termin geplatzt. Stundenlang habe ich mich darauf vorbereitet. Schönen Feierabend, bis in vier Wochen.“

     „Schönen Urlaub Ihnen.“

     Von jetzt an wird Lars immer da sein, ein Gefährte, der einem fehlt. Oder ein viel geliebter Vorwurf gegen sich selbst.

 

Der Prinz und der Praktikant

                                                          1

 

Bastian lachte mich zur Begrüßung erst mal aus: „Dass es dich hierher verschlagen hat, na so was … Und dass gerade wir zwei uns in der Anlage Ferienglück treffen müssen - Kismet, würd ich mal sagen. Also, dann willkommen und viel Glück, wenn’s auch keine Ferien sind. Ich werd dich schon einweisen …“ Er grinste breit und schien sich über meine Ankunft tatsächlich zu freuen. Ich kannte ihn mehr oder weniger flüchtig aus den Kneipen, nur vom Reden und Rumalbern. Wir würden nie was miteinander haben, das hatte von Anfang an festgestanden. Er war kaum älter als ich und hier schon Geschäftsführer und ich war der neue Praktikant.

Bald verstand ich, dass ich für ihn jetzt doch die große Abwechslung in einer monotonen Einöde sein musste. Ich war den Weg vom Bahnhof zu Fuß über die Landstraße gegangen, nur das Nötigste für eine Woche dabei. Falls ich überhaupt bleiben sollte, würde ich am ersten freien Tag mehr von meinen Sachen aus Berlin nachholen. Man weiß doch vorher nie, wie es vor Ort abläuft. Der Anblick von „Ferienglück“ war von unten wirklich imposant: die vielen übereinander gestaffelten kleinen Holzhäuser, dunkelbraun, auch horizontal dicht beieinander. Es kam mir fast wie ein altes Bergdorf im Himalaja vor, so wie es für Bildkalender gern aufgenommen wird. Doch als ich den steilen Hang hinaufging, auf der schmalen Zufahrt mit der uralten, rissigen Teerdecke, sah ich, wie heruntergekommen die Anlage insgesamt war: die meisten Terrassen von Unkraut und Gebüsch überwuchert, hier und da im Gelände einzelne Baumruinen, Birken oder Kiefern, großflächig abblätternd der dunkelgrüne Lack an Fensterrahmen und Türen. Bastian sagte, die Bungalowkolonie sei vor gut dreißig Jahren als Betriebsferienheim für sächsische Werkzeugmacher gebaut worden. „ … und nach der Wende nie grundsaniert, bloß notdürftig in Schuss gehalten und billig vermietet.“

Von den drei Dutzend Bungalows waren noch zehn vermietbar und nur drei davon gegenwärtig belegt: langfristig von zwei Monteuren und einem Handelsvertreter. Bei Bedarf kam eine Frau aus dem Dorf zum Reinemachen. Bastian hatte wenig zu tun, weder an der Rezeption noch mit der Aufsicht über die Anlage. Wozu brauchten sie dann einen Praktikanten, auch wenn er fast umsonst arbeiten würde? „Du übernimmst einfach meinen Job“, sagte Bastian. Es war so: Anfang des Jahres hatte der Eigentümer gewechselt, der neue Investor aus Westfalen, Brömmelmeier mit Namen, würde nach der Saison die Häuser modernisieren, die Außenanlagen wieder herrichten lassen, und Bastian hatte, wie er sagte, schon genug mit den Vorarbeiten dafür zu tun. „Außerdem stehen die Sommerferien vor der Tür. Da kommen immer spontan Familien. Es gibt viele Seen in der Umgebung …“

Ich erfuhr, dass ausnahmsweise sogar Prominente, Künstler in diesem Billigparadies unterkämen. „Adlershof schickt uns manchmal Leute, die bei einem Film mitwirken. Nächste Woche kommt wieder einer für acht Wochen, ein Schauspieler diesmal, ganz was Exotisches …“ - „Kenn ich den Namen?“ – „Ich glaube, Han-Sen oder so ähnlich.“ – „Klingt irgendwie berühmt, nicht?“ – „Ach, nein, er spielt nur eine Nebenrolle. In einer Serie besetzen sie eine Hauptnebenrolle mit ihm, er ist dann irgend so ein Prinz aus dem Morgenland.“ – „Aber ist Han-Sen nicht chinesisch?“ – „Ja, kann sein. Aber er kommt aus Thailand. Oder war es Vietnam?“ – „Vielleicht Singapur oder Malaysia?“ – „Frag ihn selbst. Er soll hübsch sein, hat man mir gesagt.“

 

 

                                                                  2

 

Der Filmprinz hatte einen thailändischen Pass und trug sich mit Dong Hansen ein. Ich sprach ihn mit „Welcome, Mr. Han-Sen“ an, und er korrigierte mich auf Deutsch: „Hansen, wie mein Vater, aus Hannover. Er war auch in der Hotelbranche.“ Als er sah, wie verdutzt ich war, fügte er hinzu: „Nur der Vorname ist asiatisch. Meine Mutter ist Chinesin, aber aus Thailand.“ – „Also Deutsch als Muttersprache vom Vater, sozusagen – Sie sprechen es gut.“ – „Hildesheim, von Hildesheim, da war ich lange, bei meiner Tante.“

Er war tatsächlich gutaussehend, doch auf eine Art, die mich nicht anzieht, sondern nur langweilt. So sieht vielleicht ein amerikanisierter Ostasiate aus, wenn er Broker an der Wallstreet ist, stelle ich mir vor. Aber ein Schauspieler, der auf zwei Kontinenten zu Hause ist? Alles an ihm war brav und unauffällig, die Kleidung, die Manieren, die Mimik, sogar der Schnitt seines Gesichtes – es war noch etwas durchaus Asiatisches darin enthalten, aber es war, wohl vom deutschen Vater her, zugleich so dezent geworden, dass das Fremde sich halb unsichtbar gemacht zu haben schien: ein biederer Bewohner der norddeutschen Tiefebene mit Andeutung von Mongolenfalte. Er trug unter einem weißen Jackett ein schwarzes Hemd, darin wirkte er wie der jüngste Angestellte eines Beerdigungsunternehmens auf dem jährlichen Betriebsausflug. Befangen schweigend ließ er sich von mir zu seinem Bungalow führen. Während ich ihm die Räume zeigte und die Funktion von Dusche und Jalousien erklärte, wandelte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig ins Prinzlich-Hochmütige. Ich fing schon an, seine guten Manieren zu hassen. 

„Lass dich nicht gehen“, sagte Bastian zwei Stunden später, „er Gast, du Rezeptionist.“ Bastian war geschäftlich unterwegs gewesen, ich beklagte mich jetzt bei ihm über die Erscheinung des Prinzen. Meinem Chef fiel noch etwas ein: „Einmal hat er doch eine Hauptrolle gehabt, die Rolle seines Lebens wahrscheinlich. Hast du mal ‚Der hundertste Längengrad?’ gesehen?“ – Und ob ich den Film kannte! Er war einer der seltenen Streifen, die mir nach einmaligem Anschauen nach Jahren noch mit vielen Details präsent sind. Dieser junge Herr Hansen aus Hannover, Hildesheim und meinetwegen auch noch aus Bangkok, er hatte den jungen Thai gespielt, der im Kampf mit der Mafia untergeht? Schwer zu glauben. Ich konnte es jetzt nicht in Ruhe überprüfen … Ich überlegte, wann ich den Film im Kino gesehen hatte: vor etwas mehr als zwei Jahren, und zwar als Originalfassung mit deutschen Untertiteln.

In meinem Bungalow kam ich mit dem Smartphone nur schwer ins Internet. Bastian hatte mir eines der Häuschen zugewiesen, die nicht mehr vermittelt wurden. Die billigen Möbel aus der ersten Nachwendezeit waren abgenutzt, reif für den Sperrmüll. Das verstand sich hier alles von selbst, die durchgelegenen Matratzen, die fleckigen Polster, die abgestoßenen Ecken der Möbel, die ihr Zellulose-Innenleben vorzeigten. Einige Jalousien ließen sich nicht mehr hochziehen, andere klemmten, wenn ich sie herunterlassen wollte. Ich war dort nur zum Schlafen, ich aß in dem kleinen Büro im Hauptgebäude oder ich ging für warmes Essen ins Dorfgasthaus. Abends surfte ich meistens von der Rezeption aus im Netz, so auch an diesem ersten Tag.

Zuerst sah ich mir den Trailer zum Film an. Dann überprüfte ich Hansens Angaben – alles stimmte, der Vater aus Hannover, die chinesische Mutter, die Hildesheimer Tante. Er war Dong Hansen, schon lange nur noch in Bangkok zu Hause, und Dong – ich fing jetzt an, ihn bei mir mit Vornamen zu nennen – war Arun gewesen. Ich ließ den Trailer noch mal ablaufen, ich fand einzelne ins Netz gestellte herausragende Szenen. Der Film war wieder als Ganzes in meinem Kopf.

Wie die anderen Thai-Filme, die ich kannte, war auch dieser extrem gewesen: wieder einmal Blut, Schweiß und Tränen, also sehr viel Gewalt und noch mehr Gefühl. Dong hatte das Kunststück fertiggebracht, seine Rolle sowohl stark zu idealisieren wie auch zugleich eine Figur zu präsentieren, die vollkommen natürlich erschien. Er gab sie warmherzig, ohne dabei zu übertreiben. Häufig zeigte er mit einem Lächeln sein Empfinden für komische Situationen an. Das wirkte sehr sympathisch. Es war auch erotisch, aber nur nebenbei, es war vor allem allgemeinmenschlich einnehmend. Dasselbe galt für sein zweites mimisches Hauptmittel. In problematischen Situationen verriet sein Gesicht in verschiedenen Abstufungen Unsicherheit, Besorgnis, Frustration, und zwar so, dass man wiederum stark mit ihm fühlte. Arun war eine Art irdischer Bodhisattva. Er war sanft, mitfühlend, verantwortungsbewusst, redlich und weise. Er wirkte auch physisch viel asiatischer als unser Herr Hansen, vielleicht das Ergebnis von Postproduktion, seine Haut dunkler, stark ins Olivbraune spielend.

Bastian ließ sich am Tresen blicken, das tat er auch in der Folgezeit abends manchmal, wenn ich dort saß. Ich klickte die Filmszene rasch weg. Bastian fragte nie, was ich mir ansehe. Er sagte: „Der Prinz ist zurück. Das Taxi hat ihn gerade aus Berlin gebracht.“ – „Wird er auch morgens abgeholt?“ – „Ja. Sie haben wohl einen Vertrag.“ Unser Gespräch kam nicht in Gang. Ich schob vor, bald schlafen gehen zu wollen und verzog mich.  

 

 

                                                                           3

 

Spätabends stand ich einige Tage später hinter meinem Wohnzimmerfenster und ließ den Blick wieder über „Ferienglück“ schweifen. Ich hatte bei mir im Zimmer noch kein Licht gemacht und meine Augen gewöhnten sich rasch an den geringen Grad von Helligkeit draußen. Rundherum, neben und unter meinem Quartier, standen alle Bungalows dunkel und leer unter einem halb verhangenen Nachthimmel. Verstörend wirkte der Umstand, dass die Häuschen einander so eng benachbart waren. Die verwahrloste Terrasse vor mir, die ich nie benutzte, hatte das Teerpappendach eines der unteren Bungalows direkt vor sich. Schweigen und Verfall waren umfassend und bezogen meine Innenräume mit ein. Ich war ein isoliertes Individuum in einer entvölkerten Stadt, die ebenso tot wie dicht gebaut war.

Warum war ich noch hier? Es gab bei so wenigen Gästen, so wenigen Anfragen kaum etwas für mich zu tun. Von Bastian kamen gelegentlich defätistische Äußerungen. Er glaubte nicht mehr an die Zukunft der Anlage. Bei meiner Ankunft hier war er vermutlich nicht ganz aufrichtig gewesen. Ich glaubte, dass er sich längst nach einer neuen Stellung umsah. Nun, meine Zeit hier war auch begrenzt. In so und so viel Wochen würde ich wieder in Berlin sein, frei, mit einem Stück Papier für weitere Bewerbungen und einem kleinen Plus auf meinem Konto, hoffentlich.

Ein Lichtfunke sehr hoch am Himmel war ein Flugzeug, das seinen Weg nach Schönefeld suchte. Es kam von Osten, da Westwind wehte, vielleicht kam es aus Asien. Ich folgte erst seiner sehr langsam absteigenden Bahn, dann zog ein anderes Licht am Boden meinen Blick davon ab. Ein breiter Spalt zwischen zwei Bungalows schräg unter mir bildete einen Sehkanal in Richtung auf das Haupthaus, das selbst nicht sichtbar wurde, dafür an seiner Stelle das noch vorzeigbare, vermietbare und jetzt von innen erleuchtete Haus daneben. Dong war also daheim und wach. Bereitete er sich auf seine jetzige oder eine künftige dramatische Rolle vor, in die er mit Hilfe vollständiger Metamorphose demnächst für einige Stunden schlüpfen würde, um abends wieder der blasse Privatmensch zu werden?

Vollkommen naiv war ich natürlich nicht. Ich wusste recht gut, dass Schauspielerpersönlichkeit und Rollencharakter zwei möglichst sauber zu trennende Sachverhalte sind. Den Darsteller des Karl Moor am Bühnenhintereingang zu küssen, würde mir nicht einfallen. Dennoch musste es irgendeine Brücke, ein inneres Verbindungsglied geben vom Darsteller zum Dargestellten, einen Anknüpfungspunkt, ein Minimum von Seelenverwandtschaft. Das im konkreten Fall im Verhältnis von Dong zu Arun herauszufinden, ich empfand es in diesem Stadium zunehmend als eine von mir zu lösende Aufgabe. Langeweile hier und Enttäuschung über Dongs desillusionierende Erscheinung verbanden sich zu dieser fixen Idee in mir.

Wir hatten in jenen Tagen wenig Kontakt zu unserem Prinzen. Einmal kam er morgens, da sein WC defekt war und ständig Wasser nachfloss. Das ließen wir noch am selben Tag reparieren. Dong kam abends bei mir am Tresen vorbei, um sich freundlich, wenn auch prinzlich gemessen, fast reserviert, zu bedanken. Ich war nicht mehr im Dienst und nur noch privat im Netz unterwegs und klickte rasch weg, was ich mir gerade ansah: den Wikipedia-Artikel über Bangkok. Er beklagte sich über die seit Tagen herrschende Schafskälte. Ich gab ihm eine Decke aus unserem Wäschelager mit. Ich rollte sie zusammen, er klemmte sie unter seinen linken Arm und ich glaubte dabei erstmals etwas Spontanes auf seinem Gesicht zu entdecken: ungespielte Vorfreude auf Bettwärme.

Den übernächsten Tag hatte er frei und verbrachte ihn fast ganz in seinem Bungalow. Es war ein Sonntag, ich arbeitete trotzdem. Ich wässerte den Rasen vor dem Haupthaus, als er dazukam, offenbar um einige Worte zu wechseln. Ja, es war wieder wärmer geworden, ja, er kam in Adlershof gut zurecht. Schwierig sei nur das Einkaufen von Lebensmitteln für daheim. Manchmal lasse er den Taxifahrer unterwegs an einem Supermarkt halten und besorge rasch das Nötigste. Ich bot Hilfe an, übereifrig, wie Bastian mir später vorhielt. Dong gab mir also zweimal in der Woche eine kleine Liste und ich ließ mich von Bastian zum Discounter im größeren Nachbarort fahren. Es waren nur wenige einfache Grundnahrungsmittel wie Nudeln, Brot oder Fischkonserven. Wenn Dong sie abends entgegennahm und mit mir abrechnete, tat er es gelassen freundlich. Obwohl es nicht selbstverständlich war, was wir für ihn taten, schien er es vielleicht doch so aufzufassen.

Ich war also inzwischen in ein nicht näher zu definierendes persönliches Fürsorgeverhältnis zu ihm getreten. Ich war jetzt neugierig auf ihn selbst, auf eine neutrale Weise, im Kern nicht mehr angetrieben von Enttäuschung, wenn auch noch nicht von Erwartung. Nur dass er meiner Neugier vorerst so gut wie keine Befriedigung verschaffte.     

 

 

                                                                           4

 

Meine Vorahnung sollte sich bestätigen. Ende Juni stand Bastian eines Morgens reisefertig vor mir am Tresen, beinahe wie ein Gast, der den Schlüssel abgibt.

„Brömmelmeier ist am Ende. Er hat Insolvenzantrag gestellt.“ Bastian wirkte noch aufgeräumter als sonst, fast fröhlich. Er schob seine Reisetasche mit dem Fuß ein wenig hin und her. „Das Ende ist nah, nur noch nicht ganz bis zu uns gekommen. Aber ich werde es hier nicht erwarten - fällt mir nicht ein. Ich fahre gleich nach Leipzig, da steht schon was in Aussicht.“ Ihn nach Leipzig zu begleiten, komme für mich kaum in Frage, sagte ich ihm und hoffte zugleich, er würde es mir anbieten. Doch nicht einmal nach Berlin hätte er mich mitgenommen. Der Geschäftsbetrieb müsse aufrechterhalten werden, jedenfalls vorerst, sagte Bastian, und zwar durch mich; alles mit Brömmelmeier so abgesprochen. Er legte mir dar, wie wenig ich überhaupt zu tun hätte und dass für mich immer noch Aussicht auf Gehaltszahlung bestehe, es sei denn, ich würde vor Ablauf meines Vertrags „Ferienglück“ im Stich lassen.

Als er nachlegte und mir mit Haftung drohte, falls die Anlage ohne Aufsicht Schaden nähme, unterbrach ich ihn: „Du hast das kommen sehen und mich reingezogen, damit ein anderer die Stellung halten muss …“ Er quittierte es amüsiert lächelnd und ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er „Ich glaube, du willst jetzt gar nicht wirklich fort … Wie weit bist du eigentlich mit dem Thai?“ Darauf war auch meinerseits besser nichts zu erwidern, ich machte nur eine abwehrende Handbewegung. Dann besprachen wir das Praktische und zwanzig Minuten später startete er den Wagen. Mir ging durch den Kopf, ich müsse Dong noch am Abend wegen der Einkäufe Bescheid sagen.

Der Prinz erfuhr von mir nur, dass mein Chef geschäftlich länger fort sei. Ich würde nur noch einmal in der Woche mit dem Bus in die Stadt fahren und einkaufen können. Er nahm es, wie mir schien, sehr gleichmütig hin, als hätte es keinerlei Bedeutung. Ich stand vor seiner Tür, er bot mir nicht an einzutreten. Also ging ich zurück ins Büro und bald für meine Verhältnisse früh schlafen.

Am übernächsten Tag kam eine Mail von Brömmelmeier, ich durfte keine neuen Gäste mehr aufnehmen. Die beiden Monteure waren schon fort, sie waren gleich nach Bastians Weggang ausgezogen. Außer dem Prinzen und mir selbst wohnte also nur noch der Handelsvertreter in der Anlage, dachte ich. Ich sollte sie jetzt täglich inspizieren und auf einem meiner Kontrollgänge sah ich mitten am Tag die Tür zum Bungalow des Vertreters weit offen. Ich rief hinein und trat dann in den Vorraum. Auf dem kleinen Tisch dort lag der Schlüssel. Tatsächlich war auch dieser Gast, wovon ich mich drinnen überzeugen konnte, vorzeitig abgereist und er hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, Bescheid zu sagen. So etwas kam wohl vor, das wusste ich, doch mir schien es zu bedeuten: So weit ist es gekommen, hier spitzt sich jetzt alles zu …

Ich verbrachte die Tage mit Lesen, Schreiben, im Internet Surfen. Keiner kam zu mir mehr an die Rezeption, auch kein Anruf, keine Post, keine sonstigen Nachrichten. Ich hörte Dongs Taxi morgens herauf- und dann wegfahren, hörte, wie er abends zurückgebracht wurde. Seit jenem Abend war er nicht wieder zu mir gekommen und hatte keinen Einkaufszettel mehr abgegeben. Ich kaufte also nur noch für mich ein, trug die wenigen Artikel vom Bus den Berg herauf, auf dem ich festsaß. Die Einsamkeit und die Stille um mich herum nahmen nach meinem Gefühl immer mehr zu. Nur in großen Abständen ließen sich von der Landstraße unten her leise Fahrgeräusche vernehmen.

Es war inzwischen sommerlich heiß geworden. Die Hitze hielt bis zum Sonnenuntergang an. Ich vernachlässigte mich ein bisschen und ging nicht mehr warm essen. Neuerdings stellte ich mir abends einen Stuhl auf die Terrasse meines Bungalows und sah halbe und vielleicht auch ganze Stunden lang über die verlassene, so gut wie aufgegebene, doch immer noch unter meiner Kontrolle stehende Anlage vor mir, bis das zunehmende Dunkel ihre Konturen auflöste. Dieses Sitzen und Starren ins Dunkelgraue machte mich vollends gleichmütig. Wenn Dongs Licht aufglomm, war das ein Signal für mich, mich befriedigt zurückzuziehen und schlafen zu gehen. Als hätte ich erst jetzt mein Tagespensum voll erfüllt. 

