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1. Edmund White: Abschiedssymphonie

Der dritte von Whites autobiographischen Romanen umfasst gut 700 Seiten, mehr als die beiden Vorgängerbände („Selbstbildnis eines Jünglings“, „Und das schöne Zimmer ist leer“) zusammen. Das 1997 erschienene Werk verarbeitet Lebensstationen und Begegnungen des Autors von der Mitte der 1960er Jahre bis etwa 1995. Die Schauplätze: New York, Paris, Rom, Venedig, mit Abstechern ins Innere der USA (Chicago, Texas, Ohio). Es zeichnet den erst sehr langsamen, mühseligen, schließlich rasanten Aufstieg Whites zum neben Gore Vidal und Truman Capote erfolgreichsten amerikanischen homosexuellen Prosaschriftsteller des 20. Jahrhunderts nach. In Einschüben erfahren wir von den weiteren Schicksalen der Mutter, des Vaters, der Schwester und lernen nun noch den Neffen und die texanischen Verwandten der Mutter kennen. In erster Linie ist es jedoch eine romanhafte Sexualautobiographie. White spricht selbst von seiner „exhibitionistischen Schriftstellerei“. Aus der Fülle der zahllosen intimen Begegnungen ragen hervor als zeitweilige Hauptpersonen im Leben des Erzählers: Sean – Kevin – Leonard – Fox – Ned – Hajo – Brice. Jeder von ihnen wird als sich scharf von allen anderen abhebendes Individuum präsentiert und führt noch zusätzliches Personal in die Handlung ein. Ihnen allen steht eine Gruppe literarischer schwuler Größen gegenüber: Butler – Max – Joshua – Eddie. Diese bilden untereinander und mit dem Erzähler ein Netzwerk, trotz aller Sympathien nicht frei von Egozentrik und Eifersüchteleien. Auch ihre Partner werden vorgestellt mit charakteristischen Zügen und individuellen Schicksalen. An Frauen werden in diesem Teil des Opus neu eingeführt die New Yorkerin Christa und die Römerin Tina. In kleinen Nebenrollen treten unter ihrem wahren Namen einige Prominente auf, z.B. Tennessee Williams und Michel Foucault.

White konnte, was den Stoff betrifft, tatsächlich aus dem Vollen schöpfen. So zum Bersten angefüllt die eigene Biographie, so erregend das Auf und Ab der allgemeinen Entwicklung seinerzeit. Der Erzähler erlebt das New York um 1970/80 als den Schauplatz einer weder jemals vorher noch später je wieder erreichten kulturellen Blüte, jedenfalls nicht in der modernen westlichen Welt. Das seine eigene sexuelle Minorität speziell Betreffende fasst er so zusammen: „Ich fand, noch nie war eine Gruppe einem so rapiden Entwicklungsprozess ausgesetzt gewesen – unterdrückt in den fünfziger Jahren, befreit in den Sechzigern, himmelhoch jauchzend in den Siebzigern und ausgelöscht in den achtziger Jahren.“ Aids wird gegen Ende des Romans das beherrschende Thema. Ein Großteil sowohl seiner Schriftstellerkollegen wie seiner Liebhaber stirbt daran. Er selbst – und das ist rein autobiographisch – lebt mit dem HIV-Virus weiter. Er wirft skeptische Blicke auf die Gegenwart der neunziger Jahre und findet: „Die Kategorie der allgemeinen literarischen Prosa verschwand, und ihr Verschwinden zeigte, dass die neue multikulturelle Strömung weniger eine allgemeine Konversation war als miteinander konkurrierende Monologe.“ (An diesem Befund hat sich seitdem nichts geändert, die Tendenz ist sogar noch augenfälliger geworden.) Sein Trost wie seine Hoffnung sind dennoch rein literarisch. Als er Joshuas hinterlassene Habseligkeiten in Venedig wegwirft, formuliert er den letzten Satz des Werks so: „Von Joshuas Geist fand sich in diesen Dingen nicht mehr als von unserem Virus; sein Geist wohnte in Eddies Zeilen und auch, so hoffte ich, in meinen.“

Ein Riesenprojekt wie dieser Roman kann heute vielleicht nur noch partiell gelingen. Whites Prosa mag den Leser auf vielen Seiten begeistern. Seine Gestalten wie Situationen sind über lange Abschnitte reine Lesefreuden. Seine Analysen sind hellsichtig, bestechend. Und doch hat das Buch verdientermaßen auch negative Kritiken bekommen. Seine Schwächen seien nicht verschwiegen. Sie scheinen mir aus der Verbindung von Romanform mit erzählter Autobiographie herzurühren. Für einen Roman ist die Struktur oft zu wenig verdichtet. Weniger Figuren hätten noch größere Plastizität schaffen können. Dem Autor, sich beim Schreiben erinnernd, ist manches wichtig, das dem Leser keinen Nutzen bringt, weder ästhetisch noch an Erkenntnis. Nur ein kleines Beispiel dafür: Der Erzähler fliegt nach Ohio zur Bestattung seines Vaters und beschreibt ihren Verlauf sehr plastisch. Doch zuvor müssen wir ausführlich von einem verpassten Abflug in New York lesen und sogar, dass beim alternativen Flug die Airline sich als kulant erwies. Diese vorgeschalteten banalen Details mindern den Wert der großartigen Bestattungsszene, indem sie sie unnötig ein wenig in den Schatten stellen.

Der Ich-Erzähler und der Autor White sind sich also erkennbar näher als für einen rundum gelungenen Roman passend. Ersterer äußert sich zum Schluss hin zu Zeitfragen gelegentlich so prosaisch nüchtern und schlicht, wie es allenfalls Letzterem in einem Zeitungsinterview erlaubt wäre. Auch der Aufbau des Werks enttäuscht insofern, als es zu Beginn sich einzupendeln scheint zwischen Pariser Erinnerungen an den jüngst verstorbenen Brice und frühen Episoden aus New York – dann aber Brice so gut wie aus den Augen verliert, bis auf eine eher pflichtgemäß erscheinende Episode in der Buchmitte, und erst am Ende allzu kurz zu ihm zurückkehrt. Brice ist tot und der Erzähler resigniert: „Ich kann nicht weiterschreiben. Ich kann seine Geschichte nicht erzählen, weder ihren glücklichen Anfang noch ihr tragisches Ende …“ So konstruiert trägt die Brücke nicht die Stoffmassen dazwischen.

Dennoch: Bei aller verdienten Kritik ist Whites Tetralogie für den Kanon großer autobiographischer Romane des 20. Jahrhunderts durchaus geeignet. Der Autor hat sich und die Urbilder seiner Figuren dafür nicht geschont, und der potentielle Leser sei zugleich ermuntert wie gewarnt. New York um 1975, das war eine ebenso produktive wie problematische Mischung aus Entfesselung, Kreativität und Verfall. Whites Werk spiegelt es getreulich wider. Er selbst zitierte 2015 in einem Interview Voltaire mit diesem Satz: „Den Lebenden schuldet man Respekt, aber den Toten schuldet man nichts als die Wahrheit.“

(Zitate aus dem Roman nach der Übersetzung von Benjamin Schwarz)

2. Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten

Als der schmale Band kleiner Prosatexte 1936 erschien, steckte sein Verfasser schon tief in einer persönlichen und Schaffenskrise, verursacht durch anhaltende Selbstüberforderung beim Schreiben, materielle Existenznot, politische Isolation, gesundheitliche Probleme. „Nachlaß zu Lebzeiten“  hatte so die Funktion eines Zurückmeldens, drückte aus: Es gibt ihn noch, den Autor des sagenhaften, immer noch in Entstehung befindlichen Riesenromans. Musil hatte während seine Berliner Jahre den ersten Teil von „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1931) und vom zweiten Teil den ersten Band (1933) herausgebracht, war viel beachtet und gerühmt worden und lebte nun wieder in Wien, in einer Art multiplem Überlebenskampf. „Nachlass zu Lebzeiten“ war seine letzte Buchpublikation. Danach kamen nur noch das Schweizer Exil, das Scheitern am nicht mehr zu bewältigenden Hauptwerk und der Tod.

Der Sammelband umfasst dreißig Einzeltexte, gegliedert in drei Abteilungen und die abschließende mittellange Erzählung „Die Amsel“. Überwiegend sind es für Zeitungen geschriebene Texte aus den Jahren 1920 – 1929, ausnahmsweise zwei aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Welche äußeren Einflüsse hat Musil in ihnen verarbeitet? Unter anderem Tierbeobachtungen, Aufenthalte in Italien, Eindrücke von der Kriegsfront, kulturelle Zeitströmungen der Zwanziger Jahre. Auch hier erweist sich seine Prosa wieder als stilistisch fulminant und dabei tieferen Sinn mal intensiv beackernd, mal eher streifend. Seine Untersuchungen sind im Detail oft ausgesprochen dialektisch und verraten dabei so etwas wie Freude am Gedankensport.

Seine Exaktheit im Beobachten kleinster Vorgänge in der Außenwelt ist akribisch zu nennen. Dabei fällt vor allem in der ersten Gruppe („Bilder“) eine Faszination durch Peinigendes, Grausames auf. Der Todeskampf von Fliegen, die auf einem mit vergiftetem Leim bestrichenen Papier festsitzen, wird über Stunden beobachtet und in allen Stadien beschrieben. Wir lesen von einer Drei-Klassen-Gesellschaft von Affen in römischen Parks, wie dort die Oberen die Unteren sadistisch schurigeln. Geradezu zärtlich ist die Beschreibung von Ostseefischern, wie sie Würmer auf ihre Angelhaken stecken. Ein sehr kitzliges Pferd scheint zu lachen, ein Hase wird von einem Hund gehetzt und totgebissen. Sadismus bei Musil? Das wird gewöhnlich nur mit „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ assoziiert. Dieselbe Tendenz zeigt sich auch in zwei Texten, die der Autor nicht in die Sammlung hier aufgenommen hat. In „Der Vorstadtgasthof“ endet ein Stelldichein damit, dass der Mann der Frau die Zunge abbeißt. Ein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Fragment (später als „Menschenfressergeschichte“ gedruckt) handelt unverblümt, schockierend von „Mastsklaven“.

Unbarmherzig sezierend, oft ätzend ironisch sind die Texte der zweiten Abteilung („Unfreundliche Betrachtungen“), die Musil selbst als Satiren bezeichnete. Russische „Totenkopfhusaren“, die nach dem Weltkrieg auf Berliner Kleinkunstbühnen schrill kostümiert singend den Heldentod beschwören, veranlassen ihn zu einer Theorie des Kitsches. Musil weist nach, wie überflüssig, ja anachronistisch angesichts der damals neuen funktionalen Architektur Türrahmen  geworden sind. Oder er zeigt, inwiefern Denkmale generell kontraproduktiv sind, ihre Objekte tatsächlich öffentlich nur zum Verschwinden bringen. Blicke durch ein Fernrohr verfremden bei ihm die banale Alltagswelt auf beängstigende Weise. Dann die Verklärung des deutschen Waldes und ihre Funktion. Oder die Rolle von Ansichtskarten und berühmten Orten für den geistigen Haushalt des Durchschnittsmenschen. In einer frühen Abrechnung mit der Psychoanalyse legt er beim Ödipuskomplex sozusagen den Finger in den Mutterschoß und bringt Ersteren mit dem Schönheitsideal der 1870er Jahre mit seinen fülligen Damen in Verbindung.

Die dritte Abteilung („Geschichten, die keine sind“) versucht sich an Anti-Erzählungen. Ein junger Astheniker will Kraftprotz werden und findet heraus, dass das zu seiner Zeit eher im Autobus fahrend als sich mit Sport abmühend möglich ist: Triumph moderner Technik über das antike Ideal. Nicht recht geglückt, dafür aufschlussreich in der oben schon gestreiften  Hinsicht ist „Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten“. In ihr geht es um Amazonen und bedrohte Männer. Sacher-Masoch wird erwähnt, und 1729 wird ein Marquis von einem betont weiblichen Raubtier (Tigerin, Pantherin, Löwin?) erst erotisch verwirrt, dann zerfleischt.

Und dann gibt es hier wieder den Musil, der wie im „Mann ohne Eigenschaften“ auf der Suche nach dem „anderen Zustand“ ist, der sich um „taghelle Mystik“ bemüht, vor allem in „Die Amsel“, mit der der ebenso schmale wie sehr gehaltvolle Band schließt. Gerade zu dieser nicht leicht zu entschlüsselnden Erzählung findet sich in Fachpublikationen in jüngerer Zeit eine Diskussion auf hohem Niveau, an der Musil vermutlich seine Freude gehabt hätte. („Zu intelligent für einen Dichter“, soll einmal ein Verdikt über ihn gelautet haben.) Für den Normalleser, der auf Musil (immer noch) neugierig ist und sich noch nicht oder nicht wieder an das Rieseneposfragment wagt, ist „Nachlaß zu Lebzeiten“, parallel zum Roman entstanden, ein empfehlenswerter (Wieder-)Einstieg.

 

3. Rattawut Lapcharoensap: Sightseeing

Der Autor wurde 1979 in Chicago als Sohn in die USA eingewanderter Thais geboren. Aufgewachsen ist er zum großen Teil in Bangkok, kehrte im Verlauf seines Studiums in die USA zurück. Hier wurde er bald als Verfasser von Geschichten bekannt, die zwar auf Englisch geschrieben sind, deren Stoffe jedoch zumeist in Thailand angesiedelt sind. Sieben dieser Erzählungen enthält seine 2005 herausgekommene erste Buchveröffentlichung mit dem Titel „Sightseeing“. Schon ein Jahr später folgte unter demselben Titel die deutsche Übersetzung.

„Sightseeing“ war international sehr erfolgreich. Es verbindet perfekt beherrschte Technik amerikanischer Kurzgeschichten mit genauestem Einblick in den Alltag in Thailand. Alle Texte sind überwiegend sozialkritisch und meist aus der Perspektive Heranwachsender geschrieben, fünfmal aus der eines Jungen und mit der abschließenden und längsten („Hahnenkämpfer“) aus der eines Mädchens. Einmal kommt ein alter Mann auf diese Weise zu Wort. Die Ich-Erzähler liefern erbarmungslose Sozio- und Psychogramme mitten aus der Gesellschaft des südostasiatischen Landes, vor allem aus den unteren und mittleren Schichten. Wir sehen ein modernes Thailand vor uns, das gerade dadurch exotisch auf uns wirkt, dass es kaum touristisch interessante Assoziationen bedient.

Dabei spielen Fremde in drei der sieben Geschichten durchaus bedeutende Rollen. In „Farangs“ macht der Sohn einer Thai und eines US-Soldaten ernüchternde Erfahrungen mit amerikanischen Touristen in einem Badeort. „Lass mich hier nicht sterben“ ist der Bericht eines US-Rentners, der in Bangkok bei seinem mit einer Thai verheiratetem Sohn lebt. „Priscilla aus Kambodscha“ ist ein Flüchtlingsmädchen, das in einem illegalen Camp haust und sich mit einheimischen Jungen anfreundet.  Den Niedergang einer Proletarierfamilie in einer  mafiös überformten Provinzstadt behandelt „Hahnenkämpfer“. Die zersetzende Wirkung von Korruption zeigt sich am „Einberufungstag“, an dem junge Männer gemustert und mit einer teilweise gelenkten Lotterie fürs Militär herangezogen oder freigestellt werden. „Im Café Lovely“ lernt ein Minderjähriger, den sein älterer Bruder mitgenommen hat, ein von Drogen und Prostitution geprägtes Milieu kennen. In der Titelgeschichte begleitet ein angehender Student seine Mutter auf einer Reise zu einer Ferieninsel. Die Mutter wird, wie beide wissen, bald erblinden. Sie wirft letzte Blicke auf ein Ferienparadies, das ihr bis dahin nichts bedeutet hat.

Zwei dieser ungewöhnlich suggestiven Geschichten hat 2015 Josh Kim, ein US-amerikanischer Filmemacher koreanischer Herkunft, zu dem ebenso überzeugenden Streifen „How to Win at Checkers (Every Time)“ (deutsch „Mein Bruder, der Held“) verarbeitet.

 

4. Über eine Stelle bei Saul Bellow

In Saul Bellows großem Roman „Die Abenteuer des Augie March“, erschienen 1953, ist nebenbei ein kleiner Handlungsablauf eingewoben, bei dem ich mich frage: Liegt hier ein Subtext vor? Oder interpretiere ich die zwei, drei Szenen unabhängig von Bellows Intention allein aufgrund meiner eigenen Erfahrung? Oder kann es sein, dass der Autor einen Wendepunkt in Augie Marchs jungem Leben unbewusst so dargestellt hat, dass er etwas Allgemeingültiges auf plastische Weise, wenn auch verschlüsselt widerspiegelt?

Während der Weltwirtschaftskrise lässt Augie March, der aus Chicago kommt, sich einige Zeit quer durch die USA treiben. Er fährt wie so viele Arbeits- und Obdachlose damals schwarz auf Güterzügen mit. Eingepfercht in einem mustert er einmal die Männer in der Nähe kritisch und charakterisiert nur einen auf neutrale Weise: „Auf der anderen Seite saß ein stämmiger Junge.“ Die zahlreichen Schwarzfahrer werden auf einem kleinen Bahnhof vom Zug gejagt. Augie erzählt: „Der stämmige Junge – er hieß Stoney – schloß  sich mir an, und wir gingen in die Stadt … Ich gab etwas von meinem Geld für Brot, Erdnußbutter und ein paar Flaschen Milch aus, und das war unser Abendessen …“

Die beiden übernachten anschließend in einem ausrangierten Güterwagen, der sich bald mit weiteren Landfahrern füllt. Einer macht sich an Augie heran, der sich mit Erfolg zur Wehr setzt. Dann: „ … und stieg über Körper dorthin, wo ich Stoney liegen gesehen hatte … mein Herz drohte, mir die Brust zu zersprengen: nicht vor Ekel, wie ich sagen muß, denn Ekel empfand ich nicht, ich empfand eine allumfassende Misere. Und ich legte mich neben Stoney nieder, der sich ein wenig aufrichtete, mich erkannte und wieder einschlief. Nur gegen Morgen war es zum Umkommen kalt; und ab und zu fanden wir uns eng aneinandergepreßt, Gesichter und Stoppeln reibend, und lösten uns wieder voneinander. Bis es zu sehr fror, um darauf Rücksicht zu nehmen, daß wir Fremde waren – wir schlotterten zu fürchterlich - und wir dicht zusammenrücken mußten. Ich zog meinen Rock aus und breitete ihn über uns beide, um die Wärme ein bißchen zusammenzuhalten …“

Die Abenteuer gehen weiter, als Augie zurück nach Chicago und Stoney mitnehmen will. (Stoney will weiter nach Nebraska, um Veterinär zu werden.) Einmal sitzen sie im falschen Güterzug und gelangen gegen ihre Absicht nach Detroit. Sie geraten dort in die Fänge der Polizei und müssen eine Nacht in einer überfüllten Arrestzelle verbringen. Am anderen Morgen sollen sie die Stadt auf dem kürzesten Weg verlassen. Sie benutzen dazu eine Straßenbahn … „und dabei passierte es, als der Schaffner mich anstieß, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß die Haltestelle zum Umsteigen gekommen sei, und ich `raussprang und ich dachte, Stoney wäre hinter mir, daß ich ihn dann noch am Fenster schlafen sah, als der Wagen mit den durch Preßluft geschlossenen Türen vorbeifuhr, und kein Gebumse an der Scheibe ihn zu wecken vermochte. Dann wartete ich eine gute Stunde, ehe ich bis zur Endstation, wo die Autostraße war, weiterfuhr. Dort blieb ich beinahe bis Mittag. Er dachte möglicherweise, daß ich ihn abgeschüttelt hätte, was nicht meine Absicht war. Ich war verzweifelt, daß ich ihn verloren hatte.“

Augie gibt dem Leser nacheinander Folgendes zu verstehen: An schwulem Sex war er nicht interessiert. Nur widrige Umstände führten zu  harmlosem körperlichem Kontakt mit Stoney. Die beiden schlossen sich aus Not auf ihrer Odyssee zusammen und durch ein Missgeschick wurden sie getrennt. Der Verlust dieser nur knapp drei Tage alten Zufallsbekanntschaft löste bei Augie Verzweiflung aus – und genau hier stutzt der Leser. Steht noch mehr zwischen den Zeilen? Sichten wir noch einmal das ausgebreitete Material.

Augie March ist, wie sich aus dem weiteren Verlauf der Romanhandlung eindeutig ergibt, nicht homosexuell. Das Thema wird auf den noch folgenden gut 550 Seiten nicht mehr berührt. Die Episode in Detroit ist singulär und gleichzeitig, wie mir scheint, ein versteckter endgültiger Schlusspunkt. Aufschlussreich ist, wie Augie Stoneys Physis wahrnimmt: Er ist der „stämmige Junge“. Das Adjektiv wird auf wenigen Seiten dreimal verwendet. Seine Konnotation ist positiv gefärbt, da Stoneys jugendliche Erscheinung sich zu seinem Vorteil von den älteren Elendsgestalten abhebt. Bevor es zu dem engen Schlafen zu zweit kommt, schaltet Bellow die Übergriffe des anderen Mannes vor, von dem Augie sich belästigt fühlt. Er ist also entschuldigt, wenn er Stoneys Nähe in dieser Nacht sucht. Auf der anderen Seite erfolgt die körperliche Berührung zögerlich, da sie, wie es heißt, „Fremde“ füreinander, nicht da sie beide männlich sind. Bezeichnend ist auch, dass Augie erst dann seinen ursprünglichen Schlafplatz aufgibt, als der aufdringliche fremde Mann schon von ihm abgelassen hat, nun aber derbe misogyne Sprüche folgen lässt. Wie sehr Augie das Erlebnis innerlich aufwühlt, verrät die Formulierung: „ … mein Herz drohte, mir die Brust zu zersprengen …“

Einen Schlüssel gibt Bellow dem aufmerksamen Leser an die Hand, indem er Augie zum Morgen nach der Nacht, die er und Stoney im Detroiter Polizeigewahrsam verbracht haben, eine zunächst unmotiviert erscheinende biblische Assoziation in den Sinn kommen lässt: „Wenn es in der Nachbarschaft des Tobias, an dem Tag, als der Engel zu ihm kam, ein Polizeirevier gab, hätte es dort nicht anders ausgesehen.“ Aber wer entspricht dann in Detroit Tobias und wer dem Engel? Nun hat die Blindheit von Tobias’ Vater im Alten Testament ihre Parallele im Roman in der von Augies Mutter. Demnach ist Stoney für Augie der Engel. Denkt man an die Theorien über das Geschlecht der Engel und ihre Asexualität, erkennt man die tiefere Bedeutung der flüchtigen Stoney-Erscheinung für Augies Entwicklung. Der Engel Stoney ist für den jungen Augie ein Wunschbild und zugleich ein Abwehrzauber dagegen. Bellow scheint diesen Zusammenhang sehr bewusst gestaltet zu haben.  

Abschließend der Versuch einer Interpretation des Gehalts hinter der Geschichte: Stoney vertritt für Augie eine Existenzform, die für ihn selbst nicht oder nicht mehr in Frage kommt. Augie wirft im Kontakt zu Stoney einen Blick auf sie, dabei erscheint sie als eine theoretisch mögliche, durchaus nicht abstoßende. Er sagt ja: „Ekel empfand ich nicht.“ Doch dieser Weg ist ihm verschlossen, sein Leben wird anders verlaufen. Das Zwangsläufige der Entwicklung – ein heterosexueller junger Mann vergewissert sich seiner eigenen Identität im Unterschied zu davon abweichenden anderen – ist hier übersetzt in eine äußere Handlung, die scheinbar nur auf ein banales Sichverfehlen hinausläuft. So gesehen ist schon die Tatsache, dass sie füreinander Fremde waren, nicht nur retardierendes Moment gewesen, sondern überhaupt erst die Voraussetzung für den nächtlich wärmenden Kontakt. Ein Prüfstein muss von anderem Material sein als die zu prüfende Substanz. Die Trennung in der Straßenbahn ratifiziert dann die unüberbrückbare Differenz zwischen einem potentiellen und dem real sich entwickelnden Schicksal. Der vertrauensvoll, schuldlos schlafende Stoney – er wird zweimal in dieser Position dargestellt – ist zum endgültig unerreichbaren Liebesobjekt geworden. Die schon in der ersten Nacht konstatierte „Misere“ ist jetzt absolut und führt zu Verzweiflung; es ist die über das unerbittlich Zwangsläufige auseinanderstrebender Entwicklungslinien. Bellows große Kunst erweist sich daran, wie er diesen inneren Konflikt auf eine unverfänglich erscheinende Bühne der Außenwelt verlagert.

 (Zitate nach der Übersetzung von Alexander Koval)

 

5. Władisław-Stanisław Reymont: Die Bauern

Für „Die Bauern“ hat Władisław-Stanisław Reymont 1924 den Nobelpreis bekommen. Es ist eines der bedeutendsten Prosawerke polnischer Sprache und liegt in guter deutscher Übersetzung vor. Obwohl Polen unser zweitgrößtes Nachbarland ist, hat leider kein hiesiger Verlag mehr das Buch im Programm. Zum Glück kann man das Werk noch aus Restauflagen bekommen, dann sehr günstig.

Inwiefern ist es noch lesenswert? Dafür vier Gründe:

Erstens: Es dokumentiert hervorragend die ländlichen Verhältnisse im östlichen Mitteleuropa und in Russland um 1900.

Zweitens: Seine Naturschilderung ist ungewöhnlich plastisch und intensiv.

Drittens: Man versteht nach der Lektüre Polen viel besser, seine Geschichte, die polnische Mentalität und die problematische Lage des Landes zwischen Deutschland und Russland.

Viertens: Und vor allem der hohe literarische Wert. Es ist vordergründig ein naturalistisches, fast veristisches Werk. Gleichzeitig interpretiert der Autor auf sehr geschickte, indirekte Weise Zeit und Gesellschaft. Es gelingt ihm, durch die Anordnung der Personen und Geschehnisse seine Sicht auszusprechen, ohne sich selbst zu äußern.

Das Verständnis des Werkes ergibt sich im Wesentlichen  aus dem sehr ungewöhnlichen Schluss. Auf der einen Seite ist durch eine reiche Ernte das materielle Überleben der Dorfgemeinschaft nach großen Krisen endlich gesichert. Damit reiht sich das Buch scheinbar in eine damalige Tradition ein, in der die Gemeinschaft der Hauptwert ist und der Einzelne in ihr aufgehoben, gesichert und letztlich bedeutungslos. Dagegen stehen die Schicksale der Hauptfiguren. Diese sind in dem Jahresablauf, den der Roman umfasst, alle in schwerste Krisen geraten, die sie nicht oder allenfalls unvollständig gemeistert haben. Es gibt vor allem Tod, Warten auf das Ende oder Warten auf einen Prozess wegen Totschlag und die Deportation nach Sibirien. Den Kontrast zwischen allgemeiner Wohlfahrt und individuellem Unglück kann man so interpretieren, dass Reymont für seine Zeit und Gesellschaft individuelle Glücksmöglichkeiten verneint hat. Dieser Kultur- und Geschichtspessimismus wird hier nur durch die vage Utopie nationaler Selbstbestimmung, vielleicht sogar von Demokratie, gemildert. Und er lebt vor dem Hintergrund einer als tief dargestellten Religiosität.

Alles in allem ist es ein Schlüsselwerk zum Verständnis Polens und der Beitrag des Landes zur beginnenden Moderne in der Literatur.

6. Anton Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen

 

Tschechows bekannte Erzählung ist seit Generationen in immer neue Auswahlbände und Sammelausgaben aufgenommen worden. Sie ist auch Titelgeschichte eines gegenwärtig im Buchhandel noch erhältlichen Bandes. Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Folgenden geht es nur um diese eine Geschichte.

Sie beginnt in Jalta, wo Gurow Urlaub macht. Er ist knapp vierzig und könnte mit sich zufrieden sein. In Moskau hat er Arbeit bei einer Bank und offenbar gut zu leben. Er hat drei Kinder und für die enttäuschende Ehe entschädigt er sich häufig mit kurzen Affären, die ihn allerdings regelmäßig unbefriedigt lassen. Ursprünglich wollte er mal an die Oper, hat Philologie studiert, besitzt jetzt zwei Häuser in Moskau. In Jalta begegnet ihm nun jene Dame mit dem weißen Spitz. Sie ist noch sehr jung, Anfang zwanzig, erst kurz verheiratet, ohne Kinder und wie er schon etwas enttäuscht vom Leben. Sie beginnen eine Affäre …

Diese zunächst so langweilige Liebesgeschichte, die der Autor mit scheinbarem Missbehagen erzählt und der Leser längere Zeit beinahe mit wirklichem verfolgt, ist vielleicht die realistischste Darstellung des Wunders der Liebe. Die Liebe macht nicht blind, sondern sehend, und diese zwei Liebenden erkennen nun in aller Deutlichkeit vor allem die Trivialität ihres bisherigen Daseins. Sie haben gewiss beide mehr vom Leben erwartet. Allerdings verklärt sie ihn etwas, während er sie schärfer ins Auge fasst, als er ihr später nachreist und sie von fern wieder sieht: „… diese kleine und durch nichts bemerkenswerte Frau, die sich in der provinziellen Menge verlor …“ Sie nehmen ihre Beziehung wieder auf und treffen sich regelmäßig in einem Moskauer Hotelzimmer. Dort sieht er sich einmal selbst unwillkürlich im Spiegel, und der dann folgende Absatz lautet:

„Sein Kopf fing schon an zu ergrauen. Und es schien ihm sonderbar, dass er in den letzten Jahren so alt geworden war und so verloren hatte. Die Schultern, auf denen seine Hände ruhten, waren warm und bebten. Er fühlte Mitleid mit diesem Leben, das noch so warm und schön, aber vielleicht schon nahe daran war zu verbleichen und zu verwelken, wie sein Leben. Warum liebte sie ihn so?“

Er macht sich jetzt klar, dass die Frauen ihn regelmäßig verklären, nach den Bedürfnissen ihrer Phantasie ummodeln, ihn später richtig einzuschätzen lernen, ihn trotzdem immer noch lieben und – nie mit ihm glücklich werden. Diesmal soll es anders sein. Er hat sich also wieder einmal aus Langeweile verliebt, die körperliche Liebe genossen, aber dann konnten sie sich nicht voneinander lösen. Warum? Bei ihr spielt Scham eine große Rolle, sie neigt durchaus nicht zum Ehebruch und kompensiert ihn gewissermaßen mit Ernsthaftigkeit. Außerdem kann sie ihren eigenen Mann nicht so achten, wie sie möchte, und sieht in Gurow den Würdigeren. Und er scheint es zu verdienen, seine stärkste Regung ist jetzt Empathie, vielleicht ein zukünftig tragfähiger Grund.

Sie wollen anders leben, wohl sich beide scheiden lassen, und sie sind sich der Schwierigkeiten bewusst, die ihnen bevorstehen. Soll man ihnen als Leser – die Geschichte ist ja zu Ende – eine günstige Prognose stellen? Tschechows Blick tief in die Seelen von zwei Liebenden ist hier jedenfalls bis zum Wesentlichen vorgedrungen: Wertschätzung und Sorge füreinander, und zwar gerade vor dem Hintergrund einmal endender Zeit. Der Vergänglichkeit haben sie nur ihre Liebe füreinander entgegenzusetzen, und deren Urantrieb scheint zu sein: Rührung. Tschechow wird immer aktuell bleiben.

 

(Zitate nach der Übersetzung von Reinhold Trautmann im Sammelband „Meistererzählungen“, Carl Schünemann Verlag Bremen)

 

7. Mark Twain lesen

Anfangs kannte ich nur einen Satz von ihm: „Die Gräfin betrat im Glanze ihres Glasauges des Saal.“ Ihn hat Tucholsky, den ich mit sechzehn las, seinen „Berliner Ballberichten“ als Motto vorangestellt. Nur neun Wörter, und man kann an ihnen zeigen, wie Satire funktioniert. Man nehme drei Begriffe aus leicht verstaubter gehobener Sphäre – Gräfin, Glanz, Ballsaal – und schalte einen modern ernüchternden ein: Glasauge. Der Glanz bleibt, erweist sich indes als Schwindel.
   Einige Jahre später kaufte ich mir seine Gesammelten Werke, die fünfbändige Dünndruckausgabe von Hanser. Ich konnte einmal über Weihnachten nicht heimfahren, blieb in Berlin und las „Huckleberry Finns Abenteuer“ in so gut wie einem Zug, jedenfalls ohne die Wohnung auch nur einmal zu verlassen. Am stärksten beeindruckte mich ein Detail aus dem 9. Kapitel, dessen volle Bedeutung der Leser wie Huck erst einige Hundert Seiten später erfahren. Huck und der Sklave Jim entdecken ein Mordopfer, doch Jim lässt Huck das Gesicht des Toten nicht ansehen – es ist Hucks eigener Rabenvater. Wie viel wunderbare Psychologie steckt darin: ein beinahe als gerecht zu empfindender Tod, die Befreiung des Jungen von seinem Peiniger, die zärtliche Schonung, die der Ersatzvater Jim Huck angedeihen lässt …
    Heute denke ich an eine andere Stelle bei Mark Twain, und zwar aus „Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof“. Ich vergegenwärtige mir den Stoff des Romans: Dem Yankee hat mitten im 19. Jahrhundert einer mit der Brechstange eins übergezogen, woraufhin er sich im England des Jahres 528 wiederfindet. Er, der neuzeitliche Amerikaner mit seinem ganzen technischen Wissen, seiner Aufgeklärtheit usw., er reißt bald die Macht an König Artus' Hof an sich und beginnt, dessen Land in einen gut geölten Staat der Moderne zu verwandeln. Das ist über weite Strecken sehr amüsant zu lesen, doch dann kommt das Grauen, ein Bürgerkrieg, in dessen Verlauf die Ritter des 6. Jahrhunderts in der elektrifizierten Kriegsmaschinerie des späten 19. buchstäblich verbrennen. Das ist großartig erfunden, eine satirische Vision des realen Ersten Weltkriegs, ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen des Buches.
     Der Roman ist leider noch immer aktuell: Westlicher Fortschritt, implantiert in relativ archaische Gesellschaften, lässt diese implodieren. Aus Freiheit, Demokratie, Menschenrechten, technologischem Fortschritt und Wohlstandsversprechen wird die Hölle auf Erden.
     Und dann gibt es noch die umgekehrte Konstellation, wie sie der Film „Die Besucher“ von 1993 zeigt: Menschen des 12. Jahrhunderts werden per Zeitreise unfreiwillig ins späte 20. katapultiert, verstören die neue Mitwelt, machen verstörende Erfahrungen. Nur Fiktion zu Unterhaltungszwecken? Ach, es gibt Zeitgenossen, die sehnen sich danach, Erfahrungen zu machen wie Godefroy und Jacquouille. Sie schlüpfen in alte Kostüme, führen Mummenschanz auf. In Mode gekommen ist neuerdings: Lord Byron stürzt sich in den Freiheitskampf der Griechen. Kann das gutgehen: Posieren wie im Biedermeier in einer Welt, starrend vor Massenvernichtungswaffen?
     Mir scheint, ein Menschenleben ist oft zu kurz, sich von jenem antiquierten Bewusstsein zu befreien, dem man, vielleicht aus purer Eitelkeit, sich in jungen Jahren hingegeben. Also: Wieder einmal Mark Twain lesen.

 

8. Arthur Schnitzlers Welt in unserer Zeit

Seit Tagen gehe ich wieder meinen Band mit Schnitzlers Erzählungen durch. Ich habe sie sehr lange nicht mehr in der Hand gehabt, sie überhaupt nur einmal gelesen. Die besten von ihnen, wie "Leutnant Gustl" und "Fräulein Else", waren mir im Kern präsent geblieben. Dennoch staune ich nun: Das ist eine Welt von großer Geschlossenheit und Morbidität. So wenige Themen, wie besessen immer aufs Neue umkreist: die Ambivalenz der Gefühle, verwünschte, verhexte Paarungen, der Tod, insbesondere der von eigener Hand. Allein die Novelle vom blinden Geronimo fällt aus diesem Rahmen von Dekadenz und Ende. Sie scheint um den beglückenden Bruderkuss des Endes herumkonstruiert. Geronimo küsste ihn auf die Lippen, so heißt es. Und Leutnant Gustl brachte sich am Ende doch nicht um, das Weiterleben fiel ihm zu wie ein unverdientes Geschenk. Ein sehr gemischter Charakter, dieser Gustl: schwach und stark, dumm und hellsehend, brutal und zartfühlend. Und welchen Inhalt hatte jener Brief eines Mannes an ihn, den er vor seinem geplanten Selbstmord noch vernichten wollte? Er hätte den Absender schwer kompromittiert, wäre er gefunden worden … Auch diese Überlegung beweist: Der Leutnant war gar nicht so hohl, wie ihn manche Leser fanden. Man kann in dieser sympathischen Regung auch den Wunsch erkennen, sich noch nicht von allem zu lösen. Hierin berührten sich im Übrigen der Leutnant und Else, die ja, wie ein findiger Kopf herausfand, wohl mit Absicht nicht so viel Veronal geschluckt hatte, als dass sie daran hätte sterben können.
    Bei Schnitzler fehlt die sonst so häufige Opulenz der Äußerlichkeiten, der Landschaft, des Wetters, der Großstadt, der Ausstattung der Wohnungen oder der Kleidung. Hier gibt es nur die notwendigen technischen Details, damit die Seelenlandschaft sich ausbreiten, der Seelenroman abrollen kann. Es ist zwar die Welt der vorletzten Jahrhundertwende mit ihrer Ahnung tiefer innerer und äußerer Krisen, und nun ist die nächstfolgende auch schon vorbei. Doch unsere Gegenwart ist nicht so grundverschieden von jener Vergangenheit. Sie weist vielmehr erstaunlich und bedrohlich viele und große Übereinstimmungen mit ihr auf. In beiden Fällen, zu beiden Zeiten rasanter technischer und materieller Fortschritt bei innerer Öde und Verzweiflung. Grassierender Luxus und grassierende Verelendung. Mächte, die alles durchdringen wollen. Ein gespaltenes kollektives Weltbild, in dem sich Omnipotenzphantasien mit apokalyptischen Visionen durchkreuzen.
    "Die Städte kennen nur das ihre und reißen alles mit in ihren Lauf …" Auch Rilke zum Beispiel ist durchaus nicht von gestern.
    Also wieder Reformismus, Vegetarismus, Nudismus und Rechtschreibreform, wieder neue Balkan- und Orientkriege und Rettung der Welt durch Radfahren. Wieder eine Handvoll Großmächte, die der ganzen Welt ihre Regeln aufzwingen und selbst doch nur die Oberfläche sehr partikulärer Interessen sind. Zwischendurch und schon wieder vorbei die Vorstellung vom ewigen Frieden, vom Ende der Geschichte, wenn nicht bei Königgrätz, dann 1989. Noch einmal das absolute Primat des Wirtschaftens, der ökonomischen Rationalität, bei deren Anwendung dann allerdings schwerste Fehler unterlaufen. Man muss nur wenige Namen und Begriffe auswechseln: für England Amerika, für Japan China, für Pfund Dollar, für Zivilisation Menschenrechte. Die Geschichte wiederholt sich in einer Spirale, die eher abwärts oder seitwärts als aufwärts führt, vom verkrusteten Klassen- oder Ständestaat über Emanzipationen zur Demokratie oder einer Chimäre in dieser Art, dann durch Krisen zu autoritären Systemen und nach Kriegen zu Restaurationen und neuer Prosperität, und alles endet vorerst noch nicht in diesem grell geschminkten Neoimperialismus von heute: sondern vielleicht erst in künftigen, nun doch alles auslöschenden Kriegen. Auch das würde eine Art Ende der Geschichte sein - und es macht besorgt, dass die Vorstellung der selbst verschuldeten Apokalypse heute weniger aufzuwühlen scheint als noch vor dreißig Jahren.

 

9. Simplicius und die vaterlose Gesellschaft

Formal ist Grimmelshausens Hauptwerk „Abenteuerlicher Simplicius Simplicissimus“ ein Schelmenroman, dem Gehalt nach vor allem Entwicklungsroman. Er spiegelt die Lebensreise des Helden und Ich-Erzählers durch die Gesellschaft seiner Zeit, also der Welt des Dreißigjährigen Krieges und der unmittelbar anschließenden Epoche. Dabei stellt sich für Simplicius die Unbeständigkeit und Nichtigkeit alles Weltlichen heraus, auf die er endlich mit totalem Rückzug von den Menschen reagiert und sich als Eremit auf Schau und Anbetung eines persönlichen Gottes christlicher Religion beschränkt. Bestimmt wird die Struktur des Romans dadurch, dass in ihm Vergänglichkeit und Nichtswürdigkeit menschlicher Existenz weniger die Folgen äußerer Einwirkungen als vielmehr in den Gestalten selbst schon angelegt sind. Kein blindes Fatum braucht von außen einzugreifen, Selbstzerstörung und Bestimmung zum Untergang verkörpern sich bereits in den handelnden oder passiv bleibenden schwachen Gestalten. Deren Beziehungsgeflecht und die wenigen Grundmuster der Abläufe zu untersuchen, soll im Folgenden unternommen werden.

Da sind zunächst die Autoritäten: Väter, Vorgesetzte, Pfarrer. Simplicius ist der Prototyp eines Vaterlosen. Er wächst auf einem abgelegenen Bauernhof bei einem Pflegevater auf, der ihm weder eine nennenswerte Erziehung noch Schutz gegen die plündernde Soldateska bieten kann. Sein leiblicher adliger Vater hat in den Kriegswirren die schwangere Ehefrau verloren, weiß nichts von seinem Sohn und führt inzwischen das Leben eines frommen Einsiedlers. Zwar lebt Simplicius als Knabe dann einige Zeit bei ihm im Wald, doch der Vater stirbt bald und der Einfluss seiner religiös-sittlichen Erziehung verliert sich weitgehend. Simplicius wird zu den Soldaten gepresst und ist abwechselnd in kaiserlichem oder schwedischem Dienst. Er lernt töten und plündern und verschafft sich darin durch Mut und Geschicklichkeit einen besonderen Ruf als „Jäger von Soest“. Von seinen zahlreichen aufeinander folgenden militärischen Vorgesetzten taugt keiner als Vorbild, hat keiner Einfluss auf seine geistige Entwicklung. Dies gilt im Wesentlichen auch von den Pfarrern, deren Schwächen der Held durchaus wahrnimmt.

Die Masse der Altersgenossen bleibt gesichtslos, mit zwei großen Ausnahmen: Olivier und Herzbruder. Ersterer ist als Erzschurke, als Räuber und Mörder ein verzerrtes Spiegelbild des jungen Simplicius, der sich unbedingt von diesem Dämon befreien muss. Die Doppelgänger-Thematik wird z.B. deutlich, wenn Olivier als falscher Jäger von Soest in Westfalen auftritt und von Simplicius entlarvt und überwunden wird. Jahre später treffen sie im Breisgau wieder aufeinander, kämpfen miteinander bis auf den Tod, den sie sich doch nicht geben können. Stattdessen werden sie Spießgesellen, Simplex gezwungenermaßen, während Olivier in dem anderen den willkommenen, bisher entbehrten Bruder zu suchen scheint. Den fatalen Anpassungsprozess beenden reguläre Soldaten. Olivier ist tot, Simplicius entkommt und gerät bald wieder unter Herzbruders Einfluss. Dieser war seit langem Oliviers Antagonist, die einzig mögliche große positive Identifikationsfigur. Aber er treibt jetzt selbst seinem Ende entgegen, das einen konkreten Bezug zu Sexualität aufweist. Wie auf einer neuen Nibelungenfahrt reisen die zwei Freunde per Schiff auf der Donau nach Wien, einer Wiederaufnahme ins kaiserliche Heer entgegen. An den Ufern unterwegs geraten ihnen Frauen ins Blickfeld, die sich vor den Schiffsreisenden exhibitionistisch entblößen. Bald darauf im Krieg verliert Herzbruder durch eine Schussverletzung die Hoden, muss auf die geplante Ehe verzichten und legt mit dem Freund die Donaufahrt erneut zurück, nur in entgegengesetzter Richtung und  unter gänzlich veränderten Vorzeichen. Von Simplex betreut und getröstet stirbt er während einer Kur im Schwarzwald.

Simplex’ Frauenbild, seine Frauengestalten sind fast durchweg negativ gezeichnet. Das grenzt zumindest an Misogynie. Als blutjunger Soldat trägt er eine Zeitlang zur Tarnung Frauenkleider und kann sich nur mit Mühe den lesbischen Avancen einer Rittmeistersgattin erwehren. Später wird er bei einem Rendezvous von einem Offizier unter Mithilfe von dessen Tochter in eine ihm unwillkommene Ehe gezwungen. Seine weiteren Abenteuer entfernen ihn sehr bald auch räumlich weit von der Gattin, die schon gestorben ist, als er einmal inkognito Westfalen besucht. Seinem kleinen Sohn gegenüber gibt er sich dabei nicht zu erkennen. In Paris dient er unter Zwang maskierten Damen der Hocharistokratie als Lustobjekt. Die dabei vermittelnde, einweisende Kupplerin-Hexe ist die eine von nur zwei Frauen im Roman mit detaillierteren Zügen und Reden. Die andere ist die Köchin, die auf der Insel im Indischen Ozean den ebenfalls schiffbrüchigen Zimmermann zum Mord an Simplicius anstiften will. Noch unglücklicher als die erste wird Simplicius’ zweite Ehe mit einer Frau, die sich zu Tode säuft. Zuvor hat es einen Wirrwarr um untergeschobene und uneheliche Kinder gegeben. Keinem seiner Nachkommen kann Simplex ein Vater sein. In dieser Welt fehlen stabile und prägende, Identität stiftende Beziehungen vollständig. Sie kann uns insofern wie ein früher Vorgriff auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erscheinen, als Alexander Mitscherlich den Begriff der vaterlosen Gesellschaft prägte. Freilich fanden sich in jener jüngeren Vergangenheit dann meist andere Surrogate als im 17. Jahrhundert.

Mit Herzbruders Tod und dem Ende von Simplex’ zweiter Ehe hätte der Roman mitten im fünften Buch enden können. Doch es folgen noch zweieinhalb weitere und der Charakter des Werks ändert sich grundlegend. Bis dahin weist die Darstellung sozusagen Züge barocker holländischer Genremalerei auf. Offensichtlich stützte Grimmelshausen sich vor allem auf eigenes Erleben im Krieg. Um im Vergleich zu bleiben: Nun richtet er einen barocken Hochaltar auf mit Wundern, phantastischen Reisen und zunehmender Dominanz religiöser Gefühle. Dabei bleibt die Absicht umfassender Desillusionierung erhalten. Um diese zu erzielen, werden die erzählerischen Mittel gröber, werden Wiederholungen und Übertreibungen nicht gescheut. Am Ende läuft es auf den radikalsten Eskapismus hinaus, das freiwillige Verbleiben auf einer kleinen Insel im Ozean, ganz allein mit dem christkatholischen Gott.

Am Ende dieses Weges gibt er folgende Selbstauskunft. „In Wahrheit aber hatte ich mir vorgesetzt, allen menschlichen Trost zu verschmähen und in niedrigster Demut Kreuz und Leiden mich allein an den lieben Gott zu ergeben und mich ihm zugelassen …“ Und der holländische Kapitän, der ihn vergeblich zur Rückkehr nach Europa hat bewegen wollen, berichtet darüber nach Deutschland: „ … betreffend die Hülfe der Menschen, deren er bei seinem Abschied beraubt sein müßte, bekümmere ihn solches im geringsten nichts, wann er nur Gott zum Freund habe; solang er bei den Menschen in der Welt gewesen, hätte er jeweils mehr Verdruß von Feinden als Vergnügungen von Freunden empfangen, und machten einem die Freunde selbst oft mehr Ungelegenheit, als einer Freundschaft von ihnen zu hoffen; hätte er hier keine Freunde, die ihn liebten und bedienten, so hätte er doch auch keine Feinde, die ihn hassen, welche beide Arten der Menschen einen jeden zum Sündigen bringen könnten, deren beiden aber er überhoben und also Gott desto geruhiger dienen könnte …“

Aus der relativen Einsamkeit seiner Kindheit ist Simplicius durch das Weltgetöse hindurch zu einer sehr exklusiven Zweisamkeit gelangt. Er ist dabei auf seine Art ein religiöser Fundamentalist geworden, dem zum Glück der Ausweg in einen weiteren Krieg nicht mehr offensteht. Über die historische Distanz dazwischen kann der heutige Leser an Simplicius’ Beispiel erkennen, wie tiefe Religiosität sich äußern kann und welche irdischen Verhältnisse ihr Aufkommen begünstigen können.  

(Zitate aus dem Roman nach der Bearbeitung von Engelbert Hegauer)

 

10. Italo Svevos Alterserzählungen

Der kleine rororo-Auswahlband im Miniaturformat mit dem Titel „Mein Müßiggang“ enthält nur vier Erzählungen des Triestiner Autors Italo Svevo (1861 – 1928). Erkennbar sind es Texte, die der Autor in reiferem Alter geschrieben hat – und davon und den damit verbundenen Problemlagen handeln die relativ kurzen Erzählungen auch. Dabei sind sie unterhaltsam zu lesen, mal humoristisch, mal selbstironisch und durchgehend analytisch. Ihre äußere Form weist eine Klassizität auf, die schlussfolgern lässt: Hier hat einer der großen Autoren der Moderne zu seiner endgültigen Form gefunden.

In der Titelgeschichte erlebt ein Ruheständler seinen „Müßiggang“ als ziemlich belastend. Um seine Vitalität zu erhalten oder sie wenigstens vorzutäuschen, nimmt er sich ein letztes Mal eine Geliebte. Die etwas geldgierige junge Frau versichert ihm, nicht der Wahrheit entsprechend: „ … es graust mir gar nicht vor dir.“ Später wird er ihr sagen: „Merkwürdig! Auch mir graust es gar nicht vor dir.“ Die fatale Geschäftsbeziehung endet, als der Ich-Erzähler auf einen gleichaltrigen Nebenbuhler stößt. Seinen erotischen Tagesbedarf müssen nun Blickkontakte in der Straßenbahn decken, und er muss sich schon einmal „Alter Faun“ nennen lassen.