An einem dieser Abende, es war kurz nach Sonnenuntergang, hörte ich Dong vor meinem Bungalow nach mir rufen. Ich stürzte durch die noch dunklen Räume hinaus. Wie hatte er überhaupt zu mir finden können? Er sagte, bei ihm sei kein Strom mehr da - bei mir auch? Mein erster Gedanke: Wir sind abgeschaltet, Brömmelmeier ist mit der Rechnung im Verzug. In diese Schreckensvorstellung mischte sich unmittelbar darauf eine andere Idee, die mich rasch aufmunterte: „Kommen Sie bitte herein, da sehen wir doch gleich mal nach.“ Ich ging voran, konnte zum Glück Licht machen, bot ihm einen Sessel an. Er versank tief in ihm und sah befremdet herüber. Zum Reden war er ja nicht gekommen … Also ließ ich ihn gleich wieder aufstehen und wir machten uns auf den Weg den Hang hinunter. Unterwegs schwiegen wir beide.

Auch im Haupthaus war der Strom noch da. Nur bei ihm blieb es dunkel. Wir unternahmen nicht viel, drehten im Schein meiner Taschenlampe erfolglos einige Sicherungen heraus und wieder hinein und gaben dann für diesen Abend auf. Ich sagte ihm, ein Elektriker müsse kommen, und behielt vorerst für mich, dass ich hier keinen mehr beauftragen würde. „Ferienglück“ war pleite, und das war gar kein so großes Unglück, schien mir jetzt. Ich nahm Dong mit zum Bungalow des Handelsvertreters. Auch er wäre normal nutzbar gewesen, nur hatte ich ihn nicht mehr reinigen lassen und die Bettwäsche war noch nicht abgezogen.

„Wenn Sie vorerst hier übernachten wollten …“ – „Oh ja, gewiss …“ Aber er zog nicht dahin um. Ich behauptete schnell, unsere Wäschekammer sei momentan leider leer, das sei mir jetzt noch eingefallen, und ohne Wäschewechsel sei das hier eben keine Alternative. Da wollte er sich erst drüben für eine Nacht mit Kerzenschein begnügen und war doch bald darauf einverstanden, zu mir überzusiedeln. Gemeinsam schafften wir sein Bettzeug den Berg hinauf.

Wir saßen noch eine halbe Stunde auf meiner Terrasse zusammen. Ich schenkte ihm zum Teil wenigstens reinen Wein ein. Klärte ihn auf, dass Bastian nicht zurückkommen werde und die Firma bankrott sei und die Anlage so gut wie stillgelegt. Er sagte erst nichts, blickte dann über die Ruinen vor uns und sagte: „Eine ziemlich romantische Situation … Passt irgendwie zu meiner Rolle jetzt.“ – „Die Serie?“ – „Ja, natürlich, die Serie. Ich lebe da im Exil. Wissen Sie, es ist das erste Mal, dass ich einen Prinzen spiele. Sonst waren es immer einfache junge Männer in Thailand. Sind auch ein bisschen sozialkritisch gewesen, diese Filme.“

Als wir ins Schlafzimmer gingen, sagte er, ohne mich anzusehen und scheinbar recht beiläufig: „Wir schlafen also bloß nebeneinander, ja? Sie müssen wissen, dass mich Sex langweilt.“ Wir sind tatsächlich an diesem ersten Abend beide bald eingeschlafen. Die Nacht verging so ereignislos wie die meisten anderen im Leben auch.   

 

 

                                                                              5        

 

Das lag mir fern: ihn verführen zu wollen. Dong war neunundzwanzig, sieben Jahre älter als ich und für mich kein Sexualobjekt - ich kann das nur immer wieder betonen. Aber war es nur seine Geschichte, die mich interessierte, nicht doch auch die Person?

Ein Elektriker wurde nicht gerufen. Dongs Bungalow blieb ohne Strom und er selbst einfach bei mir, ohne dass wir noch einmal darüber sprachen. So unspektakulär begannen unsere Tage und Nächte zusammen, es war zuerst kaum mehr als gemeinsames Wirtschaften. Ich fuhr nun wieder häufiger mit dem Bus zum Discounter und abends gingen wir oft ins Dorfwirtshaus essen, deutsche Hausmannskost. Man war dort an gelegentlich hereinschneiende Fremde gewöhnt, Dong erregte weiter kein Interesse und mich kannten sie schon vom Sehen. Die Insolvenz hatte sich anscheinend noch nicht herumgesprochen.

Dong änderte sein Verhalten grundlegend. Er war nicht länger der etwas steife, hoheitsvolle Fremdling. Von nun an schien das seine neue Rolle zu sein: die eines vertrauten Mitbewohners und Schicksalsgenossen. Wir duzten uns bald. In der ersten Zeit sprachen wir noch nicht viel miteinander. Er packte in unserem kleinen Haushalt mit an und oft ergriff er selbst die Initiative. Wir hausten teils im Hauptgebäude, wo wir kleine Speisen zubereiteten und ins Internet gingen, teils bei mir oben. Hier lasen wir, sahen fern und schliefen, ohne uns dabei viel näher zu kommen. Er war meistens etwas muffelig, doch darunter erkennbar der gute Kumpel. Seine Muffeligkeit nahm ich als Zeichen dafür, dass er mir gegenüber nicht länger schauspielerte. Erst jetzt schien er nur noch der Privatmensch Dong zu sein, der schweigend den Tisch deckte oder das Geschirr abwusch. Ich freute mich allein schon, wenn er den Inhalt des Kühlschranks kontrollierte, für frische Luft in unseren Räumen sorgte oder vor dem Zubettgehen die Außentür fest verschloss.

Er ging meist vor mir schlafen und stand morgens früher auf. Wenn ich selbst zu Bett ging, schlüpfte ich so leise wie möglich unter meine Decke. Dann betrachtete ich ihn kurz verstohlen von meiner Doppelbetthälfte aus. Da lag Dong, seinem Atem nach schon schlafend, ein Bild von Frieden und Solidität. Ich konnte mich beruhigt umdrehen und selbst bald einschlafen.

Eines Morgens erwachte ich und bemerkte, dass er seinerseits mich intensiv betrachtete. Er hatte sich sogar dazu aufgerichtet und sah gespannt herüber. „Schon wach?“ fragte ich. „Irgend etwas los?“ – „Nein, gar nichts. Ich studiere dich nur … Du bist ein interessantes Beispiel.“ Es kam heraus, dass er sich professionell für mich als Schläfer interessierte. Sogleich demonstrierte er, wie ich dabei aussah. Er stand auf und verkörperte mich aus dem Stegreif, wie ich leise ans Bett herantrat, um das Möbel herumging, unter die Decke kroch, einen letzten Rundblick aussandte, die Decke sehr weit heraufzog, bis sie den größten Teil des Gesichts verhüllte. Er sagte: „Das ist schon extrem bei dir. Du bringst es fertig, dass nur die Nasenöffnungen frei bleiben. Der Rest der Nase verschwindet ebenso wie die Augen und alles andere. Wo die Decke nicht ausreicht, presst du den Kopf ins Kissen. Das ist der totale Rückzug in die Innenwelt. Wie du dich zusammenrollst: so wenig Oberfläche wie möglich. Aber wenn du morgens noch schläfst, ist alles an dir eckig, verkrampft, eine einzige Abwehr.“

Ob ich beim Einschlafen und Schlafen immer so sei, das sei noch die Frage, sagte ich und dachte: Wer weiß, vielleicht bin ich morgens nur verkrampft, da er keinerlei Annäherung wünscht? Das sei nicht wichtig für ihn, entgegnete er auf meine Bemerkung. Ich sei nur das Modell eines Typs von Schläfer, falls er einmal einen solchen darzustellen habe.

Von da an sprach er gelegentlich über seinen Beruf. Als Schauspieler, sagte er einmal, sei er nur ein leeres Gefäß, das mit einer Rolle als Inhalt gefüllt werden könne. Er sei dann die Maschine oder der Apparat, der bestimmungsgemäß funktioniere. Genau dieses exakte Funktionieren sei für ihn das Erregende dabei. - Und was ist dann der Zuschauer, wollte ich wissen, ein ebenso leeres Gefäß, nur ein Reizverarbeitungsautomat? – Das könne man so sehen. Es sei im Hinblick auf das Erzeugen der Illusion etwas Analoges. Den Fähigkeiten des Schauspielers entsprächen die Einstellungen des Zuschauers, das sei das ganze Mysterium. 

„Ich habe ‚Der hundertste Längengrad’ gesehen. Bei mir hat es funktioniert.“ – „Schön für dich. Und ich bekomme hoffentlich irgendwann wieder so eine gute Rolle.“

Sein mechanistisches Verständnis war das eine, das andere sein weiteres Auftreten mir gegenüber. Er gab sich nun freundlicher als bisher, noch kameradschaftlicher. Er knuffte mich ab und zu, lächelte öfter als bisher. Ich gewöhnte mich immer mehr an ihn, ohne ihn körperlich zu begehren. Er war weder Arun noch ein Prinz, er war einfach Dong, mit dem ich gut auskam. Ich vermied es nun lieber, ihn vor meinem Einschlafen verstohlen zu betrachten.

Einmal kam er auf Märchen aus Südostasien zu sprechen. Eines aus Thailand schien ihn besonders zu faszinieren. Mit welcher Absicht fing er an, es mir nachzuerzählen? Da gab es Krokodile, die in einer tief unter dem Wasser gelegenen Höhle hausten und sich dort jedes Mal in Menschen verwandelten. An der Wasseroberfläche aber waren es ganz gewöhnliche und also auch gefährliche Tiere. Allerdings hatten sie es gar nicht nötig, sich wie normale Krokodile zu verhalten – in ihrer Höhle litten sie nie Hunger. Ein Zauber bewirkte, dass sie dort niemals ein Hungergefühl verspürten und doch nicht vom Fleisch fielen, durchaus nicht.

Dong sprach lächelnd weiter: „Aber der Krokodilsfürst, ihr König, war eine echte Thai-Bestie: immer gesättigt und zugleich unersättlich. Sein Appetit war von besonderer Art, er war permanent lüstern. Krokodilweibchen oder Menschenfrauen, das war ihm egal …“ Und das war auch sein Untergang. Dong erzählte die ganze Geschichte bis zum blutigen Ende des Krokodilsfürsten. Ich grübelte über die in ihr enthaltene Moral.

 

 

                                                                      6

 

Bald darauf machte mir Dong ein seltsames Kompliment: „Du bist nicht wie Bastian. In seinen Bungalow wäre ich bestimmt nicht gezogen. Er hat mich verführen wollen …“ Ich fragte nicht nach Details. Hätte er sie mir überhaupt erzählt, ich bezweifle es. Ich versuchte, es ins Lächerliche zu ziehen und zugleich klarzustellen, dass mein ehemaliger Chef auch an mich nicht herangekommen sei: „Weißt du, als Krokodilsfürst war er hier überhaupt ziemlich erfolglos.“

Dong lächelte. Es war mir gelungen, mich ihm an die Seite zu stellen: wir beide jetzt als Verbündete in der Abwehr von Lüsternheit. Mir war bewusst, dass ich damit Dong zuliebe mein rein kumpelhaftes Verhältnis zu Bastian falsch darstellte. Über jeden Zweifel erhaben war dagegen, glaubte ich, meine Sympathie für Dong. Wir waren inzwischen fast wie Brüder – Brüder im Geiste und Schicksalsgenossen. Ich begann mir insgeheim zu wünschen, er würde mich nach Thailand mitnehmen. War nicht eine seiner ersten Bemerkungen zu mir gewesen: Mein Vater war auch in der Hotelbranche? Als ich einige Zeit davor nach Berlin gezogen war, hatte ich dafür sehr viel aufgeben müssen. Doch alles in allem war die Stadt für mich nur eine weitere Enttäuschung. Ich konnte auch sie leicht zurücklassen. 

Wir saßen nun an den meisten Abenden vor und nach Sonnenuntergang gemeinsam schweigend auf meiner Terrasse. Die Zeit schien keine Bedeutung mehr zu haben. Das Licht nahm ab und die Finsternis allmählich zu und es veränderte nichts an unserem wortlosen Einvernehmen. Ich empfand nur noch Beruhigung, Harmonie. Wenn ich überhaupt an die Zukunft dachte, übersprang ich die unmittelbar vor uns liegende Zeit und sah mich schon in Bangkok herumgehen. Ich erfuhr so gut wie nie, woran Dong auf der Terrasse dachte, falls er das überhaupt tat. Manchmal sah er freundlich zu mir herüber.

Einmal wies er stumm zum Terrassenrand hin. Wir saßen beide weit vorn, von wo aus man den weitesten Blick über die Anlage hatte. Er deutete schräg nach unten auf die zerbröselnden Platten und flüsterte: „Sieh genau hin - länger.“ Da hatten sich Nachtkerzen angesiedelt, von mir bisher kaum beachtet. Ich begriff, dass es ihm um die Blüten ging. Einige waren schon geöffnet und verströmten ihren charakteristischen Duft. War er einfach nur wohlriechend süß? Mir schienen noch weitere exotische Komponenten darin enthalten zu sein. Ich wollte mich abwenden, da legte mir Dong den Arm auf die Schulter und richtete mit seiner Hand meinen Kopf, meine Blickrichtung erneut auf die buschig-krautige Pflanze vor unseren Knieen aus. Ich hatte kein genaues Zeitgefühl mehr. Zwang er mich nicht eine oder sogar zwei Viertelstunden lang, mich auf die Nachtkerze und die Entwicklung ihrer Blüten zu konzentrieren? Zuerst geschah nichts, dann fast nichts, nur ein leichtes Vibrieren in den Stängeln unterhalb der Blütenknospen, die sich öffnen wollten. Wenn es bei einer soweit war, sprangen ihre Blütenblätter rasch hintereinander ruckartig wie die Falten eines Bühnenvorhangs auseinander. Und tatsächlich begann, während mehr und mehr Knospen voll erblühten, eine Art Vorstellung. Nachtfalter waren auf einmal da und führten ihren Schwirrtanz aus, ein hektisches Ballett zwar, doch zugleich statisch wirkend in seinem raschen, monotonen Bewegungsablauf, ewig stillstehende Dynamik. Ich war erst fasziniert, dann wurde es bald ermüdend. Die Blüten allein hätte ich mir länger ansehen können … Er schien zu begreifen, was ich fühlte, und sagte: „Gehen wir jetzt rein?“

Im Bett rückte er fast bis zu mir heran, als ich die Decke eben hochziehen wollte. Er legte einen Arm um meinen Hals und drückte mir, als ich mich umdrehen und ihn ansehen wollte, die Schulter mit seiner Hand nieder. Er zwang mich zur vollkommenen Ruhe. Ich gab nach und, seltsam, blendete ihn wie von selbst weitgehend aus meinem Bewusstsein aus, während er mich minutenlang so hielt. Dann deckte er mich zu und drehte sich von mir weg. Dieses Ritual wiederholte er von da an jeden Abend. Wir waren beide dabei nie vollkommen nackt, er im Pyjama, ich mit kurzen Shorts und einem T-Shirt.

Bei Tag machte ich mir klar, dass er mich manipulierte, mich auf den Weg einer asexuellen Erotik leitete. Am Abend ließ ich es dennoch immer wieder gern zu, bis mir eines Nachts vielleicht ein Fehler unterlief und ich mich dadurch, ohne es zu wollen, wer weiß, aus meiner sonderbaren Lage befreite.

 

 

                                                                      7

 

Für mich wurde „Ferienglück“ mehr und mehr zu einem märkischen Zauberberg. Die Zeit meines Praktikums war vor kurzem abgelaufen und ich blieb dennoch in der Anlage. Wie der Stand des Insolvenzverfahrens war, wusste ich nicht. Hatte das Gericht schon über den Antrag entschieden? Zu Brömmelmeier hatte ich seit Wochen keinen Kontakt mehr gehabt. In Adlershof war die Staffel mit dem exilierten Prinzen inzwischen zu Ende gedreht. Dong fuhr neuerdings nicht mehr nach Berlin. Es hieß, er halte sich noch bereit – wofür? Ich fragte nicht danach, auch nicht, wann er nach Bangkok zurückfliegen würde. Ich ließ alles offen, da ich jetzt selbst für alles offen war.

Dong war nun auch am Tag meistens in meiner Nähe. Wir gingen viel in der Anlage herum und einige Male auch über ihre Begrenzung hinaus. Wir entdeckten von Wald bedeckte Sanddünen und kleine, stille, dunkle Seen zwischen ihnen. Wir waren dem Geheimnis dieser sommerlich leeren brandenburgischen Wälder auf der Spur und bekamen es bald heraus: Culex pipiens. Einmal kehrten wir so zerstochen heim, dass ich am Tag darauf im Drogeriemarkt ein Spray besorgte. Damit eingesprüht stanken wir fürchterlich und wollten es nicht weiter anwenden. Wir blieben von da an in der Anlage, bis zum Schluss.

Bei einem unserer täglichen Kontrollgänge quer über das Gelände wies der Maschendrahtgrenzzaun oben im Wald ein großes Loch auf, offenbar mit einer Spezialschere erst kürzlich hineingeschnitten. Ein erwachsener Mann konnte hier bequem und ungesehen zu den Bungalows vordringen. War aus einem schon etwas entwendet, war etwas zerstört worden, hatte sich irgendwo einer niedergelassen? Es war nicht möglich, alle drei Dutzend Häuschen daraufhin genau zu kontrollieren. Wir würden wachsamer als bisher sein.

In der Nacht darauf erwachte ich plötzlich aus tiefem Schlaf und stellte benommen fest, dass Dongs Betthälfte leer, seine Bettdecke zurückgeschoben war. Kein Grund zur Beunruhigung für mich, er stand manchmal nachts auf. Ich war schon dabei, mich wieder zusammenzurollen, als ein lauter Knall im Haus mich auffahren ließ, wie von gewaltsamem Türenschlagen oder Fensteraufreißen. Ich stand auf. Unter der Badezimmertür ein Lichtschein – ohne mich zu besinnen, öffnete ich die Tür und fand drinnen allein Dong vor. Nur dass es nicht der Dong der letzten Wochen war …

Ich hatte den Arun des Films vor mir, aus einer der letzten Szenen. In der Dusche, die abgestellt ist, ein männlicher Rückenakt, recht fleischig. Eine halbe Drehung des Körpers zu mir, von dem ihm größte Gefahr droht. Sein Gesicht spiegelt Entsetzen, die Augen schreckgeweitet. Die rechte Hand noch am steifen Glied. Wenn es Dong ist, muss ich sofort raus aus dem Bad. Aber es ist nicht Dong, es ist Arun, dem die Mafia einen Killer geschickt hat, um ihn mitten aus einer verfänglichen Situation heraus zu töten. Ich starrte ihn an, bewegungsunfähig vor Verblüffung aufgrund der scheinbar identischen Konstellation.

Er sagte sehr leise: „Es hat nichts mit dir zu tun.“ Dann in seiner normalen Stimmstärke: „Habe ich dich aufgeweckt? Mir ist eben der Brausekopf runtergefallen. Tut mir leid.“ Ich brummte etwas, das beruhigend klingen sollte, und zog mich zurück. Bald darauf legte auch er sich wieder hin.

Es war ein banaler Zwischenfall, ohne tiefere Bedeutung. Ich lehne es ab, Dongs Abreise zwei Tage später darauf zurückzuführen. Er gab sich doch bis zum Schluss unverändert. Als er mit Packen fast fertig war, sagte er: „Ob wir uns je einmal wieder sehen werden? Ja, vielleicht, wenn das Schicksal es so will …“ Dann muss ihm bewusst geworden sein, dass diese Floskel vielleicht etwas zu asiatisch war angesichts aller Umstände, und so setzte er noch hinzu: „Gib mir aber für alle Fälle deine Adresse und Telefonnummer.“ Als er am Morgen darauf zum wartenden Taxi ging, umarmte er mich fast schon wieder etwas förmlich. Er ging steifen Schrittes aus dem Haus und grüßte mich, der ihm von der Bungalowtür aus nachsah, mit Vierteldrehung des Körpers und leicht erhobener Rechten, eben wie ein Prinz, der ins Exil geht. Mag sein, dass ich das jetzt überinterpretiere und ihn bloß das Gepäck belastet hat.

Ich hatte nichts anderes mehr zu tun als Brömmelmeier eine Mail zu schicken und noch am selben Tag nach Berlin zurückzukehren. Einige Zeit später, es war schon September, las ich von dem Brand, der „Ferienglück“ weitgehend zerstört hat.  