Ganz anders der autobiographische Text „Die Zukunft der Erinnerungen“. Hier stellt der alte Svevo den Erinnerungen an seine erste Reise nach Deutschland – seine Eltern brachten ihn und seinen Bruder in einem Internat bei Würzburg unter – spätere Erkenntnisse gegenüber, so dass beide zusammen etwas Neues ergeben. Viele unterziehen sich in reiferem Alter solchen Übungen, hier sind sie formvollendet gelungen. – „Meuchlings“ ist die Geschichte eines ruinierten alten Geschäftsmannes, der vergeblich die Hilfe seines jahrzehntelangen Freundes erbittet. Die Unterredung endet damit, dass der andere an einem Schlaganfall stirbt. Der Bankrotteur zieht für sich diese Bilanz: „Die Welt ging weiter, diese Geschichte aber bewies ihre ganze Nichtigkeit. Die Geschichte, die Reveni zugestoßen war, nahm der, die ihm selber zugestoßen war, jede Bedeutung.“

„Feuriger Wein“, die letzte Erzählung hier, gehört mit Recht zu den bekanntesten Texten Svevos. Der Ich-Erzähler, ein leidender alter Herr, darf bei einer Familienfeier einmal seine strenge Diät vergessen. Doch es bekommt ihm schlecht. Überreichlicher Genuss von Wein treibt ihn in die Rebellion gegen die sonstige Bevormundung. Er streitet mit Frau, Tochter und Verwandten und erlebt hinterher eine schlimme Nacht. Ein Alptraum enthüllt ihm schließlich, wie fragil die familiären Beziehungen tatsächlich sind.

In „Feuriger Wein“ wird die Methode des alten Svevo am deutlichsten. Während er früher jüngere Männer oder solche in mittleren Jahren als lebensuntüchtig, vorzeitig greisenhaft „(Senilità“) darstellte, tragen jetzt alte Männer in sich den Kampf zwischen Eros und Tod aus, ein Krieg, in dem der Sieger von vornherein feststeht. Svevos alte Herren sind insofern gereift, als sie die „Senilità“ philosophisch auffassen, wenn auch mehr in der Theorie als in der Praxis. Aus diesem Widerspruch zwischen Erkenntnis und Handeln rührt ein Gutteil der Komik der Texte her. Ein weiteres Moment stellt die Tendenz zum Regredieren dar. Wenn Altern entmündigt, so nimmt der typische alte Mann bei Svevo sich bewusst die Vorrechte von Kindern heraus: scharf und gnadenlos zu beobachten und das Beobachtete ohne jede Rücksicht frei herauszusagen. Von seinem viel jüngeren, vitaleren Kontrahenten Giovanni weiß der Erzähler in „Feuriger Wein“: „Ich wusste, dass es ihm nur um die gute Stimmung ging und dass er mich besänftigen wollte wie ein ungezogenes Kind, das eine Zusammenkunft von Erwachsenen stört.“ Svevos alte Herren sind Störenfriede, es sind Greise als leicht infantil wirkende Philosophen. Diese Ambivalenz erzeugt mit den spezifischen Reiz von Svevos später Prosa. Aufzuheben ist der Widerspruch von Eros und Tod für einen Autor wie Svevo nicht im realen Leben, nur durch Gestaltung im literarischen Werk.

 

11. Harry Graf Kessler - Nach Weimar!

Wer sich auf den dritten Band der Cotta-Ausgabe des Tagebuchs von Harry Graf Kessler einlässt – er umfasst die Zeit von April 1897 bis Ende 1905 -, dem steht eine in weiten Teilen mühsame Lektüre bevor. Kessler entwickelt sich damals zum Spezialisten für Kunstgeschichte wie für den aktuellen Kunstmarkt. Er reist nach Italien, Griechenland und Kleinasien, besucht immer wieder Museen, Galerien und Ateliers, vor allem in Paris und London. Mit seinen Eindrücken und Gedanken dazu füllt er Hunderte von Seiten. Penibel untersucht er die Strukturen einer ungeheuren Zahl von Bildern und Plastiken - Materialien, Komposition, Farbauftrag usw. Er vergleicht die Künstler mit ihren Zeitgenossen und Vorgängern und stellt Verbindungslinien über Jahrhunderte und auch Jahrtausende her. All das war so nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Es sind private Notizen, Arbeitsmaterialien, die Kessler später bei der Abfassung von Aufsätzen und Vorträgen dienen sollten und es zum Teil auch getan haben. Eingestreut in diese kunsthistorische Wüstenei finden sich immer wieder Überlegungen zu sozialen, politischen, historischen, philosophischen  oder psychologischen Fragen. Hier kann der Leser mitdenken und zu einer eigenen Position finden. Dazwischen etwas Gesellschaftsklatsch, von amüsant bis skandalös, oder treffende Kurzporträts Prominenter.

Das wirklich Suggestive an diesem Tagebuch ist das, was sich permanent zu entziehen sucht – die Person des Grafen. Sie verschwindet wie hinter zwei zugezogenen Vorhängen. Der vordere (aus der Sicht des Betrachters) ist noch durchscheinend und lässt die Konturen der äußeren Lebensumstände des Verfassers in jenen Jahren in ihren Grundzügen erkennen: Wohnen und Arbeiten. Hier werden auf knappste Weise Fakten mitgeteilt oder lassen sich vom Leser aus dem übrigen Ablauf erschließen. Kessler, immer reisefertig wie der von ihm wenig geschätzte Kaiser, zieht um, bleibt nahe am Anhalter Bahnhof wohnen und richtet sich später auch in Weimar ein, das zum Lebensmittelpunkt wird. Oder ist es nicht vielmehr damals London? Oder doch Paris? Er macht in Berlin sein Assessorexamen und strebt Aufnahme in den diplomatischen Dienst an. Als das scheitert, etabliert er sich als Museumsdirektor in Weimar, mit über das Haus weit hinausreichenden Plänen. Von Weimar soll eine Bewegung die gesamte Nation erfassen, sie kulturell und im Alltagsleben reformieren. Kessler will dazu das große Netzwerk seiner Beziehungen einsetzen. Am Ende dieser Periode zeichnet sich bereits sein Scheitern in Thüringen ab.

Der zweite Vorhang hinter dem ersten ist sehr dicht und verbirgt den Privatmenschen Kessler fast vollständig, seine Gefühle, seine Sehnsüchte, Enttäuschungen. An nur wenigen Stellen vergisst er sich, bezieht sich auf jenen innersten Bezirk seiner Existenz, verschafft kurze Einblicke in sein persönliches Drama. Als Motto dafür könnte ein Eintrag vom 2.5.1903 dienen: „Alle Schönheit der Welt besteht in nichtgenossenem Glück.“ Nach einem Besuch von Fiesole hat er am 1.8.1899 in Florenz noch notiert: „Und auch ich habe das Glück gekannt.“ Das kann sich auch auf die zuletzt genossene Kunst und Natur beziehen, diese Eindrücke hängen jedoch, wie Kessler häufig analysiert, alle mit innerem Gefühl, im Kunstwerk ausgedrückt oder in der Natur empfunden, zusammen. Das individuelle Gefühl war auch schon in Band 2 ein Thema, dort noch unabhängig von Kunst oder Natur. Der sehr aktive Gesellschaftsmensch Kessler und sein eigenes fast immer schamhaft verborgenes inneres Gefühl, dieser Kontrast ist das Fesselndste an seinen Aufzeichnungen.  Bezeichnend ist, wenn Kessler am 30.9.1897 wegen seines Umzugs für eine Nacht ins Hotel geht und sich nun „sehnsüchtig schmerzensvoll“ daran erinnert, wie er dort früher mit seinem Offiziersfreund Dungern abgestiegen war. Jetzt ist von „alten Wunden“ die Rede. Von jenen Konflikten findet sich in den damaligen Aufzeichnungen jedoch keine Spur.

Im Frühjahr 1899 scheint er länger krank gewesen zu sein – woran litt er, welche Art von „Kur“ meint er am 5.5.1899? Wir erfahren es nicht. Zeitweise fällt in Kesslers Tagebuch eine erhöhte Reizbarkeit gegen andere auf, die vielleicht mit eigenem Triebverzicht und rigoros unterdrücktem Gefühlsausdruck zusammenhängt. Er nimmt Notiz von der gesellschaftlichen Ächtung, die dem Prinzen Aribert von Anhalt oder dem jüngeren Grafen Eulenburg aufgrund ihrer Homosexualität widerfährt, enthält sich jedoch jeden Kommentars aus persönlicher Sicht. Jahre später umkreist er in London sehr allgemein das Thema und kommt zu einer mühselig konstruierten theoretischen Rechtfertigung. Im Kessler-Tagebuch von 1901 fallen relativ lange Zeiträume auf, in denen er nichts notiert hat und wofür eine Erklärung nicht immer ersichtlich ist. Rätselhaft sein Eintrag vom 24.6.1901: „Früh aus London fort nach Ostende. Mit Bedauern. F. M.“ Sind dies Initialen eines Personennamens? Im selben Jahr findet sich noch ein Verweis auf seelisches Leid in der Vergangenheit, das seinerzeit nicht thematisiert wurde. Jetzt am 25.9.1901 liest man, als Kessler wegen einer Militärübung seine alte Potsdamer Wohnung noch einmal für kurze Zeit mietet: „Als ich die Zimmer wieder betrat, drohten alte Gefühle wieder hervorzubrechen. Jahre, Wandlungen. Alles verflogen.“

In London notiert Kessler 1903 interessiert, was er von einem Maler über die Homosexualität britischer Künstler und Schriftsteller erfährt. Zwischen seinen Zeilen kann man hier, wie schon bei früheren Berliner Skandalen, eine Spur von Häme herauszulesen. Er selbst geht während seiner London-Aufenthalte häufig zu Boxturnieren und bewundert die Körper der Kämpfer. Er ist von ihrem Anblick fasziniert und bevorzugt einzelne unter ihnen. Er vergleicht sie mit seinen Lieblingsplastiken aus klassischer griechischer Zeit. Wieder einmal fragt man sich, inwieweit Kesslers Kunstinteresse Surrogatcharakter hat.

Der rein private Kessler äußert sich auf diesen fast achthundert Seiten kein zweites Mal so offen wie am 24.5.1902 nach einem Besuch in Ascot: „Zum ersten Mal nach 20 Jahren meine alte Schule in Ascot besucht … Nicht ein Bild hat sich mir durch meinen Besuch verwischt oder verändert. Die Gemütsbewegung war aber, namentlich in den ersten Augenblicken, sehr stark. Ascot, und Potsdam im Sommer 93 und 94, sind die beiden glücklichsten Erinnerungen meines Lebens. Alles Andere, selbst Bonn und Leipzig, ist dagegen wie fremd und Nichts. Und doch habe ich gerade in Ascot und Potsdam vielleicht die heftigsten und intimsten Schmerzen durchlebt. Aber ich würde alle ungetrübten und selbst die seligsten Stunden meines Lebens darum hingeben, um noch einmal diese gemischten Schmerzen und Freuden durchzukosten. Und ich wünsche mir, dass in der Todesstunde diese Bilder mir vor Augen steigen. Durch Virginia Waters dann den alten oftgegangenen Weg nach Windsor gegangen. In Eton beim Anblick der leichtbekleideten flinken Jungen noch einmal Etwas vom selben Gefühl.“

Von Ascot über Potsdam nach Weimar … und dazwischen das Athen des 5. Jahrhunderts … und Franz von Assisi … und endlich die Neoimpressionisten: ein weiter Weg und Weimar nur längere Zwischenstation auf der Lebensreise.

12. André Gide: Der Immoralist

Gides längere Erzählung „Der Immoralist“, veröffentlicht 1902 und im deutschen Sprachraum gern als Roman vermarktet, wirkt inzwischen etwas janusköpfig. Beim Lesen schaut man in eine weit zurückliegende Vergangenheit, wird in Problematiken von damals einbezogen oder distanziert sich von ihnen – und stößt dann im Verlauf der Lektüre auf einen zeitlosen Motivstrang. Um im Bild zu bleiben: Jener Kopf, das ist der Leser von heute selbst.

Die Handlung beginnt so: Der junge Archäologe Michel ist auf Hochzeitsreise von Frankreich nach Nordafrika. Unterwegs erkrankt er an Lungentuberkulose. Bei einem längeren Aufenthalt in der Oase Biskra pflegt ihn seine Frau Marceline. Die Genesung gibt seiner Entwicklung einen außerordentlichen Schub: physisch, intellektuell, moralisch. Er befreit sich im Wüstenklima nicht nur von leiblicher Schwäche, sondern bald immer mehr auch von Skrupeln und anerzogenen Rücksichten. Michel geht nach seiner Rückkehr nach Europa daran, sich endlich selbst zu verwirklichen. Seine Welt ist die der 1890er Jahre, das Buch ein Zeugnis des Vitalismus, Nietzsche schaut oft um die Ecke. Soweit das Kulturgeschichtliche.

Michel scheint sich erst in Algerien seiner sexuellen Identität voll bewusst zu werden. Er bevorzugt sehr junge Männer oder Knaben ab einem gewissen Alter, das sich mit irgendeinem Schutzalter nicht decken muss. Diese Thematik wird – Oscar Wildes Schicksal eingedenk - auf behutsam viktorianische Weise dargestellt, zuweilen hinter allgemeinen Lebensmaximen versteckt. Tatsächlich erlebt der Held wie der Autor selbst sein Coming-out in einer französischen Kolonie mit eingeborenen Minderjährigen. Später wird sich in „Die Falschmünzer“ der Romancier Edouard in Paris analog zu Oberschülern hingezogen fühlen. Kaum vorstellbar, dass einer wie Gide zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch den Nobelpreis bekäme. Allerdings sind wir heute nicht einfach eineinviertel Jahrhunderte weiter als Gide damals. Der Fortschritt hat manchmal extreme Kurven, aus denen man herausfliegen kann: wie die Indianerkommune ab den 1970er Jahren und die von ihr Beeinflussten in Politik und Jugendfürsorge zeigen.

Zentrales Strukturelement des Textes ist das Reisen. Die wechselnden Orte und ihre Klimate sind die Treiber der Handlung. Je nördlicher und je urbaner die Schauplätze, desto leerer die Existenz dort. Michels Krise auf seinem Weg nach Süden war produktiv, seine Rückreise in den Norden beweist es. Die ländliche Normandie, zuerst vielversprechend, kann dennoch kein zweites Algerien sein. Paris ist der Tiefpunkt überhaupt. Marceline hat eine Fehlgeburt und erkrankt ihrerseits an Tbc.

Das Paar wiederholt auf einer zweiten Reise in den Süden die erste mit vertauschten Rollen. Marcelines Vitalität schwindet immer mehr, dann stirbt sie im Innern von Algerien. Wie Michel die junge Frau davor pflegt, wie er sie und sich selbst damit quält, das ist das eigentlich Zeitlose, durchaus noch immer Packende an Gides Erzählung. Sie spiegelt hier den Kontrast von Aufblühen und Absterben, von Engagement und Enttäuschung, von Selbstverpflichtung und schlechtem Gewissen. Wann immer ein Paar sich bezüglich der Vitalität diametral auseinanderentwickelt, es wird sein eigenes Drama hier mitdargestellt finden. Wenn die eine Hälfte stirbt, gerät auch die andere in eine Krise. Die Schwere der Krise zeigt, dass Michel und Marceline tatsächlich ein Paar waren.

Nach dem Tod seiner Frau lässt er verzweifelt seine engsten Freunde nach Algerien kommen. Sie sollen ihm einen Weg weisen, auf dem es für ihn noch Zukunft geben kann – das ist die Rahmenhandlung. Zuvor legt er vor ihnen eine Art Beichte ab. Gides Konstruktion des Textes entspricht der Ambivalenz des Geschehens. Die Handlung verarbeitet dabei halbautobiographisch eigene Reisen nach Algerien und die problematische Ehe mit seiner Kusine Madeleine Rondeaux.

Lassen wir abschließend Gide selbst mit einem Zitat aus „Stirb und werde“ von 1920 zu Wort kommen (Übersetzung: Ferdinand Hardekopf): „Es ist dieses Tal, und es ist unser Anwesen La Roque, das ich in meiner Erzählung „Der Immoralist“ geschildert habe. Die Landschaft hat mir nicht nur den Rahmen geliefert, sondern in dem ganzen Buch habe ich inbrünstig ihre Seele zu erfassen gesucht.“ Diese Seele war zugleich puritanisch und bukolisch. Hier in der Normandie begannen Gides Weg nach Algerien wie auch schon sein Rückweg nach Frankreich und ins Herz der Literatur.

 

13. Robert Walser: Jakob von Gunten

Robert Walser (1878 – 1956) schrieb insgesamt sieben Romane. Die Manuskripte von drei von ihnen vernichtete er selbst, ein weiteres Werk wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tod aus dem Nachlass veröffentlicht („Der Räuber“). Es bleiben drei kurze oder allenfalls mittellange abgeschlossene Romane, deren Niederschrift und Veröffentlichung in seine Berliner Zeit (1905 – 1913) fielen. Nach „Geschwister Tanner“ (1907) und „Der Gehülfe“ (1908) ist „Jakob von Gunten“ (1909) der Endpunkt der Reihe. Aus einer fünfunddreißig Jahre währenden Zeit des Publizierens resultieren somit drei Romane, die relativ früh in nur drei aufeinanderfolgenden Jahren herauskamen. Sie erscheinen so bereits als etwas in Leben und Werk Herausgehobenes und Zusammenhängendes.

Walser kam 1905 nach Berlin und trat in eine Dienerschule ein. Noch im selben Jahr arbeitete er einige Monate als Kammerdiener auf einem oberschlesischen Schloss. Bald darauf ließ er sich ständig in Berlin nieder. Er wohnte zeitweise bei seinem ein Jahr älteren Bruder Karl, der als Maler, Bühnenbildner und Illustrator zunehmend Erfolg hatte. Karl Walser vermittelte seinem Bruder Kontakte zu Künstlern und Verlegern. Robert Walser konnte kurze feuilletonistische Texte in Zeitungen und Zeitschriften unterbringen. In den Romanen „Geschwister Tanner“ und „Der Gehülfe“ verarbeitete er autobiographisches Material aus der Schweiz auf eigenwillige, im Ganzen noch realistische Weise. Damit erreichte er keine hohen Auflagen, machte sich jedoch bei Kennern einen Namen. Der dritte Roman „Jakob von Gunten“  machte es diesen schwerer. Er war angesiedelt in einem seltsamen Institut Benjamenta, für das jene Dienerschule das Modell war, und unterschied sich in Aufbau und Stil stark von den vorangegangenen Werken, war formal freier, inhaltlich phantastischer und tiefgründiger.

Unter vielen Aspekten erscheint „Jakob von Gunten“ doppel- oder mehrdeutig. Die Erzählung ist als Tagebuch konzipiert, enthält jedoch keinerlei Zeitangaben zur jeweiligen Niederschrift. Ihr Verfasser notiert vielmehr in loser Folge und lange ohne deutlich erkennbare Ordnung Ereignisse, Beobachtungen, Gedanken, Tag- und Nachtträume. Ernst und Ironie gehen leicht ineinander über, können oft miteinander verwechselt werden. Mit Vorliebe werden uns Pseudoidyllen vor Augen geführt, die wir beinahe für echte halten könnten – oder sind sie es sogar? Gefühlsambivalenzen werden ausführlich dargelegt. So sind Struktur und Gehalt insgesamt schwer analysierbar. Der Text schwankt stilistisch zwischen gehobener Literatursprache und Alltagsjargon. Bei eingestreuten Plattitüden kann sich der naive Leser fragen: Absicht oder vorübergehende Ermattung des Autors? Wenn die Figuren reden, tun sie es meist im gleichen verspielt-langatmigen Suada-Stil, theatralisch monologisierend. Die eigentliche Erzählung nimmt nur allmählich Fahrt auf und rundet sich noch zu einem Plot: Weggang aller übrigen Schüler, Tod der verehrten Lehrerin, von Guntens Aufbruch mit Benjamenta, dem Schulleiter, in ein neues gemeinsames Leben, in ein großes Ungefähr, das Wüste genannt wird. 

Das so schwierige wie reizvolle Werk hat viel Sekundärliteratur entstehen lassen. Sie hat mit unterschiedlichen Ansätzen zu verschiedenartigen Interpretationen geführt, die sich zum Teil widersprechen. Versuchen wir es noch einmal, bleiben wir so nah wie möglich am Text, konzentrieren wir uns auf seine Schwerpunkte, behalten wir die Gestalten im Auge, fragen wir uns, wie von Guntens Verhältnis zu ihnen jeweils beschaffen ist. Und: Gibt es für sie Vorläufer in den zwei vorangegangenen Romanen, erkennen wir eine Entwicklung? Entsprechen Personen im Leben des Autors ihnen, wie war Walsers Verhältnis zu ihnen beschaffen?

Unterwerfung ist ein großes Thema. Von Gunten wird schon bei der Aufnahme ins Institut brutal behandelt, gedemütigt, nimmt es hin, verarbeitet es. Anlässe für Unterwerfungsgesten bieten sich ihm wiederholt während seines Aufenthaltes. Er vollzieht sie halb schmerzlich, halb lustvoll. Es erinnert an Sadomasochismus, wenn er notiert:

„Was nicht sein darf, was in mich hinab muß, ist mir lieb. Es wird dadurch peinlicher, aber zugleich wertvoller, dieses Unterdrückte. Ja ja, ich gestehe, ich bin gern unterdrückt … Ich muß demnach unbedingt annehmen und es als feste Überzeugung aufbewahren, daß Vorschriften das Dasein versilbern, vielleicht sogar vergolden, mit einem Wort reizvoll machen … Nicht weinen dürfen zum Beispiel, nun, das vergrößert das Weinen. Liebe entbehren, ja, das heißt lieben. Wenn ich nicht lieben soll, liebe ich zehnfach. Alles Verbotene lebt auf hundertfache Art und Weise, also lebt nur lebendiger, was tot sein sollte … Wie entzückend, wie entzückend sind verbotene Früchte.“

Schöne verbotene Früchte wachsen auf dem Feld von Erotik und Sexualität, gerade weil sie nie geerntet, nur imaginiert werden können. So gerät von Gunten die Lehrerin am Institut, Fräulein Benjamenta, Schwester des Betreibers, zum traditionellen Klischee einer tief verehrten Madonnenfigur. Mehrere andere Stellen bezeugen, wie von Gunten durch Kameraden angezogen wird. Über den noch kindlichen Heinrich: „Man ist diesem jungen Menschen gegenüber unwillkürlich zärtlich gesinnt, ohne dabei etwas zu denken.“ Oder über den mädchenhaft wirkenden Schacht: „… dann versinkt er plötzlich in schmachtende Melancholie, die ihm unglaublich gut zu Gesicht und Körperhaltung steht … Wir, ich und er, liegen oft zusammen in meiner Schlafkammer, auf dem Bett, in den Kleidern, ohne die Schuhe auszuziehen, und rauchen Zigaretten … Einmal wagte ich, seine Hand leise zu mir zu nehmen, doch er entzog sie mir wieder und sagte: ‚Was machst du für Dummheiten?’“ Von Gunten fragt sich: „Ist das Bruderliebe? Ja, kann sein.“ Der Mitschüler Schilinski „ … hat ein sehr hübsches Gesicht und Lockenhaar …“ Und bei Hans, der auch „nicht unhübsch“ ist, stellt der Tagebuchschreiber fest: „ … ich muß bald lachen über mich selber: ich finde an allem und in allem irgend etwas Geringfügig-Hübsches.“ Es geht hier nicht um die Kategorien Hetero-, Bi- und Homosexualität, dafür ist alles viel zu ätherisch. Und wenn doch einmal um Letztere, ist die Abwehr sehr entschieden, wie Tremala erfahren muss: „Er stellte sich leise hinter mich und griff mir mit der abscheulichen Hand (Hände, die das tun, sind roh und abscheulich) nach dem intimen Glied, in der Absicht, mir eine widerliche, an den Kitzel eines Tieres grenzende Wohltat zu erweisen. Ich drehe mich jäh um und schlage den Verruchten zu Boden.“ Später konstatiert er einmal allgemein: „Mir zum Beispiel ist eigentlich die Freundlichkeit der Behandlung unsympathisch.“ Erträglich scheint sie dagegen, wenn ihn so Behandelnde es nur auf sein Geld abgesehen haben, wie in der köstlich zu lesenden Episode mit einer Prostituierten: „Und da tat ich ihr das, was man an solchen Orten guten Tag sagen nennt …“

Vertrackter ist die Beziehung zum Schulleiter, vielleicht aufgrund innerer Verwandtschaft? Benjamenta spricht aus, was von Gunten zuvor schon ähnlich für sich notiert hat: „Du glaubst ja gar nicht, welch eine Seligkeit, welch eine Größe im Sehnen, also Warten, liegt.“ Allerdings neigt Benjamenta auch zu gewalttätigen Übergriffen, er will ihn einmal sogar erwürgen. Von Gunten stellt früh fest: „Seltsam, wieviel Lust es mir bereitet, Gewaltausübende zu Zornesausbrüchen zu reizen. Sehne ich mich eigentlich danach, von diesem Herrn Benjamenta gezüchtigt zu werden? Leben in mir frivole Instinkte? Alles, alles, selbst das Niederträchtigste und Unwürdigste, ist möglich.“ Wie auch immer, diesen Benjamenta hat „eine seltsame, eine ganz eigentümliche, jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe“ für ihn erfasst. Ihr Erotisches wird auch von beiden begriffen. Benjamenta: „… ich muß mich halten, daß ich dich nicht küsse, du prachtvoller Bursche.“ Darauf sein Schüler: „Mich küssen? Sind Sie verrückt geworden, Herr Vorsteher? Ich will nicht hoffen.“ Die Szene wird abrupt durch die Nachricht von einem eben eingetretenen Unglücksfall beendet und der folgende Absatz beginnt so: „Am Boden lag das entseelte Fräulein.“ Dieser verdächtigen Kongruenz entspricht dann der Ablauf des letzten Traumes von Guntens: „Ein wunderbar schönes Mädchen lag auf der Matte … Das Mädchen war schwellend und glänzend nackt.“ Ihre Erscheinung wird alsbald von der des Vorstehers verdrängt und von Gunten entschließt sich im Traum, Benjamentas Angebot anzunehmen. Er wird nach dem Erwachen mit ihm zusammen ins Fremde aufbrechen.

Auf dem Feld der sozialen Beziehungen entspricht den verbotenen erotischen Früchten der Begriff der Kleinheit. Er ist schlechthin zentral für den gesamten Text und Walser führt ihn gleich zu Beginn ein: „… wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.“ Oder bald darauf, nun beinahe heiter: „Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“ Zu diesem Komplex finden sich sehr zahlreiche Stellen im Werk, auch sie wurden oft analysiert und nicht immer auf gleiche Weise interpretiert. Die Crux ist wieder einmal, wie so oft bei Walser, die Ambivalenz der Tendenz. Die Darstellung von Erziehung und erreichbaren Lebenszielen in der Gesellschaft durch Jakob von Gunten ist zunächst gesellschaftskritisch und schlägt dann um in eine positive persönliche Utopie, gibt aber dennoch die ironische Haltung nicht ganz auf. Weiteres Beispiel: „Man gibt uns deutlich zu verstehen, daß allein schon der Zwang und die Entbehrungen bilden, und daß in einer ganz einfachen, gleichsam dummen Übung mehr Segen und mehr wahrhaftige Kenntnisse enthalten sind, als im Erlernen von vielerlei Begriffen und Bedeutungen.“ Das klingt recht neutral im Vergleich zur Ironie, mit der ein Satz aus dem Lehrbuch später ausgewalzt wird: „Das gute Betragen ist ein blühender Garten … brauchen wir Zöglinge des Instituts Benjamenta noch sonstige Gärten, als die, die wir uns selbst schaffen? … Das ist der friedliche Bescheidenheitsquell, der in unserem Garten auf und nieder plätschert …“ Dagegen dann wieder recht ernsthaft: „Man lernt hier im Institut Benjamenta Verluste empfinden und ertragen, und das ist meiner Meinung nach ein Können, eine Übung, ohne die der Mensch, mag er noch so bedeutend sein, stets ein großes Kind, eine Art weinerlicher Schreihals bleiben wird.“

Der Kontrast von Ironie und Ernst erscheint schärfer als in den zwei Vorgängerromanen. Die Zuspitzung wird auch deutlich, betrachtet man die Hauptgestalten und ihre Entsprechungen in den früheren Werken. Fräulein Benjamenta trägt den Vornamen von Walsers Schwester: Lisa. Nach dem Bild der Schwester ist in „Geschwister Tanner“ die Figur Hedwig gestaltet, auch eine Lehrerin. Sie stirbt im Unterschied zu Lisa nicht real, nur in einem Traum Simon Tanners. Als Verbindungsglied in der Reihe verehrungswürdiger Frauen kann Frau Tobler in „Der Gehülfe“ angesehen werden. Ihr Unglück ist die Ehe mit einem bankrottierenden Erfinder. Dieser wiederum nimmt die Rolle ein, die im dritten Roman Herr Benjamenta ausfüllt, doch Tobler bestimmt nicht Martis Zukunft, wie es Benjamenta bei von Gunten tut. Noch weniger Einfluss als Tobler, obwohl ebenfalls Autoritätsperson, übt Simons Bruder Klaus im Erstling aus. Für den Musterzögling Kraus einen Vorläufer zu finden, fällt schwer, es sei denn, man sieht in ihm eine positive Widerspiegelung des alkoholkranken Angestellten Wirsich in „Der Gehülfe“. Kraus funktioniert so tadellos, wie Wirsich vollkommen versagt hat.

Von Gunten hat einen Bruder, der auch in Berlin lebt und arbeitet, wie bei den Walser-Brüdern. Für Johann von Gunten findet sich eine Vorgängerfigur nur in „Geschwister Tanner“, der Bruder Kaspar. Im Verhältnis von Simon zu Kaspar ist die sich real zwischen den Walser-Brüdern über viele Jahre allmählich entwickelnde Entfremdung zwar schon angelegt, doch noch wenig ausgeprägt. Jakob und Johann von Gunten trennen schon Welten, obwohl Jakob ihn noch immer mit Sympathie betrachtet und nur diskret ironisiert. Johann ist arrivierter Künstler wie Karl Walser und Jakob fühlt sich als Fremdkörper in dessen sozialer Umgebung. Johann teilt Jakobs Kritik an der Berliner Hautevolee bis zu einem gewissen Grad, aber er passt sich des persönlichen Erfolgs wegen an. Es mag sein, dass Robert Walsers Motivation für diesen dritten Roman wesentlich davon bestimmt war, sich von jener gesellschaftlich dominierenden Schicht, in der sein Bruder nun zu Hause war, abzugrenzen, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Dies ist ihm gelungen, er wurde ein Einsiedlerliterat und erst posthum in seiner großen Bedeutung wirklich anerkannt. Bei den Werken seines Bruders nimmt man heute dagegen viel Talent und wenig Originalität wahr. Sie berühren uns kaum noch.

Beim Blick auf Karl Walser wird deutlich, worin die Bedeutung Berlins und jener Berliner Jahre für Robert Walser bestanden haben mag: Berlin war Katalysator für schon in der Schweiz in ihm Angelegtes. Hier hat es sich verschärft, zugespitzt, fand zu der den Schriftsteller dann lebenslang ausfüllenden Art und Weise eigener Artikulation und Produktion. Schließen wir die Betrachtung mit Jakobs Worten über jene Welt, die nicht seine war:

„Eigentlich gleichen sich die Leute, die sich bemühen, Erfolg in der Welt zu haben, furchtbar. Es haben alle dieselben Gesichter … Alle sind einander ähnlich in einer gewissen, rasch dahinsausenden Liebenswürdigkeit, und ich glaube, das ist das Bangen, das diese Leute empfinden. Sie behandeln Menschen und Gegenstände rasch herunter, nur damit sie gleich wieder das Neue, das ebenfalls Aufmerksamkeit zu erfordern scheint, erledigen können. Sie verachten niemanden, diese guten Leute, und doch, vielleicht verachten sie alles, aber das dürfen sie nicht zeigen … Und dann, glaube ich, fühlen diese Menschen, da sie doch einmal Gesellschafts- und durchaus keine Naturmenschen mehr sind, stets den Nachfolger hinter sich …“ Es geht so ähnlich noch eine Weile weiter und endet so: „Ein paar Menschen vollkommen kennen zu lernen, dazu bedürfte es eines Menschenlebens. Das sind nun wieder Benjamentasche Grundsätze, und wie unähnlich sind Benjamentas dem, was Welt bedeutet. Ich will schlafen gehen.“ Robert Walser kehrte vier Jahre nach Erscheinen des Romans desillusioniert nach Biel zurück.

 

14. Ketzerisches über Proust

Auch Proust war auf seine Weise gläubig, auf eine für das späte neunzehnte Jahrhundert typische Weise. Immer wieder trifft man in „À la recherche du temps perdu“ auf einen nie in Frage gestellten speziellen Fortschrittsglauben -  zweifellos glaubte Proust an den Fortschritt in der Kunst, in der Literatur. Wo er ihn als Prozess beschreibt, etwa für die Malerei, scheint man die Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten analog der von den Naturwissenschaften enthüllten zu finden. Sein Elstir war eine Art Einstein oder Röntgen der Malerei. Der große Schriftsteller, als der er sich selbst gewiss sah, sollte daher ebenso grundlegende wie nachprüfbare, dabei vollkommen neuartige Methoden der Beschreibung und Durchdringung der Wirklichkeit vorweisen können.

Prousts eigenes Genie erwies sich dann an der Entdeckung und Vertiefung des Phänomens der unwillkürlichen Erinnerung. Um jedoch zur literarischen Ersatzreligion zu werden, musste es erst noch mit den Begriffen Wahrheit, Freude und Glück angereichert werden. Die kleine Madeleine wurde so gewissermaßen zum neuen Leib des Herrn. Das Quasi-Religiöse des Rituals, sich an das christliche Sakrament Anlehnende, ist offenkundig, ja schon penetrant. Was aber das Glück betraf, so lag es allein im Innern des Individuums. Die Außenwelt wurde zum Spielmaterial des experimentierenden Ichs degradiert und auf diese Weise radikal entwertet. Als Rechtfertigung dieses subjektivistischen Verfahrens diente stets das Versprechen, allgemeingültige Gesetze auffinden zu können. Geliefert wurden dann Erkenntnisse wie zum Beispiel jenes, alle Invertierte männlichen Geschlechts seien in Wahrheit missglückte Frauen – und das war nicht einmal Frucht eigener Beobachtung, sondern nur die bloße Übernahme des jüngsten Irrtums der Medizin.   

Wehe wenn sich die individuelle Realität dem entdeckten allgemeingültigen Gesetz nicht fügen wollte: Dann hatte das reale Individuelle zu verschwinden - es war ohnehin wertlos. Das war eine Tyrannei der Negation. Neu war an der Methode Proust nicht die alte idealistische Philosophie, sondern ihre Verknüpfung mit der Welt der Labore. Die unbewusste Erinnerung verschwisterte sich den neuesten Erfindungen, dem Telefon, dem Automobil und dem Flugzeug, die alle nicht grundlos ihre bedeutende Rolle in seinem Roman spielen. Proust war – überspitzt formuliert – ein elektrifizierter Saint-Simon, voyeuristisch wie dieser und zugleich technologisch auf der Höhe seiner eigenen Zeit. Originell war bei ihm allerdings die Verbindung von natürlicher Güte als Idee des achtzehnten Jahrhunderts mit vielfach durchscheinender Misanthropie des frühen zwanzigsten. 

Prousts Werk steht mit diesen Zügen nicht isoliert da. In der Politik oder in der Psychoanalyse zum Beispiel lassen sich in dieser Zeit ähnliche Tendenzen erkennen. So finden wir zeitlich parallel zur Abfassung des großen Romans schon die ersten Keime des Totalitarismus. Freud münzte bald ebenso rigide jede Kritik an seiner Theorie in einen Beweis von deren Richtigkeit um. Prousts Erfolg - das war auch der Erfolg eines Werks, das den Zweifel nicht kennt, in einer Welt, die den Zweifel nicht erträgt.

Wozu überhaupt Literatur, wenn sie nicht, wie von Proust postuliert, als Werkzeug, als optisches Gerät dienen soll, damit der Leser sein eigenes Leben besser verstehe? Die Gegenposition: Literatur ist von keinerlei erkennbarem allgemeinem Nutzen. Sie dient zu nichts, sie dient überhaupt nicht. Sie ist eine mit dem Leben seit langem untrennbar verbundene Erscheinung, nichts weiter. Das Leben selbst scheint insgesamt ein Bedürfnis zu haben, sich in einem anderen Medium widerzuspiegeln, und jenes Medium ist die Kunst. Die Literatur als eine Gattung der Kunst ist eine Art magischer Spiegel. Dem Autor kommt dabei eine Doppelrolle zu: Einmal ist er Werkzeug, ja selbst beinahe nur Medium, doch zum anderen ist er auch Subjekt, Individuum, und als solches fähig zum Dialog und zur Kritik, gerade auch offen für Widersprüche, für das Hässliche, das Abstoßende und für die Utopie. All das kann über die plane Realität hinaus widergespiegelt werden. Es ist möglich, dass auf der Grundlage eines solchen Kunstverständnisses Werke entstehen, die bei einiger Böswilligkeit als Promenadenmischungen bezeichnet werden können. Skepsis ist ihr Maßstab wie ihr Ideal. Kunst ist nie vollkommen, Kunst als Quasi-Religion eine Afterreligion. Und Proust muss nicht als Standbild angebetet werden, sondern verstanden als zwar großer, doch zeitbedingter Autor.

 

15. Robert Walser und der Weltkrieg

Robert Walser war nach eigenem Verständnis wie dem eines Großteils seiner Mitwelt in Berlin gescheitert. Dass es sich als produktives Scheitern erweisen sollte und die dort kurz hintereinander veröffentlichten drei Romane ihm dauernden Nachruhm sichern würden, hätte damals kaum einer prophezeien wollen. Walser kehrte 1913 nach einem knappen Jahrzehnt in Deutschland in die Schweiz zurück und richtete sich dort auf Dauer ein. Es war der bislang tiefste Einschnitt in seinem Leben. Nach einer ersten Phase, in der er sich langsam vom Berliner Desaster erholte, schrieb und veröffentlichte er wieder Kurzprosatexte in Zeitungen und Zeitschriften und lebte kärglich davon. Eine Reihe seiner besten neueren Texte gab er in vier Sammelbänden heraus: „Prosastücke“, „Kleine Prosa“, „Poetenleben“ (alle 1917) und „Seeland“ (1920). (Das Buch „Kleine Dichtungen“ von 1915 enthielt überwiegend noch in Deutschland entstandene Texte.)

Walser knüpft nun thematisch an seine frühere Prosa an und entwickelt seinen Stil auf entschiedene Weise weiter. Neben gelegentlichen Rückblicken auf die Berliner Zeit stilisiert er sich vor allem als schreibenden Spaziergänger. Die Natur, das Dorf, die Kleinstadt sind die Kulissen für Idyllen, die er abwechselnd feiert oder ironisiert. Häufig tritt er selbst in den Vordergrund und untersucht und kritisiert seine Rolle als Autor. Es fehlt nicht an moralisch-ethischen Betrachtungen oder sonstigen Abschweifungen, an bewusstem Banalisieren, an scheinbar klammheimlicher Freude über Abgleiten in einen niederen Stil. Der Satzbau ist oft kompliziert, Adjektive werden verschwenderisch eingestreut, Füllwörter ebenso. Dialoge mit weitschweifiger Rede erweisen sich, indem alle Sprecher gleich klingen, als Monologe des Erzählers. Die Details aus der Außenwelt sind vor allem eins: Spielmaterial, mit dem einer seine Innenwelt gestaltet, seine persönliche Problematik ausdrückt. In „Hans“, der stark stilisierten autobiographischen Skizze, mit der „Seeland“ schließt, findet sich dafür ein so charakteristisches wie extremes Beispiel:

„An das heitere Rebengelände am See mit seinen behaglichen Rebdörfern, den mächtigen Felsblöcken, zierlicher, schlanker Kirche, anmutigen Stützmäuerchen in den Reben, den schroffen, stotzigen, engen Gassen, die durch eben dieselben führten, an die braven Männer und Frauen, die er fleißig und unverdrossen schaffen, schanzen, arbeiten sah, wobei er sich über den eigenen Müßiggang doch etwa hoffentlich nicht nur wunderte, sondern gehörig schämte, was ihn Gott sei Dank mit etwelcher ernster Besorgnis wird haben erfüllen müssen, an das nachherige, allfällige drinnen im Gasthaus beim leise schäumenden, perlenden Weißwein Sitzen, der seiner maßgeblichen oder belanglosen Meinung nach vorzüglich mundete, an die ehrwürdige, alte Dame am Gaststubenfenster, an die dunkelgetäfelte, freundliche Stube selber mit mehreren Darstellungen aus der in einer reizenden Novelle von Puschkin erwähnten weltbekannten Geschichte vom verlorenen Sohn, nebst andern anziehenden Abbildungen an den Wänden: hieran wie an die Laube oder Terrasse an der Seeseite, wo es sich abends prächtig saß, dachte er (man weiß ja wer) ebensogerne wie an verschiedene sonstige, heitere, angenehme Dinge.“

All das Herbeizitieren und Beschwören von so viel Erfreulichem bietet keine Gewähr für eine dauernde, ruhige Ordnung des eigenen Innern. Tief melancholisch endet nach ähnlichem Bemühen „Der Spaziergang“, längster Text aus jener Periode, eher eine Erzählung als Kurzprosa (auch in „Seeland“). Der Protagonist hat in freier Natur Blumen gepflückt, dann regnet es und:

„Alte, längst vergangene Verfehlungen fielen mir ein, Treubruch, Trotz, Falschheit, Hinterlist, Haß und vielerlei unschöne, heftige Auftritte, wilde Wünsche, ungezügelte Leidenschaft. Deutlich stieg mir auf, wie ich manchen Leuten weh getan und Unrecht zugefügt hatte. Im ringsum flüsternden feinen Geräusche steigerte sich meine Nachdenklichkeit bis zur Trauer.“ Er erinnert sich an eine verpasste Gelegenheit, eine Bindung einzugehen, und fragt sich: „Habe ich Blumen gepflückt, um sie auf mein Unglück zu legen?“ Der Strauß fällt ihm aus der Hand, er geht nach Hause – „denn es war schon spät und alles war dunkel.“

Dieses Elend aus dem Leben eines Jugendstil-Taugenichts steht vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Schlachten des Ersten Weltkriegs mit Millionen Toten. Zwar blieb die Schweiz eine kleine Insel des Friedens, doch alle Nachbarländer waren Frontstaaten. Walser musste selbst wiederholt als Grenzschützer Militärdienst leisten. Gewiss hat auch er den Verlauf des Krieges verfolgt, der so erstaunlich wenig Spuren in seinem Werk hinterlassen hat. „Hans“ endet damit, dass der Protagonist sich bei Kriegsausbruch bei den Behörden meldet, um an der Grenze Dienst zu tun. („Der Gehülfe“ hatte noch eine Arreststrafe wegen versäumter Militärübung absitzen müssen.) Das klingt nun ein wenig wie Kriegsbegeisterung anno 1914 und fügt sich ein in eine entstehende literarische Traditionslinie: Der Held, sich selbst problematisch geworden, findet seine Erlösung an der Front. Hesse folgt später mit „Demian“ diesem Muster und Thomas Mann in „Der Zauberberg“ am Ende auch. Aber Walser, der isolierteste Individualist? Vielleicht war es nur Ausdruck einer Stimmung sowie Konzession an das allgemeine patriotische Gefühl.

Walsers tiefere Einstellung zeigt sich darin, wie der laufende Krieg in „Der Spaziergang“ behandelt wird. In der Mitte der Abhandlung parallelisiert er ironisch das Militärische mit dem Schreiben: „Darf ich gestehen, ich sei in letzter Zeit zur Überzeugung gekommen, daß Kriegskunst ebenso schwierig und geduldheischend sein mag wie Dichtkunst, und umgekehrt?“ Er bezieht sich ausdrücklich auf den gegenwärtigen Krieg und die Meldungen aus ihm: „Derlei liest ein fleißiger Mensch gegenwärtig nämlich in Tageblättern täglich.“ Einige Seiten vor dem Ende beschreibt unser Spaziergänger unter vielen anderen Erscheinungen „Jungens mit hölzernen Waffen bewaffnet, die den europäischen Krieg nachahmen, indem sie sämtliche Kriegsfurien entfesseln …“. Noch aussagekräftiger ist ein Abschnitt zwischen diesen beiden Stellen. Walsers Alter Ego muss jetzt mit anderen an einem Bahnübergang warten, bis ein Zug durchgefahren ist. Er sieht: „Der vorbeisausende Eisenbahnzug war voll Militär. Alle aus den Fenstern schauenden, liebem, teurem Vaterlande Dienste erweisenden Soldaten einerseits und das unnütze Zivilpublikum andererseits grüßten einander gegenseitig fröhlich und pathetisch, eine Bewegung, die rundherum liebliche Stimmung verbreitete.“ Mehr an fein-ironischer Distanzierung von Begeisterung als an diesen drei Stellen ist kaum vorstellbar. Eines der diskreten Mittel ist die scheinbar kunstlose Doppelung von „mit Waffen … bewaffnet“ und „in Tageblättern täglich“. Damit drückt der Stilist Walser sein „Papperlapp“ aus.

Robert Walser befand sich in jenen Kriegsjahren auf dem Gipfel seiner Kurzprosakunst. Die folgende Berner Zeit war, obwohl immer noch sehr produktiv, bereits überschattet von Gemütsverdüsterung und den Einflüssen früher Symptome psychischer Störung. Jetzt in Biel schreibt er mit „Der Spaziergang“ einen seiner besten Texte überhaupt. Und in ihm ragt noch einmal hervor das Essen mit Frau Aebi. Drei herrliche, humoristische Seiten lang nötigt seine Gastgeberin den Spaziergänger, obwohl er längst gesättigt ist, zu immer weiterem Zulangen. Man kann darin, wenn man will, ein frühes Beispiel der Darstellung von „Feeding“ in der Literatur sehen. Auf jeden Fall spiegeln sich in dem Über-/Unterordnungsverhältnis, den scheinbaren Drohungen mit körperlichem Zwang und dem Hinweis auf den unvermeidlichen physischen Untergang bereits die bei Walser gelegentlich durchscheinenden masochistischen Züge. In der Berner Zeit sollten sie dann häufiger literarisch produktiv werden, nur weniger kunstvoll. Doch bedenklich war auch das schon: Die Bevölkerung der kriegführenden Mittelmächte leidet unter Hungerkrisen und ein Schweizer Autor verfasst eine Übersättigungsphantasie.

16. Altchinesische Novellen

Der Sinologe Franz Kuhn brachte 1951 erstmals die Novellensammlung „Der Turm der fegenden Wolken“ heraus. Die Titelgeschichte ist eine von elf von ihm ins Deutsche übertragenen Erzählungen, entnommen aus drei Originalsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Acht Novellen, darunter auch die titelgebende, waren Bestandteil des „Schi örl loh“, zu Deutsch „Zwölf Türme“. Ihr Verfasser Li Yu (oder Li Yü), Zeitgenosse von Grimmelshausen, lebte von 1610 – 1680. Sein Leben und Wirken als Schriftsteller, Leiter einer Theatertruppe und Vielreisender in China, ist gut dokumentiert. Er schrieb außer Novellen u.a. den erotischen Roman „Jou pu tuan“ (deutsch: „Andachtsmatten aus Fleisch“) und viele Theaterstücke.

Die acht Novellen von Li Yu in der Anthologie weisen eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen auf. Ihre Handlung ist jeweils in, aus Sicht des Autors gesehen, historischer Zeit angesiedelt, von der Sung-Dynastie über die Mongolenzeit bis zur Ming-Dynastie. Nur „Der Turm des Ahnendienstes“ spielt während der Lebenszeit des Autors vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Ming-Herrschaft und des Übergangs zur Tsing-Dynastie. In allen wird der allgemeine soziale Hintergrund - Familien- und Besitzverhältnisse, Ämterlaufbahnen, oft auch politische Krisen – mitausgeleuchtet. Hauptthema sind jedoch Paarungen und ihre Hindernisse. Es ist viel von Heiratsvermittlern und von familiärem Zwist zu lesen. Polygamie fehlt nicht. Magie wird als Hokuspokus dargestellt. Kriminalität kommt vor, Diebstähle vor allem, ebenso eine noch seltene technische Neuerung: aus Europa eingeführte Ferngläser. Alle acht Geschichten haben einen positiven Ausgang.

Von Li Yus Novellen unterscheiden sich die drei weiteren beträchtlich. Die beiden Texte aus der älteren Sammlung „Kin ku ki kwan“ kennen noch wahre Zauberkräfte und enden beide tragisch. Hier vermittelt „Der törichte Buhle“ außerdem einen guten Einblick ins damalige Bordellwesen. Die Novelle mit dem längsten Titel spielt auch in der ältesten Zeit: „Meister Tschuang Tse, den irdenen Kübel als Trommel benutzend, übt hohe Magie“. Seelenwanderung ist ein Hauptmotiv in „Die Kampfgrille“ aus der Sammlung „Liao Tschai“.

Der Leser sollte sich von vornherein über eines im Klaren sein: Es handelt sich hier um keine Übersetzungen in enger Tuchfühlung mit dem Original, sondern um Nachdichtungen. Wegen seiner Freiheiten dabei ist Franz Kuhn, der ursprünglich nur Jurist war, von anderen Philologen manchmal kritisiert worden. Kuhn konnte allerdings das alte China, vor dem Untergang des Kaisertums, noch mit eigenen Augen erleben. Er war von 1909 - 1912 als Diplomat in China tätig (u.a. Vizekonsul in Harbin). Seine Übertragungen altchinesischer Literatur überbrücken für den Laien, den Nichtphilologen unter seinen Lesern sehr gut die immense zeitliche und kulturelle Kluft und vermitteln ihm ein farbiges und detailreiches Bild jener fernen Welt. Und so fern und verschieden von Gegenwärtigem sie uns vorkommen mag – die alte Literatur ist gerade im heutigen China wieder präsent. Sie wird viel gelesen und diskutiert und bezeugt damit die fortdauernde Kontinuität der ältesten noch bestehenden Hochkultur der Menschheitsgeschichte.