 

 

Der kleine Delfin

Er kam Ben gleich harmlos vor, damals im Park von Charlottenlund. Der andere war schwarzhaarig, einen halben Kopf kleiner als er selbst und nur wenig älter; glaubte Ben, der Anfang zwanzig und zum ersten Mal in Kopenhagen war. Nach zwei Tagen schon hat er fast alles abgelaufen, die Schlösser, Kirchen und Plätze. Er ist die Lange Linie entlanggegangen, hat die Meerjungfrau in der Eile übersehen, wird sie vielleicht noch suchen, sollte er wieder ans Wasser kommen. Ben hat auch den Turm der Erlöserkirche in Christianshavn bestiegen – seltsam, außen an einer Turmspitze hinaufzusteigen. Und dabei wieder die Zwangsvorstellung, plötzlich in die Tiefe zu springen oder etwas hinabwerfen zu müssen: Stadtplan oder Fernglas. Von oben kann er die gesamte Stadt überblicken, den Sund und die Küste Schwedens. Die Meerenge kommt ihm von hier viel belebter vor als unten vom Wasserrand aus. Er fragt sich, ob sich auch mal ein Delfin in den Sund verirrt …

     Am zweiten Abend mit der S-Bahn nach Charlottenlund und am Schloss vorbei in den Waldpark. Der Weg ist ihm in Berlin beschrieben worden, er findet ihn leicht. Man wird dort ebenso schnell angefasst wie in Berlin. Mit dem Mann da ist die Verständigung nicht einfach. Sie benutzen ein paar englische Brocken. Der andere will, dass er im Auto mitkommt, noch ein Stück raus aus der Stadt? Ben steigt ein. Unterwegs wird ihm eine Plastiktüte hingehalten, er soll hineinschauen. Da sind Fesseln aus Leder. Er sagt zögernd: „Okay“.

     Es geht nordwärts am Meer entlang. Ein letzter Vorort, noch eine Seitenstraße, der Sportwagen wird geparkt. Dann überschreiten sie die Gleise der Küstenbahn. Der andere öffnet ein hölzernes Gatter. Es geht über eine Wiese, dann auf einen Sportplatz, auf eines der Tore zu. Den ganzen Fußweg haben sie eng umschlungen zurückgelegt. Der andere hat nichts mehr gesagt, sein Wesen scheint so freundlich, dass Ben ihm vollkommen vertraut.

     Jetzt schüttet der Däne den Inhalt des Sacks auf den Boden. Da sind auch Stricke und Seile aus Hanf. Ben soll sich bis auf den Slip ausziehen, er gehorcht, sein linker Arm wird an einen Torpfosten hochgebunden. Er hat auch seine Armbanduhr ablegen müssen, seitdem ist er etwas misstrauisch. Er kann auf die Bahntrasse blicken, die Gleise sind keine hundert Meter von ihm entfernt. Werden ihn morgen früh die Pendler auf der Fahrt in die Stadt sehen, wie einen neuen Heiligen Sebastian? Als der Däne seinen zweiten Arm festbinden will, sagt Ben: „No, stop, please!“

      Abrupter Programmwechsel. Der andere seufzte etwas, packte den Kram zusammen. Ben zog sich an. Sie gingen den Weg zurück, wie sie gekommen waren: umschlungen. Auf der Rückseite eines Schuppens – war es ein Bahnwärterhäuschen? – stand eine Bank. Da kamen sie sich noch näher. Nachher brachte er ihn zum Hotel zurück, dabei gleichbleibend freundlich, auf natürliche Weise charmant, ja herzlich. Ben bekam eine Telefonnummer, machte aber keinen Gebrauch davon. Der gutmütige Sadist hieß Ole.    

 

Zwei Abende danach trafen sie in Charlottenlund wieder aufeinander. Einer, der Aksel hieß, im selben Alter wie Ben, tauchte später aus dem Dunkel neben ihnen auf. Mit ihm war die Verständigung leichter. Sie luden Ben für den übernächsten Abend zum Kaffee ein und zeigten ihm schon, wo sie in Nyboder zusammen wohnten. Es war eine der langen Zeilen kleiner Häuser, für die Kriegsmarine Christians IV. erbaut, ockergelb angestrichen, mit niedrigen, putzigen Räumen. Bei Bens nächstem Besuch dort sagte Ole, er arbeite tatsächlich in Christianshavn für die Marine. Er nahm ein Wörterbuch in die Hand, tippte auf ein dänisches Wort, dem daneben auf Deutsch „ungelernter Arbeiter“ entsprach. Ole war aus der Provinz, da wo sie besonders ländlich ist.

     Für diesen Abend hatten sie noch zwei Freunde dabei. Einer von ihnen übersetzte fließend ins Deutsche. Mit Nachdruck machte er Ben darauf aufmerksam, dass Aksel Oles Freund sei. Ole war lebhaft wie ein Südländer, doch der Gesichtsschnitt trotz der schwarzen Haarfarbe unverkennbar dänisch. Für Ben war er jetzt der kleine Delfin: munter und verspielt. Ole sprudelte viel Dänisches hervor, der andere kam kaum mit dem Übersetzen nach. Ole wolle Deutsch lernen, Ben sei bei künftigen Reisen nach Kopenhagen eingeladen, bei ihm zu wohnen. Und Ben gab die erwartete Antwort: Ole könne selbstverständlich zu ihm nach Berlin kommen. 

     Mitten am Abend warf sich Aksel in seine Lederrüstung und fuhr mit Oles Wagen zu einer Verabredung. Ole schimpfte auf Dänisch mit ihm, dass er weggehe, obwohl Gäste da seien: soviel bekam Ben mit. Nachher war der Delfin weniger lebhaft, fast schüchtern, lebte erst wieder auf, als sie eine Verabredung für die Nacht vor Bens Abreise getroffen hatten. Der Übersetzer brachte Ben zurück ins Hotel, sagte unterwegs, Ole sei ein sehr guter Junge. Ben schien es, als ob er bezweifele, dass Ben würdig sei, dieses Reichskleinod auch nur zu berühren. 

     Und dann noch ein Abend mit dem Delfin, nur mit ihm und zwei Wörterbüchern: Dänisch – Deutsch, Dänisch - Englisch. Ole  konnte sich so mitteilen. Ben erfuhr, Ole habe Dänemark noch niemals verlassen. Aksel war zum Frühstück wieder da. Er brachte Zeitungen mit, darunter eine deutsche für Ben.

     Ben ließ Ole, der ihn zum Hotel gebracht hatte, schnell wegfahren. Nur nicht zuviel Emotion zeigen … Ben flog dann von Kastrup direkt nach Amsterdam, seine Gefühlslage eine Mischung aus Verliebtheit und schon sacht drückendem Verantwortungsgefühl. Einige Wochen später Oles erster Brief nach Berlin: Ich ist kommen die Lektion zehn so ich verstehen oder schreiben keine gut deutsch. 

 

Ein kurzer Brief kam zum Jahreswechsel, darin als Hauptmitteilung: Ole und Aksel hatten ein neues Fernsehgerät gekauft. Zehn Tage vor Ostern die nächste Nachricht vom Delfin – er will am Gründonnerstag kommen. Sein Deutsch hatte über Winter kaum Fortschritte gemacht. Vorsorglich teilte er mit: … der Sommer du wären auf der Urlaub in Kopenhagen verstehen ich nicht Deutsch deshalb können ich nicht erzählen dich dass ich brauchen Toupe und ist 35 Jahr alt.

     Ben holte ihn vom Bahnhof Zoo ab. Ole, der ihm nun viel älter als in der Erinnerung vorkam, lächelte freundlich, bescheiden, vorsichtig. So blieb es meist auch die folgenden drei Tage. Zwischendurch schienen sein Interesse und sein Mut manchmal zu sinken, ohne dass er es deutlich zeigte. Ben schleifte ihn noch am Ankunftsnachmittag durch die City West und erwartete staunendes Bewundern. Doch Ole äußerte sich zum Kudamm überhaupt nicht. Abends mussten sie einen Barbesuch abbrechen, der Delfin vertrug den dichten Zigarettenrauch nicht und litt unter Übelkeit und Kopfschmerzen. Sie fuhren früh nach Hause und Ben bereitete ihm auf dem Sofa ein Lager für die Nacht. Dann lagen sie in dem großen Raum drei Meter voneinander entfernt und Ben in seinem Bett schlief in dem Bewusstsein ein, wie enttäuscht Ole sein musste.

     Am anderen Morgen wollte er das Muer sehen. Sie gingen durch den zartgrünen Tiergarten. Ben führte ihn am Schloss Bellevue, an der Kongresshalle, am Reichstag vorbei zum Brandenburger Tor. Ole blieb auf dem ganzen Gang beinahe stumm und Ben empfand erstmals selbst das Monumental-Hohle und Absurde dieser Stadtlandschaft. Ole weigerte sich, die Siegessäule zu besteigen: In solchen Höhen werde ihm schwindlig.

     Viel besser lief es nachmittags im Grunewald. Unter den Kiefern und zwischen den im Revier flanierenden Männern schien es ihm endlich zu behagen. Er setzte durch, dass sie bis zur Abenddämmerung blieben und den Ausflug am Karsamstag wiederholten. Zaungast blieb er auch hier, wie erst recht im Trubel der beiden weiteren Abende. Erlösend war es gewiss für beide, als er am Sonntagmittag abreiste. Ben heuchelte seine innere Bewegung nicht, als er sich unter dem Zugfenster von Ole verabschiedete, der von oben dazu skeptisch lächelte: Sie würden sich kaum noch einmal sehen. Ole lud ihn zwar für den Sommer per Brief erneut zu sich ein, aber Ben kam erst Jahre später wieder nach Kopenhagen und nahm ein Hotelzimmer.

     Wenn er später an den Delfin denkt, sieht er vor allem Karfreitagsszenen vor sich. Ole hat beim gemeinsamen Aufbruch abends seinen eigenen Schlüssel bekommen. Unter den vielen Fremden im Lokal entdeckt Ben einen Großen, Kräftigen, Hübschen, den er letzten Sommer in Amsterdam gesehen und sich vorgemerkt hat, einen Deutschen um die dreißig von schwer entschlüsselbarem Reiz - da ist etwas nachzuholen. Ole soll vorerst in der Bar bleiben, während Ben mit dem Münchner nach Hause fährt. Dort wird wieder eine Plastiktüte entleert und neben Fesseln kommen diesmal auch zwei Masken zum Vorschein. Sie setzen sie auf und der gefesselte Ben beobachtet und studiert fasziniert das Verhalten und die Ausstrahlung des anderen, seine scheinbare Lässigkeit, seine beherrschte Ruhe, sein seltsam bedrücktes Wesen. (Viel später wird er erfahren, es war ein Studienrat.)

     Nach diesem kontrollierten Exzess fahren sie zurück in die Bar. Der Münchner lenkt unterwegs, ohne übermüdet oder betrunken zu wirken, seinen Wagen bei Rot mitten auf eine belebte Kreuzung, wie mit Absicht und ohne im Geringsten zu erschrecken. Bald darauf kommen sie an der Gedächtniskirche vorbei. Da, die Budapester Straße entlang, geht jetzt, allein auf seinem Rückweg, Ole langsam in entgegengesetzter Richtung dicht an ihnen vorbei, wie einer, der etwas verfehlt hat.  

 

Sag es dem Spiegel

Dieser Graben war auf einmal da, zwischen Mittag und Abend entstanden. Ich bin nicht über ihn gesprungen, damals nicht und später auch nicht …

 

Geh doch endlich zum Friseur, sagt meine Mutter. Es sind schon fünf Wochen, du siehst aus wie …! Sie will mich schonen, sie verschluckt gern, was sie wirklich von mir denkt.

     Ja, wie sehe ich denn aus? Ich gehe ins Bad. Ich brauche heute Nachmittag nicht zu helfen, denn er hat den Lieferwagen zur Werkstatt gefahren, gleich nach dem Essen. Er besorgt noch etwas in der Stadt und wird heute nicht meckern, weil ich wieder mal stundenlang lese. Im Spiegel sehe ich aus wie einer mit Afrolook nach drei Tagen Sturm und Regen. Meine Haare wachsen so schnell – jede aufgeplatzte alte Matratze sieht besser aus. Und mein Gesicht, ist es  hässlich? Ich fixiere mich feindselig mit geschürzter Lippe und finde mich abstoßend. Mitesser muss ich auch noch ausdrücken - nach dem Friseur. Ich denke daran, wie er mir immer den Nacken scharf ausrasiert. Das ist sehr angenehm.

     Ich trabe also los. Den steilen Berg ins Dorf hinunter laufe ich und kann mich unten an der Ecke der Bahnhofstraße gerade noch stoppen. Das Auto dicht vor mir bremst, hupt und beschleunigt schon wieder. Auch ich werde später einen großen Wagen fahren und ein neues großes Haus in der Stadt haben, draußen am Waldrand. Ich will mal Studienrat werden, für Deutsch und Geschichte, und in den vielen langen Ferien mache ich große Reisen. Kanada und Zypern, Lappland und Portugal, das reicht fürs erste Jahr. Ich werde vier oder fünf Kinder haben und eine attraktive Frau. Das ist genau die Reihenfolge, in der ich immer meine Wunschvorstellungen im Kopf abspule.

     Im Friseurladen ist vorne bei den Männern nichts los. Ich komme gleich dran. Wie immer sagt der Friseur: Es ist also wieder mal so weit … Rundschnitt? Ja, alle drei Wochen muss man schon kommen. Du weißt doch: Bei einem jungen Mann sehen die Leute nur auf zwei Sachen: auf die Schuhe und auf die Frisur. - Auf sonst nichts? Ich frage nicht laut, ich denke es nur.

     Der Friseur ist Mitte dreißig, sein Salon schäbig. Bei ihm ist es am billigsten hier im Dorf. Hinter der halbhohen Milchglaswand neben mir sehe ich aus dem Augenwinkel die Silhouette zweier Schatten. Die junge Frau des Friseurs bedient dort eine Kundin. Sie reden laut miteinander, pausenlos. Doch unter den Geräuschen von Fön dort und Schere hier kann ich davon so gut wie nichts verstehen. Außerdem will sich der Friseur mit mir unterhalten.

     Du verreist nicht in den Ferien? Ach ja, du musst im Betrieb helfen … Du bist der Einzige bei euch, nicht? Wir fahren auch nicht groß weg, nur zu den Schwiegereltern … Ich habe seine Frau ein paar Mal gesehen. Sie ist jünger als er, sehr schlank, kurzhaarig. Sie kommt mir fast wie ein Schuljunge vor. Hübsch ist sie auch noch. Von meiner Mutter weiß ich, sie sind schon Jahre verheiratet und Kinder sind nicht gekommen. Da wird es bei ihnen wohl mal keinen Nachfolger geben, hat sie außerdem gesagt.

     Da ist einer unter euch, unter euch Jungen … Der Friseur unterbricht sich, um mir die vielen abgeschnittenen Locken mit seiner Handkante vom Umhang zu fegen. Dabei berührt er durch den dünnen Stoff meine knochigen Schultern. Ich finde den Friseur klein und schmächtig. Er fährt fort: Er hat immer eine Lederhose an, er als Einziger hier im Dorf – weißt du, wen ich meine? Ja, natürlich weiß ich es und sage einfach nur: Fabian heißt er.

     Er fragt dann weiter: Was ist das für einer? Der Friseur sieht mir beim Fragen nicht ins Gesicht. Er arbeitet jetzt hinter mir und schaut angestrengt auf meinen Hinterkopf. Wenn ich geradeaus in den Spiegel blicke, kann ich nur mir selbst in die Augen sehen. Fabian, sage ich, ach, der … Sein Vater ist schon tot, der war nur Hilfsarbeiter. Sie wohnen in der Sozialsiedlung … Ich komme mir verlogen vor. Die Wahrheit ist: Ich möchte sagen, dass mich Fabian fasziniert. Er ist so aufregend schön, wie der kleine Friseur hinter mir mickrig ist. Fabian weicht mir immer aus.

     Wir schweigen dann beide eine Zeitlang. Den Nacken mit dem Messer ausrasieren? – Ja, bitte. Aber es erregt mich heute kaum. Vielleicht bin ich zu unaufmerksam. Man muss diesen Reiz sehr konzentriert auf sich wirken lassen. Ist bei mir jetzt nicht auch eine Spur Ekel im Spiel? Und warum hat er sich gerade bei mir erkundigt?

     Ich habe gezahlt und den Salon verlassen. Seine junge knabenhafte Frau ist heute nicht hinter der Milchglasscheibe hervorgekommen. Jetzt trotte ich die Bahnhofstraße zurück und steige dann den Berg langsam hinauf. In mir entsteht ein kleiner abscheulicher Roman. Also der kinderlose Friseur und seine hübsche, sehr schlanke junge Frau und dieser Fabian - und ich. Der Friseur, ist er so? Meine Gedanken haben das Thema bisher nur in großem Abstand umkreist.

 

Zu Hause stehe ich wieder im Bad vor dem Spiegel. Ich sehe jetzt mit kurz geschnittenem Haar viel besser aus. Schade, dass das Ausrasieren heute nicht so lustvoll wie sonst war. Da bin ich um ein Vergnügen gekommen. Vielleicht wird es nächstes Mal wieder gut.

     Ich vermeide es, mir in die Augen zu sehen, mein Blick wandert abwärts über Konsole und Wasserhähne zum Beckenrand. Ich schiebe meinen Unterleib dicht an den Beckenrand heran. Unser Waschbecken ist mir noch nie so groß wie heute vorgekommen. Ich sehe lange hinein und sehe es auf einmal wie einen Graben vor mir, breit und tief. Dann verstopfe ich den Abfluss, lasse kaltes Wasser einfließen. Über einen solchen Abgrund von Graben müsste ich springen. Ich werde es nicht tun. Ich werde nie springen, ich werde immer auf dieser Seite bleiben. Keine Frau und keine Kinder haben, kein Haus und keine Familienkutsche … Nur das verspreche ich mir: Wie der Friseur will ich später mal nicht dastehen.

     Ich lasse das Wasser abfließen und gehe in die Küche, um meiner Mutter den Haarschnitt zu zeigen. Nein, Mama, was soll denn sein? Nichts ist passiert, nichts …

Brief an einen lieben Toten

Berlin, im Herbst 2020

 

Lieber Vorangegangener,

 

verzeih, das klingt hölzern, ich weiß. Es ist nicht die erste Version, ich tue mich damit schwer, dich den neuen Umständen entsprechend anzureden. Ich wollte schon Mein lieber Antipode schreiben und habe es verworfen – zu kühl, zu gelehrt. Außerdem missfällt mir dessen Bedeutung im übertragenen Sinn. Nicht einen Gegensatz will ich betonen, ich suche wieder die Annäherung an dich. Die neuen Umstände? Noch so eine Verlegenheitsfloskel. Es ist nun einmal wahr, dass sie dich in der Erde Neuseelands begraben haben, nicht in Europa, das du mehr geliebt hast, wenn es auch eine Zuneigung aus der Distanz bleiben musste. Mir fällt noch etwas ein: Lieber Gegenfüßer … Das hat etwas Zärtliches, findest du nicht?

Ich stelle mir jetzt deine Füße nicht im Grab, sondern in meinem Bett vor, damals neben mir. Du schläfst unruhig, bewegst Beine und Füße hin und her und davon werde ich wach. Deine Sorgen kenne ich, deinen unerfüllbaren Wunsch. Du willst nach Europa, nach Deutschland, nach Berlin. Du wirst keine Arbeitserlaubnis bekommen, also musst du zurück und auf der Südhalbkugel bleiben. Und deshalb ruckelst du jetzt im Traum mit den Extremitäten, zuckst auch mit Armen und Händen. Ich kann dir nicht wirklich helfen, dich nur ein wenig beruhigen. Ich nehme dich in meine Arme und ich lege ein Bein quer über deine Unterschenkel. Jetzt bist du halbwach geworden, atmest einmal tief durch und rückst näher an mich heran. So war es doch - war es so? Wer sich da noch sicher sein könnte.

Zufällig bin ich auf die Nachricht von deinem Tod gestoßen – was man so Zufall nennt und doch keiner ist. Ich bin dabei, alte Briefe digital zu archivieren, solche, die ich noch immer aufbewahre. Nr. 420 ist der, den du mir einmal geschrieben hast. Ich war mir nicht sicher, ob ich deinen Familiennamen noch exakt wüsste; er fehlt im Brief. Um es herauszufinden, gab ich Vor- und Zunamen bei Google ein. (So ein Pedant bin ich.) Korrekt sind die Namen und ich weiß jetzt, dass du schon einige Zeit nicht mehr am Leben bist. Ein paar Tage war ich traurig deswegen. War das nun überspannt? Ich war dir vor Jahrzehnten während eines halben Monats sehr nahe gekommen und hatte schon lange keine Nachricht mehr von dir. Und dennoch: So fern du warst, so nah warst du mir auch. Kein Jahr, in dem du mir nicht wiederholt vor die Augen tratest. Hättest du dich nicht vollkommen von mir entfernt, es wäre weniger oft geschehen, vermute ich.

Du seiest unerwartet und friedlich zu Hause verschieden, las ich. Das ist ganz dein Stil gewesen: ruhig abwarten und geschehen lassen. Einmal, das hast du mir erzählt, standest du in Berlin vor einer abfahrbereiten U-Bahn, wartend, dass die Türen automatisch geöffnet würden, wie in London. Nicht so in Berlin, die Bahn fuhr ohne dich ab.