 

17. Li Yü: Jou Pu Tuan - Altchinesischer Erotikroman

Der umfangreiche Roman „Jou Pu Tuan“ erschien erstmals 1634 und zeigt das hohe Niveau von Literatur und Zivilisation im alten China. Er ist ein frühes Werk von Li Yü (1610 – 1680), einem produktiven, erfolgreichen Erzähler und Dramatiker, der mit seiner Schauspieltruppe jahrelang große Teile des Landes bereiste. Der Titel lautet übersetzt „Andachtsmatten aus Fleisch“, womit die Thematik auf kürzeste Weise angedeutet wird. Tatsächlich ist es ein explizit erotisches Werk mit stark moralischer Tendenz. Held der Geschichte ist ein attraktiver junger Mann, gebildet, wohlhabend, noch ohne Familie, stark an Frauen interessiert. Er nennt sich „Vormitternachts-Scholar“ und stattet anfangs einem buddhistischen Einsiedlermönch einen Besuch ab, wobei es zu einem Streitgespräch kommt. Der Eremit will ihn als Novize aufnehmen und warnt vor dem „roten Staub“ mit seinen verhängnisvollen Irrwegen, auf denen er den jungen Mann wandeln sieht. Der Jüngling lehnt ab, er strebt nach Selbstverwirklichung aufgrund seiner von der Natur begünstigten Physis.

     Es beginnt für den Helden eine mehrjährige Odyssee. Er geht zunächst eine Ehe ein und verlässt die junge Frau bald auf unbestimmte Zeit, um an anderen Orten neue Frauen kennenzulernen. Dabei kommt es zu einer Serie von Ehebrüchen. Der Held erwirbt eine Zweitfrau, die er gleichfalls sitzenlässt, und bildet mit vier weiteren Frauen vorübergehend eine Art Kommune. Hier soll künftigen Lesern nicht die gesamte kunstvoll komponierte Handlung vorab erzählt werden, nur so viel: Am Ende des zunehmend katastrophalen Verlaufs wird der Vormitternachts-Scholar desillusioniert doch noch bei jenem Einsiedler Novize.

     All das wird detailliert dargestellt, mit viel Psychologie und noch mehr Sex. Die körperlichen Vereinigungen nehmen großen Raum ein, die Anbahnung, die Techniken, die Probleme bei der Paarung. Es herrscht größte Offenheit und zugleich wird das Pikante mit viel Delikatesse geschildert; schockierend vielleicht nur jene Passage, in der ein Arzt beim Helden auf barbarische Weise eine Penisvergrößerung bewerkstelligt. Immerhin fasst der Erzähler sich bei der späteren Selbstkastration des Novizen kurz.

     Li Yü hat sich selbst ein Vorwort geschrieben, das in der Übertragung von Franz Kuhn zum Schlusskapitel geworden ist. Der Autor verteidigt sich darin gegen zu erwartende Vorwürfe: dass er Unmoralisches, Sittenloses romanhaft ausgemalt habe. Er befürwortet ausdrücklich die strenge konfuzianische Morallehre und schließt so: „Mit besagtem Beiwerk eingehender Schilderung intimer Details der ‚Kammerkunst’ wollte der Verfasser der Leserschaft gewissermaßen bitteren Olivengeschmack in süßes Dattelfleisch eingebettet bieten und damit verhüten, daß der Roman abfällige Kritik erfährt und als ‚öder, langweiliger Aufguß’ abgelehnt wird.“

     Einiges bleibt noch herauszustellen. Der Autor hat das Buch als noch sehr junger Mann geschrieben und er hat dabei viel mehr Datteln als Oliven verarbeitet. Aussicht auf Erlösung verspricht hier allein der Buddhismus. Der Schweizer Verleger des „Jou Pu Tuan“ Felix M. Wiesner sah im Werk einen „streng orthodox aufgebauten Lehrroman nach der Schule des Ch’an-Buddhismus“. Er beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Philosophen und Religionshistoriker Hans Heinz Holz, für den der Roman eine „Allegorie über den meditativen Wahrheitspfad des Buddhisten“ war. Angesiedelt ist die Handlung im frühen 14. Jahrhundert während der Mongolenfremdherrschaft. Die allgemeinen Lebensverhältnisse dürften allerdings denjenigen zu Lebzeiten des Autors entsprechen. Die Ming-Dynastie trieb damals ihrem Untergang entgegen, China hielt nur noch mühsam den Angriffen aus der Mandschurei stand. Ebenso schwerwiegend waren soziale Unruhen. Während die äußere Gefahr im Roman nicht thematisiert wird, spiegelt sich die problematische innere Lage indirekt in der Gestalt eines Schwurbruders des Helden, eines Meisterdiebs von hoher Sittlichkeit, der die Handlung entscheidend beeinflusst.

     1959 kam der Roman erstmals in deutscher Übersetzung heraus, Verlagsort Zürich. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte wurden bald aktiv. Die zweite Auflage wurde samt Druckvorlagen eingezogen und verbrannt und die Publikation verboten. Aber das ist eine andere Geschichte und sie ist zum Glück nur noch Justizgeschichte.   

 

18. Alain-René Lesage: Der hinkende Teufel

Wer will, kann in Lesages 1707 erstmals erschienenem Werk (endgültige Fassung 1726) den frühesten Großstadtroman überhaupt sehen. Allerdings hatte Alain-René Lesage (1668 – 1747) dafür selbst eine Vorlage: „El diablo cojuelo“ des Spaniers Luis Vélez de Guevara von 1641. Lesage fuhr doppelgleisig: Er trug einerseits viel Madrider Lokalkolorit auf, bezog sich auch fortlaufend auf Strukturen der spanischen Gesellschaft und schöpfte andererseits aus seiner eigenen profunden Kenntnis innerfranzösischer Zustände, auf die er gelegentlich ausdrücklich hinweist. So entstand ein für das katholische Westeuropa der Barockzeit insgesamt charakteristisches Gesellschaftsbild. Es ist geistreich erzählt und noch immer eine amüsante Lektüre von historischen wie allgemeinmenschlichen Sachen. 

Bewundernswert ist bereits der technische Aufbau, die Konstruktion des Romans. Zwei Gestalten ziehen und fliegen durch das nächtliche Madrid, dessen Dächer für sie durch Zauber aufgedeckt sind, so dass die mehr oder oft auch weniger braven Bürger in ihrem momentanen Verhalten studiert werden können. Das seltsame Paar besteht aus Asmodi, einem hinkenden und hässlichen Spezialteufel, zuständig für die Wollust und mit ihr Zusammenhängendes, und dem Studenten Don Kleophas. Der Student hat den Teufel aus einer Flasche befreit, in der ihn ein Zauberer gefangen hielt. Zum Dank verschafft Asmodi dem jungen Mann reiche Einblicke nicht nur ins gegenwärtige Befinden und Seelenleben zahlreicher Einwohner, sondern auch in deren Vorgeschichten. Zwischen den beiden entwickeln sich bald gegenseitiges Vertrauen und viel Sympathie. Asmodi scheint allwissend und Don Kleophas überaus neugierig. So spiegelt sich in ihrem Verhältnis zugleich das von Erzähler und Leser auf plastische Weise und wird selbst zum Gegenstand des Erzählens, ein schon durchaus moderner Ansatz.

Der Stoff, der die Stadtgesellschaft als Ganzes repräsentiert, wird auf vielfältige Weise dargeboten. Der Teufel führt den Studenten zu vornehmen Stadthäusern, zu Gefängnissen, einem Tollhaus und erzählt vor Grabmälern vom Leben und Sterben der dort Bestatteten. Viele kleine Einzelbeobachtungen unterbrechen jeweils die Abfolge von selbständigen Erzählungen unterschiedlicher Länge, von denen einzelne Novellencharakter haben. Das sind einige der Hauptmotive: die Macht der Liebe und des Geldes, Standesdünkel oder verletzte Ehre. Die Handlungen beziehen gelegentlich weitere Teile Spaniens ein und erstrecken sich ausnahmsweise bis aufs Mittelmeer oder nach Nordafrika. Hier spielt wiederholt die damalige Piraterie mit Menschenraub, Versklavung und Lösegeldzahlung eine Rolle. Insgesamt schuf Lesage nicht nur einen Riesenteppich aus Figuren und Episoden, er ordnet ihn auch so an, dass das Schicksal des Studenten letztlich das Zentrum bildet; infolge eine Feuersbrunst und Rettung einer schönen Tochter nimmt es für ihn eine entscheidende günstige Wendung.

Was fehlt noch in dieser Betrachtung? Das vor allem: Der Roman hält wunderbar das Gleichgewicht zwischen Satire, Trauer über tragische Verläufe so vieler Schicksale und dem freundschaftlichen Ton im Umgang von Teufel und Student miteinander.          

 

19. Nikolai Leskow lesen

Nikolai Leskow (1831 – 1895) gehörte seinerzeit zu den meistgelesenen Autoren Russlands. Seine Werke - Romane und vor allem Erzählungen - wurden auch ins Deutsche übersetzt, fanden bei uns jedoch bei weitem nicht die Resonanz derjenigen Tolstois oder Dostojewskis. Bücher von Leskow zu lesen, kann noch immer bereichernd sein. Die Mannigfaltigkeit seiner Stoffe und Gestalten ist ebenso beeindruckend wie seine geistige Physiognomie. Kein anderer großer Autor hat das Russland des 19. Jahrhunderts so detailliert in seinen vielen Facetten beschrieben. Dabei verarbeitete er eine unüberschaubare Fülle von Einblicken, die er selbst gewonnen hatte. Er war im zentralrussischen Schwarzerdegebiet aufgewachsen in einer Familie zwischen Bauern- und Priestertum, niederem Adel, Bürgertum und Beamtenschaft. Seine jungen Mannesjahre hatte er als subalterner Beamter in Kiew verbracht und war einige Jahre für eine englische Handelsfirma durch buchstäblich jeden Winkel des Zarenreichs gereist. Mit dreißig zog er nach Petersburg, ernährte sich mühsam als freier Schriftsteller, kam später längere Zeit in Ministerien unter, ehe er zu Zeiten schärfster Reaktion aus politischen Gründen entlassen wurde. Eine Gesamtausgabe seiner Werke stabilisierte zuletzt seine ökonomische Lage. Sein Familienleben war wenig glücklich und voller Unruhe: die erste Ehe bald gescheitert, die Gattin nervenkrank, eine zweite Verbindung hielt länger, doch nicht bis zum Lebensende; mehrfache Vaterschaft.

Leskows Stellung in der Öffentlichkeit war die klassische zwischen den Stühlen, denjenigen der Macht und einer machtvollen Opposition. Er war kritisch gegenüber der weltlichen wie kirchlichen Obrigkeit, den unhaltbar gewordenen sozialen und kulturellen Zuständen, und ebenso empfindlich reagierte er auf abgehoben weltfremde liberale Einstellungen und Moden und erst recht auf anarchistische Gewalt und sich früh herausstellende Entartung sozialistischer Ideale. Ihn selbst kann man als gemäßigt liberalen Reformanhänger bezeichnen, doch er war in seinen oft karikierenden Darstellungen nie maßvoll. Er war verhasst bei der Linken und als Stütze des autokratischen Systems unbrauchbar. Er veröffentlichte abwechselnd in liberalen wie in konservativen Blättern und Verlagen. Sein Fundament war ein humanitäres Christentum, darin stand er Tolstoi nahe, ohne dessen Übersteigerungen mitzuvollziehen; beide schätzten sich gegenseitig und die Werke des anderen sehr. (Später trat Gorki entschieden für Leskow ein.)

Leskow war, allein schon aus materiellen Gründen, ein Vielschreiber und das ging bei all seinem Talent nicht selten auf Kosten literarischer Qualität. Sie bedeutete ihm, wie er bekundete, wenig im Vergleich zu den Anliegen, denen er mit seinen Werken dienen wollte. Für eine L’art-pour-l’art-Literatur fehlte ihm jedes Verständnis. Ein anspruchsvollerer Leser von heute kann auf einzelne Texte von Leskow gegensätzlich reagieren, abwechselnd begeistert und ernüchtert, befremdet. Der im Insel-Verlag als Taschenbuch herausgekommene Sammelband „Der Weg aus dem Dunkel“ (Lizenzgeber: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, Copyright 1952) stürzt ihn ein solches Wechselbad.

„Die Lady Macbeth des Mzensker Landkreises“ von 1865 eröffnet als lakonisch großartiges Glanzstück den Reigen, die Darstellung einer russischen Madame Bovary, doch krasser, brutaler als bei Flaubert und dennoch ebenso formvollendet. An Flauberts christliche oder antike Stoffe erinnert der späte Text „Der Gaukler Pamphalon“ (1887), mit dem der Band wenig glücklich schließt. Diese Erzählung in sentimentalem Legendenstil und zugleich antikisierende Kolportageliteratur regiert ein blässlicher Historismus, als ob ein talentloser Schüler von Makart „Salammbô“ zu illustrieren versucht hätte. Dazwischen finden sich fünf weitere Erzählungen von unterschiedlicher Qualität. Gemeinsam ist ihnen, dass Leskow hier in realistischer Erzählkunst seine Idealvorstellung von „Gerechten“ realisiert, am besten in „Das Tier“ (1883) und „Das Schreckgespenst“ (1885). Diese beiden Texte sind ebenso genaue soziale Studien des agrarischen Russland seinerzeit wie Darstellung seelischer Entwicklungen der Protagonisten hin zu einer humaneren und d.h. für Leskow auch gottgefälligeren Existenz. 

Zwei Aspekte fehlen noch in diesem Abriss. Leskows Sprache, vor allem die seiner Gestalten, orientiert sich nicht an gehobener Literatur, sondern an den zahlreichen gesprochenen Idiomen seiner Zeit. Sie ist daher nicht leicht zu übertragen, vermittelt auch bei relativem Gelingen nur eine Ahnung vom Reichtum seines Ausdrucksvermögens. Anders steht es mit dem Atmosphärischen, das jene untergegangene Welt noch immer heraufbeschwören kann. Zu ihm trägt nicht nur Naturschilderung bei, sondern ebenso die Darstellung von Sitten und Alltagsgebräuchen, von Ideen in den Köpfen der Menschen, ja gerade auch von massivem,  unausrottbar scheinendem Aberglauben. Das Dunkel war noch sehr dicht.

 

20. Tucholsky rüffelt Brecht: Keine Plagiate!

Immer neue Fälle von Plagiaten führen zu immer derselben verengten Diskussion. Sie erschöpft sich in der Regel im Beharren auf dem Rechtsstandpunkt. Jenseits von ihm ist nichts denkbar, nicht diskutierbar. Der Schutz geistigen Eigentums scheint zu den Grundwerten zu gehören, die man immer und unbedingt zu verteidigen hat, auch gegen Relativierung. Gewöhnlich wird als Grundmuster dieses Bild gezeichnet: Schwächliche, unbegabte, faule Zeitgenossen bedienen sich der Werke anderer, indem sie Teile davon als eigene Schöpfung ausgeben. Der Vorgang ist immer parasitär, führt zur Schwächung des ehrlich arbeitenden, leistungsfähigeren Autors. Die Wegrichtung ist gewöhnlich die vom Höheren zum Niederen, vom Besseren zum Schlechteren.

Mir kam in diesen Tagen eine Erinnerung an einen sehr alten Text. Ich ziehe daraufhin einen Band Tucholsky aus dem Regal und finde, was ich suche: Der Artikel „Die Anhängewagen“ ist im Mai 1929 in der „Weltbühne“ erschienen und gegen Bertolt Brechts Umgang mit fremdem Eigentum gerichtet. Tucholsky beginnt mit Brecht und endet mit ihm. Dazwischen zieht er noch gegen, wie er es sieht, parasitären Umgang mit fremden Lebensläufen in Biografien zu Felde und verurteilt beispielsweise Stefan Zweigs Arbeitsweise scharf. Aber Brecht bleibt doch der eigentliche Adressat. Tucholsky bezieht sich vor allem auf dessen „Dreigroschenoper“ und auf missbräuchliche unautorisierte Verwendung fremder Übersetzung: „Es ist Bert Brecht nachgewiesen worden, dass er bei einer Übertragung aus dem Französischen einen Übersetzer bestohlen hat. Er hat darauf geantwortet: das beruhe auf seiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums. Das soll sehr rebellisch klingen – es ist aber nur dumm.“ Am Ende des Artikels kommt Tucholsky selbst darauf, dass außer Dummheit auch Geschäftstüchtigkeit eine Rolle spielen könnte. Erst als die „Dreigroschenoper“ kommerziell ein großer Erfolg geworden war, schlüpfte Brecht, für Tucholsky unerträglich, vollends in die Rolle des Autors. Tucholsky kommt nicht auf die Idee, dass gerade das zum weiteren anhaltenden Ruhm des Werks noch beitragen könnte. Die Marke „Brecht“ war kreiert worden. Aber Tucholsky fleht, fordert, donnert: „Lasset uns in Zukunft Dichter loben, die sich ihr Werk allein schreiben.“

 Profitiert hat Brecht auch von der Arbeit mehrerer Frauen, die nacheinander oder zur selben Zeit mit ihm zusammenlebten. Sie arbeiteten ihm zu, texteten fleißig und fügten nicht unwesentliche Bausteine in sein Gesamtwerk ein. Zumeist wurden sie als Mitautorinnen nicht angegeben. So trugen sie mit an der Arbeitslast, trugen bei zu seinem Ruhm, aber eben auch zur Aufnahme des gemeinschaftlich entstandenen Werks in den Kanon der Weltliteratur. Ihre Rolle bei der Entstehung des Werks wurde im Lauf der Zeit immer wieder von anderen kritisch durchleuchtet, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Manche erklären Brechts Verhalten als schäbiges Ausnutzen der Arbeitskraft auf die eine oder andere Weise von ihm abhängiger Frauen. Andere wiederum sehen die Kooperation im Kontext eines damals neuen, unter Progressiven sehr populären Ideals gemeinschaftlichen Arbeitens. Feststellen darf man, dass sich Rang und Nachruhm z.B. von Elisabeth Hauptmann wesentlich aus ihrer Stellung innerhalb des Brecht-Kollektivs speist. Und: Die „Laxheit“, deren Brecht sich rühmte, war außerordentlich produktiv. Die Marke „Brecht“ setzte sich auf Dauer durch. Wer hatte und hat den größeren Nutzen davon, der Autor selbst oder wir, die Nachwelt?

 

21. F. M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus

Vier Jahre lang, von 1850 – 1854, war Dostojewski als politischer Gefangener im Straflager Omsk interniert. Die Mitgefangenen waren überwiegend gewöhnliche Schwerkriminelle aus den unteren Bevölkerungsschichten, zum Teil aus dem Soldatenstand. Dostojewski, selbst dem niederen Adel angehörig, fand hier das reichste Anschauungsmaterial für psychologische Studien und profitierte bei der Ausarbeitung seiner späteren Romane sehr von der Haftzeit in Sibirien. Über sie selbst veröffentlichte er 1861/62 die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Es handelt sich dabei sowohl um erzählende Literatur wie auch um einen Sachbericht über die krassen Missstände dort. Das Buch war außerordentlich erfolgreich, auch mit zahlreichen Übersetzungen. Kann nach eineinhalb Jahrhunderten der Rezeption noch etwas Neues aus dem Text herausgelesen werden – schwerlich. Begnügen wir uns von vornherein mit einem Überblick aus respektvoller Entfernung.

Die Aufzeichnungen haben zwei einander entgegengesetzte Pole: Unfreiheit und Individualität. Beide erscheinen in vielfacher Variation und Beleuchtung und werden immer wieder in spannungsvolle Beziehung zueinander gesetzt. Zur Unfreiheit gehört zuallererst die Zwangsarbeit, ihr entgegengestellt die weit verbreitete emsige private Tätigkeit der Gefangenen nach Feierabend, ihre Geschäftsbeziehungen zur Stadtbevölkerung. Geld spielt paradoxerweise in der Katorga eine größere Rolle als in der Freiheit. Es ist ein Stück Ersatzfreiheit, mit dem die Gefangenen sich die Existenz wesentlich erleichtern oder sich auch nur die Illusion von Macht über die Verhältnisse verschaffen können. Man kann dann z.B. sich eigene Kost zubereiten lassen oder in der Stadt eine Prostituierte aufsuchen oder sich dort sogar eine Geliebte halten. In letzteren Fällen geht es nicht ohne Bestechung des Wachpersonals ab. Besonders lukrativ sind illegale Geschäfte, allen voran der Alkoholschmuggel. Andere Erscheinungsformen der Unfreiheit sind die Ketten, die während der gesamten Haftzeit getragen werden müssen, und das dem Erzähler auffallende Fehlen von Freundschaften – sie würde Freiheit der Individuen voraussetzen. Charakteristisch ist auch die große Konformität in den unter den Gefangenen herrschenden Konventionen und Auffassungen, was sich in der Strafkolonie schickt. Die unmittelbarste Erfahrung härtesten Zwangs besteht für die dazu Verurteilten in der Prügelstrafe, die häufig verhängt wird und die regelmäßig zu schweren Verletzungen führt; manche überleben sie nicht. Der Erzähler registriert ferner die Gräben zwischen den verschiedenen im Lager vertretenen Nationalitäten und Gesellschaftsschichten. Gerade die zwischen Adligen und Nichtadligen oder zwischen Russen und Polen lassen sich kaum überbrücken.

All diese Darstellungen unfreier Existenz könnten auch in einer reinen Sachdokumentation enthalten sein. Erzählerische Qualität bekommt das Werk dann, wenn Massenszenen dargestellt werden: das entgleiste Weihnachtsfest, die befreiende Wirkung einer Theaterinszenierung, der Besuch der Badestube oder Leben und Sterben im Hospital. Noch größer ist die epische Wirkung, wenn Einzelschicksale nachgezeichnet werden. Wir begegnen jetzt Personen, deren reale Vorbilder die Forschung zum Teil herausgefunden hat. Jedes dieser facettenreich geschilderten Individuen, jede im Lager zu sühnende Tat ist von allen anderen grundverschieden und wird dadurch plastisch für den Leser. Einige dieser eingeschobenen Vorgeschichten könnten für sich als abgeschlossene kurze Erzählungen oder kleine Novellen bestehen, vor allem „Bakluschins Geschichte“ oder „Akulinas Mann“. Bei der Individualisierung von Gestalten geht der Autor so weit, dass er uns sogar die im Zuchthaus gehaltenen Tiere als eigenwillige, erinnerungswürdige Wesen vor Augen führt: Hunde, ein Pferd, ein Ziegenbock und ein flügellahmer Adler.

Nicht verschwiegen seien die kleinen Mängel des Werks. So gibt die knappe Rahmenhandlung vor, der Text sei von einem wegen Mordes verurteilten Adligen nach dessen Entlassung verfasst worden. Wie der Stoff jedoch behandelt ist, verweist deutlich nicht auf den Gutsherrn Gorjantschikow, sondern auf den Petersburger Literaten und politischen Häftling Dostojewski. Die literarische Wirkung wird außerdem hier und da durch Nachzeichnen gefängnisinterner Verwaltungsstrukturen geschmälert, auch dadurch, dass immer wieder Personen nur mit den Initialen ihrer Namen auftreten. Insgesamt hat all das der Wirkung des Buchs nicht geschadet. Ihren schönsten Ausdruck hat die Rezeption durch den Komponisten Leoš Janáček erfahren. Seine letzte Oper „Aus einem Totenhaus“ bringt den Stoff wunderbar zum Klingen und Dostojewskis Gestalten höchst eindrucksvoll auf die Bühne, auch den Adler.

 

22. Hans Keilson: Das Leben geht weiter

Da wurde ein Bilderbuchstart zu katastrophaler Bruchlandung: Ein Medizinstudent, Anfang zwanzig, schreibt seinen ersten – autobiographischen – Roman. Er wird sofort vom S. Fischer Verlag angenommen und als er erscheint, sind die Nationalsozialisten gerade an die Macht gelangt. Das Buch wird bald verboten und kommt erst fünfzig Jahre später erneut und im selben Verlag heraus. Wie damals schon erreicht „Das Leben geht weiter“ vor allem Fachkreise, die Lob spenden. Eine internationale Breitenwirkung für Keilsons Gesamtwerk setzt erst um 2010 ein (als der Autor schon einhundert Jahre alt ist), ausgelöst durch eine enthusiastische Besprechung seines zweiten Romans „Der Tod des Widersachers“ in der New York Times. Der Buchtitel des Erstlings erwies sich in Bezug auf das Werk als eine Prophezeiung: langlebig und mit Wiedergeburten. Keilson selbst starb 2011.

Die ungewöhnliche Entstehungs- und Wirkungsgeschichte zeitigt eine doppelte Spiegelung des Stoffs, eine erste im Werk und eine zweite bei der Rezeption. Der junge Keilson selbst beschrieb 1932 den Niedergang des elterlichen Geschäfts in der Weltwirtschaftskrise, mit Bankrott endend, und daneben die in Suizid mündende Odyssee seines Schulfreundes, der sich nirgendwo etablieren konnte. Sehr natürlich ist der Autor ganz nah an seinem Stoff. Der Leser von heute aber hat einen viel weiteren Horizont, er weiß, wie das Leben tatsächlich weiterging: Untergang der Weimarer Republik, Ermordung der Eltern des Autors in Auschwitz. So entsteht von der ersten Seite an eine ungeheure Suggestion: Erschrecken und Trauer des Erzählers vervielfachen sich für uns permanent. Der Roman selbst wird allgemein der Neuen Sachlichkeit zugerechnet, doch geht er mit seiner so sorgfältigen wie unaufdringlichen Darstellung und Analyse seelischer Regungen der Figuren weit darüber hinaus.

Die Hauptfigur Albrecht, dem Autor erkennbar nachgezeichnet, bleibt die längste Zeit passiver Beobachter. Erst zum Schluss hin steht er vor einem Durchbruch zu politisch aktivem Handeln. Das hat etwas von Sturzgeburt und wie es, Thesen ausbreitend, auf den letzten zwei Dutzend Seiten ausgeführt ist, mindert einerseits den rein ästhetischen Wert des Romans wie es andererseits an sich zeitgeschichtlich absolut glaubwürdig ist. Albrechts Bewunderung gilt erst dem frühen Thomas Mann, mit dessen kontemplativem Tonio Kröger er sich lange identifiziert, dann geht er zu Hermann Hesse über und hat nun den in einen Krieg ziehenden Demian als Leitstern. Nur dass aus dem Weltkrieg ein sozialer Bürgerkrieg geworden zu sein scheint … Womit wir bei der ideologischen Konzeption des Buches sind – sie ist ebenso leicht aus heutiger Sicht zu kritisieren wie sie der tatsächlichen geistigen Entwicklung vieler junger Intellektueller damals entspricht. Wenn am Romanschluss Vater und Sohn in der ursprünglichen (auf Wunsch des Verlags abgeschwächten) Version einen Demonstrationszug sozialer Verlierer „mit geballten Fäusten“ grüßen, kommt das einer Absage an jede Bürgerlichkeit gleich. Diese Tendenz zeigte schon der Titel, den das Werk zunächst hatte, ebenfalls auf Verlagswunsch geändert: „Das neue Leben“. Zwar gibt es gerade unter den Kaufleuten im Buch Solidarität, und sogar mehr davon als an Konkurrenzkampf, doch es rettet den Vater nicht vor dem Ruin. Als dieser eintritt, steht  Albrechts Vater dem Arbeiter und Funktionär Kipfer näher als seinen Berufskollegen. Von diesem Kipfer heißt es schon bei seinem ersten Auftreten, er arbeite „für eine radikale Partei“. Und bei der erwähnten Demonstration kann es sich eigentlich auch nur um eine der damals in Berlin häufig von Kommunisten organisierten handeln. Zuvor schon hat Albrecht im heimatlichen Bad Freienwalde seinem früheren Mentor Dr. Köster gegenüber angekündigt: „ … ich habe mich entschlossen, politisch zu werden.“ Als er sich dafür zu rechtfertigen sucht, ist dann auch die Rede von „der politischen Partei, die durch die gemeinsame äußere Zielsetzung eine Verbundenheit schafft.“ Es ist wenig wahrscheinlich, dass Albrecht dabei die Sozialdemokratie der ihrem Ende entgegentreibenden Weimarer Republik im Sinn hat. Er sympathisiert also jetzt mit einer der beiden Seiten, die das gesellschaftliche System der Nachkriegszeit in die Zange nehmen und zum Einsturz bringen.

Der Roman zeichnet die soziale, ökonomische, psychologische Vorgeschichte einer solchen Annäherung in vielen kleinen Einzelschritten glaubwürdig nach. In seiner Mischung aus Analyse und Empathie im Verhältnis zu den realistischen Details liegt dabei der bleibende Wert des Buches. Die Geschäfte von Albrechts Vater gehen schlecht und immer schlechter und Albrecht sieht ihn wiederholt weinen. Hans Keilson dürfte das selbst so erlebt und seine eigene Fassungslosigkeit damals mit der Niederschrift des Textes bewältigt haben. Für seine Eltern folgte auf den ökonomischen Tod die physische Vernichtung. Ihre spätere Ermordung fordert Hans Keilson lebenslang, so wie der Holocaust die Gesellschaft insgesamt auf unabsehbare Zeit.

 

23. Zwei Erzählungen von Hans Keilson

Als der S. Fischer Verlag 2005 eine zweibändige Ausgabe der Werke von Hans Keilson zusammenstellte, wies er dem relativ schmalen belletristischen Teil den ersten Band zu. Hier finden sich neben den beiden Romanen noch zwei Erzählungen. Diese könnten unterschiedlicher nicht sein, in Länge, Struktur und auch bezüglich ihrer Überzeugungskraft. „Komödie in Moll“ umfasst gut achtzig Seiten und erschien erstmals 1947. Teile des Textes wurden schon gegen Ende des Krieges geschrieben. Die Erzählung stellt anhand eines einzelnen, besonders dramatischen Falls die Umstände dar, in denen sich während der deutschen Besatzung der Niederlande untergetauchte Menschen und ihre Gastgeber befanden. Hier ist es ein alleinstehender etwa vierzigjähriger Jude, der auf diese Weise dem drohenden Transport in ein Vernichtungslager entgehen will. Untergebracht ist er bei einem jüngeren Ehepaar ohne Kinder, das in einer nicht namentlich genannten Kleinstadt am Meer ein Reihenhaus bewohnt. Ihr Schützling wird etwa ein Jahr lang versteckt, dann erkrankt er schwer, vermutlich an Grippe. Um weder ihn noch sich zu gefährden, lässt ihn das Ehepaar zu Hause behandeln. Dennoch stirbt er und die Gastgeber müssen nun einen Weg finden, die Leiche fortzuschaffen und gleichzeitig deren zivile Bestattung zu garantieren. Dabei begehen sie einen Fehler, der sie selbst in große Gefahr bringt und zum vorübergehenden Untertauchen zwingt.

Keilson beschreibt dies recht fesselnd im auktorialen Stil, einsetzend mit dem Tod und dann häufigen Rückblenden. Er stützt sich dabei auf seine eigenen Erfahrungen im Untergrund und stellt alle wesentlichen Umstände klar vor Augen: das Eingesperrtsein, die vielen strikten Vorsichts- und Abschottungsmaßnahmen, die gelegentlichen Pannen, das Netzwerk von Helfern und Widerständlern. Ebenso wichtig ist ihm die seelische Entwicklung der Hauptfiguren unter dem permanenten Druck. Wie der Titel schon andeutet, fehlt auch eine untergründige humoristische Note nicht. Man darf die Erzählung als insgesamt rundum gelungen bezeichnen, bereichernd sowohl für den historisch wie den literarisch oder psychologisch Interessierten.

Vergleichbares für das erstmals 1968 erschienene und nur elf Seiten umfassende „Dissonanzen-Quartett“ festzustellen, ist nicht möglich. Hier setzt sich ein Ich-Erzähler im Rückblick mit der Geschichte seiner Eltern und der Schuld des Vaters auseinander. Dieser entstammte einer konservativen protestantischen Pastorenfamilie, wurde selbst Philologe und heiratete eine Frau orthodox-jüdischer Herkunft. Beide führten ein relativ liberal emanzipiertes Leben. Sie stehen für eine zeittypische gemäßigte Progressivität, die sich jedoch ab 1933 nicht bewährte. Der Vater ließ sich scheiden, die Mutter und zwei Schwestern fielen dem Holocaust zum Opfer. Der Sohn empfängt nach dem Krieg im US-Exil einen Brief seines inzwischen selbst umgekommenen Vaters. Darin erläuterte er die nicht durchweg zu verdammenden Motive für seine Trennung von der Familie. Seine Strategie zu deren Rettung scheiterte. Der Sohn verknüpft mit der Verarbeitung des Briefes ansatzweise historische und geschichtsphilosophische Betrachtungen. All das ist ein großartiger Stoff und überhaupt nicht auf so wenigen Seiten gestaltbar. Es bleibt skizzierter Entwurf, unglücklich in die Form einer kleinen Erzählung gepresst. Der Autor irritiert die Leser zusätzlich, indem er den Ich-Erzähler mit einzelnen Elementen seiner eigenen Biografie ausstattet, obwohl diese sich im Wesentlichen eben nicht mit der des Erzählers deckt.

Keilson selbst sah sich in erster Linie als Arzt und in zweiter erst als Schriftsteller. Weise hat er im Alter weitgehend auf belletristische Produktion verzichtet. Der Verlag hat ihm mit dieser Zugabe zu den im Buch vorangehenden Werken von Gewicht keinen Gefallen getan.         

24. Pavese im Doppelkammerbeutel

Als Reclam 1969 aus der Vielzahl der Erzählungen von Cesare Pavese (1908 – 1950) eine kleine Auswahl von kurzen oder allenfalls mittellangen Texten für eines seiner gelben Bändchen zusammenstellen ließ, bewies der Herausgeber Hans Bender dabei nicht nur seine Vertrautheit mit dem Werk insgesamt, sondern ordnete die sieben Texte auch sinnvoll symmetrisch an. Es sind nacheinander:

 

  1. Die Nacht von San Rocco (titelgebend für die Sammlung) – 2. Weiberhass – 3. Hochzeitsreise – 4. Land der Verbannung – 5. Die Selbstmörder – 6. Haus am Hügel – 7. Geheimnis

 

Mit den, musikalisch gesprochen, Ecksätzen Nr. 1 und Nr. 7 kehrt der Autor in seine Heimat, das piemontesische Hügelland der Langhe, zurück. Es ist eine halb-archaische, bukolisch-bunte Bauernwelt, dennoch nicht idealisiert. In der Ouvertüre geht es um die Situation von Waisenjungen, die in der Obhut der Kirche heranwachsen, das strenge Regiment eines Paters, die Auflehnung der Burschen und wie man sich arrangiert. Die kleine Nebenfigur des Lehrers steht vielleicht dem Autor Pavese und seiner Problematik am nächsten. Der Lehrer kann einer durchreisenden Schaustellerin nahekommen und findet dabei „den Frieden und die Stille“. Im Gegensatz zu Nr. 1 hat Nr. 7 einen Ich-Erzähler. Er berichtet von seinem Aufwachsen in jener Landschaft, wie er ihre Magie kennenlernt und sie immer wieder aufzuspüren sucht. Es geht auch um die Geschichte seines Vaters, dessen zweite, viel jüngere Frau dem Erzähler eine ältere Schwester mit Wissen und Lebenserfahrung wird. Noch einmal scheint ferner der Stadt-Land-Dualismus auf, der für Paveses Werk so charakteristisch ist.

Nr. 4 – „Land der Verbannung“ – bildet das Mittelstück und verklammert thematisch die zwei Dreiergruppen von Erzählungen vor ihm und nach ihm, die zusammen ein spiegelbildliches Paar ergeben. Hier erinnert sich ein Ich-Erzähler an die Zeit seines Arbeitseinsatzes an der Küste Kalabriens – Pavese lebte dort selbst ein Jahr in Verbannung. Die Landschaft wird als trostlos, der Ort als öde empfunden. Der Erzähler lernt zwei Männer kennen, die beide Pech mit ihren Frauen haben oder hatten, der eine ein hierher verbannter Norditaliener, der andere einer aus der Gegend. Die zwei Tragödien werden dem Erzähler nur berichtet. Zu den beiden männlichen Protagonisten stellt er fest: „Die beiden, die dort zurückblieben, taugten nicht eben dazu, einander Gesellschaft zu leisten. Und doch sah ich sie Tage danach zusammen auf der Piazza; sie saßen auf dem langen Baumstamm. Sie sprachen kein Wort, aber sie waren immerhin beisammen.“ Wohingegen der Erzähler als Einsamer abreist.

Nr. 2 übertreibt es mit dem Titel „Weiberhass“. Tatsächlich geht es um ein junges Paar, das die Grenze nach Frankreich rasch illegal überqueren will. Dabei stranden sie in einem einsamen Albergo, das von einem Geschwisterpaar betrieben wird. Von den Flüchtlingen betrachtet sich der Mann als den Schuldigen, um dessentwillen sie beide fliehen müssen. Seine Begleiterin stellt sich für ihn als schwere Bürde auf der Flucht heraus. Unterstützung und Solidarität erfährt er von Seiten des Mannes im Albergo.

Die folgende dritte Erzählung „Hochzeitsreise“, wieder mit Ich-Erzähler, blickt zurück auf eine kurze unglückliche Ehe, die mit dem Dahinsiechen der jungen Frau endet. Ihr Mann kämpft nach ihrem Tod vergeblich gegen seine Schuldgefühle an und analysiert sich selbst dabei unbarmherzig. Dem entspricht in der abschließenden Dreiergruppe die Erzählung Nr. 5 „Die Selbstmörder“. Das ist eine Wiederaufnahme und Zuspitzung des Themas der Unverträglichkeit der Geschlechter. Jetzt bringt die immer wieder misshandelte Geliebte sich sogar um und vor ihr hat es der Jugendfreund des Erzählers schon getan.

„Haus am Hügel“, Nr. 6, variiert die bereits bekannten Motive ein weiteres Mal. An die Stelle des Gebirges in Nr. 2 tritt jetzt ein Villenviertel hoch über Turin. Der Erzähler besucht dort eine verheiratete junge Frau, Jugendfreundin von ihm, und ihre desolate Abendgesellschaft. Er findet Wirrsal und Disharmonie vor – die attraktive Frau im Zentrum ein Unruhepol - und schließt so: „Ich ging so vor mich hin, ohne Erinnerungen, beteiligte mich kaum an den Gesprächen und ersehnte den Augenblick, da ich allein sein würde.“

So schmal der Band ist, er enthält exemplarisch schon beinahe den ganzen Pavese, noch dazu klug arrangiert, wie ein Doppelkammerbeutel für ergiebigen Teeaufguss, sowohl zum Einstieg wie für Wiederbegegnung nach langer Zeit gut geeignet.    

 

25. Alexander Roda Roda - Sein Werk und seine Zeit

Kürzlich wäre er hundertfünfzig geworden – gedenkt man seiner noch? Er war ein knappes halbes Jahrhundert lang ein sehr erfolgreicher Vielschreiber und Vortragskünstler seiner selbst gewesen, talentiert, sehr wach, umtriebig, weithin bekannt und anerkannt und manchmal auch geschmäht. Für Karl Kraus, der ihn bekämpfte, war er vor allem ein „Schnurrenfabrikant“. Roda Roda liebte als Anekdotenerzähler wie Satiriker die Knalleffekte und war zugleich gegenüber seinen Figuren milde gestimmt, nachsichtig. Die Handlungen sind krass und die Menschen in ihnen mit eher weichem Stift gezeichnet. Darin äußert sich ein sympathischer melancholischer Fatalismus. Wie viele unterschiedliche Milieus und Typen hat der Mann kennengelernt, studiert, porträtiert ... Das war seine Welt, seine Zeit: ganz Mittel- und Südosteuropa im letzten Viertel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Er war polyglott als Sprecher und hatte als Zuhörer das empfindsamste Ohr für Dialekte, Slangs, Nuancen. Tucholsky, der ihn sehr schätzte, schrieb ihm immer wieder Elogen, so z.B.: „Er kann alle Leute und alle Dialekte und alle Tiere nachmachen, auch Kommandierende Generale.“

Zur Hand nehme ich wieder „Das Große Roda Roda Buch“, als rororo-Taschenbuch 1990 herausgekommen, und blättere. Da sind die „Geschichten vom Balkan“ und die vom Habsburger Militär, die Schnurren über altösterreichische Zivilpersonen, dann Reiseimpressionen (auch aus den USA), Amüsantes und Bissiges über Kunst und Literatur, über den Adel und das Familienleben; als Zugabe eine bunte Mischung Skurriles aus allen Lebenslagen. Es sind Hunderte von überwiegend kurzen und kürzesten Texten, die meisten auf erhellende Weise erheiternd. Im Durchschnitt etwas länger sind die achtzehn kleinen Erzählungen in „Die Kummerziege und andere Dienstbotengeschichten“, als Fischer Taschenbuch 1980 erschienen. Sie gelten als Gemeinschaftswerk des Autors und seiner Schwester Marie. Deren Anteil am Entstehen und vielleicht auch am Ausarbeiten mag der größere gewesen sein. Dafür spricht die genaue Kenntnis von Bürgerhaushalten und weiblichem Seelenleben.

„Roda Rodas Roman“ von 1925 (div. Ausgaben und Auflagen) ist die leicht romanhafte Nachzeichnung des eigenen Lebens bis in dessen frühe dreißiger Jahre. Man darf nicht jedes Detail für verbürgt halten. So verlegt der Autor bereits seine Geburt im Jahr 1872 von Mähren nach Slawonien, wohin er tatsächlich erst als Kleinkind gebracht wurde. Dort war sein Vater Gutspächter und Alexander Roda Roda lernte von klein auf sowohl das traditionelle Landleben wie die ethnisch sehr gemischte Bevölkerung jenes damals ungarischen Landesteils kennen, unweit von Bosnien wie auch der serbischen Grenze. Nur gestreift werden die Oberschuljahre in Mähren, das abgebrochene Jurastudium, dann folgt in aller Breite das Jahrzehnt beim Militär. Roda Roda wurde Reiteroffizier, Reitlehrer dort und schrieb in der freien Zeit Texte für Zeitschriften. Über seine Beziehung zu Adele Sandrock (im Buch eine Tänzerin unter anderem Namen), die Differenzen mit Vorgesetzten und sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem aktiven Dienst mündet die Darstellung in die Begegnung mit seiner späteren Frau. Die Ehe scheint glücklich gewesen zu sein, hielt bis zum Tod des Autors (New York 1945).

Mich überrascht jetzt, aus sekundären Quellen zu erfahren, dass Roda Roda jüdischer Herkunft war und erst als junger Mann konvertierte, vielleicht wegen der angestrebten Militärkarriere. Juden kommen in seinem Werk gelegentlich vor und er behandelt sie wie andere gesellschaftliche Gruppen, mit liebevoll nachsichtigem Scharfblick. Seine persönliche Beziehung zum Judentum bleibt dabei im Dunkeln. Gab es gar kein Problem, war er einfach nur liberal aufgeklärt, emanzipiert? Oder thematisierte er ihn persönlich betreffenden Antisemitismus grundsätzlich nicht? In diesem autobiographischen Roman spielt der Autor paradoxerweise auch insgesamt nur eine Hauptnebenrolle. Er behandelt seine innere Entwicklung kaum, er selbst ist eher der Fluchtpunkt sehr vieler Einzelschicksale, die in momentanen Begegnungen kurz aufscheinen. Tatsächlich ist das Werk so ein Panorama-Panoptikum von Menschen in Alteuropa um 1900. Dass es die Erinnerung an sie auf diese Weise über die Zeit gerettet hat, das ist die große Leistung des Autors.

Exemplarisch für Roda Rodas Arbeitsweise ist sein Porträt dessen, den er Nevery nennt, auch ein Reiteroffizier, ein steirischer Hüne mit etwas kindlichem Gemüt. Sie tun lange zusammen Dienst, Roda Roda bekundet im Buch seine durchgehende Sympathie für ihn. Bei der Schilderung einer absurd-komischen Fechtszene lässt er eine Wendung einfließen, dass der Leser sich fragen kann: Ist Nevery homosexuell? Das Thema spielt im ganzen Buch sonst keine Rolle. Dann ist Roda Roda entlassen und bereist als Journalist den Balkan. An der damals heißen montenegrinischen Grenze stößt er wieder auf Nevery, der jetzt unter elenden Bedingungen Kommandant eines Forts auf einer Felsenspitze ist. Roda Roda lässt Nevery über sein Verhältnis zur Mannschaft reden und lässt ihn mitten in einem Bekenntnis abbrechen. Es wird dennoch klar, dass Nevery ein Verhältnis mit einem Untergebenen hat. Roda Roda wirft einen letzten Blick voller Mitgefühl auf ihn. Das ist eine der Stellen in Roda Rodas Werk, in denen sein menschenfreundlicher Grundzug sich äußert. Nur nebenbei: Nevery bei Roda Roda hat als Typ wie bezüglich seiner Stellung im Buch Ähnlichkeit mit Flauberts Figur Dussardier in der “Éducation sentimentale“, beide Fragmente eines so literarisch unsterblich gewordenen 19. Jahrhunderts.

Wer Roda Rodas Texte von ihm selbst vorgetragen anhören möchte: Im Netz sind leicht aufzufinden zwei youtube-Videos mit Tonaufnahmen aus der Zeit um 1930: „Generalmajor Johann Kiefer“ und „Die Gans von Podwolotschyska“ (hier hat sich im Titel das dritte „o“ versehentlich in ein „c“ verwandelt).

 

 

26. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit - Gestalten bei William Gaddis

„Die Fälschung der Welt“ (im Original „The Recognitions“), Gaddis’ 1955 erschienener monumentaler erster Roman, gilt längst als eines der Schlüsselwerke amerikanischer Literatur im 20. Jahrhundert. Man kann es aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachten, seiner Struktur nach als kühnes Experiment, den Lesestoff als ebenso unterhaltsam wie zugleich höchst anspruchsvoll einschätzen, überladen mit Verweisen auf vorangegangene Literatur und Religionsgeschichte; als theoretische Basis sind vor allem Werke von C.G. Jung und Robert Graves erkennbar.

Der Roman kann zu unendlicher Beschäftigung mit ihm herausfordern. Sein Personal ist sehr umfangreich und wird im Verlauf der langen Erzählung recht unkonventionell eingesetzt. Die Hauptfigur ist der Maler, Bilderfälscher und Sinnsucher Wyatt Gwyon. Seine Geschichte wird jedoch, rein quantitativ betrachtet, weniger ausführlich dargestellt als das oberflächliche Treiben des zweiten Gravitationsschwerpunktes: Dutzende von Künstlern und Intellektuellen der Village-Szene um 1950. Es fällt auf, dass zwischen diesen beiden Zentren der Handlung nur wenige Verbindungslinien bestehen: Wyatts Ehefrau, die Schriftstellerin Esther – die Ehe scheitert früh –, sein Modell Esme, eine rauschgiftsüchtige junge Lyrikerin, und Otto, ein junger Autor.

Wyatt ist ein Pfarrerssohn aus Neuengland. Das dortige Milieu bildet den dritten Kreis für die Erzählung, lebenslang prägend für den Maler, aber dauernd isoliert von den späteren New Yorker Erfahrungen. Dort in der Metropole steht Wyatt in Verbindung zu dem Duo Recktall Brown und Basil Valentine, der eine ein betrügerischer Kunsthändler, den Wyatt auftragsgemäß mit angeblich neu entdeckten, tatsächlich von ihm gefälschten Werken flämischer Maler des 15. Jahrhunderts beliefert – der andere ein Kunsthistoriker, dessen Expertisen den Fälschungen die Echtheit bestätigen. Lockere Querverbindungen gibt es auch zwischen der Village-Bohème einerseits und den Geschäftspartnern Brown und Valentine andererseits. So ergibt sich als Grundgeflecht der Handlung die laufende Interaktion im Dreieck Wyatt – Brown / Valentine – Village-Szene. Neuengland bleibt dagegen Vorgeschichte und vergeblich aufgesuchter Zufluchtsort für Wyatt. Eine Sonderstellung am Rand nimmt der Geld- und Passfälscher Sinisterra ein. Zu Beginn wie am Ende wieder spielt das Vielpersonendrama in Europa an den Schauplätzen Paris, Spanien, Italien.

Basil Valentine ist eine der Hauptnebenfiguren. Ihn in seiner Motivation und bei seinen Aktionen zu studieren, kann zu einem Kern von Gaddis’ Absichten führen. Der Name des Kunsthistorikers ist derjenige eines Alchimisten des 16. Jahrhunderts: Basilius Valentinus. Hier lugt C. G. Jung, der sich theoretisch viel mit Alchimie und ihrer Geschichte befasst hat, bereits um die Ecke. Der moderne Valentine ist ungarischer Herkunft, war bei den Jesuiten und arbeitet jetzt auch als Agent für das gegenwärtige Regime in Budapest. Er ist ein schöngeistiger Ästhet, extrem elitär, überempfindlich, menschenfeindlich. Man kann ihn sich als einen noch sehr vitalen Mann um die sechzig vorstellen, der sich durchzusetzen weiß, auch handgreiflich werdend. Er ist „ein sehr lieber Freund“ eines Village-Homosexuellen und Brown warnt Wyatt vor seinem Geschäftspartner: „Und nimm dich vor allem vor dieser Schwuchtel in Acht.“ Valentine hat auch misosgyne Züge.

Wyatt versteht sich als Künstler wie als an existenziellen und religiösen Fragen Interessierter viel besser mit dem hochgebildeten Valentine als mit Brown. Nachdem der im Grunde kulturlose Kunsthändler auf makabre Weise zu Tode gekommen ist, will Valentine Wyatt noch enger an sich binden: „Hör zu, wir beide, du und ich … es wäre nicht die übliche Geschichte, wir … es hätte nicht diesen ordinären Beigeschmack … mein Gott, du bist doch längst … längst ein Teil von mir.“ Woraufhin Wyatt mehrfach auf ihn einsticht und, als er ihn für tot hält, umgehend nach Europa abreist.