Ich hätte dich hier auch mit deinem Vornamen anreden können, aber das ist mir nicht persönlich genug. Du trägst einen häufig vorkommenden Namen. Ihn zu gebrauchen, würde dich unter so viele andere einreihen, doch für mich warst du einzigartig. Ich kenne die Art deiner Bestattung nicht, sie werden deinen Leib hoffentlich nicht verbrannt haben. In deinen Knochen, im Rückenmark, gerade auch da ist deine individuelle, unverwechselbare Substanz. Ich würde nicht zögern, deinen Totenschädel zu berühren, so als ob du noch lebendig wärst wie damals. Du kamst mit mir nach Hause, ein wenig besorgt beim ersten Mal. Ich schloss die Tür hinter uns und nahm deinen Kopf in meine Hände, umfasste die Hirnschale. Ich war neugierig auf den Inhalt unter der Schädeldecke, griff stärker zu. Die Form offenbarte mir nichts. Da begann ich das kurze Haar zu streicheln - war es dunkelblond oder fahlbraun gewesen? Meine Erinnerung lässt mich im Stich. Wir küssten uns lange. Dein Totenkopf würde mir auch jetzt keinen Aufschluss geben. Ich würde ihn behutsam niederlegen, wie eine Reliquie.

Es ist richtig, du warst nicht allzu hübsch. Warst weder recht groß noch wirklich klein. Durchschnitt, ohne Mittelmaß, schlank, ohne hager zu sein. Eher herb sahst du aus, ein bisschen karg, später Nachfahre von Fischern und Schafzüchtern, im Ganzen doch reizvoll, stellte ich allmählich fest. Als du in die Bar kamst, war Wyatt neben dir und zog anfangs meine Blicke auf sich. Er war, was du nicht warst: groß, breit, gutaussehend. An ihn wollte ich näher herankommen. Aber er wich geschickt aus, indem er sich hinter dich stellte, als ich zu euch getreten war, und sagte mir über deine Schulter hinweg, du seiest ihr Besuch von daheim, aus Neuseeland. Er wohnt bei uns draußen, ergänzte er und bezog so einen mir unbekannten Dritten mit ein, schob ihn zusätzlich zwischen sich selbst und meine interessierte Person. Dann ging er weg, angeblich um Drinks für uns zu holen. Sprich Englisch mit ihm, wenn möglich, sagte er noch und blieb lange fort. Wir sahen ihn mit zwei anderen Gästen reden.

Unser Gespräch in der Bar war von Anfang an stockend. Es mag auch an der lauten Musik gelegen haben, daran dass wir gegen sie anreden mussten. Du sagtest, du hättest den ganzen Sommer in Europa verbracht und müsstest bald zurück, leider. Dabei wirktest du so bedrückt, dass es mich rührte, und das war der Anfang der Sympathie. Ich legte eine Hand auf deine Schulter, begütigend sollte es wirken, du aber wolltest es als mein Bedürfnis nach größerer Nähe verstehen, lehntest dich an mich, bliebest dabei. So standen wir länger dicht beisammen und sahen schweigend auf das Treiben rundum: die Grüppchen Redender, die einzeln Herumgehenden, das Werben umeinander …  Wyatt kam zurück mit zwei Flaschen Bier, für sich eine Limonade. Er trank sie nur halb aus, erklärte dir etwas mit viel Akzent, so dass ich nichts mitbekam. Dann war er weg und ich hatte dich für die Nacht.

Es wurden drei Nächte, erst eine und am Wochenende darauf noch zwei. In der Erinnerung unterscheide ich sie kaum. Wir waren jeweils auch den größten Teil des auf eine Nacht folgenden Tages zusammen, blieben in meiner Wohnung, bis Wyatt dich abholte. Dabei schien er darauf zu achten, dich nicht bei mir zu treffen, sondern irgendwo in der Nähe. Mit dir zu reden, war jetzt einfach. Ich hörte mich in dein pazifisches Englisch ein und du überhörtest meine vielen Fehler beim Sprechen oder tatest so. Wir sprachen über dein Land und meines. Europa war für dich herrlich, Deutschland wunderbar und Berlin die allerfreieste Stadt. Ich habe hoffentlich nicht darüber gelächelt wie jetzt. Wenn du schon nicht übersiedeln konntest, solltest du wenigstens ein paar leicht zu konservierende Illusionen mit nach Hause nehmen, als Notvorrat für die lange weitere Lebensreise.

Anschmiegsam warst du am Tag auf eine selbstverständliche, fast sportliche Weise. Nachts begriff ich, dass du das Unterlegensein liebtest, auch den Schmerz. Du zeigtest mir, wie ich dir wehtun konnte. War ich gelehrig? Du hängtest dich an mich, das war zu bemerken. Je sympathischer du mir wurdest, umso weniger gern schlug ich dich und tat es doch, um dich nicht zu enttäuschen. Mein Dilemma vergrößerte sich mit jeder gemeinsamen Nacht. Würdest du auch noch verlangen, dass ich dich würgte? Ich sagte mir, es sei gut, dass du bald zurückfliegen musstest, und ich vermisste dich schon im Voraus.

Die vierte Nacht verlief anders. Wir waren in der Bar verabredet, in der wir uns kennengelernt hatten. Du kamst erst spät an diesem Samstagabend mit Wyatt dorthin. Ich erfuhr zu meiner Erleichterung wie zu meinem Schmerz – ja, Schmerz -, du könntest nicht mehr mitkommen. Am übernächsten Tag ging morgens dein Rückflug und Wyatt hatte das Abschiedsprogramm so dicht gepackt, dass keine Stunde mehr frei blieb. Morgen Mittag, sagtest du, da haben sie für mich Freunde von sich zum Essen eingeladen … Nach einiger Zeit trenntest du dich von uns, stiegst die Treppe hinab und bliebst sehr lange dort unten. Es ging gegen Morgen, das Lokal leerte sich. Wyatt, der bei mir geblieben war, sagte nach und nach: Ja, Lionel ist jetzt im Darkroom … Er ist ein bisschen depressiv wegen seiner Abreise … Ich würde zwar gern bald nach Hause fahren, aber ich bringe es nicht über mich, ihn heraufzuholen … Es ist seine letzte Gelegenheit, wahrscheinlich für immer … und vielleicht ist es gut so. Selbst mir ist es schwer gefallen, mich bei euch einzugewöhnen. Der Mentalitätsunterschied ist sehr groß.

Um halb fünf warst du wieder bei uns. Wir redeten noch einmal über die Zukunft. Du sagtest: Ich kann mich nicht mal in England einbürgern lassen, das geht jetzt auch nicht mehr … Und du würdest Europa nicht mehr besuchen, es sei zu teuer. Oder, wenn überhaupt, frühestens in fünf Jahren. Wir blieben noch eine Stunde, bis der Barmann uns als Letzte hinauskomplimentierte. Dann auf der Straße gefühlvoller, endgültiger Abschied, aufwühlend, empörend, niederschlagend. Es kam noch ein Brief von dir, anzuschauen wie die Inschrift auf einer alten römischen Stele, sagen wir, an der Via Appia. Ein Fragment daraus: I HOPE YOU ARE WELL MANY DAYS I THINK OF THE TIMES WE SPENT TOGETHER EVEN THO IT WASN’T VERY LONG FOR ME THEY WERE NICE TIMES I WISH WE COULD HAVE SPENT A LOT MORE TIME TOGETHER AND GOT TO KNOW ONE ANOTHER MUCH BETTER I REALLY MISS THOSE NIGHTS AND SUNDAY MORNING BREAKFASTS DON’T HAVE ANY MORE NEWS AS THIS PART OF THE WORLD IS VERY QUIET – Wie oft habe ich das gelesen und manchmal dazu Musik von Philip Glass gehört: Einstein on the Beach.

Unsere Verbindung brach ab, du warst kein großer Briefschreiber. Was Wyatt betrifft, so weiß ich inzwischen, ihr seid immer in Kontakt geblieben. Darin finde ich einen gewissen Trost. Er ist ein Mann von Anstand, Format und Würde. In ihm ist der Geist des Ostens – lernen wir von ihm - und an ihm, Wyatt, ist auch die Manierlichkeit der großen Welt. Einer wie er konnte im Beruf Prinzessinnen und Diven umsorgen. Wie souverän er ist, ihn kann, ihn muss man bewundern - dich hätte ich immer nur lieben wollen. Wusstest du, dass ich Wyatt schon vor dir kennengelernt hatte? Es war im selben Sommer, ein paar Wochen früher, eine wortarme Begegnung im Wald … Er, der große, kräftige, attraktive Mann kniete vor mir und – du bist schon im Bild. Dabei war er einfach perfekt und: vollkommen unpersönlich. Das Persönliche ist wohl unser Schicksal gewesen, deines wie meines, und ich will jetzt nicht so weit gehen zu sagen: auch unser Unglück.

Wie lasse ich dir diesen Brief zukommen? Und muss ich ihn erst ins Englische übersetzen? Das weiß ich noch nicht. Ich will es so sehen: Jetzt ist dieser Brief an dich in der Welt, und das ist dieselbe Welt, an der, in veränderter Form zwar, deine unzerstörbare Substanz noch immer teilhat. So gesehen kann ich mich an vielen Orten und zu vielen Zeiten an dich wenden, dich erreichen. Fast möchte ich sagen: Was war, das ist und wird sein. Oder vielleicht ist es so, es mag sein. Jedenfalls grüße ich dich, anders als zu Beginn meines Briefes, an seinem Ende so:

 

Der mit dir Gleichzeitige

 

Hinter uns

Bodo saß auf dem kleinen Bahnhof von U. fest, eine zweistündige Zwangspause. Er war allein im Wartesaal und sah sich um: die üblichen kalkweißen Wände, die einfachen grau lackierten Holzbänke, der stillgelegte Kanonenofen, die farbigen Plakate mit den Palmen und Gletschern. Draußen nieselte es. Womit das ausgeruhte Gehirn beschäftigen? Eine andere Reise kam ihm in den Sinn, er wusste nicht wie. Erinnere dich, wie du das letzte Mal in Frankfurt warst, sagte er sich, damals war dir alles um dich herum gleichgültig, und deine Gedanken waren bei einer noch viel weiter zurückliegenden Vergangenheit. Nicht dass diese frühere Zeit noch irgendeine Bedeutung für dich gehabt hätte … Doch gerade aufgrund ihrer Folgenlosigkeit eignete sie sich sehr gut für allerhand Phantastereien, dieses verdammte Spielen mit den versäumten Möglichkeiten von früher. Andererseits gibt es nichts Traurigeres als eine verwirklichte Möglichkeit. Überhaupt, verwirklicht oder nicht, das ist ganz gleich, verwirkt ist es doch immer … Von einem gewissen Alter an gleicht der Rückblick in die vergangene Zeit der Sicht in eine Flucht leerer Räume hinein. Die Türen stehen offen, der Blick findet keinen Halt, ausgeräumt ist, was gewesen, weil es jetzt so gut wie nie geschehen ist. Höchstens, dass wir (wenn wir guter Laune sind, was ich heute nicht bin, fügte er mit Ingrimm für sich selbst hinzu) diese Flucht leerer Räume mit den Produkten unserer Phantasie möblieren, dem, was nicht wirklich gewesen ist, aber vielleicht hätte sein können …

 

Es war schon einige Jahre her. Gleich am ersten Abend (Freitagabend, wenn er sich recht erinnerte), fuhr er zur Hauptwache. Auf der Zeil standen jetzt Hunderte von Bäumen, alle in schnurgeraden Reihen, jeder auf den Zentimeter genau an seinem Platz. Es war ebenso ansprechend wie eine Zahlenkolonne auf einem Kassenbon. Aber die Seitenstraße, die er erst suchen musste, führte krumm und gewunden ins Abseitige. Ohne viel Mühe fand er den Keller, den man ihm beschrieben hatte. Es verkehrten nur Männer dort, hauptsächlich uniformierte. Hier fand er gewissermaßen die Ordnung wieder, die er beim Abbiegen von der Zeil hinter sich gelassen hatte. Zutritt nur in Leder, allenfalls in Jeans. Man hielt sich dran.

     Es hätte schon etwas geräumiger sein dürfen. Die Bar war schmal wie ein alter Straßenbahnwagen, nur fehlten oben die Haltegriffe. Der Laden war überfüllt, man schob sich aneinander vorbei, drückte gegeneinander und befolgte das einzige Gesetz der Metropolen: Zirkulieren, zirkulieren! Bodo sagte sich, er werde Stunden brauchen, um in die rechte Stimmung zu kommen – wenn bis dahin nicht schon Feierabend war.

     Vorn am Tresen war etwas mehr Platz. Ein hübscher Junge saß allein da, die Barhocker links und rechts von ihm frei. Auch die Herumstehenden oder –gehenden hielten etwas Abstand. Das sah ja beinahe aus wie ein Cordon sanitaire. Zugegeben, die braune Wildlederjacke mit den Fransen fiel hier etwas aus dem Rahmen: sah wie ein Geschenk aus, vielleicht von lieben Verwandten. Aber er trug doch so gut wie die anderen seine schwarzen Beinkleider, die glänzenden, schimmernden. Ach so, das grüne Tuch, das türkisfarbene in der rechten Gesäßtasche – Bodo hatte nicht gewusst, das es so hübsche Stricher gab. Doch so dumm wird er nicht sein, hier Kunden zu suchen. Auch in Frankfurt muss es Bezirke geben, wo man nicht alles für Geld kaufen kann, kaufen will, wo man vor allem nicht daran erinnert werden möchte, dass man in dieser Stadt alles für Geld kaufen kann. Zugegeben, ein besonderer Anspruch, ein hoher Anspruch, und man ist bereit, für diesen Luxus zu zahlen, wenn nicht mit Geld, dann mit anderem, dem Vortäuschen guter Laune, dem Konsumieren von Drogen oder den Torturen im Sportstudio.

     Der käufliche Junge saß brav da, schien etwas aufgeregt und gab sich Mühe, die Feindseligkeit um sich herum nicht durch unbedachte Aktionen zu verstärken. Bodo betrachtete ihn mit wachsendem Wohlgefallen. Eigentlich ist er mir etwas zu schlank, aber die schlaffe Haltung gefällt mir. Wenigstens einer hier, der keinen Sport treibt. Er wirkt so gepflegt und gut erzogen, als hätte er ein Schweizer Internat absolviert. Es gibt da unten am Genfer See so viele Pensionate, warum nicht auch eines für Strichjungen? Bodo, der sonst wie alle anderen hier Prostituierte mied, erwärmte sich immer mehr. Und selbst wenn etwas so Unappetitliches wie Geld zwischen uns eine Rolle spielen sollte – was kann man dagegen sagen? Eine reelle Geschichte: Nährt mich, kleidet mich, signalisiert er, und ich werde euch einen erfreulichen Anblick bieten.

     Es kam nicht mehr dazu, dass Bodo sich ihm näherte. (Und wie er sich kannte, wäre das ohnehin unwahrscheinlich gewesen.) Ein anderer schob sich ziemlich dreist an ihm vorbei und in sein Gesichtsfeld hinein, verdeckte ihm wie mit Absicht den Stricher. Er warf einen sehr wachen und konzentrierten Blick auf Bodo und nahm infolge einer Vierteldrehung seines Körpers eine Stellung ein, die Bodo sein Halbprofil vorführte und es ihm selbst ermöglichte, Bodos Reaktionen auf das Richtfeuer seiner intensiven Blicke zu verfolgen. Er trug Chaps. Es steht ihm, dachte Bodo, das kann man nicht von allen sagen. Er hat einen guten Schneider, und sein kräftiger, etwas gedrungener Körper erleichtert es dem Schneider, gute Arbeit zu leisten und etwas gut Sitzendes zuzuschneiden. Bodo liebte die kräftigen, etwas gerundeten Formen, besonders bei Männern, die Ruhe und Solidität ausstrahlten. Er kam sich dann selbst knochiger, eckiger und ungelenker vor, als er in Wirklichkeit war, und in seine Bewunderung mischte sich ein wenig Neid. Solcher Art war die Faszination, der Bodo manchmal erlag  - und, wer weiß, vielleicht lag ihr zutiefst nicht Sympathie zugrunde, sondern ein hilfloser Hass auf die Satten und Unempfindlichen, die es sich im Leben stets einzurichten wussten.

     Ob er mich mehr als physisch anziehen könnte, fragte sich Bodo. Die Blicke des Fremden streiften ihn so regelmäßig wie das Blinkfeuer eines Leuchtturmes. Vergeblich bemühte sich Bodo, in seinen Gesichtszügen zu lesen. Da war alles glatt und selbstzufrieden. Ich werde mich bald entscheiden müssen, dachte Bodo, und seine Augen wichen den Blicken des anderen aus und glitten stattdessen über die eindeutige, schamlose Silhouette des Unterleibes. Erstaunlich, was die Ledermänner von heute aus dem primitiven Beinschutz der alten Kuhhirten gemacht hatten. Im Übrigen so gut wie ausgestorben, ritten diese Viehtreiber nur noch zum Nutzen einer Zigarettenmarke über Leinwände und Bildschirme; auch auf Riesenplakatwänden konnte man sie noch in der originalen Form sehen – nämlich die Chaps. Damit weniger Material verbraucht würde und vor allem wegen der leichteren Beweglichkeit sparte das harte Leder die vordere und auch die hintere Öffnung des Unterleibes aus, die ja beim Reiten ohnehin gedeckt und geschützt waren; hier genügten die von Levi Strauss produzierten Hosen. Die Kerle von heute jedoch ritten nicht, sondern standen in Bars herum und ließen sich begaffen. Der praktische lederne Beinschutz, nun viel enger zugeschnitten, wurde zum Reizmittel, und gerade die fetischfreien Zonen um das Becken herum waren jetzt das eigentlich Obszöne: Helle Flecke von ausgebleichtem Kattun wollten inmitten des düster glänzenden Materials der Lust den Weg weisen.

     Übrigens führte die Entwicklung keineswegs nur vom Praktischen zum Spielerischen, es konnte auch umgekehrt verlaufen. Als Bodo vor Jahren seine ersten Erfahrungen mit Ledermännern machte, hatte ihm einer gesagt, diese Mode sei doch etwas ausgesprochen Praktisches. Dabei hatte er, den er nicht ins Bett bekam, gelächelt und Bodo sich seine Gedanken gemacht. Einige Wochen vor der Reise nach Frankfurt hörte er es wieder, jetzt von einem, der mit ihm geschlafen hatte. Es war am Morgen danach in Bodos Wohnung. Sie duschten nach dem Aufstehen, einer nach dem anderen, und zogen sich dann an. Der andere rollte zuletzt seine Chaps zusammen und stellte nüchtern fest, auf diese Weise sei man am Tag danach ganz unauffällig angezogen und könne unbesorgt auf die Straße gehen. In der Erinnerung daran musste Bodo nun seinerseits lächeln, was der Interessent ihm gegenüber missverstand, nämlich als Aufforderung, die letzten zwei Meter Distanz hinter sich zu bringen.

     Er sagte: „Du hast Glück.“

     „Inwiefern?“ Bodo unterdrückte sein Erstaunen.

     „Ich war drei Monate in den Staaten. Das ist mein erster Ausgang hier seitdem. Großer Zufall, dass du gleich auf mich gestoßen bist.“

     Es folgten die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Sie sagten sich ihre Vornamen. Und während sich ihr Gespräch auf diese Weise an der Oberfläche bewegte, versuchten Verstand und Sinne, sich ein möglichst umfassendes erstes Bild vom Gegenüber zu verschaffen. Es war Bodo gleichgültig, ob Arthur drei Tage oder drei Wochen in Florida verbracht hatte, und Arthur interessierte sich nicht dafür, wie oft Bodo schon in Frankfurt gewesen war. Bei ihrem Austausch von Belanglosem belauerten sie einander und achteten genau auf Wortwahl, Tonfall und Körperhaltung und zogen daraus Schlüsse, die mit Miami oder Frankfurt gar nichts zu tun hatten.

     Bodo sagte, er sei schon fünf Jahre nicht mehr drüben gewesen. Ob sich in dieser Zeit nicht doch viel verändert habe?

     „Die Szene ist genauso tot wie hier“, gab Arthur Auskunft und verbesserte sich dann sofort, da Bodo die Stirn runzelte: „ – oder genau so lebendig. Im Übrigen spielt das für mich gar keine Rolle. Ich finde meinen Spaß immer, dafür sorge ich schon.“

     Eben, sagte sich Bodo im Stillen, darüber lässt du einen nicht im Unklaren. Wie kann einer dermaßen von sich selbst überzeugt sein. Forciert, das ist es. Einfach widerlich. Du machst einen verheerenden Eindruck … Die Formen, die er sonst so liebte, der Rundschädel, die breiten Schultern, all das kam ihm hohl und aufgeblasen vor und reizte ihn jetzt nur noch. Er hat keine Spur einer Ahnung, wie unangenehm er mir ist. Dumm … Ich bin wohl immer noch zu freundlich. Er merkt es nicht … Bodo nahm sich vor, ihn zu verletzen. Die Gelegenheit kam bald. Sie sprachen noch nicht fünf Minuten miteinander, als Arthur zum Aufbruch drängen wollte:

     „Gehen wir noch woandershin oder gleich zu mir nach Hause?“

     „Ich habe nicht vor, hier so schnell wegzugehen. Mach du aber nur, wozu du Lust hast.“

     Arthur, der Bodo im Gespräch immer näher gekommen war, prallte zurück. Ob es denn nicht schon klar sei, dass sie es probieren würden? Bodo sagte ihm mit Vergnügen, das Gegenteil sei klar. Er, Arthur, sei ihm nicht sehr sympathisch – eine Spur zu großspurig.

     Arthur sagte kein Wort mehr, verließ ihn sofort und flüchtete sich in ein Gespräch mit Freunden, die er in der Nähe des Einganges entdeckt hatte.