Valentine überlebt zunächst und stirbt tatsächlich erst einige Monate später in Ungarn in einem Krankenhaus. Seine letzten Erinnerungen gelten Martin, einem Studienfreund aus den Jesuitentagen. Damals kam es zum Bruch zwischen ihnen, unklar, ob vielleicht Differenzen in Glaubensfragen oder eher noch bezüglich der Sexualmoral der Grund waren. Noch kurz vor seinem eigenen Tod hat Valentine den anderen, der jetzt Pater ist, seinen ungarischen Verfolgern verraten, ihn noch einmal verraten und ihn damit ermorden lassen.

Valentine ist der Typ des verzweifelten Zynikers. Zu Wyatt hat er bei ihrem letzten Aufeinandertreffen gesagt: „Die Welt war laut und gemein, auch damals schon, und nicht anders als heute wurde sie angetrieben von Geld- und Machtgier, von Eitelkeit und Geilheit und dem grenzenlosen Egoismus von Gestalten wie diesem Kanzler Rolin.“ Er beklagt „verlorene Einheit, Gottferne.“ In Wyatt hat er die Ausnahme gesehen, den Ausweg für sich selbst, der sich als tödlicher Irrweg erweist.

Gaddis’ Kunst arbeitet viel mit Spiegeleffekten. So wie sich das Drama Wyatt - Valentine im Verhältnis Valentine – Martin spiegelt, geschieht dies noch einmal im Fall der Beziehung zwischen Wyatt und seinem Studienkollegen Han. Dieser tritt nicht unmittelbar auf. Wir erfahren über ihn zunächst nur, was Wyatt später seiner Frau widerwillig mitteilt. Auch Han studierte Kunstgeschichte, vor dem Krieg in München. Er ist im Vergleich zu Valentine noch vitaler und viel bedenkenloser. Da ist eine brutale Burschikosität am Werk. Esther wittert, dass bei Wyatts überstürzter Abreise von Interlaken damals – vergeblich haben die jungen Männer eine Tour auf die Jungfrau geplant – Homosexualität eine Rolle gespielt haben könnte. Wyatt zitiert vor Esther einen Ausspruch von Han in Interlaken: „Etwas fehlt noch … wenn ich wüsste, was es wäre, würde es mir nicht fehlen.“

Gegen Ende des Romans hält sich Wyatt in einem spanischen Kloster auf und restauriert Bilder. Er macht einen verwirrten Eindruck, als er sich dort einem amerikanischen Schriftsteller offenbart. Angeblich sei er zuletzt eine Zeitlang in Algerien gewesen und dort zufällig seinem Studienfreund Han wieder begegnet. Han, so Wyatt jetzt, war in der Fremdenlegion und nahm an, Wyatt wolle dort auch eintreten. Han will alles nachholen, was sie versäumt haben, er wird ihm zur Seite stehen, ist ganz enthusiastisch. Als Wyatt ablehnt, dreht Han durch: „Du also auch! Man hat uns belogen und betrogen und jetzt auch du … ich hasse dich. Ich hasse dich wirklich. Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich hasse? Schon damals habe ich dich gehasst … denn etwas hat immer gefehlt. Und wenn ich wüsste, was es ist, würde es mir nicht fehlen.“ Han greift Wyatt an und Wyatt erschießt ihn.

Es bleibt offen, ob Wyatt hier nur phantasiert oder ob die Wiederbegegnung mit tödlichem Ausgang ein realistisch aufzufassendes Detail der erzählten Handlung ist. Großartig ist die Szene auf jeden Fall. Sie kann wie die beiden anderen misslingenden Beziehungen als ein katastrophal fehlschlagender Individuationsprozess im Sinne von C.G. Jung gedeutet werden, sowohl bezogen auf Wyatt wie auch auf Valentine und Han. Gerade Wyatts „Integration der Persönlichkeit“ duldet keine mann-männliche Annäherung. Steven Moore formuliert in „Die Fakten hinter der Fälschung“: „Letztlich bedeutet die Konfrontation mit der Anima (der weiblichen Komponente der männlichen Psyche) eine Anerkennung des Emotionalen, Intuitiven, ja sogar des Irrationalen … Eine detaillierte Untersuchung der Metaphorik des Romans ergäbe ein breitgefächertes Netzwerk weiblicher Symbole, die alle um die psychische Verstörung nach dem frühen Verlust der Mutter kreisen …“ Wyatts Biographie wie Werk zeugen vom rastlosen Verfolgen von Jungs Mutterarchetyp, sehr lange vergeblich. Wyatts Wesensänderung am Schluss des Romans – er verlässt auf unklare Weise geläutert und jetzt offen für die Welt das Kloster – kann nicht überzeugen und soll es vielleicht nach der Vorstellung des Autors auch nicht. Am Rande: Wyatts Aufbruch ins Ungefähre erinnert an das Ende von Hesses „Demian“. Wie Gaddis war auch Hesse stark von Jung beeinflusst.

Diese privaten Dramen des Sichverfehlens stehen in Gaddis’ Werk im Zusammenhang mit dem Zerfall von Kultur und Gesellschaft insgesamt. Betont werden muss jedoch, dass die hier dargestellten Handlungsfäden nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem komplexen Gewebe des Romans bilden. „Die Fälschung der Welt“ ist unter anderem auch breit angelegte aktuelle Zeitkritik, voll von Schwarzem Humor, der zum Beispiel in wiederholten satirischen Einschüben die Exzesse der Radiowerbung thematisiert. Die „Süddeutsche Zeitung“ gab beim Erscheinen der deutschen Übersetzung ihrer anerkennenden Rezension den Titel „Ein Dante des Geschwätzes“.

 

(Zitate nach der Übertragung von Marcus Ingendaay, 2. Auflage 1999)

 

 

 

27. Einige beunruhigende Stellen bei Dos Passos

„Neunzehnhundertneunzehn“, der zweite Teil der USA-Trilogie von John Dos Passos, behandelt private Schicksale vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Nach dem Kriegseintritt der USA 1917 meldeten sich manche Amerikaner freiwillig zum Sanitätsdienst des Roten Kreuzes, sowohl aus Idealismus wie auch um nicht als Soldat eingezogen zu werden. Im Roman wird eine Gruppe neuangekommener Sanitäter bald zur Front in der Champagne verlegt. Auf Seite 219 / 220 findet sich die erste Stelle, die mich nicht loslässt:

 

postierten sie ihre Feldbetten nebeneinander in denselben Winkel der alten, halbeingestürzten Scheune, die sie als ihr Kantonnement zugewiesen erhielten. Es regnete den ganzen Tag; Lastautos mit Soldaten und mit Munition rasselten auf dem Weg nach Verdun durch den tiefen flüssigen Straßenlehm an der alten Scheune vorbei. Dick pflegte auf seinem Feldbett zu sitzen und durch die offene Tür die hopsenden, kotbespritzten Gesichter der jungen französischen Soldaten zu betrachten, die zum Angriff vorgingen, betrunken, verzweifelt und mit Geschrei: A bas la guerre, mort aux vaches, à bas la guerre! Einmal kam Steve ganz plötzlich herein, das Gesicht leichenblass über dem triefnassen Plaid, seine Augen blitzten, und er sagte mit leiser Stimme: “Jetzt weiß ich, wie die Henkerskarren unter der Schreckensherrschaft ausgesehen haben, ja, das sind Henkerskarren!“

 

Diese Stelle in dem erstmals 1930 erschienenen Buch ist bereits technisch eine Glanzleistung. Dos Passos verwendet hier, wie er das häufig tut, eine auf die Literatur übertragene Film- und Kameratechnik. Der Leser blickt zuerst auf die Szene, dann verschmilzt sein Blick durch raschen Kameraschwenk mit dem des Protagonisten. Schließlich kommt der Ton hinzu: die Schreie der Rekruten und der entsetzt schlussfolgernde Vergleich eines historisch gebildeten jungen Amerikaners.

Vorangegangen ist eine Szene, in der französische Chauffeure, bisher tätig für den einheimischen Sanitätdienst, vor Wut schäumen, da sie ihre Wagen an die Amerikaner übergeben und selbst zum Kämpfen an die Front müssen. (S. 218)

Einige Tage später bricht es aus Dick hervor (S. 222):

 

Schöne Sache, wenn man sich seiner eigenen Rasse schämen muss! Aber ich schwöre euch, ich schäme mich, dass ich ein Mensch bin … es muss schon irgendeine große Welle kommen, vielleicht eine Revolution, damit ich wieder ein bisschen Achtung vor mir selbst empfinden kann … Mein Gott, was sind wir! Eine lausige, grausame, lasterhafte, stupide Gattung schwanzloser Affen!“

 

Ich habe dieses Hauptwerk von Dos Passos im Lauf der Jahrzehnte schon wiederholt mit Bewunderung und viel Anteilnahme gelesen. So nah wie jetzt waren mir Stoff, Buch und Autor noch nie.

Im Spiegel des Ersten Weltkriegs können wir zuallererst erblicken: UNS SELBST.

 

Der Autor Dos Passos war wie seine späteren Romanfiguren als Sanitäter während des Weltkriegs in Europa gewesen. Er schöpfte bei der Darstellung der Abläufe aus eigenen Erfahrungen. Seine Figur Dick fiel beim Roten Kreuz in Ungnade, nachdem sich ein italienischer Briefzensor über pazifistische Töne in seiner Post nach Hause beschwert hatte. In den Diskussionen Dicks mit seinen Vorgesetzten finden wir Argumentationsmuster und fast wörtlich Aussprüche, wie sie jetzt 2022 wieder häufig getan werden. Beispiel 1 (S. 243):

 

"Junger Mann", sagte ein kahlköpfiger Herr in einem prunkvoll eingerichteten Büro im Hotel Crillon, "Ihre Anschauungen verraten zwar eine unvernünftige und feige Gesinnung, spielen aber gar keine Rolle. Das amerikanische Volk ist entschlossen, sich den Kaiser zu holen. Jede Faser in uns, unsere ganze Energie ist auf dieses Ziel gerichtet. Wer immer diesem großen Apparat, den hundert Millionen Patrioten mit all ihrer Energie und Hingabe aufgebaut haben, zu dem edlen Zweck, die Zivilisation vor den Hunnen zu retten, wer immer diesem Apparat in die Quere kommt, wird wie eine Fliege zerdrückt werden …"

 

Oder Beispiel 2 (S. 244):

 

Spauldings Chef ... schrie: "Was würden Sie machen, wenn zwei Hunnen ihre Schwester überfielen? Würden Sie dann zuschlagen oder nicht?" Der Hauptmann ging auf und ab und erklärte mit lauter Stimme, wer nach der Kriegserklärung des Präsidenten noch Pazifist sei, den müsse man als Verbrecher bezeichnen oder, schlimmer noch, als ein moralisch verkommenes Subjekt …

 

Bis zu seinem Rücktransport in die Staaten arbeitet Dick als Krankenträger in Paris und hat nur mit schwerverwundeten Soldaten zu tun. Auszug aus seinen Eindrücken (S. 245):

 

Eines Nachts beorderten sie ihn in den Operationssaal, und zwölf Stunden lang hatte er nichts weiter zu tun, als Eimer mit Blut und Gaze hinauszutragen, aus denen ab und zu ein zersplitterter Knochen oder ein Stück Arm oder ein Stück Bein hervorschaute …

 

Es war damals ein Gemetzel mit Millionen Opfern und einer instabilen Nachkriegsordnung, die schließlich in einen neuen Weltkrieg mündete. In genau dieser Spirale sind wir heute wieder gefangen.

 

(Zitiert aus der Übertragung ins Deutsche von Paul Baudisch, rororo-Taschenbuch 4346, erschienen März 1979, ISBN 3 499 14346 1. Seit 2020 liegt eine Neuübersetzung der gesamten Trilogie bei Rowohlt vor.)

 

 

28. Aufstieg oder Untergang - Soziale Mobilität bei Dos Passos

In seiner USA-Trilogie - die Einzelbände erschienen 1930, 1932 und 1936 - unternahm John Dos Passos den Versuch, die enorme gesellschaftliche Dynamik zu gestalten, die sein Land zwischen der Jahrhundertwende und der Großen Depression erlebte. Das Gesamtwerk kann man, musikalisch gesprochen, als Sinfonie in drei langen Sätzen auffassen. Die Hauptthemen darin sind die privaten Lebensläufe von zwölf Hauptpersonen, um die sich Hunderte von Nebenfiguren mit unterschiedlichem Gewicht gruppieren. Unterbrochen wird die Abfolge der Kapitel über einzelne Protagonisten von Intermezzi eigener Art: Kurzbiographien prominenter Zeitgenossen aus Wirtschaft, Politik und Kultur sowie Collagen aus Schlagzeilen und Zeitungsartikelfragmenten, ferner autobiographisch-impressionistische Schnipsel. Das Werk hat nicht zufällig zwölf Helden, die Zwölf ist eine magische Zahl seit langem, von den Zwölf Aposteln bis zur Zwölftonmusik. Wie musikalische Themen in der Durchführung variiert und miteinander konfrontiert werden, so kreuzen sich auch bei Dos Passos die Lebensläufe seiner Figuren, wirken aufeinander ein, lösen sich voneinander. Den einzelnen Protagonisten sind von nur einem (Ben Compton) bis zu acht Kapiteln (Charley Anderson) gewidmet, die in scheinbar zufälligem Mix aufeinander folgen. Alles zusammen ergibt ein Netzwerk, dessen Struktur mal dicht, mal locker gewebt ist. Jede dieser Hauptfiguren begegnet einmal oder wiederholt einer oder mehreren anderen aus der Gesamtheit.

 

Das erwähnte Dutzend ist zur Hälfte männlich und zur Hälfte weiblich. Interessiert man sich primär für die soziale Dynamik, kann man diese unheilige Schar in drei Vierergruppen einteilen, die Erfolgreichen, die Stagnierenden und die Verlierer, wobei die Letzteren sämtlich auch physisch untergehen. Auch in diesen Gruppen ist das Verhältnis männlich-weiblich jeweils ausgeglichen. Wie sorgfältig komponiert dieses Werk doch ist …

 

 

J. W. MOOREHOUSE führt die Gruppe der Erfolgsmenschen an, er steigt am höchsten auf. Dabei kommt er aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, sein Vater ist Schalterbeamter am Bahnhof von Wilmington, Delaware. Der Aufstieg von Moorehouse vollzieht sich allmählich mit mehreren Rückschlägen. Seine erste Ehe ist eine tragische Farce, immerhin kann er auf der Hochzeitsreise durch Europa, Jahre vor dem Weltkrieg, nützliche Kontakte knüpfen. Wieder in den Staaten setzt er seine berufliche Odyssee durch die Wirtschaftszentren des Ostens fort und gründet nach Einheirat in eine vermögende Familie eine Werbeagentur in New York, die nach dem Krieg zu den größten im Land gehört. Den Krieg selbst und die Zeit der Friedensverhandlungen verbringt er als Leiter eines Nachrichtendienstes in Paris. Seine Kunden sind später vor allem große Industrie- und Handelsfirmen, deren Image er mit seinen Kampagnen aufpoliert. Er ist jetzt geschieden und hat drei Kinder aus zweiter Ehe, bei ihm lebend.

 

ELEANOR STODDARD kommt aus ähnlich kleinen Verhältnissen wie Moorehouse, mit dem sie eine Zeitlang intim befreundet ist und dem sie über Jahrzehnte freundschaftlich eng verbunden bleibt. Ihr Vater war Angestellter in den Chicagoer Schlachthöfen, sie selbst ist von früh auf an Kunst interessiert und macht sich mit einem Geschäft für Innendekoration selbständig, das sie nach ihrem Wechsel nach New York auch dort betreibt. Im Weltkrieg ist sie für das Rote Kreuz in Paris tätig und führt danach ihr Geschäft in New York weiter. Am Ende des dritten Teils steht sie vor der Hochzeit mit einem russischen Fürsten im amerikanischen Exil.

 

RICHARD ELLSWORTH SAVAGE, allgemein Dick genannt, entstammt einer etwas heruntergekommenen gutbürgerlichen Familie. Sein Großvater mütterlicherseits war sogar General, Dicks Vater dagegen sitzt lange im Zuchthaus ein, wohl wegen Wirtschaftsdelikten, wird später Konsulatsangestellter auf Kuba. Dick und seine Mutter ziehen von Chicago nach Trenton, New Jersey, und leben recht beengt in der von einer Tante geführten Pension. Dick kann in Harvard studieren. Bei Kriegseintritt der USA meldet er sich zum Sanitätsdienst des Roten Kreuzes, aber man schickt ihn nach Einsatz in Frankreich und Italien wegen seiner pazifistischen Gesinnung zurück. Jetzt protegiert ihn ein Politiker, für den er schon früher gearbeitet hat, und lässt ihn sich doch zum Militärdienst melden. Dick bringt es in Frankreich im Etappen- und Kurierdienst bis zum Hauptmann und knüpft Verbindungen zum Kreis um Moorehouse. Nach dem Krieg arbeitet er in dessen Unternehmen mit, wird zu Moorehouses rechter Hand. Der aalglatte Dick durchschaut und verachtet sich selbst gelegentlich, trotz seines beruflichen Erfolgs, ein Konformist mit schlechtem Gewissen. Er hat kurze, unbefriedigende Amouren und ist vielleicht bisexuell.

 

MARGO DOWLING aus New York ist in diesem Quartett der Erfolgreichen die Einzige aus proletarischen Verhältnissen. Ihr Vater: Arbeiter, Bademeister, Barmixer, dem Alkohol verfallen und stirbt früh. Über ihre Stiefmutter bekommt sie Kontakt zu Künstlern, macht bald Tourneen mit. Sie heiratet schon mit sechzehn einen, wie sich herausstellt, schwulen Kubaner, wird später Balletttänzerin in New York, tritt hier und da als Sängerin auf. Zeitweise lebt sie in Miami und nimmt an der Immobilienspekulation dort teil. Dann wechselt sie nach Los Angeles, wird Filmstatistin und nach Jahren von einem führenden Regisseur entdeckt. Sie wird zu einem der großen Stars der zu Ende gehenden Stummfilmära aufgebaut. Aufgrund einer Tripperinfektion – Ansteckung durch ihren Mann - mit folgenden Komplikationen wird sie kinderlos bleiben. Ihr damals in Havanna geborenes Kind ist schon nach Tagen gestorben.

 

 

Mit JANEY beginnt die Reihe derer, die sozial weder auf- noch absteigen. Ihr Vater ist Angestellter im Patentbüro in Washington, D.C. Sie wird in der Hauptstadt Schreibkraft und später die J.W. Moorehouse unentbehrlich werdende Sekretärin. Von allen Hauptpersonen ist sie die mit dem unauffälligsten Lebenslauf. Sie bleibt ledig.

 

BEN COMPTON ist Sohn von aus Osteuropa eingewanderten Juden. Sein Vater arbeitet als Uhrmacher bei einem Juwelier in New York, seine Schwester im Büro von Moorehouse. Ben ist nach der Schule eine Zeitlang Saison- und Gelegenheitsarbeiter außerhalb von New York. Nach seiner Rückkehr arbeitet er für einen Anwalt. Aus der geplanten juristischen Karriere wird unter den Bedingungen von Krieg in Europa und sozialen Unruhen in den USA nichts. Ben erweist sich als talentierter Redner, der Massen begeistern kann. Er tritt vor allem vor streikenden Arbeitern auf. Seine Partnerschaften gehen früh in die Brüche. Er wird als Demonstrant erheblich verletzt und verbüßt eine längere Haftstrafe. Gegen Ende der Trilogie wird er wegen Abweichlertums aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und will als Unabhängiger weiter für seine Sache kämpfen.

 

MARY FRENCH kommt aus Colorado. Ihr Vater ist Arzt und setzt sich sehr für seine Patienten ein, stirbt früh an der Spanischen Grippe. Mary verträgt sich schlecht mit ihrer bürgerlich standesbewussten Mutter. Sie wird nacheinander Fürsorgerin, Reporterin und Mitarbeiterin eines moderaten Gewerkschaftsfunktionärs und gelangt über Chicago, Pittsburgh und Washington, D.C. nach New York. Auch ihre Partnerschaften scheitern jeweils, darunter die mit Ben Compton. Sie lässt zweimal abtreiben. Sie reibt sich zunehmend auf als Mitarbeiterin einer radikalen Gewerkschaft, indem sie die materielle Unterstützung von Streikenden organisiert. Hier ist sie eine zentrale Figur, hat Erfolg, doch die Streiks brechen oft zusammen. Am Ende sieht sie sich hin- und hergerissen zwischen ihrem beruflichen und sozialen Engagement einerseits und der losen Verbindung zu einer immer stalinistischer werdenden KP andererseits. Sie will aber nicht mit ihrer Arbeit aufhören und damit endet die Trilogie.

 

MAC ist das einzige Proletarierkind in dieser Viererreihe. (In der folgenden wird es gar keines mehr geben.) Sein Vater war Nachtwächter in einer Fabrik in Neuengland. Aus der Not heraus finden sie Unterschlupf bei einem Onkel, der in Chicago eine kleine Druckerei betreibt. Nach dessen Bankrott zieht der junge Mac seine Bahn rund um halb Nordamerika, als Wander- und Saisonarbeiter, später als Drucker, vom Mittleren Westen über Kanada, die pazifische Küste entlang, nach Nevada … Er heiratet in San Francisco, das Paar bekommt Kinder und wechselt nach Südkalifornien. Doch die Ehe scheitert an den gegensätzlichen Einstellungen der Partner. Die Frau ist geprägt vom Streben nach Besitz und Konsum, Mac hat seit langem engagiert an sozialen Kämpfen teilgenommen. Nach ihrem Bruch reist er nach Mexiko, wo gerade – 1911 – eine Revolution begonnen hat. In deren Verlauf gelangt er in den Besitz einer Buchhandlung in Mexico City – und bleibt. Damit ist er, nicht ganz übereinstimmend mit seinen proletarischen Idealen, das geworden, was sein Onkel auch schon war, ein kleiner Unternehmer.

 

 

Unter den Verlierern ist EVELINE HUTCHINS, Tochter eines Pfarrers in Chicago und jahrzehntelange Freundin von Eleanor Stoddard. Sie eröffnet zusammen mit Eleanor einen Laden für Innendekoration. Später in New York ist sie Eleanors Angestellte in deren Geschäft. Sie war schon vor dem Weltkrieg mit ihren Eltern einmal in Europa und arbeitet im Krieg, wiederum im Gefolge von Eleanor, in Paris für das Rote Kreuz. Charakteristisch für sie sind ihre zahlreichen gefühlsintensiven, sie seelisch unbefriedigend lassenden erotischen Kontakte. Sie lernt in Paris einen sehr jungen, noch unreifen Amerikaner kennen, wird von ihm schwanger und heiratet ihn. Wieder in New York macht sie ihre Wohnung zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt. Sie entwirft Dekorationen und Kostüme für Theateraufführungen. Evelines Seitensprünge lassen die Ehe zerbrechen. Von einem neuerlichen erotischen Fiasko tief enttäuscht, bringt sie sich ganz am Ende des Werks um.

 

JOE WILLIAMS ist der Bruder von Janey. Er ist abenteuerlustig, konfliktbereit, stark emotional. Er lässt sich durch sein Leben und um die Welt treiben, erst bei der Kriegs-, nach einer Desertion bei der Handelsmarine. Er erlebt und überlebt viele riskante Situationen, darunter während des Krieges wiederholtes Torpediertwerden. Am Tag des Waffenstillstandes wird er in einer französischen Hafenstadt bei einer Schlägerei von einem Unbekannten totgeschlagen.

 

TÖCHTERCHEN heißt eigentlich Anne Elizabeth und ist die Tochter eines wohlhabenden Anwalts in Dallas, Texas. Sie ist ein übertrieben gefühlsbetonter Wildfang, wie Joe Williams unfähig zu einer vernunftgesteuerten Lebensführung. Spontan entschließt sie sich bei Kriegsende, in Europa beim Hilfsdienst für den Nahen Osten mitzuarbeiten. Sie hat in Italien ein kurzes Verhältnis mit Hauptmann Savage („Dick“), wird ungewollt schwanger und aufgrund ihrer gesamten Aufführung bald heimgeschickt. Dahin unterwegs macht sie in Paris Station und erfährt, dass Dick sie nicht heiraten will. In der Nacht vor ihrer Rückreise in die Staaten lernt sie noch einen jungen französischen Militärpiloten kennen. Sie verleitet ihn zu einem gemeinsamen riskanten Rundflug über Paris, beide stark alkoholisiert. Fast zwangsläufig stürzen sie in den Tod.

 

CHARLEY ANDERSON kommt aus North Dakota, wo seine alleinstehende Mutter eine Pension betreibt. Er arbeitet nach der Schule als Kfz.-Mechaniker in verschiedenen Bundesstaaten im Mittleren Westen. Auch er tritt bei Kriegseintritt zunächst in den Sanitätsdienst ein und wechselt später zur kämpfenden Truppe. Er wird Jagdflieger. Aus dem Krieg bringt er Fachkenntnisse über Aviatik sowie konstruktive Entwürfe für Flugzeugbau mit. Er wird Mitarbeiter und Teilhaber in der rasch aufblühenden Flugzeugindustrie, erst in New York, dann in Detroit. Daneben engagiert er sich stark an der Börse. Sowohl sein Privatleben – er ist verheiratet und hat Kinder – wie das Geschäftliche laufen ihm völlig aus dem Ruder. Er übersteht noch den Absturz einer von ihm gesteuerten Maschine und hält sich dann in Florida auf, wo er eine Beziehung zu Margo Dowling eingeht. Sein Ende: Unter hohem Alkoholeinfluss steuert er seinen Wagen gegen eine Zuglokomotive und erliegt einige Tage später im Krankenhaus einer Bauchfellentzündung.