     Wenn neue Gäste hereinkamen und ins Innere der Bar drängten, geriet die Masse der Leiber in Bewegung. Dann kam es für Augenblicke vor, dass Bodo freie Sicht auf Arthur hatte, der ihm den Rücken zuwandte, die imposante Kehrseite mit der herausfordernden Aufmachung. Er hielt sich nun weniger straff. Bodo erkannte in der leicht gekrümmten Linie des Rückgrates und den jetzt etwas herabhängenden Schultern Anzeichen dafür, dass er ihn gedemütigt hatte. Aber das Gefühl der Befriedigung verflüchtigte sich bereits. Der da konnte einem ebenso gut Leid tun. Er starrte auf die großen Halbkreise der fast weißen Flächen des Baumwollstoffes: wie aus dem schwarzen Leder herausgestanzt, Symbol eines Vakuums, von Verletzungen oder von was auch immer. Zugleich wirkten die hellen Wölbungen in der Masse schwarz gekleideter Leiber als Blickfang und schienen sich für solide Genüsse zu verbürgen.

     Bodo war berichtet worden, dass spezielle Betriebe das Auswaschen und Ausbleichen der neu produzierten Jeans besorgten. In riesigen Trommeln wurden die Blauen gewaschen, bis sich die Farbe so weit verflüchtigt hatte, wie es der Käufer wünschte. Der Konsument wollte ein ganz ausgelaugtes Blau, eine Farbe, die eher an das weiße, blau geäderte Fleisch muskulöser Körper erinnerte als an die ursprüngliche grobe Arbeitshose. Die Arbeit an den Maschinen war nicht ungefährlich. Gelegentlich kam es zu Unfällen. Die Türen öffneten sich spontan, prallten gegen die Gesichter der Arbeiter. Manch einer hatte schon einen Zahn verloren, einige ganze Zahnreihen eingebüßt. Das sah abscheulich aus, besser nicht daran denken.

     Arthurs Freunde verließen ihren Standort und gingen quer durchs Lokal. Arthur schloss sich ihnen an und scherte dann aus, als ihre Prozession Bodo erreichte. Es war, als suche er ein Gegengift am Ort seiner Verwundung. Oder will er erneut verletzt werden? Er hatte das Imponiergehabe vollständig abgelegt.

     „Entschuldige, wenn ich vorhin etwas überdreht war? Ich habe heute Abend etwas genommen.“

     Bodo antwortete ihm: „Zu deinem eigenen Schaden.“

     Arthur wollte wissen, ob die meisten Hamburger so direkt und kratzbürstig seien. Bodo zuckte bloß die Achseln, er wohne erst seit einigen Jahren dort; aufgewachsen sei er in der Nähe von Saarbrücken.

     „Aber ich doch auch!“ Arthurs ganzer Körper dehnte sich, reckte sich, er lachte. „Wirklich? – Do kenne mir jo ganz annerschder meddenanner schwätze.“

     Bodo sagte, er komme aus N. und sei schon mit achtzehn fortgezogen; den Dialekt habe er ganz verlernt. Arthur lebte bis vor fünf Jahren in Klarenthal. Das klare Tal, dachte Bodo, Ort der Reinheit und Sittenstrenge, falls es nicht Klaras Tal bedeutet. Arthurs chamäleonartiges Wesen zeigte sich erneut von neuer Seite. Er war jetzt harmlos aufgedreht, lachte und redete viel. Aus Rücksicht auf Bodo fiel er kein zweites Mal in den Dialekt zurück.

     Nach einer Viertelstunde standen sie auf der Straße. Es wäre herzlos gewesen, nicht mit ihm zu gehen, sagte sich Bodo. Und dann sieht er ja wirklich gut aus. Aber er konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Arthur der Hochfahrende und Arthur der Demütige ihn weit mehr erregt hatten als Arthur der Landsmann.

     Arthur wohnte drüben in Sachsenhausen. Sie versuchten, ein Taxi zu bekommen und gingen dabei immer weiter auf den Fluss zu. Als sie auf der Untermainbrücke standen, sagte Arthur, jetzt lohne es sich nicht mehr, sie hätten schon den halben Weg zurückgelegt.

     Sie kamen gut voran. Er ließ den Klarenthaler reden. Arthur erzählte von seiner Schule in Saarbrücken, von einer Disco in Mannheim. Bodo hörte nur halb hin und hing eigenen Gedanken nach.

      Das klare Tal? Da war er doch mal gewesen … Richtig, die zwei Wochen damals, die er bei den Eltern verlebt hatte, im Jahr nach dem Tod der Großmutter. Man kann da eigentlich keinen Urlaub machen … Und dann fuhr er eines Tages mit dem Bus nach Luisenthal, um von dort nach Klarenthal hinaufzugehen. Er war vorher nie in der Gegend gewesen. Unten am Fluss sah es ziemlich düster aus. Westwind drückte die schwefligen Wolken von der Röchlinghütte in das enge Tal hinein. Dann der Gestank von der Raffinerie. Und der von der Kokerei. Lärm von den Straßen, die hier gebündelt verliefen und die er überqueren musste, bevor er mit dem Aufstieg beginnen konnte. Eingeklemmt zwischen Fluss und Straßen und Eisenbahnen ab und zu eine verkommene Häuserzeile, die Häuser klein wie die von Fischern. Als ob es in der Jauche etwas zu fischen gäbe. Man kann da eigentlich nicht wohnen … Wie zerfallende Ritterburgen die Ruinen der Kohlengruben, mehr oder weniger versteckt im Grün der Laubwälder. Die Hügel waren ja grün, wenn es auch ein wie durch einen graugelben Filter gesehenes Grün war. Oben auf den Hügeln und zwischen den Kuppen fand er dann Haufen niedriger Häuser vor, hässliche Siedlungsklumpen, die Heime des unteren Mittelstandes. Er hatte Harros Adresse auswendig gelernt, aber keinen Stadtplan in der Tasche. Eine Zeitlang lief er suchend herum, verlor dann die Lust. Was willst du eigentlich hier, das führt doch zu nichts. Und er kehrte um, ohne das Haus gesehen zu haben.

     Harro war ihm am Abend davor plötzlich in den Sinn gekommen. Das Radio lief, er hörte nur halb hin, auf einmal fiel der Name Herrensohr. Der Name des Ortes weckte sogleich eine Reihe längst eingeschlafener Erinnerungen zu neuem Leben. Harro aus Herrensohr – das war die Zeit auf der Oberschule, langsam dahinschleichende Jahre. Er saß von Untertertia bis Untersekunda genau hinter Bodo, und Bodo achtete kaum auf ihn. Er war ein hübscher, sanfter Junge, recht kräftig, doch zum Träumen geneigt, kein guter Schüler, kein guter Turner, eben nur ein Träumer. Seine vitalsten Äußerungen in diesem Alter waren ein gelegentliches phlegmatisches Grinsen oder ein samtenes ironisches Lachen. Nach Untersekunda wurde die Klasse aufgelöst, die Schüler wurden auf verschiedene Klassen aufgeteilt. Bodo verlor ihn aus den Augen. Mit achtzehn sah er ihn noch einmal bewusst wieder. Es war in der Sportstunde, seine Klasse nutzte die Halle zur gleichen Zeit. Er war für sein Alter schon recht schwer, dabei muskulös. Der Sportlehrer winkte resigniert ab, als er versuchte, seine Fleischmassen, die er mühelos hinaufgewuchtet hatte (so kräftig war er), oben auf der Reckstange im Gleichgewicht zu halten – das ging nun wirklich nicht. Bodo sah ihn in der folgenden Pause genauer an, als er es früher getan hatte. Harros Gesicht wies eine siebartige Oberfläche auf, Spuren einer überstandenen Akne. Das Gutmütig-Ironische im Ausdruck hatte sich mit den Jahren verstärkt. Die beigefarbene Cordhose saß knapp auf den breiten Schenkeln. Seinen Körper bewegte er ruckartig. Bodo fand ihn sympathisch, Harro schien ihn nicht zu bemerken – als ob er ohne Erinnerung an die gemeinsamen Jahre wäre. Er kam Bodo dann bald erneut und endgültig aus den Augen.

     Fünf Jahre später – Bodo lebte längst woanders – war die Erinnerung an ihn plötzlich wieder da. Es war nur eine kurze Episode in der Vergangenheit. Harro war fünfzehn. Sie saßen nach der Pause schon auf den Plätzen. Die Stunde hatte noch nicht begonnen. Da legte Harro auf einmal die Arme um Bodos Schultern, sagte ihm eine dicke Schmeichelei und schnurrte sanft. Bodo war ratlos, mit dieser Zutraulichkeit konnte er nichts anfangen. In seiner späteren Krise sah er die Szene wieder und so lebendig wie beim ersten Mal vor sich. Er verliebte sich jetzt sogleich in den Harro von damals. Er dachte zwei Jahre viel an ihn und vergaß ihn dann erneut vollständig. Als er sehr viel später das Wort Herrensohr im Radio hörte, war alles wieder da: die Umarmung in Obertertia, die Sportstunde, die idiotische Sehnsucht später. Er griff zum Telefonbuch und glaubte nach einer Stunde Suchen, Harros jetzige Adresse in einem anderen Saarbrücker Vorort herausgefunden zu haben. Tags darauf fuhr er voller Erwartung hin. Erst das reale Klarenthal ernüchterte ihn so sehr, dass er einsah, wie unsinnig, ja lächerlich dieser Versuch einer Antwort nach fast zwanzig Jahren war.

     „Bist du einmal in Herrensohr gewesen?“ unterbrach er Arthur, der eben von seinen Reisen nach England erzählen wollte.

     „Ja, schon. Warum“

     „Nur so. Ich habe es immer nur von der Bahn aus gesehen.“

     Sie bogen in eine Seitenstraße ein, links und rechts geschlossene Zeilen von Miethäusern der letzten Jahrhundertwende; aus warmem rötlichem Sandstein der plastische Schmuck an den Fassaden: Löwenköpfe und Chimären. Sie betraten ein Haus, über dessen Eingang ein Medusenhaupt wachte. Bodo erschrak nicht, er hatte dergleichen schon oft gesehen.

     Nur ungern ging er mit in fremde Wohnungen. Lieber waren ihm Hotelzimmer oder die eigene Wohnung. Die privaten Räume eines Sexpartners zeigten zu viele Details. Die Möbel, die Bilder, die Ordnung der Gegenstände, alles sprach zu einem und redete durcheinander. Er fühlte sich den aufdringlich inszenierten Eindrücken meist nicht gewachsen und viel zu sehr von jenem Körper abgelenkt, der ihn zunächst hauptsächlich interessierte.

     Bei Arthur war es zum Glück anders. Die große Wohnung war sparsam möbliert, die weißen Wände zeigten kaum Bilder. Viel Metall, wenig Holz, ein kühles Gehäuse. Hier würde er sich ganz auf Arthurs Körper konzentrieren können.

     „Hast du mein Tuch gesehen?“

     Er hatte es nicht gesehen, verdammt, er hatte den kleinen roten Tuchstreifen über der rechten Gesäßtasche übersehen. Wie hatte ihm das passieren können, er achtete doch sonst darauf und ging den Liebhabern der Faust aus dem Weg.

     „Ich hab nicht darauf geachtet. Und weißt du, manuell bin ich nicht sehr geschickt.“

     „Und was bedeutet dir Leder?“

     Bodo hasste diese Verhandlungen. Verdammt, man tat, wozu man Lust hatte. Wozu erst fragen. Für sein Gefühl zerstörten diese Anfragen den Reiz der Sache. Sex war unmittelbare Körpersprache, dem Wort weit überlegen. Sex brauchte keinen Dolmetscher.

     „Leder? Ein ästhetischer Reiz.“

     „Nur ein ästhetischer Reiz?“

     „Nur hast du gesagt.“

     Arthur gab sich masochistisch. Bodo schlug ihn. Er hatte sogar ein gewisses Vergnügen daran. Dennoch musste er sich sagen, dass er Arthur lieber schon vor einer Stunde gequält hätte. Jetzt war es nur noch eine halbe Sache. Arthurs harmlose Freude vorhin und seine eigenen Gedanken an Harro hatten ihm eigentlich den Spaß verdorben. Da er nicht wirklich bei der Sache war, sah er Arthurs Gesicht beim Akt allzu deutlich vor sich. Dieses Gesicht, sonst hübsch und glatt und im Ausdruck nur auf sich bezogen, veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit. Die bisherigen festen Züge schienen sich völlig aufzulösen. Es bildeten sich jedoch keine neuen wie sonst bei verändertem Seelenzustand. Die Züge zersetzten sich von innen heraus und bildeten atomisiert nur noch einen vibrierenden amorphen Brei. Es war hässlich und zur selben Zeit faszinierend.

     Die Morgendämmerung zog herauf und war der Vorhang vor dieser Nacht der Inversion.

     Sie erwachten gegen Mittag und standen gleich auf. Arthur erregte sich wegen kleiner Blutflecke auf der Bettwäsche. Er könne doch nicht jeden Tag die Betten neu beziehen, so arg hätten sie es also getrieben. Bodo hatte es anders im Gedächtnis.

     Als sie noch frühstückten, fiel ein halbes Dutzend von Arthurs Freunden in die Wohnung ein. Sie schlugen eine Spazierfahrt in den Taunus vor. Ja, frische Luft würde ihnen gut tun. Sie luden auch Bodo ein. Er sagte, er müsse auf jeden Fall erst ins Hotel, um sich umzuziehen.

     Und so bin ich ins Hotel gefahren und habe keinen von ihnen jemals wieder gesehen …

 

 

„Es hat Einfahrt auf Gleis drei der verspätete Eilzug von München nach Würzburg, Abfahrt fünfzehn Uhr neununddreißig.“

     Bodo ging mit den anderen Fahrgästen, die inzwischen eingetroffen waren, hinüber. Zum Glück regnete es nicht mehr. Er stieg ein und fragte sich dabei: Wie kam ich heute bloß auf Frankfurt?   

 

(Geschrieben 1988)

 

Sein Apartment

Gut ausgedacht: sich früh aufs Land zurückziehen, nicht mehr kämpfen müssen, sich in nichts mehr verwickeln lassen. Die Wunden sollten vernarben. Du wolltest deiner Natur doch noch gerecht werden, einen langen Herbst der Kontemplation genießen. Stoff zur Betrachtung in Fülle, Natur, Kultur, einen Garten anlegen. Die Nachbarn wie du selbst: verwundet. Rundum nur Frieden, Ruhe und Frieden. (Man sollte sie in Dosen abfüllen und in die Großstadt versenden.)

Es ging aufs Frühjahr zu, als du hierherkamst. Dann der lange erste Sommer. Nie warst du so viel draußen und in Bewegung. Dein Lebenssommer dagegen lag in der Vergangenheit und war zeitlich nicht genau zu fixieren, jedenfalls war er ziemlich extrem gewesen. Metaphern könnten noch blühen, um ihn zu beschreiben. Wozu? Wenn du zurückschaust, ist dir, als blicktest du in den Orkus – alles verschlungen: Gesichter, Geschichten, Stücke von dir.

Den Herbst, den wirklichen Herbst hattest du dir schöner vorgestellt. Vielleicht wird er im nächsten Jahr besser. Die höheren Beamtenwitwen flogen reihum nach Ischia oder Zypern. Zurückgekehrt seufzten sie: Der Winter, der Winter … Er erwies sich dann als lang und hart, höchst real. Schon zu Silvester waren die Temperaturen so niedrig, wie du sie nie erlebt hattest. Man blieb meist drinnen und sah hinaus in ein überaus transparentes Blau, einen Himmel, der rein gar nichts mehr verbarg. Dann kamen noch trübe Tage. Alles stockte, lag starr. Die Gedanken und Gefühle wurden ein wenig fahnenflüchtig: Tendenzen ins Rückwärtige. Nicht in die Stadt, die du hinter dich gelassen hattest und in der auch nichts mehr so war wie … wie wann? Wer das wüsste.

Früher kanntest du den Ort nur dem Namen nach, die Kleinstadt, in der du nun lebst. Ein Bad, ein Kurort an der Hauptstrecke der Bahn nach Süden. Du musst oft mit dem Zug durchgekommen sein. Die Züge fahren hier sehr schnell, bremsen nicht einmal, wenn sie den Bahnhof passieren. Den weißen Strich erst nach Anhalten eines Zuges überschreiten … Im Vorjahr wurde ein Ruheständler mitgerissen, fort aus der Ruhe, aus dem Frieden. Du nahmst früher, wenn überhaupt etwas, nur kleine rote Häuser mit sauberen roten Dächern wahr, inmitten großer Wälder von Buchen, Kiefern, Eichen. Dann war es schon vorüber und sechs Stunden später warst du in München.

 

Früher war das Land ein schmaler Korridor. Die Vitalen, die Flexiblen drängten in ihm, wie in Amerika westwärts, hier vor allem südwärts, und an seinem Ende lag München, eine Art deutsches Kalifornien. Dort der Stille Ozean, hier die Alpen. Weiter ging es nicht mehr, die Zirkulation stockte. Da besannen sich die Erfolgreichen, die Schönen, die Lebenskünstler, weshalb sie sich hier versammelt hatten. Freizeitwert, Lebensqualität, Lebensgenuss, das sollte es sein. Sie wollten es nun in konzentrierter Form haben. Indessen blieb das erhoffte Glück nicht selten aus, ein Phänomen, das um 1980 massenhaft auftrat und zu weit verbreiteten hysterischen Reaktionen führte. Die Kneipen blühten, sie waren die Orte öffentlicher Kundgebung privaten Unglücks.

Besonders galt dies für jenen Teil der Bevölkerung, der sich gern als gay bezeichnen ließ. Es gab damals allein drei Lederbars in der Stadt. Der Andrang war an Wochenenden so groß, dass die Sperrstunde von ein auf drei Uhr morgens verlegt werden musste. Jedoch kamen die drei Bars nur abwechselnd in den Genuss dieser besonderen Konzession.

Ich erinnere mich an einen solchen Abend im Bärenhaus, Sommer 1979. In den letzten zwanzig Minuten ging es zu wie immer vor Lokalschluss. Schüchterne fanden sich doch noch, nachdem sie drei Stunden mutlos gewesen waren. Frustrierte Zyniker verließen mit vereister Miene das Lokal. Der große Rest trank und schwadronierte und trank und riss Zoten und trank und kehrte sein Innerstes nach außen und das des lieben Nachbarn auch. Der Kellner flitzte. Die Musik war sehr laut, der Chor der Gäste überschrie sie. Abgerechnet wurde in hexenmeisterlichem Tempo. Jetzt kam noch Gundas, der Wirtin, großer Auftritt. Sie, die Konzessionärin, hatte den ganzen Abend auf einem Barhocker vor dem Tresen verbracht und still gezecht und manchmal mit Stammgästen einige Worte geredet. Nun stieß der Münchner den Gast aus Wuppertal an: Da, die Gunda, jetzt … Und die Gunda sang mit blechernem Organ, ziemlich dünn und unmelodisch … und die Gäste wurden leise … und die Lautsprecher wurden heruntergedreht. Die Gunda sang die Bayernhymne und zu verwandter Melodie ihr berühmtes Wollt ihr wohl nach Hause gehen, wollt ihr wohl zum Ficken gehen.

Nun brach man rasch auf. Gunda selbst musste beim Aufstehen gestützt und dann fortgeschafft werden.

Er stand gegenüber, während dieses Tumultes, drei Meter entfernt. Wir sahen uns an und waren uns gleich einig. Hübsch war er, männlich-sanft, vielleicht ein Kind ländlicher Fluren? (Es waren nur die Hochhäuser von Dietzenbach, wie ich nachher erfuhr. Oder war es Sprendlingen? Aber soweit waren wir noch nicht.) Er war nicht allein, sie waren zu dritt, er, Mitte zwanzig oder knapp darüber, dann ein anderer, nahe dreißig, Münchner, wie zu vermuten, und noch ein sehr junger Exote, grazil, feminin, bräunlich die Hautfarbe, die Herkunft nicht zu erraten. Der Bräunliche stand schweigend zwischen den beiden anderen, die sich heftig stritten. Vielleicht um ihn, der in diesem Milieu doppelt exotisch wirkte? Es war so laut in der Bar, dass ich nichts verstehen konnte. Die Erregung der beiden Streitenden verriet ihre Intimität. Und in diesen Streit hinein unser Separatblinkfeuer, sehnsüchtig und voller Einverständnis.

Gunda wurde eben weggebracht. Da löste sich alles auf. Der Ältere ging mit dem Exoten hinaus, und der Jüngere kam zu mir herüber, wütend: „Jetzt schleppt er ihn ab, der Scheißkerl, aber ich lauf nicht hinterher, ich nicht.“ Das mit hessischem Tonfall, ungeniert. Klang es nicht ungefähr so: “Isch laaf `m ned no, isch doch ned.“ Der Fremde sei aus Surinam, sein Freund wolle es zu dritt machen, aber er wolle nicht mit dem Surinamesen ins Bett und der auch nicht mit ihm. Sie passten einfach nicht zusammen. Er und sein Freund, sie wohnten zusammen und sie hätten bloß eine Ein-Zimmer-Wohnung.

Ich sah ihn mir erst noch einmal an.

Er war blond, schlank, normal groß oder leicht darüber, ganz in engem schwarzem Leder, sehr schmuck anzusehen. Kein Zubehör, nichts Buntes, kein Metall. Das Wahre ist doch immer das Einfache. Sein Gesicht: hübsch und ziemlich ernst. Alles in allem ein erfreulicher Anblick – und doch wurde es einem mulmig, wenn man ihn ansah. Mir jedenfalls erging es damals so, und später auch. Wenn ich den seelischen Eindruck, den er vermittelte, wiedergeben soll, werde ich die verbrauchten Bilder meiden, ihn keinen gefallenen Engel nennen und nicht vom Zeichen auf seiner Stirn sprechen. Aber es war so etwas um ihn. Drücken wir es so aus: Er war männlich, doch der Pfeil im Symbol seiner Männlichkeit war nach unten gerichtet, er wies schräg nach unten. Hatte ihn irgendeiner mit Freude heranwachsen sehen?

Ich hatte mich damals in einer Pension am Viktualienmarkt einquartiert, nicht zum ersten Mal. Sie duldeten dort gewöhnlich nicht, dass man Fremde mit aufs Zimmer nahm. Wir könnten es trotzdem versuchen, schlug ich ihm vor, wenn er mitkommen wolle.

Er war unschlüssig. Vielleicht sei er jetzt nicht imstande, mit mir zu schlafen, er sei verärgert und viel zu nervös. Am liebsten würde er sich sofort von seinem Freund trennen, so etwas wie eben sei ja schon öfter passiert. Dann entschloss er sich plötzlich, doch mitzukommen. Er wolle einfach nur mit mir reden und bei mir übernachten.

Unterwegs sagte er mir seinen Namen: Ralf. Er war Koch, für mich einer aus einer langen Reihe, die später irgendwann abgerissen ist.

Ich hatte es nicht besonders eilig, in die Pension zu kommen. Dort lag der Nachtportier auf einer Pritsche neben der Rezeption, wahrscheinlich ein Student. Er ließ sich ungern wecken und zeigte es einem auch. Von Freunden wusste ich, wie schon erwähnt, dass er den Versuch, Eroberungen mitzunehmen, meistens übel aufnahm. Zwar stiegen hier vor allem Homosexuelle ab, doch der Wirt achtete auf den Ruf des Hauses.

Ralf beruhigte sich allmählich. Er sprach offen über seine Angelegenheiten, und ich begriff bald, wie windig es um seine Münchner Existenz bestellt war. Er trottete jetzt zutraulich neben mir her, als könne es nicht anders sein. Wir brauchten eine halbe Stunde vom Sendlinger Tor bis zum Viktualienmarkt.

Der Nachtportier öffnete. Er war umgänglicher als sonst. Wir bekamen den Zimmerschlüssel, ohne etwas erklären zu müssen. Vielleicht stimmte ihn unser zaghaftes Auftreten milde. Er mag sich im Stillen gesagt haben: Ach, ihr zwei … Na dann, in Gottes Namen halt. – Er wünschte sogar freundlich Gute Nacht und legte sich wieder aufs Ohr.

Wir gingen die Treppe hinauf und betraten das sehr karge Zimmer. Dann sprachen wir lange nicht mehr. Er umarmte mich gleich. Die Sache verlief so natürlich und befriedigend wie möglich. Ein selten reiner Eindruck. In München zumindest hatte ich Ähnliches noch nicht empfunden und sollte es dort auch nur noch einmal empfinden – als ich ihn im folgenden Jahr erneut traf.

Nachher ruhten wir still nebeneinander auf dem Bett, ohne schlafen zu können. Zwischen fünf und sechs stand er auf. Er wolle nun doch zu seinem Freund zurück. Je später er komme, desto mehr Ärger werde es geben. Ich hätte ihn gern dabehalten.

 

Im Sommer darauf fuhr ich wieder nach München, Anfang September. Diesmal war die Sperrstunde im Denver hinausgeschoben. Hier sang keine Wirtin zum Schluss, alles war eine Spur kälter, geschäftsmäßiger. Das Bärenhaus war das Altmünchner Bierlokal, verräuchertes Holz für die Seele, das Denver dagegen ein New Yorker Imitat, kahle Mauern, schwarz getüncht. Fassbinder verkehrte zeitweise hier. Eines Tages kam es im Lokal zu einer Schlägerei, an der er beteiligt war. Fassbinder kam vor Gericht, angeklagt, und die Bar in den Lokalteil der Süddeutschen Zeitung. Für Querelle standen Rainer-Werner, wie ihn die Möchtegern-Insider am liebsten nannten, hier Männer wie Ralf als Modelle vor Augen. Aber Querelle war eine Kino-Schönheit, und Leute wie Ralf verkörperten das wirkliche Leben. Sie waren viel weniger strahlend, dafür verletzlich, widerborstig, manchmal sehr nett, mit Macken, in die man sich verlieben konnte, und auch noch etwas angekränkelt, echte Männer eben.

Er kam erst nach zwei Uhr, und ich erkannte ihn nicht gleich. Er trug dieselbe Montur wie im Vorjahr, dazu noch eine Lederschirmmütze. Im Gesicht wirkte er schmaler. Gesicht und Haltung zeigten die ersten Spuren eines anstrengenden Lebens, das sich vielleicht vorzeitig verbrauchen würde. Er trat kesser auf als früher, er war bereits daran gewöhnt, vielfach begehrt zu werden. Zugleich schien es ihn eine Spur anzuwidern; schwer zu sagen, wie viel daran Spiel war, um den Reiz zu erhöhen, und wie viel echtes Gefühl.

Sie eröffneten gleich eine Art Kesseltreiben auf ihn. Er lehnte ruhig am Tresen und ließ sich auf niemand ein. Sie schmachteten ihn mit den Augen an, gingen immer einige Schritte hierhin und dorthin, ohne ihn aus dem Blick zu verlieren. Mir war es unangenehm, zu dieser Meute zu gehören, es war nicht gerade die Auslese. Doch er zog mich geradeso mächtig an wie sie. Er strafte sie mit Verachtung; vielleicht genügte ihnen das schon zur Not. Sie verzogen sich nach und nach. Gegen drei war ich beinahe allein mit ihm und einem letzten Konkurrenten, der uns aus einiger Entfernung beäugte. Ich sprach ihn jetzt an, ich weiß nicht mehr, mit welcher Floskel. Als er den Mund auftat, erkannte ich ihn endlich: Ralf, der Koch, und sein südhessisches Idiom.

Er kam sofort zur Sache. Etwas arbeitete in ihm. Er könne mich nicht mitnehmen, er habe jetzt keine Wohnung. Er schlafe in einer Gaststätte, die ihm gehöre. Das sei nicht das Richtige für mich.

Was mich betraf, so logierte ich diesmal in einem Hotel im Tal, so normalbürgerlich wie möglich. Schon der Versuch, ihn einzuschmuggeln, erschien aussichtslos. Der Nachtportier dort schlief nicht, er wachte gewissenhaft über Eingang und Ausgang, und verspiegelte Wandflächen erlaubten ihm die Kontrolle auch über jeden Winkel hinter der Tür und am Fuß der Treppe. Das beschrieb ich Ralf genau.

Da notierte er eine Telefonnummer und gab sie mir. Ich solle ihn am Mittag in seinem Lokal anrufen, dann werde sich etwas machen lassen. Er schrieb auch die Adresse dazu, es war Richtung Sendling.

Die Musik war abgestellt, grelles Licht angedreht worden. Wir waren die Letzten. Zusammen gingen wir die Straße hinunter, um uns an der Ecke zu trennen. Er winkte ein Taxi für sich herbei. Als der Wagen hielt, zog er mich am Arm zu sich heran und schob mich dann in die Taxe hinein: „Du kommst doch mit.“

Ich war auf seine Bar neugierig, aber er nannte dem Fahrer barsch eine Straße, die vom Zentrum nach Schwabing hinausführt. Und zu mir, in ganz anderem Tonfall: „Ich versuche jetzt etwas. Sei bitte nicht böse, wenn es nicht klappt.“

Einige Minuten später standen wir auf der A…straße vor einem Apartmenthaus der sechziger Jahre, wie aus einer Dekoration für ein Stück von Botho Strauß: Groß und Klein, meine ich.

Hier sei seine neue Wohnung, und er wolle sie jetzt gleich haben, sofort. Es war noch nicht einmal halb vier.

Er hatte keinen Schlüssel, weder zum Haus noch zur Wohnung. Schweigend drückte er den Klingelknopf zu einer Wohnung im ersten Stock, einmal, zweimal, immer wieder. Nichts geschah. Da kam ein anderer Hausbewohner heim und betrat das Haus, Ralf glitt hinterher. Er hielt die Haustür einen Spalt offen und forderte mich schweigend auf, ihm zu folgen. Die Treppe hinauf erklärte er mir, in einem Apartment im ersten Stock lebten drei Männer, mit denen er geschäftlich zusammenarbeite. Sie besäßen den Schlüssel zu seiner neuen Wohnung, er müsse sie jetzt unbedingt wecken. Er begann ein endloses Lärmen mit ihrer Türklingel, das weithin über die Flure zu hören war. Niemand öffnete, und er wurde jetzt so wütend, wie ich ihn noch nicht erlebt hatte. Er schimpfte und fluchte und hörte mit seinem Sturmgeläut erst auf, als die Klingel plötzlich keinen Ton mehr von sich gab. Von da an traktierte er über längere Zeit die Wohnungstür mit seinen Stiefeln. Mich forderte er auf, in einer dunklen Nische zu verschwinden. Er schien mir völlig nüchtern zu sein und doch von Sinnen.

Als alles ohne Wirkung blieb, ging er allein auf die Straße. Er wolle versuchen, die da drinnen ans Telefon zu bekommen. Ich musste im Hauseingang warten, um ihn nachher wieder hereinzulassen; er hatte niemand erreicht. Er wollte noch einmal hinauf. Oben begann er erneut, gegen die Tür zu treten, noch heftiger als zuvor. Er brüllte jetzt auch. Eine Nachbarin erschien im Flur und verlangte Ruhe. Er achtete gar nicht auf sie, und sie zog sich zurück. Ich sah im Geist schon die Polizei anrücken. Sein krimineller Touch, vorher allenfalls in homöopathischer Dosis wahrzunehmen, doch jetzt unübersehbar, erschreckte mich. Ich wagte nicht, ihn zu dämpfen, es auch nur zu versuchen, aber ans Fortgehen dachte ich auch nicht.

Nach einer Dreiviertelstunde kam einer der drei Bewohner nach Hause. Ralf erhielt ohne viele Worte seinen Schlüssel, und wir gingen sofort die Treppe weiter hinauf.

Er kannte die Wohnung noch nicht und sah sich gleich neugierig um, als wir erst einmal drin waren. Es gab nicht viel zu entdecken. Es war nur ein kleines, mickriges Apartment und noch dazu laut. Es enthielt die allernotwendigsten Möbel, ziemlich scheußliche Stücke, und etwas Wäsche und Geschirr. Die Vormieterin sei erst vor ein paar Tagen ausgezogen, sagte er mir.

„Aber es ist so klein, viel kleiner, als ich gedacht habe. Und dann soll noch einer von denen da unten zu mir heraufziehen. Das geht so nicht, das müssen wir anders regeln. Es reicht gerade für mich. Und für Besuch, so lieben Besuch …“

Er zog mich an sich. Ich spürte seine Wärme. Er war jetzt friedlich. Ich dachte schon, wir würden gleich wieder zum Wortlosen übergehen, zum Eigentlichen und kaum zu Beschreibenden. Aber er hielt mich auf Armeslänge von sich und lächelte, indem er mich ansah, als wolle er mich noch etwas aufsparen. Er ließ mich los, nahm seine Mütze ab und legte sie auf den Tisch. Dann ging er im Zimmer umher und musterte die Möbel noch einmal eingehend. Da könne man noch einiges verändern, dies und das müsse man umstellen und schaffe dadurch Platz für Weiteres. Er entwickelte schon Ideen zur Verschönerung. Er begann sich einzuleben.

Dann war er durstig. Der Kühlschrank war geräumt und abgeschaltet.

„Wo bekommen wir jetzt etwas her? Ich weiß nicht, wahrscheinlich nirgends. Trinken wir gleich Wasser.“

Er holte zwei Weißbiergläser aus dem Küchenschrank und füllte sie mit Leitungswasser. Wir stießen damit an.

„Auf deine Wohnung“, sagte ich, „und dass es dir gut geht.“

Er sah mich groß an, schweigend, und trank in zwei Zügen aus. Dann drückte er sich heftig an mich und schob mich zum schmalen Bett, warf uns beide auf die schmale Matratze.

Er küsste mich weich und innig, immer wieder, es war das nachdrückliche Versprechen eines Kindermundes. Und dann fickte er recht hart. Der Ausdruckszwang übermannte ihn. Wir kamen in jener Innenwelt an, wo die Beschreibbarkeit aufhört und die Anschauung beginnt. Wir waren bei uns.

Nachher sank ich für eine Stunde in einen sehr leichten Schlaf. Freude und Glücksgefühl grundierten ihn. Ab sechs Uhr konnte ich nicht mehr schlafen. Das Fenster war einen Spalt geöffnet. Es war ein warmer Spätsommermorgen. Straßenbahnen klingelten schon. Die Stadt draußen fand langsam zu ihren sonntäglichen Beschäftigungen.

Meine linke und seine rechte Körperseite berührten sich an den Schultern, Hüften und Schenkeln. Wir lagen halb nackt auf der bloßen Matratze. Beide hatten wir nur unsere weißen T-Shirts anbehalten. Die Ledermonturen lagen als schwarze Knäuel auf dem Fußboden, unsere Stiefel daneben. Er schlief sehr fest. Ich sah ihn gern an, immer wieder. Wie hell seine Haut war – feine Substanz, leuchtend. Er war schön und bei aller mutwilligen Kraft für Kampf und Sieg doch nicht geschaffen. Wenn überhaupt einer, dann war er es, der sich in der Vereinigung verströmen durfte.

Ich wurde hungrig, denn ich hatte am Vorabend zu wenig gegessen. Es konnte Stunden dauern, bis er aufwachen würde und wir irgendwo frühstücken konnten. So ging ich um acht ins Bad, wusch mich und zog mich an. Dann weckte ich ihn, um fortzugehen. Er war betrübt und reagierte schuldbewusst. „Ich habe mich zu breit gemacht. Ich war so müde, ich bin dir wohl unter den Händen eingeschlafen?“

„Nein, nein, es war gut. Alles war schön. Mach dir keine Sorgen. Aber ich habe jetzt Hunger, und du sollst weiterschlafen.“

„Ich habe Durst. Bring mir ein Glas Wasser.“

Er bekam es von mir. Er trank es aus. Ich küsste und streichelte ihn.

Ich hätte nicht gehen sollen, noch nicht. Und doch ging ich.

 

Mitte Oktober fuhr ich schon wieder nach München. Die Bars waren voll wie gewöhnlich. Nach eins trafen wir uns alle im Bärenhaus. Ralf stand fünf Meter von mir entfernt und stritt sich mit seinem Freund. Er schien sehr erregt. War es wirklich der Freund vom Vorjahr? Ich war mir nicht sicher. Jedenfalls zankten sie sich und benötigten dazu keinen Dritten mehr. Ich geriet Ralf erst nach einiger Zeit ins Blickfeld, er nickte mir zu und brüllte dann weiter. Ich hörte seine Stimme aus der Musik und dem Stimmengewirr heraus, verstand aber kein Wort. Die Situation ließ mich hoffen.

Da kam Orpheus, wie wir ihn nannten. Er war selbst Wirt. Er hatte sein Lokal erst vor kurzem übernommen. Dem vorigen Pächter war die Konzession entzogen worden, nach jenem Unfall im Gynäkologenstuhl – aber das ist eine andere Geschichte. Ich kannte Orpheus schon Jahre und fragte ihn, ob man auch in Ralfs Laden gehen könne.

„Ja, mein Lieber, weißt du, du kannst doch überall hingehen … Er hat das Lokal erst neulich übernommen. Wer weiß, wie lange es gehen wird … Und dann: Was heißt hier sein Laden? Er hat die Konzession beschafft und nun bildet er sich ein, der Wirt zu sein. Aber ich will sowieso mit ihm reden.“

Er schob sich durchs Gewühl, und ich folgte in seinem Kielwasser. So kam ich mit ihm bei den beiden an.

„Du, nichts für ungut“, begann Orpheus, „aber hör einmal, weißt du eigentlich, dass sie in deinem Lokal lustig weiterfeiern, obwohl schon lange Sperrstunde ist?“

Er reagierte mit Verzögerung, verdutzt, er musste erst die Reserven mobilisieren, um erneut explodieren zu können. Der laufende Streit mit seinem Freund spielte von nun an keine Rolle mehr.

Das sei unerhört, da müsse er sofort hinfahren. Aufräumen! Den Saustall! Was sie denn glaubten, mit wem sie es zu tun hätten – sie sollten ihn kennen lernen. Und so fort, alles con brio, eine Wutexplosion, vor Erregung stark hessisch gefärbt.

Er marschierte zum Tresen und verlangte ein Taxi. Dann kam er zurück. Nun erst wandte er sich an mich, in etwas sanfterem Ton: „Heute Abend hab ich keine Zeit für dich, leider. Du siehst ja, was sie mit mir machen. Aber ich werd es ihnen zeigen.“

Was hätte ich ihm sagen können? Und es wäre dazu auch keine Zeit mehr gewesen. Eine kleine Tunte unterbrach uns, hängte sich an seinen Arm und flehte: „Tu’s nicht, Ralf. Fahr nicht hin. Sie werden’s dir zeigen. Tu’s nicht, bleib hier.“

Die Taxe war schon da. Er stampfte hinaus, ohne noch irgendeinem von uns ein Wort zu sagen. Die kleine Tunte zog er wie eine Klette am Arm mit sich.

Orpheus kommentierte gemütlich: „Da hat er wieder seinen Samstagabendkoller, der Ärmste.“

Er war verschwunden. Ich sah ihn nie mehr.

 

Nach ihm kamen noch viele andere. Die Reihe brach noch lange nicht ab. Es war viel Durchschnitt darunter, seelisches Mittelmaß, das dich unbefriedigt ließ. Dann wieder einzelne faszinierende Gestalten, denen du dich nicht lange gewachsen fühltest. So bliebst du immer in Bewegung, das erhielt jung. Du häuftest Massen von Erinnerungen an. Darunter verschwand, was für dich von Wert hätte sein können. Und als der Reigen zu Ende war, begann die Erosion. Die Deckschichten, Sand und Geschiebe, verwehten, wurden abgetragen und feste Kerne erschienen. So kehrten die Wenigen zurück, bemerkenswert gut erhalten, ewig jung, wie es scheint. Nun musst du mit ihnen leben.

Du kamst nicht mehr oft nach München. Bei deinem letzten Besuch, Oktober 1982, fandest du das Bärenhaus sehr verändert. Aus der alten Klappe mit Bierausschank war etwas Tolles geworden. Die Toilettenräume waren ihrem eigentlichen Zweck entfremdet. Sie waren – als wäre ein indischer Tempelfries in heftigste Bewegung geraten – mit Massen in allen Stellungen kopulierender Leiber verstopft, Massen sich rasch vereinigender, sich rasch voneinander lösender und in anderer Zusammensetzung rasch erneut vereinigender Leiber. Schiwa trieb sie vor sich her, Schiwa war schon am Werk. Im Gastraum vorn zog Wischnu (Orpheus) bekümmert seine Kreise: „Das kommt alles noch einmal ganz anders.“

Querelle lief seit kurzem in den Kinos. Fassbinder war schon tot.

Die Züge nach München sind seitdem viel schneller geworden. Du hörst sie von deiner Wohnung aus, wenn sie, ohne zu bremsen, den Bahnhof passieren. Manchmal kommt es dir in den Sinn, wieder einmal nach München zu fahren. Aber wozu noch?

Von deiner Wohnung aus siehst du auf die Wälder der Umgebung. Das Haus steht an einem Hang. Manchmal gehst du hinauf auf die waldfreie Hochfläche, wo man die Züge nicht mehr hört. Von hier aus siehst du das Land viele Kilometer weit nach Nordosten abfallen, eine sanfte, sich scheinbar ins Unendliche fortsetzende Bewegung. Du steigst immer weiter hinauf zur Kuppe des Lindenberges. Unterwegs blickst du dich um und siehst, wie die Landmassen fliehen, immer weiter ins Ferne, scheinbar Unendliche versinken. Die kleine Stadt ist mit ihren letzten Häusern verschwunden. Die Wälder der Umgebung sind nur noch undeutliche Massen. Alles verschwindet …

Und jetzt sagst du, auch du: Wo lebst du, Lämmchen - erscheine mir doch.

 

 

Sein letzter Geburtstag

Ab und zu ertappe ich mich dabei, wie ich mit Danziger zu reden versuche. Immer noch will ich ihm von Büchern, Filmen, Ausflügen berichten, ihn mit meiner Begeisterung anstecken. Ich rede mich innerlich warm und er bleibt stumm – er ist gar nicht in meiner Nähe und ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Außerdem ist mir bewusst, er hat bei unseren realen Begegnungen solche Gespräche auch nie geschätzt, sie meistens abzukürzen versucht oder mich einfach bloß reden lassen. Wir haben uns nur in großen, unregelmäßigen Abständen gesehen und dazwischen habe ich mit ihm, dem abwesenden älteren Freund, den gleichen Dialog wie jetzt vergeblich zu führen versucht. Insoweit besteht kein Unterschied zwischen dem Damals und dem Heute, jedenfalls für mich.

Meistens trafen wir uns an mir viel zu belebten Plätzen der Stadt, er wollte es so, wollte den Trubel um sich haben, sich trotz seines vorgeschrittenen Alters mitten im Leben stehend fühlen. Nur wenige Male gingen wir in Parks, die ich zum Reden doch immer bevorzugt hätte. In den sechs Jahren, die ich jene Wohnung hatte, fand er bloß zweimal den Weg zu mir und viel öfter war ich auch nicht bei ihm eingeladen. Er war mit der Art, wie ich mich eingerichtet hatte, einverstanden, wies aber abschätzig zur großen Bücherwand hin: Das würde ich natürlich alles weglassen … Seine Wohnung lag drei Treppen hoch und war am Schluss viel zu groß für ihn. Wie er es mit der Reinigung halte, wollte ich einmal von ihm wissen. Er mache einfach nicht mehr sauber, sagte er, und wenn er Staub sehe, sage er sich: Das bin ja ich …

Gegen Ende des letzten Winters und mit einsetzendem Frühling rief er häufiger als bisher an. Ich war dabei, erneut umzuziehen, und er sprach jetzt oft davon, mich in der alten Wohnung noch einmal zu besuchen. Wie bei ihm üblich, verschob er es von Woche zu Woche. Als ich die letzten Kartons packte, kam noch ein Anruf von ihm. Er sagte, es seien bei ihm gerade Tumore im Unterleib entdeckt worden und in drei Tagen lasse er sich zur Chemotherapie in ein Krankenhaus aufnehmen. Verstört suchte ich nach einer Antwort, einem guten Rat für ihn, dem schon immer schwierigen Patienten. Ich sagte ihm: Die Situation übersteigt jetzt deine Kompetenz, vertrau dich ganz ärztlicher Führung an. Er stimmte zu und wollte sich wieder melden.

Danziger kannte ich seit fast fünfzig Jahren, doch es hatte eine Pause von annähernd einem Vierteljahrhundert gegeben ohne jeden Kontakt zwischen uns. Vor gut zehn Jahren schickte ich ihm mein Buch und hoffte, er würde es weiterempfehlen - er kannte so viele Leute. Er schrieb zwar, wie überrascht er sei, auch von der Qualität, und wie ihn im Buch alles an mich erinnere; wie sehr er mein Wesen darin ausgedrückt finde, das sei so überwältigend für ihn, dass er erst in einiger Zeit näher auf den Inhalt eingehen könne. Nur tat er es nie und empfahl den Roman, soviel ich weiß, keinem. Wir sprachen nicht einmal über das Buch, so wenig wie über seine Filme, die auch kaum Erfolg gehabt hatten. Stattdessen entwickelte sich eine lockere Verbindung zwischen uns, das altersmilde Revival einer frühen Seelenfreundschaft. Ich bin allerdings eine halbe Generation jünger.

Als wir uns nach so langer Zeit erstmals wieder verabredeten, lebte ich noch immer auf dem Land. Ich war nur ein paar Tage in der Stadt und wir trafen uns vor einem großen Kaufhaus. Wenn er mich schon nicht zu sich eingeladen hatte, dachte ich, könnten wir vielleicht in den Tiergarten gehen, um ungestört miteinander reden zu können. Stattdessen führte er mich stundenlang durch das nahe Szeneviertel. Hier waren wir früher viel unterwegs gewesen, doch hatte ich altershalber schon lange alle Besuche in schwulen Bars oder Cafés aufgegeben. Er schien jetzt einfach vorauszusetzen, dass mir an einer Wiedereinführung in jene Welt gelegen sei. Zwar war das Gegenteil der Fall, aber ich ging geduldig mit, ließ mir vieles zeigen, das mich kaum noch berührte. Dieses Muster wiederholte sich, als ich öfter in die Stadt kam, um meine Rückkehr dorthin vorzubereiten, und wir uns dann jeweils erneut trafen.

Aus dem Krankenhaus hat er mich schon nach einer Woche angerufen, seine Stimme auf der Sprachbox wie aus einer Grabkammer heraus, leise, brüchig, abgrundtief deprimiert. Die Untersuchungen liefen noch, in ein paar Tagen wisse er mehr. Ich warte noch vierundzwanzig Stunden und erreiche ihn am späten Nachmittag. Er meldet sich sofort, gibt aber vor, gerade zu schlafen. Er will durchaus nicht mit mir reden und ich entschuldige mich für den Anruf: Schlaf weiter, wir reden später, später …

Bei unseren Begegnungen war er fast immer sehr amüsant. Er sprach geistreich über Freunde, Verwandte, Wohnungen, Stadtviertel. Am liebsten saß er mit mir in überfüllten Cafés, deren Geräuschkulisse mich beim Zuhören störte. Mir fiel auf, dass er dort nie Beobachtungen anstellte. Die anderen Gäste, deren Nähe ihm doch so erwünscht schien, er beachtete sie, anders als ich selbst, überhaupt nicht. Nach Jahren sprach ich ihn einmal darauf an. Er bestätigte meinen Eindruck. Er interessiere sich tatsächlich nicht für die anderen, er wolle nur unter ihnen sein wie auf einer Bühne vor vollem Haus, das sei eben seine Schauspielernatur.

Ich war nicht immer so geduldig. Er ging jetzt viel in SM-Clubs und setzte erneut voraus, ich wünschte insgeheim, wieder dazuzugehören. Damit spielte er etwas nach und stellte es zugleich auf den Kopf. Ohne auch nur im Geringsten sadomasochistisch zu empfinden – falls ich mich hierin nicht täusche -, es hatte mich einige Jahre lang doch manches an diesem Milieu fasziniert, das äußere Gepränge wie die mir letztlich verschlossene innere Mechanik der Seelen. Ich war, glaube ich wenigstens, immer Beobachter geblieben. Selten war ich dort in der Szene Danziger begegnet, einem Danziger damals voller Missbilligung. Jetzt legte ausgerechnet er es darauf an, mich in die speziellen Bars und Clubs mitzunehmen. Ich weigerte mich, meist mit Erfolg. Nur einmal – ich hatte schon zu Beginn klargemacht, dass ich nicht dahin mitgehen wolle - endete an einem schönen Frühlingssonntagnachmittag unser Kiezspaziergang dann doch vor einer dieser schweren Eisentüren. Um einen Eklat zu vermeiden, trat ich hinter ihm ein. Die Lokalität war fast leer, wirkte verödet, die wenigen Gäste fand ich unattraktiv. Wir tranken etwas, Danziger stellte mich dem Barmann als Neugierigen vom Lande vor. Nach zwanzig Minuten standen wir wieder draußen. Es wurde anschließend nicht über den Besuch dort gesprochen. Danziger schickte mir von da an einschlägiges Werbematerial, das ich immer gleich aussortierte. Viel später – er hatte diese verspäteten Exkursionen inzwischen aufgegeben – sagte er einmal, er habe zu jener Welt gar keinen Zugang gefunden.

Schon bei einem der ersten Treffen unserer Neuzeit sprach er über den Tod von eigener Hand. Gewappnet wolle er sein für den Fall lang andauernden Siechtums. Er deutete etwas an: Ob ich ihm in einer solchen Lage das rechte Mittel verschaffen, es schon bereithalten würde? Ich lehnte indirekt ab: Kein Gesunder wisse, was er später todkrank wirklich einmal bevorzugen würde, noch eine Zeitspanne weiterzuleben oder die rasche Erlösung.

Ich war schon umgezogen, als er sich wieder am Telefon meldet. Er sei jetzt für eine Woche daheim, danach gehe es erst mit der Chemotherapie los. Es gehe ihm schlecht, doch besser als im Krankenhaus, sagt er. Essen könne er kaum etwas, seit Wochen schon. Es ist kurz vor seinem Geburtstag und er informiert mich, dass es diesmal keine Feier geben wird – die in Frage Kommenden hätten sich alle mit Zeitmangel entschuldigt. Ich äußere mich dazu nicht.

In der Woche darauf, am Vortag seines Geburtstages, rufe ich ihn an. Der Tag darauf ist schon von mir verplant. Er hat alle seine Pläne geändert, wird nicht in jenes Krankenhaus zurückkehren, da sei es fürchterlich gewesen. Auch zu seinem Hausarzt werde er nicht mehr gehen. Nun ist von einem anderen Krankenhaus die Rede, Gisela wird ihn hinbringen. Gut, denke ich, dass es diese langjährige Freundin gibt. Du wohnst zu weit weg, sagt er, sonst wärest du dran gewesen. Ich gehe auch darauf lieber nicht ein, frage stattdessen, ob er ausreichend Nahrung zu sich nehme. Gewiss, sagt er, das habe ich doch die ganze letzte Zeit getan. Auf Vorhalt: Nein, das mit dem Essen hast du falsch verstanden. Er widerspricht sich in noch einer Hinsicht: Seinen Geburtstag könne er leider nicht feiern, dafür sei sein Zustand zu schlecht. Von Absagen anderer jetzt keine Rede mehr.

Am Geburtstag selbst hätte ich ihn von unterwegs kaum anrufen können. Ich will noch immer kein Mobiltelefon benutzen. Danziger redete jahrelang vergeblich dagegen an. Ich wies ihn einmal darauf hin, dass man mir auf dem Apparat daheim per Sprachbox ja Nachrichten hinterlassen könne. Da fuhr er mich an: Du musst jederzeit zu sprechen sein! Er dagegen, immer ein Gerät mit sich führend, ist in all den Jahren nur einmal in meiner Gegenwart angerufen worden. Nichts im Verhältnis zu mir beschäftigte ihn jahrelang so sehr wie dieses in seinen Augen ungelöste Telefonproblem. Es wuchs sich schließlich zu einer Manie und einer Machtfrage aus. Er kaufte ein einfaches, billiges Gerät und wollte es mir schenken, vollkommen installiert und gesprächsbereit. Ich nahm es nicht an, es kam beinahe zum Bruch zwischen uns.

Unser beider Verhältnis zu neuer Technik war heikel und deckte sich überdies nicht mit dem des jeweils anderen. Er verachtete das Internet und verschickte nur oft E-Mails. Ich war unter die Blogger gegangen, filetierte meine Romane und fand Leser, zu denen er nicht gehörte. So entging ihm, dass er selbst hin und wieder, nicht sehr oft, in Texten von mir vorkam.

Wir wohnten wieder in derselben Stadt, sahen oder sprachen uns jedoch nicht öfter als vorher. Ich war enttäuscht - wie viel hätte man noch gemeinsam unternehmen oder auch nur bereden können. Wenn ich an die frühe Zeit mit ihm dachte, jene weit zurückliegenden Jahrzehnte: welcher Abstieg! War er für mich nicht eine Zeitlang der entbehrte ältere Bruder gewesen? Oder endlich ein Lehrer, auf den ich gern gehört hatte? Er fixierte sich nun auf einen anderen langjährigen Freund in mittlerem Alter, entwickelte eine verspätete, einseitig bleibende Liebe zu ihm. Sie stritten sich oft, der andere warf ihm sogar Liebeswahn vor. Im Zusammenhang mit ihm sagte Danziger einmal eine Verabredung mit mir unter fadenscheinigem Vorwand ab – und ich gestand mir staunend ein, wie froh ich darüber war, dass ich so den Tag allein angenehmer verbringen konnte.

Der achtzigste Geburtstag wurde größer als sonst bei ihm üblich gefeiert. Ich fand die meisten von denen bei ihm versammelt, die er mir gegenüber so oft erwähnt hatte, und es erwies sich, dass er sie zuletzt noch seltener getroffen hatte als mich. Wie lebhaft sie noch waren und er so rasch und so sehr erschöpft …

Nur ein Jahr weiter und er macht sich zum Sterben bereit. Er will meine neue Wohnung gern kennenlernen und weiß nicht, ob es noch möglich sein wird. Ich antworte ausweichend. Wir wissen beide bei diesem letzten Telefongespräch, meinem Anruf, worum es geht: Lässt er die Chemotherapie noch zu oder gibt er sich mit Palliativmedizin zufrieden? Ich rede ein wenig um den Brei herum, da unterbricht er mich ärgerlich: Es ist weder operierbar noch bestrahlbar und die Tumore – er schreit jetzt fast ins Telefon – sie werden nicht mehr verschwinden! Vielleicht lächelt er kurz darauf, so hört es sich an, als er sagt: Wünsch mir zum Geburtstag ein zweites Leben. Und ich – was sagt man darauf, ich fühle mich schwimmen wie bei einer Prüfung, auf die ich nicht vorbereitet bin. Du, sage ich, das ist eine schwierige Frage, da müsste man ausgiebiger drüber reden … Ich zögere, weiß nicht, soll ich ihm sagen, dass ich in der Theorie Agnostiker bin, doch praktisch meist wie ein Pantheist fühle. Er lässt mir keine Zeit mehr, fragt: Du glaubst nicht daran? Du bist also Skeptiker? Der Einfachheit halber sage ich ja. Da beendet er das Gespräch rasch.

Danach ging ich davon aus, er würde mich über den Fortgang informieren, wie bisher schon. Ich hatte von ihm auch erfahren - und das beruhigte mich etwas -, jener, der ihm Liebeswahn vorgeworfen hatte, sei wieder für ihn da. Doch Danziger rief mich nicht mehr an und nach vier, fünf Wochen hatte ich eingesehen, dass er aus meinem Leben schon verschwunden war. Nur dass ich eben noch immer mit ihm zu reden versuche, wenn ich allein bin.

 

 

Das romantische Projekt

Dieser Sommer ist heiß und der Abend noch zu warm, um das Fenster schon schließen zu können. Sascha sitzt im anderen Zimmer, er sieht fern. Jetzt höre ich ihn durch zwei geschlossene Türen lachen. Vom nahen Sportplatz dringen fast pausenlos laute Rufe bis zu mir herauf. Wie sich die Spieler mit Geschrei gegenseitig anfeuern oder niederzumachen suchen, das geht so Saison für Saison, Generation um Generation, wie ein Naturphänomen. Oder sollte ich sagen: wie eine Naturgewalt? Ich mache mir wieder einmal klar, dass ich nicht mehr jung bin. Es ist schon weit nach der Jahrtausendwende.

Ich will Musik hören, aber sie muss dauernd so laut sein, dass nur sie unter dem Kopfhörer zu vernehmen ist, ich will mit ihr allein sein. Eine Zeitlang stehe ich unschlüssig vor dem Regal mit den alten Langspielplatten, ziehe mal diese, mal jene heraus und schiebe sie an ihren Platz zurück. Schließlich gehe ich mit einem Wagner-Querschnitt, produziert 1974, zu dem alten Gerät: die Platte jahrzehntelang nicht mehr aufgelegt. Das Coverbild zeigt das Schloss Neuschwanstein von außen in seiner vollen Pracht und irritiert mich noch immer – so aufgedonnert die Musik sein mag, ein aufgeblasener Abklatsch ist sie nicht.

Ich fange mit der B-Seite an und höre gleich den Walkürenritt. Allmählich verändert sich etwas in mir. Oder um mich herum? Sascha ist nicht hereingekommen. Es scheint sich zu diesen Klängen etwas außerhalb von mir materialisieren zu wollen - oder in mir zu konkretisieren. Mit einem Mal ist sein Name wieder da: Alex wollte diese Musik damals mit mir anhören, er wirkte geradezu verzückt bei diesem Hojotoho! Hojotoho! Und er rollte mit den Augen, reckte sich auf dem Sofa, sah mich groß an.

 

Ein paar Jahre davor war er mir rasch aufgefallen. Wir waren beide noch sehr jung, annähernd gleichaltrig und verkehrten in denselben Bars und Cafés. Die kleinen Zirkel, denen wir angehörten, überschnitten sich, und sein Bild übertraf an Anziehungskraft bald das aller anderen. Es gab gewiss noch einige, die es mit Alex aufnehmen konnten, was Gestalt und Gesichtszüge anging. Doch keiner besaß diese intensive Ausstrahlung, die mit ihrem tiefen, reinen Ernst etwas alles andere Ausschließendes, Absolutes hatte. Daran war allerdings nichts Dominantes, es war reine Melancholie. Er hatte einen markanten Römerkopf und trug seine dunklen Locken nach damaliger Mode lang. Manchmal sah ich ihm beim Tanzen zu. Er tanzte monoton stampfend und dabei so beherrscht und formbewusst, wie mir alles an ihm vorkam.

Für mich stand bald fest, dass ich ihm näherkommen wollte, so nahe wie möglich. Dann könnte er für mich der Lohn und das Ziel dieser schweren Jahre sein, die ich beinahe hinter mich gebracht hatte, dachte ich oder fühlte es mehr.

Eines Nachts stand er allein auf der Kleiststraße, als ich vorbeikam. Wartete er auf einen anderen oder war er unschlüssig, was er jetzt tun sollte? Ich sprach ihn an und ging mit ihm in die nächste Bar. Wir machten uns oberflächlich miteinander bekannt, den Vornamen nennen, Herkunft und Beruf angeben. Alex war Koch und arbeitete in einer Krankenhausküche. Er war zu Hause hier in Schöneberg, auch da aufgewachsen und hatte im Kiez neuerdings seine erste Wohnung. Ich wohnte selbst in der Nähe, und das war schon alles an Übereinstimmung. Losgerissen von daheim trieb ich dahin von Stadt zu Stadt, während er noch immer nahe seinem Ursprung verharrte. Ich kannte diese Straßen auch bei Tag, mit ihren schlichten Wiederaufbauhäusern und den Hausburgen aus Bismarcks Zeit, jetzt wie Stockzähne in einem lückenhaften Gebiss. Es war etwas immerwährend Verlorenes an der Gegend und ihre Aura deckte sich mit Alex’ Melancholie.

Unser Gespräch geriet schon ins Stocken. Wir sprachen noch über Filme. Er hatte „Flesh“ von Warhol gesehen, ja, doch, und Fellinis „Satyricon“ hatte ihn gelangweilt. Wir wussten uns dann nichts mehr zu sagen, ihm schien nichts daran zu liegen, mich noch näher kennenzulernen. Also gingen wir, beide verlegen, für diesen Abend auseinander.

Ich gab jedoch mein Projekt, ihm näherzukommen, nicht auf. Wir begegneten uns häufig, begrüßten uns flüchtig, wechselten wenige Worte. Manchmal ignorierte er mich zum Schein. Damals war ich oft mit dem etwas älteren Danziger unterwegs. Er beobachtete uns und kritisierte mich: „Du machst es falsch, du gehst zu rational vor, du analysierst zu viel. Er ist einfach strukturiert, ein bisschen animalisch, weißt du …“ - „Und woher willst du das wissen?“ - „Er war mal bei mir, es lag mir gar nichts daran. Wir waren zu dritt unterwegs auf Kneipentour und im Auto hat er mich plötzlich umhalst und wollte von mir mitgenommen werden. Da hat uns der andere einfach vor meiner Haustür abgesetzt. Alles idiotisch, der ganze Ablauf … So funktioniere ich doch gar nicht. Was dabei rauskam? Eine Josefsehe für eine Nacht, haha …“

Danziger bohrte weiter: „Er ist schwermütig, und das reizt dich an ihm, so ist es doch? Aber du bist es ja selbst, mehr oder weniger. Pass auf!“ - „Das sagt der Richtige.“

Danziger wusste, worauf ich anspielte. Alex zog damals viel mit einem jungen Blonden umher, in den sich Danziger vergafft hatte. Er war so aufgesetzt arrogant wie Alex glaubwürdig melancholisch und ich nannte ihn unter uns den Modejüngling. In einer Zeit, in der lässige Sportlichkeit sich langsam durchsetzte, kultivierte er noch immer den Chic und die inzwischen überholte Eleganz der Sechzigerjahre. Womöglich war sein Haar gebleicht. Danziger sprach ihn an und erfuhr nicht viel mehr als seinen Namen. Oliver ließ ihn abblitzen. Mein väterlicher Freund betete ihn weiter aus der Distanz an. Als Mann vom Theater bewunderte er gerade dessen forcierte Künstlichkeit.

Ich richtete mich mit den Verhältnissen ein. Alex war und blieb mein Leitstern und mein Dämon zugleich. Ob ich ihn beachtete oder nicht, ob er wegsah oder mir zunickte oder einen Gruß widerwillig grummelte – unsere Verbindung war beständig. Ich irritierte ihn nun mal mit meinem hartnäckigen Interesse und verfinstert führte er mir diese Irritation immer wieder vor. Vielleicht war ich Opfer eigener Überinterpretation? Äußerte sich sein allgemeiner Überdruss nicht erst recht, wenn es nicht um mich ging? Ich sah und hörte ihn im Gespräch mit Oliver andere durchnehmen. Sein Blick war eingangs gewöhnlich gesenkt – es war alles zum Nichtmitansehen – und dann hob er seine warmen braunen Augen wie zum Protest und brachte bloß ein so leises wie entschiedenes „Widerlich!“ zustande.

Das ging Monate so. Einmal standen Alex und Oliver in meiner Nähe am Tresen und diesmal schien ich Gesprächsgegenstand zu sein, so gleich mein Verdacht. Oliver musterte mich mit neutralem Ausdruck, sogar eine Spur wohlwollend. Ich verstand sie nicht, doch waren sie offenbar unterschiedlicher Meinung, während sie mich im Blick behielten. Oliver rückte etwas zur Seite, näher zu mir hin. Ich blieb, wo ich stand, und hoffte, von beiden einbezogen zu werden. Die Blicke von uns dreien wechselten jetzt zwischen uns, während wir schwiegen. Da begann Alex, sich in diesem Teil der überfüllten Bar ein wenig hin- und herzubewegen. Dabei rempelte er uns beide mehrmals gezielt an und schaute dem gerade mit dem Ellbogen Touchierten provokant ins Gesicht. Es dauerte nur zwei, drei Minuten, dann ging er allein fort. Oliver folgte ihm kurz darauf. Ich blieb zurück.

 

Die Jahrtausendwende war noch lange nicht in unser Blickfeld geraten. Wir waren immer noch jung, sehr jung, und Alex war verschwunden, ein Jahr nach Beginn unserer seltsamen Beziehung. Man sah ihn in den Kneipen nie mehr. Mein neues Stammlokal war eine Lederbar, die in einem anderen Stadtviertel lag. Danziger sah ich dort nur selten, und wenn er sich mal zeigte, dann distanzierte er sich von diesem Milieu mit abschätzigen Blicken und Bemerkungen. Gestalten wie Oliver verkehrten da nicht.

Eines Abends redete ich wieder einmal mit ***. Er war direkt aus der Oper gekommen und schwärmte von einer Janáček-Aufführung. Dabei fiel ihm das Programmheft zu Boden und er bat mich, es für ihn aufzuheben – er hätte sich in seinem engen Dress nicht bücken können. Als ich mich aufrichtete, begegnete ich dabei dem Blick eines Fremden, der uns beobachtete. Er nickte mir zu, nicht amüsiert über die kleine Szene, sondern ganz ernsthaft. Dann kam er herüber und sprach mich auf Englisch an, wechselte aber gleich ins Deutsche mit leichtem Berliner Akzent. Erst am mir noch vertrauten Klang seiner Stimme, dunkel und klagend, erkannte ich ihn wieder. Alex hatte sich äußerlich in der Zwischenzeit beträchtlich verändert, geradeso wie ich selbst. Auch er entsprach jetzt dem neuerdings herrschenden Kurzhaar- und Schnurrbart-Ideal. Aber die Farbe seiner Lederjacke war braun wie früher, während alle anderen in der Bar Schwarz trugen.

Ich bekam nie heraus, ob er sich wirklich an mich erinnerte. Er sagte: „Ich lebe jetzt in London, seit gut vier Jahren schon … Besuche meine Mutter übers Wochenende …“ Er war zum ersten Mal in diesem Lokal und fragte mich nach den Gebräuchen aus. Als er erfuhr, dass es einen Kontaktraum gab, zog er mich dorthin. Wir schmusten, aber ich war nicht recht bei der Sache. Er gefiel mir noch immer sehr gut, doch sein abruptes Erscheinen wie das total veränderte Verhalten kamen mir allzu phantastisch vor, wie eine erfundene und schlecht motivierte Geschichte. Passte diese ganz reale Fortsetzung überhaupt zu meiner Vision, meinem Projekt damals? Und dennoch freute ich mich zur selben Zeit sehr. Vielleicht ging es ihm ähnlich, auch er hielt sich zurück. Dann wollte er mit mir etwas trinken gehen.

Am Tresen sagte er: „Ich wohne bei meiner Mutter und fliege morgen früh zurück nach London. Ich kann also nicht mit zu dir … Gibst du mir deine Telefonnummer?“

 

 

Es war im Jahr darauf, auch im Spätsommer, als er mich an einem Montag aus London anrief. Er werde am Wochenende in Berlin seine Mutter wieder besuchen und würde mich gern treffen. In der Zwischenzeit hatte ich nichts von ihm gehört, kaum einmal an ihn gedacht. Er überraschte mich jetzt wieder und es passte mir gerade nicht. Ich erwartete schon Besuch, Freunde aus Hannover. Alex war einverstanden, dass wir uns am Samstagabend einfach nur sehen würden, in derselben Kneipe wie im Vorjahr. Es kam so, aber ich hatte auch in der Bar kaum Zeit für ihn. Er nahm es hin und kam mir in dem Gewühl bald aus den Augen …

… und rief mitten am Sonntagmorgen wieder an. Er fliege am Montag zurück und wolle mich diesen Nachmittag unbedingt noch besuchen. Ob die Hannoveraner schon fort seien? - „Gerade eben.“

Er kam gegen drei und umarmte mich hinter der Wohnungstür. Während ich Kaffee brühte, besah er sich meine Plattensammlung und wollte gleich das Wagner-Potpourri hören. Wir saßen dabei einander gegenüber. Als die Musik verklungen und der Kaffee getrunken war, erschien er mir offener denn je und ich fragte ihn nach seinen Verhältnissen aus. Nach London war er gegangen, um dort mit einem Freund zusammenzuleben. „Er war Lehrer, älter als ich. Er kam aus Burma, war Buddhist. Schon nach einem Jahr ist er gestorben, da war ich wieder allein …“ Er schwieg und ich sah ihn wortlos an. Das Verhängnis, das über ihm zu brüten schien, so war es mir immer vorgekommen, wenn ich ihn betrachtete, dieses Fatum hatte sich materialisiert. Ich wusste nichts zu sagen und er fuhr bald fort: „Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich bin ihm nie wirklich nahegekommen. Ich hab gar nicht verstanden, wie er tickt. Er nahm alles hin, immer auf dieselbe Weise, als ob alles gleich wäre. Er war eben Buddhist.“

Ob er noch als Koch arbeite? - Das war nicht der Fall. Er war jetzt Gehilfe in einem Krankenhaus, und zwar in den Operationssälen.

„Bleibst du in London?“ - Nein, das wollte er nicht. „Mit England geht`s immer mehr bergab, alles, auch der ganze Alltag. Nichts funktioniert mehr richtig und das Schlimmste: Es macht ihnen nichts aus. Du hörst ständig nur dieses Don’t worry, Don’t worry …“ Im selben Ton, anklagend und resignierend zugleich, hatte er in Berlin früher sein „Widerlich, einfach widerlich“ herausgebracht.

„Ich will jedenfalls zurück, aber es ist nicht so einfach. Sei froh, dass du in Berlin leben kannst.“ Ich sagte ihm, ich würde gern wegziehen. „West-Berlin ist keine normale Großstadt.“ - „Und wohin dann?“ - „Am liebsten nach München.“ - „Bloß nicht. Ein alter Freund von mir ist oft da, dabei wohnt er jetzt in Hamburg, war vorher auch in Berlin. Er ist Model und muss sich überall umsehen und will auch zum Film. Aber das scheint schwer zu sein.“ - Ich hatte einen Verdacht und fragte: „Ist es dieser Blonde, dieser Schönling?“ Er nickte. Ich setzte nach: „Wart ihr … zusammen?“ Er schüttelte den Kopf und sagte nichts weiter.

Entweder war Danziger im Unrecht gewesen oder Alex hatte sich in London stark entwickelt – ich fand ihn alles andere als einfach strukturiert oder bloß animalisch. Er war jetzt kultiviert und zartfühlend. Er schien zu begreifen, dass die Zeit etwas mit uns gemacht hatte – falls er sich überhaupt an jene Begegnungen erinnerte - und dass ich womöglich an diesem Sonntagnachmittag etwas ausgelaugt sein könnte. Wir fielen nicht übereinander her.

Das Telefon klingelte. Mein größter Busenfeind wollte mich herunterputzen und ich setzte mich zur Wehr. Als ich auflegte, hatte sich Alex inzwischen wieder etwas Musikalisches herausgesucht.

Ein paar Wochen später schickte er eine Karte von Korfu. Er werde diesen Herbst noch einmal nach Berlin kommen und freue sich sehr darauf, mich wieder zu treffen. Es sollten Jahre werden.

 

Als ich seinetwegen nach Hamburg gezogen war, ließ mir Sascha die Freiheit, die ich brauchte. Ich ging weiter viel aus, machte oft Bekanntschaften. Sehr selten begegnete ich Oliver in den Bars. Einmal hatte er einen attraktiven Münchner in unserem Alter dabei. Er ähnelte Alex im Aussehen, nur schien er frei von jeder Melancholie und bewegte sich mit schöner Selbstverständlichkeit. Er beobachtete mich eine Zeitlang, wir wechselten Blicke, dann kam er zu mir herüber und stellte sich vor: Manfred. Er war so offen und direkt wie möglich und sagte schon nach kurzem: „Würd gern mit dir ins Bett. Geht aber heut nicht, du kannst dir denken warum.“ Oliver sah laufend zu uns herüber, merklich beunruhigt. Manfred sagte, er komme ab und zu nach Hamburg. Es würde sich schon mal ergeben …

Im Jahr darauf traf ich ihn im selben Kellerlokal wieder. Er ging sogleich auf mich zu und sagte: „Oliver kanntest du doch auch? Ich muss es dir sagen: Er hat sich umgebracht.“ Er habe es nicht mehr verkraftet, ewig nur Model sein zu müssen. „Und für den Film hat es leider nicht gereicht. Er hatte genug von allem.“ Wir versuchten es einzuordnen, drehten es ein wenig hin und her und gingen nicht zusammen weg. Manfred hoffte, mich mal in München zufällig zu treffen. Was aber nie geschah, da ich mit Reisen dieser Art allmählich aufhörte.

 

Einige Übervorsichtige dachten jetzt allmählich an das kommende Millenium. Wie würde es dann sein, falls man noch lebte? Ich reiste noch einige Male nach Berlin und einmal, an einem Sonntagabend, stoße ich in derselben Bar wie Jahre davor auf Alex. Er hat es geschafft, er lebt schon ein Jahr lang wieder in Berlin, gibt mir gleich einen feurigen Kuss und will für einen der folgenden Abende eine Verabredung treffen. Nur an diesem Abend könnten wir nichts nachholen, sein Freund sei dabei. - „Tja, und ich Unglücksrabe muss morgen früh weiter nach Regensburg. Aber ich bin in ein paar Wochen wieder in Berlin. Sehen wir uns dann am Wochenende abends hier?“ - „Wahrscheinlich.“ Er kommt mir gelöst vor, unbelastet wie früher nie.

Tatsächlich bin ich ihm in jenem Herbst noch einmal begegnet, aber nicht in der Bar. Ich hätte die Reise wegen einer Infektion am liebsten verschoben, musste aber zu einer Anprobe hinfliegen. Selbstverständlich mied ich die Kneipen, ging lieber ins Kino. Da es noch Zeit war bis zur Vorstellung, schlenderte ich durchs Kudamm-Karree. Im Innern hatte ein Antiquar seine Bücherstände aufgebaut. Während ich da stöbere, fühle ich mich beobachtet und blicke mich um: Da drüben steht Alex mit seinem Freund, der ein Schaufenster betrachtet. Alex winkt mir freundlich zu, vielleicht lächelt er sogar ein wenig. Dann setzen die beiden ihren Bummel entlang der Auslagen fort. Wie normalbürgerlich sie wirken, Schaufensterbummel zu zweit am frühen Samstagabend zwischen Restaurant- und Kinobesuch … Und ich würde mir in diesem Augenblick gern etwas hinzudenken, um das Bild zu retuschieren, um die Zeit zehn Jahre zurückdrehen zu können, mindestens ein härenes oder besser noch ein Kettenhemd unter seinem Pulli.

 

Längst bin auch ich nach Berlin zurückgekehrt. Ob er noch lebt? Mir bleibt wenig als erneut zum Regal mit den alten Platten zu gehen und herauszusuchen, was er damals, bei seinem einzigen Besuch, auch noch hatte anhören wollen. Er hatte die Kassette mit den Mahler-Sinfonien in seinen Händen und fragte: „Haben wir noch Zeit dafür?“ - „Na ja, Zeit schon, aber wohl nicht für alle neun Sinfonien.“ - „Was wählen wir dann aus?“ - „Vielleicht die Dritte? Du weißt: Pan erwacht, der Sommer marschiert ein.“ Wenn ihm der Walkürenritt zusage, müsse es diese Musik erst recht tun. Aber es war nicht die Dritte, die er im Sinn hatte, es war die Sechste. Und genau diese hochtragische Katastrophenmusik hätte ich ihm in Wahrheit doch von jeher zugeordnet. Er sagte, Mahlers Sechste sei an Musik das Schönste überhaupt für ihn. Allerdings beließ er es damals beim noch triumphalen ersten Satz, danach stand er auf, umarmte mich und sagte im Weggehen: „Wird einmal fortgesetzt.“

Am Tag danach kam verspätet – die englischen Verhältnisse damals! - die Kunstpostkarte, mit der er seine Ankunft hatte vorbereiten wollen, Michelangelo: „Die Erschaffung Adams“. Ich stutzte, Adams Züge wie Gestalt ähnelten nicht wenig denen von Axel. Doch das Mirakel war keines, nur Übereinstimmung in einem mediterranen Typ. Damit beruhigte ich mich.

 

Die Geschichte des P...

Was war da los? Einer von uns steckte in der Passkontrolle fest – es war P... mit seinem großen Cowboyhut. Krasser Fehlgriff, so ausstaffiert von Europa in die USA einreisen zu wollen. Es war doch nicht seine erste Reise dieser Art … War er schon mal aufgefallen, lag etwas gegen ihn vor? Er sprach so gut wie kein Englisch, es ging nicht voran. Einer aus unserer Gruppe kam ihm zu Hilfe. Endlich war P... losgeeist und dann nahmen uns Männer vom New Yorker Club in Empfang. Sie verfrachteten uns in großen, langen Autos zum Times Square, verteilten uns auf verschiedene Hotels. P... war im selben wie ich untergebracht. Ich begegnete ihm manchmal auf der Straße oder in einer Bar und übersah ihn gern.

Seit zwei Jahren verkehrte ich in Berlin in seinen Kreisen. Er war mittelalt und für mich als damals sehr jungen Mann von vornherein reizlos. Er ging schon auf die fünfzig zu, trug nur Jeanskleidung und alles an ihm wirkte nachlässig. Ich sah ihn fast jede Woche in meiner Stammkneipe. Er stand immer lange herum, beobachtete, trank langsam ein Bier nach dem anderen. Ein dunkler Vollbart verbarg sein Mienenspiel. Allerdings kannte er viele von den regelmäßigen Gästen, auch unter meinen neuen Bekannten. Er hatte gewiss schon länger mit ihnen zu tun und die meisten schätzten ihn nicht. Sie witzelten über ihn und behandelten ihn im Gespräch herablassend. Offenbar wurde er nicht für voll genommen.

Allmählich bekam ich private Einladungen. Da sah ich oft P… und auch dort spielte er den Underdog, dabei stark berlinernd. Er war der Prolet, wenig gepflegt, ungebildet, interessenlos, abgesehen vom Sex. Er genoss diese Rolle nicht geradezu, er schien sie einfach als die ihm zukommende anzusehen. Es gab peinliche Momente wie diesen: Ein Büffet war von den Gästen fast leergeräumt worden, bis auf ein letztes Schnittchen, da sagte der Gastgeber zu P...: Na, nimm es dir endlich, du wartest doch schon darauf … Das wurde laut und betont vorgebracht, die humoristische Wirkung auf die anderen war berechnet. Sie lachten, erkannten das Typische der Situation wieder. P… griff leise knurrend nach dem Rest.

Manche von uns reisten viel, vor allem an den Wochenenden. Ich begegnete P... in Köln oder in Hamburg. Wir grüßten uns jetzt nicht bloß, wir redeten einige Sätze miteinander, wenig Belangvolles, wie man angereist war, wann es zurückging. Einige sprachen in meiner Nähe über ihn. Ich bekam mit, dass P... gewöhnlich kein Hotelzimmer nahm, sondern es darauf ankommen ließ, dass ihn einer bei sich unterbrachte. Hämisch formulierte ein Berliner: Unser lieber P... wohnt wieder im ZOB ... Er selbst beklagte sich bei mir einmal über die vergangene Nacht. Man hatte ihm einen Schlafplatz angeboten - tatsächlich habe er dann auf dem Balkon in einer Hollywoodschaukel liegen müssen!

Er galt als filzig. Als wir damals drüben waren, löste sich unsere Gruppe wie vorgesehen nach der Hälfte der Zeit auf und jeder steuerte ein eigenes Ziel an. Ich hörte, P... wolle, um Geld zu sparen, mit dem Greyhound-Bus nach Kalifornien. Ob er es wahrmachte, erfuhr ich nicht. Solange ich noch in New York war, hing er bis tief in die Nacht herum, an seiner Seite meist ein Frührentner Anfang sechzig, auch fester Bestandteil unserer Clique. Dieser Senior hatte wieder mitkommen müssen – wozu? Umgeben von aktiven jüngeren Männern bot er ein erbarmungswürdiges Bild, nur erbarmte sich keiner. Der Rentner sagte mir: Wenn ich all die Jungen da so sehe, weiß ich schon, was später mal aus ihnen wird – all das Elend … Er schien erfüllt von vorweggenommenem Mitleid.

Auf unseren Kurzreisen übernachteten P... und ich einmal in derselben Düsseldorfer Wohnung. P... hatte dort schon am Freitagabend seine Notunterkunft gefunden, auf einer Liege im Wohnzimmer. Mich lud der Wohnungsinhaber eine Nacht später ein, sein eigenes Bett mit ihm zu teilen. Wir fuhren im Wagen zu viert von Köln rheinabwärts, es war noch ein Schweizer dabei. Mag sein, dass ich meinen Platz im Bett auch der Tatsache verdankte, dass der Düsseldorfer seinem Wochenendgast aus Zürich ausweichen wollte. Am anderen Morgen beschwerte sich P… bei mir. Die Liege sei zu schmal für zwei gewesen und außerdem habe der aus der Schweiz seine Tätowierungen einfach scheußlich gefunden.

Wir fuhren am Sonntagmittag mit dem Zug nach Köln zurück. Unterwegs sprach sich P... offen aus und ich ließ mich von seinem Selbstmitleid anstecken. Er war ursprünglich aus Ostberlin, erfuhr ich, und hatte erst mit Ende dreißig in den Westen gehen können, viel zu spät, um all das bis dahin Versäumte nachzuholen, sagte er. Er war in Westberlin Registrator geworden, ich kannte die einschlägige Gehaltstabelle und P...s Eingruppierung. Es reichte gerade für eine Ein-Zimmer-Altbauwohnung im Wedding.

Nach dieser USA-Reise – ich bin nur einmal mit ihm drüben gewesen – wirkte P… unzufriedener als vorher. Er pries jetzt immer wieder das sexuell Freizügige, Unkomplizierte der Amerikaner, das er in Berlin vermisste. Er wurde merklich älter, auch nörgeliger, und so blieb er mir in Erinnerung, als ich bald darauf nach Hamburg umzog. Zweimal traf ich ihn dort noch. Beim ersten Wiedersehen begrüßten wir uns und er begann gleich die Hamburger Bars und ihr Publikum herunterzumachen. Es sei hier alles noch schlimmer als in Berlin, nur Gerede und Getue, kein richtiger Sex. Als ich die Szene verteidigte – die Leute unterhielten sich offenbar gut und hätten viele Interessen gemeinsam -, lachte er meckernd, fast hysterisch, und trollte sich. Gegen Morgen saß er auf einem Barhocker, allein und auf Unbestimmtes wartend. Ich nahm ihn mit und ließ ihn im Gästezimmer schlafen. Beim Frühstück wirkte er wenig zugänglich, verschlossen. Hätte er Lust, mit mir einen Flohmarkt zu besuchen? Ja, hatte er. Aber bald hatte er genug davon und wollte lieber zur Reeperbahn. Ich ließ ihn ziehen, wir trennten uns auf einem U-Bahnhof.

Fünf Jahre später, dieselbe Bar in Hamburg. Ich erkenne ihn noch, obwohl er sehr gealtert ist. Biblisch-mythisch wie ein schwuler Methusalem hockt er Stunde um Stunde auf demselben Platz an der Theke und beobachtet in erstarrter Haltung, ausdruckslos. Haar und Bart sind sehr grau geworden, der breite Rücken ist ganz rund, gebeugt. Ist es nur Langeweile, was ihn noch in die Bars und auf Reisen treibt? Es bleibt offen, ob ich jetzt etwas in ihm auslöse. Mir fehlen der Mut und die Kraft, ihn noch einmal anzusprechen.

 

 

INHALT

1. Liebestod mit Doubles 

 

2. Eine Bürogeschichte 

 

3. Der Prinz und der Praktikant 

 

4. Der kleine Delfin 

 

5. Sag es dem Spiegel

 

6. Brief an einen lieben Toten

 

7. Hinter uns

 

8. Sein Apartment

 

9. Sein letzter Geburtstag

 

10. Das romantische Projekt

 

11. Die Geschichte des P...

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.05.2019

Alle Rechte vorbehalten

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