 

 

Wo sind die Schauplätze für diese Handlungsmassen? Es sind vor allem Restaurants, Bars, Cafés, Privatwohnungen, Hotels, Straßenräume, Eisenbahnen, Versammlungssäle, weniger sind es Arbeitsplätze. Vor welchem historischen Hintergrund verfolgen wir die Handlungsstränge? Vor dem des Kriegs in Europa und mehr noch vor dem der jahrzehntelangen sozialen Kämpfe innerhalb der USA mit Streiks, Demonstrationen und staatlichen wie betrieblichen Zwangsmaßnahmen dagegen. Im Hintergrund unübersehbar: der rasante technische Fortschritt jener Zeit und die Immobilienspekulation. Beeindruckend ist die räumliche Mobilität der Figuren. Keiner bleibt auf Dauer an seinem Ursprungsort – wenn es nicht New York ist – und alle reisen viel, ziehen oft um. Dieser Mobilität im geographischen Raum entspricht indessen die soziale nicht bei allen Gestalten. Das will näher betrachtet werden …

 

Dos Passos hat sein Werk konzipiert, als er noch Sozialist war und Sympathien für die junge Sowjetunion hatte. Während er daran arbeitete, wurde er zunehmend kritischer. Das erweist sich gerade aus den Handlungsverläufen in der zweiten Hälfte des dritten Teils. Unabhängig von dieser Entwicklung fällt auf, dass von einem Dutzend Hauptpersonen nur zwei Gestalten dem proletarischen Milieu entstammen. Aus der Oberschicht findet sich gar kein Vertreter. Beim Personal herrscht der Mittelstand vor, vor allem sein unterer und mittlerer Sektor. Nur aus dieser Schicht gelingt einigen der soziale Aufstieg mitten in der Gesellschaft. Ob einem die Anpassung gelingt oder nicht, scheint primär vom Verhältnis Rationalität zu Emotionalität abzuhängen; je mehr die Letztere überwiegt, umso schlechter die Chancen im Existenzkampf. Was aus den beiden Arbeiterkindern wird, ist bezeichnend: Relativen Erfolg haben sie nur, indem sie randständige Existenzen bleiben, im Show-Business oder im Ausland. Aus Dos Passos’ Sicht sind die USA jener Jahrzehnte ein Land, in dem bei großem materiellen Fortschritt dessen Früchte ungleich verteilt bleiben. Die Arbeiterschaft geht nach langem Ringen leer aus. Ihr historisches Unterliegen ist parallelisiert mit dem Kampf und dem Sieg des Landes im Ersten Weltkrieg. Mit dem Ende von Sacco und Vanzetti – mit den erfolglosen letzten Schritten und Demonstrationen gegen ihre Hinrichtung zum Schluss des Werks hin dargestellt – wird diese Niederlage gewissermaßen ratifiziert.

 

Man kann das Ende der Trilogie so sehen: Mary French flüchtet sich aus komplizierten persönlichen Beziehungen und vor den Zweifeln, ihre Überzeugungen betreffend, in tägliche Arbeit, ohne noch vollkommen von deren Wert überzeugt zu sein. Darin ähnelt sie dem Autor Dos Passos, der nach Abschluss seines Hauptwerks allmählich immer konservativer wurde. Die amerikanische Gesellschaft selbst trat nach der von dieser Chronik behandelten Ära in einen neuen Abschnitt mit neuen Krisen und Umschwüngen ein: Weltwirtschaftskrise, New Deal, neuer Weltkrieg.

 

 

29. E.T.A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr

Der Roman mit dem vollständigen Titel „Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern – Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann“ ist eines der Hauptwerke der deutschen Romantik, erschienen in zwei Teilen 1819 und 1821. Ein geplanter dritter Teil kam infolge von Hoffmanns Tod 1822 nicht mehr heraus. Das Fragment von mehreren Hundert Seiten wurde und wird viel gelesen, studiert und immer wieder besprochen sowohl in Aufsatz- wie in Buchform. Wozu noch einen weiteren Sekundärtext hinzufügen? Er soll sich nur an hier zufällig Reinlesende richten, die das Werk noch nicht kennen, oder an solche, die sich gern an ihre Lektüre erinnern lassen. Man erwarte unter diesen Umständen keine regelrechte Rezension.

Das Buch ist vieles gleichermaßen, unter anderem Satire und Parodie, Schauerroman und Tierfabel. Es hat autobiographische Bezüge und eine zeitkritische Tendenz. Die Katerhandlung umfasst etwa ein Drittel des Gesamttextes, der größere Rest entfällt auf die Handlung um Kreisler und seine Bezugspersonen am Pseudo-Hof von Sieghartsweiler. Der Kater erzählt seine Lebensgeschichte fortlaufend chronologisch, unterbrochen von Fragmenten aus einer Kreisler-Biographie von unbekannter Hand. Es wird fingiert, der Kater hätte sich dieser Blätter nur als Manuskriptpapier bedient und der Text auf ihnen wäre versehentlich mit abgedruckt worden. Der Leser mag herausfinden, in welcher Beziehung beide Teile zueinander stehen.

Hoffmanns Stil erweist sich jeweils als virtuos. Im Detail zeigt sich bereits die Freude an genauer Beobachtung der Wirklichkeit. (Modell für den schriftstellernden Kater war Hoffmanns eigene Katze.) Murr hat sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht und verfasst Lyrik wie Prosa, besonders gern gelehrte Abhandlungen, gerichtet an die Katerjugend. Er parodiert unfreiwillig den deutschen Bildungsroman und hält sich als Dichter für ein Genie. Dieser Wahn entspricht demjenigen des Fürsten Irenäus, der nach Verlust seines kleinen Territoriums an der Fiktion festhält, noch regierend-gekröntes Haupt zu sein, und wie ehedem einen Hof mit Hofstaat unterhält. Eine solche Satire erinnert an Vergleichbares von Jean Paul, ist gerichtet gegen Kleinstaaterei und opportunistischen Untertanengeist. Auf Murrs Seiten wiederum werden neben dem Geniekult und -wahn die Burschenschaften und inflationärer romantischer Überschwang aufs Korn genommen. Das muss man selbst gelesen haben: wie Murr und seine geliebte Miesmies voneinander scheiden, tränenselig in übereinstimmendem Kalkül, oder wie Murr sein erstes Duell „auf den Biss“ übersteht …

Die Tiergesellschaft, zu der auch Hunde gehören, ist nicht nur Parodie des „Hofes“, der gar keiner ist, sie ist charakterisiert auch durch Spießbürgerlichkeit. Murr gilt in der Sekundärliteratur vor allem als der Philister im Gegensatz zum genial-zerrissenen wahren Künstler Kreisler. Das trifft es aber nicht ganz. Murrs Entwicklung kann man bei all dem Prätentiösen doch als einen echten Reifeprozess verstehen. Er hat so viel überstanden: Erotomanie und Exzesse der Burschenschaftler. Sein Lebenslauf weist wie derjenige Kreislers zuweilen große Gefahr für Leib und Leben auf. Am Ende kommt er in seiner Einstellung gegenüber der Gesellschaft zu resignativen Schlüssen, bei denen der Herausgeber kritisch anmerkt, das seien ja eben auch Kreislers Gedanken dazu. Der Kater war zeitweise in Kreislers Obhut, als sein Halter Meister Abraham auf Reisen. Von diesem Orgelbauer und Magier war hier noch nicht die Rede …

… und auch nicht von der Rätin Benzon, vom Prinzen Hektor und dessen Bruder oder von den jungen Damen Julia und Hedwiga. Und es wird hier auch nicht ausgeplaudert, wie sie alle zueinander stehen und wie erst am Ende des Romans der verwickelt geschürzte Knoten aufgelöst wird, mehr oder weniger. Es gab schon Kritik der Art, dass die Kreisler-Geschichte allzu fragmentiert sei. Indessen sind die Makulaturblätter so „zufällig“ dann doch nicht. Zwar brechen die Kreisler-Abschnitte regelmäßig mitten im Satz ab und setzen nach einem Murr-Zwischenspiel mitten in einem ganz anderen und in anderem Zusammenhang wieder ein, dennoch folgen sie inhaltlich einigermaßen chronologisch aufeinander. Was Kreisler ab seinem ersten Eintreffen in Sieghartsweiler fortlaufend erlebt, wie die Intrigen am Hof ablaufen, das kann der aufmerksame Leser sich schon erschließen. Wahr ist allerdings, dass Kreislers Vorgeschichte nur in andeutenden Rückblenden erzählt wird.

 

Abschließend ein Beispiel für die anhaltende Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit dem Roman: Sarah Kofman aus dem Kreis um den Philosophen Derrida hat dazu 1984 das Buch „Schreiben wie eine Katze“ veröffentlicht.

 

 

 

 

30. Über Tomasi di Lampedusas Erzählungen

Man wird Giorgio Bassani (1916 - 2000), der selbst ein bedeutender italienischer Autor war, ewig dankbar sein dafür, dass er den Nachruhm von Giovanni Tomasi di Lampedusa (1896 - 1957) durch sein Eintreten für die postume Publikation des Romans „Il Gattopardo“ erst ermöglicht hat. Nach dessen rasch einsetzendem Welterfolg sorgte Bassani auch noch für die Veröffentlichung der wenigen Erzählungen seines verstorbenen älteren Kollegen.

Tomasi di Lampedusas produktive Lebensphase als Autor war sehr kurz gewesen und hatte sich auf die letzten drei Jahre vor seinem Tod beschränkt. Dementsprechend schmal geriet der 1961 herausgegebene Band „Racconti“ (deutsch im selben Jahr: „Die Sirene - Erzählungen“). Die Titelgeschichte, die auch die erste im Übersetzungsband ist, bildet bereits den Schwerpunkt unter den drei Erzählungen, denen noch ein längerer autobiographischer Text folgt. „Die Sirene“ ist die Lebensgeschichte eines Gräzisten, in dem Bassani, wie er in seinem Nachwort schrieb, viel vom Wesen und Geist des Autors selbst fand. Der alte Professor lebt weniger in der Gegenwart als in der klassisch-griechischen Zeit, und zwar mit allen Sinnen. In seinen jungen Jahren hat ihn die vorübergehende, auch körperliche, Verbindung mit einer Sirene für immer der Jetztzeit und ihren Menschen entfremdet. Man kann das als Wiederaufnahme von mythologisierender Erzählweise der Antike betrachten – und auch als Allegorie: einsamer Intellektueller und später Erbe alter Kultur isoliert im barbarischen, einem ursprünglichen Leben entfremdeten 20. Jahrhundert. Es ist originell, eindrucksvoll, als Erzählung gut komponiert.

„Aufstieg eines Pächters“ liest sich wie eine Vorstudie oder Einleitung zu einer Fortsetzung von „Il Gattopardo“. Penibel und anschaulich werden die um 1900 langsam untergehende sizilianische Feudalaristokratie und ihr Antagonist, das landhungrige aufsteigende Bürgertum, beschrieben. In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg ist die kürzeste der drei Erzählungen angesiedelt: „Freude und moralisches Gesetz“. Tomasi di Lampedusa konnte, wie sich hier zeigt, die dürftigen Lebensverhältnisse kleiner Angestellter in der modernen Großstadt so plastisch darstellen wie die ganz anders beschaffenen von Professoren oder Großgrundbesitzern.

Die Sammlung schließt mit „Die Stätten meiner frühen Kindheit“, in denen die Vorbilder der Originalschauplätze von „Il Gattopardo“ ausführlich vor Augen geführt werden, auch dies wieder ironisch, stilsicher und vor dem Hintergrund einer umfassenden Bildung.

Welche persönliche Tragik: Da hat einer der besten europäischen Autoren seiner Zeit den eigenen Ruhm nicht einmal ansatzweise mehr erleben dürfen.

 

 

31. Honoré de Balzac: Vetter Pons

Der Roman „Vetter Pons“ entstand in der letzten großen Schaffensperiode von Balzac und erschien 1847. In jenen Jahren wartete der Autor darauf, dass die angestrebte Heirat mit der verwitweten Eveline Hanska möglich würde. Diese polnische Adlige, seine Geliebte seit langem, war in der Ukraine begütert und abhängig vom Ausgang einer Erbregelung und dem Plazet des Zarenhofs. Balzac und Frau Hanska trafen sich gelegentlich außerhalb Russlands, bereisten verschiedene europäische Länder und 1847 hielt sich der Autor auch mehrere Monate in der Ukraine auf. Er stand damals unter besonderem Druck, seelisch wegen dieser nicht enden wollenden Verlobungszeit und materiell aufgrund permanent hoher Verschuldung und einer infolge von Verträgen mit Zeitungen und Buchverlagen drückenden Arbeitslast.

Dieser Hintergrund mag mit zur Atmosphäre des Romans beigetragen haben. Er ist unter den vielen düsteren Sittenschilderungen voll von Untergängen eines der schwärzesten Werke der „Comédie humaine“. Im Zentrum steht der letzte Lebensabschnitt eines männlichen Künstlerpaares. Es wird bei der Lektüre früh klar, dass es auf das Ende der beiden alten Musiker hinauslaufen wird und dass die habgierigen Machenschaften ihres Umfelds sie in den Tod treiben werden. Dieser Stoff ist an sich so verstörend, dass er große Unlust bereiten müsste. Tatsächlich jedoch erzeugt die Erzählweise Spannung und das Verlangen, den Verlauf bis zum bitteren Ende gründlich und ohne große Unterbrechungen kennenzulernen. Die Handlung ist so mitreißend erzählt, dass die Lesefreude nie abnimmt. Die Situationen sind frappierend, die Personen plastisch vor unseren Augen und die Dialoge pointiert. Alle Details hängen eng zusammen und voneinander ab. Es ist wie ein Mahlstrom und zugleich wie ein Räderwerk, erinnernd an monströse Brunnenplastiken von Tinguely, heiter bis verspielt oft im Detail, im Ganzen ein Mechanisch-Seelenloses am Laufen haltend.

Der Musiker Pons ist seit Jahrzehnten Liebhaber wie passionierter Sammler großer Kunstwerke. Dafür hat er sein Erbe und den Großteil seiner erarbeiteten Einkünfte hingegeben. Der Wert dieser Sammlung steigt im Lauf der Jahrzehnte stark an und wird erst spät von seiner Umgebung erkannt. Um diese Zeit wird Pons von seiner wohlhabenden, einflussreichen Verwandtschaft grundlos geächtet und er erkrankt daraufhin ernsthaft. Sogleich beginnt der Kampf um das erwartete große Erbe. Beteiligt daran sind eine angeheiratete Kusine, die Haushälterin der beiden alten Männer, ein Altwarenhändler, ein Anwalt, ein Arzt, ein anderer Kunstsammler. Sie arbeiten teils zusammen, teils gegeneinander und bringen Pons nach Monaten eines zunehmenden Martyriums unter die Erde. Alleinerbe ist testamentarisch sein Freund Schmucke, dem jedoch die Sammlung bald abgejagt wird. (Schmucke stirbt kurz darauf.) Die Sammlung geht an die reiche Verwandtschaft, wird verkauft, der Erlös in Grundeigentum angelegt. Für die Helfershelfer fällt auch einiges ab. Das Geld hat sich, wie üblich bei Balzac, als das große Schmiermittel der sozialen Hydraulik erwiesen.

Balzacs Roman ist eine Abrechnung mit der Gesellschaft unter dem Bürgerkönig Louis Philippe. Ein Jahr nach der Publikation brach die Revolution aus und erschütterte die Basis der Großbourgoisie, konnte sie aber nicht zum Einsturz bringen. Es gibt im Roman neben den beiden Musikern nur eine einzige positiv gezeichnete Figur. Der Theaterdiener Topinard hat eine ähnlich isolierte Stellung in der Gesellschaft seiner Zeit wie später Dussardier in Flauberts „Èducation sentimentale“. Flauberts Held wird beim Widerstand gegen die Machtübernahme Louis-Napoléon Bonapartes erschossen. Unheroischer geht es mit Topinard weiter:

 

„Der Kassierer des Theaters … ist immer noch Herr Topinard; aber Herr Topinard ist finster und menschenfeindlich geworden und spricht wenig; man nimmt an, er habe ein Verbrechen begangen … Der Name Fraisier (ein skrupelloser Anwalt) versetzt dem ehrlichen Topinard einen Stoß. Vielleicht erscheint es merkwürdig, dass man die einzige Seele, die Pons’ und Schmuckes würdig war, in den untersten Regionen eines Boulevardtheaters findet.“ (Übersetzung: Otto Flake)

 

Von Interesse ist auch, wie Balzac unterschiedliche Ethnien behandelt, d.h. in der Handlung einsetzt. Schmucke ist Deutscher und steht als solcher für ein Land romantischer Rückständigkeit. Er ist sympathisch infolge seiner Naivität und Unbeholfenheit. Es ist klar, dass hier ein Gegenbild zu dem modern-kapitalistischen Frankreich der Julimonarchie beschworen wird. Differenzierter gestaltet Balzac zwei weitere Deutsche, die in Paris ansässig geworden sind. Schwab und Brunner weisen zwar deutsche Eigentümlichkeiten auf, doch werden sie im Unterschied zu Schmucke nicht untergehen, da sie sich im notwendigen Umfang den in Paris herrschenden Usancen angepasst haben. Brunners Herkunft ist übrigens halb jüdisch. Für das traditionelle Judentum steht der Kunstkenner, -sammler und -händler Elias Magus, eine der übleren Figuren des Romans. Daraus wie aus sonst gelegentlich eingestreuten unfreundlichen Formuliereungen, Jüdisches betreffend, ist noch nicht der Vorwurf des Antisemitismus abzuleiten. Der Autor Balzac schafft Gestalten nach der Natur und diese betrachtet er mit den Augen des Soziologen Balzac. Magus überragt an Schlechtigkeit durchaus nicht die christlichen Figuren Fraisier und Rémonencq, mit denen er kooperiert, vielleicht steht er insoweit noch unter ihnen. Auf diese ihm eigentümliche Weise interpretiert Balzac das Fortschreiten der Emanzipation der Juden. Karl Marx hat die literarischen Gesellschaftsanalysen des Legitimisten Balzac geschätzt.

Pons und Schmucke bilden ein platonisches Paar und werden in ihrem Viertel die beiden Nussknacker genannt. Sie, die sich erst im Alter gefunden haben, sind unbeweibt geblieben, da sie von Jugend an allzu hässlich waren. Versündigt man sich an Balzacs Werk, wenn man diesen Sachverhalt auf möglichen Subtext untersucht? Immerhin hat Balzac in seinem Romanzyklus mit Vautrin den ersten deutlich erkennbaren homosexuellen Helden der französischen Literatur geschaffen. Nun ist Vautrin ein genialer Bösewicht und Pons und Schmucke sind die Gutartigkeit selbst. Ist hässlich eine verhüllende Umschreibung dafür, dass sie sexuell anders sind? Sind sie ein homoerotisches Philemon-und-Baucis-Paar? Die Art, wie der trauernde Schmucke mit der Leiche des Freundes umgeht, könnte so interpretiert werden.

Oder man untersucht, welche Funktion für den Fortgang der Handlung Frauen haben. Sie sind hier die Weichensteller des Unglücks und die Türöffner für die männlichen Harpyien. Pons wird zu Beginn schwer gekränkt von seiner Kusine Camusot, deren verzogener Tochter Cécile und der Dienstbotin Madeleine ( - die übrigens Pons mal heiraten wollte!). Die fatale Kusine, allein an Materiellem und sozialem Aufstieg interessiert, erreicht etwas später nach einem gescheiterten Eheprojekt Pons’ endgültige Ächtung in der guten Gesellschaft. Daraufhin erkrankt Pons zuerst seelisch und bald darauf auch körperlich. Sein Leberleiden müsste nicht tödlich für ihn sein, würde er nicht von seiner Haushälterin, der Concierge Cibot, gezielt zu Tode gepflegt. Und sie ist es, die die Tiger, ein Ausdruck Schmuckes, sich über die Kunstsammlung hermachen lässt. Also: Zwei Männer, Opfer von Frauen? Dass Frauen in dieser Tragödie die Schlüsselstellen innehaben, begründet noch nicht den Vorwurf der Misogynie. Diese Konstruktion ist nur ein Indiz für Distanz, Ferne, das Fehlen von mütterlich Nährendem oder weiblich Hinanziehendem. Pons und Schmucke sind dadurch Ausgeschlossene, schutzlos in der Gesellschaft ihrer Zeit. Pons` Passion für die Kunst erweist sich als ein Surrogat, sie wird zur Leidenschaft, die Leiden schafft.

 

 

32. Klaus Mann: Letztes Gespräch - Erzählungen

1986 brachte der Aufbau Verlag diese nur für die DDR und den Export in sozialistische Länder bestimmte Sammlung von achtzehn Erzählungen Klaus Manns (1906 – 1949) heraus. (Die Rechte lagen bei einem Verlag in München.) Die Texte entstammen der frühen und mittleren Schaffenszeit des Autors. Sie wurden erstmals veröffentlicht zwischen 1924 und 1937.

Am Anfang steht „Die Jungen“. Hier verarbeitet Mann Eindrücke von zwei kürzeren eigenen Aufenthalten an Internatsschulen der Reformpädagogik. Geschildert wird vor dem Hintergund von Inflation und Nachkriegszeit die damalige Orientierungslosigkeit von Schülern wie Lehrern. In einer Figur porträtiert der noch sehr junge Autor sich selbst und eigene Problematik. Der Text beeindruckt mit seiner Choreographie der Verunsicherten, deren Verhalten ungewöhnlich präzise wiedergegeben ist.

In maskierter Form angedeutet sind auch in den folgenden drei kurzen Stimmungsbildern die existenziellen Probleme des heranwachsenden Klaus Mann, vor allem seine Stellung innerhalb der berühmten Schriftstellerfamilie. Es folgen drei weitere etwas längere Texte, in denen er Geschichten erfindet, die er in ihm vertrauten Milieus ansiedelt. Im Kern geht es um erotische Sonderwege, vielleicht zum Glück hin. In „Sonja“ findet eine junge Frau gerade in enttäuschter Erwartung ihre Erfüllung. In „Der Vater lacht“ sucht eine nicht akzeptierte Tochter den eigenen Vater zu verführen. Am erfolgreichsten war damals „Kindernovelle“, wiederum mit erkennbarem autobiographischem Hintergrund: Ferieneindrücke aus Oberbayern, Geschwister, Eliminierung eines ungeliebten Vaters. Erneut leicht skandalös: Die verwitwete Mutter wird ohne Wiederverheiratung noch einmal schwanger.

Bis hierhin sind es Texte, die spätestens Mitte der zwanziger Jahre entstanden waren. Die folgende Gruppe von fünf Erzählungen, veröffentlicht ab 1929, unterscheidet sich davon beträchtlich. Jetzt siedelt der inzwischen bekannt gewordene Autor seine Stoffe an vielen Orten rund um den Globus an, von der deutschen Nordseeküste – Herman Bang lässt hier grüßen - bis nach Nordafrika oder nach Hollywood. Mann profitiert beim Schreiben von seinen eigenen Reisen und den zahlreichen Kontakten zu Zeitgenossen. Die Stoffe werden zunehmend belletristisch und anekdotisch, die erzählten Geschichten wirken weniger überzeugend als die kleinen Frühwerke. Hier scheint jetzt ein mäßig begabter Berufsschriftsteller am Werk zu sein.

Noch einmal anders die letzten sechs Erzählungen, alle aus der Emigration. Die Texte gewinnen wieder an inhaltlicher Relevanz. Sie sind dabei bezüglich Stoff und literarischer Qualität recht unterschiedlich. Die durchaus beachtliche Titelgeschichte „Letztes Gespräch“ behandelt das Auseinandergehen eines Emigrantenpaares in Paris, das mit dem Suizid der Frau endet. Den Schluss bildet die längste Erzählung der Sammlung: „Vergittertes Fenster“. Mann erzählt hier das Ende des Königs Ludwig II. 1886 in Berg am Starnberger See. Literarisch ist es der gelungenste Text des Bandes, und doch kann gerade er missfallen. Das Unbehagen daran hat schon Stefan Zweigs Kritik herausgefordert, die das Nachwort von Friedrich Albrecht referiert. Zweig wandte sich gegen die romantisierende Tendenz und die zum Teil ahistorische Darstellung, z.B. Kaiserin Elisabeth betreffend.

Es ist schwierig, der Sammlung gerecht zu werden. Sie zeigt auf der einen Seite Talent und Produktivität des Autors, hat auch meist ansprechende Themen. Doch auf der anderen wird deutlich, wo die Grenzen von Klaus Mann lagen, gezogen durch Charakter, tragische Biographie und widrige Zeitumstände.

 

 

33. Johann Gottfried Seume: Mein Leben

Johann Gottfried Seume (1763 – 1810) war vieles in seinem nicht sehr langen Leben: Söldner wider Willen, Sekretär eines russischen Generals, Verlagsmitarbeiter, Hauslehrer und daneben und nicht zuletzt auch Schriftsteller. Bekannt geworden und bis heute in Erinnerung geblieben ist er vor allem durch seine Reisebeschreibung „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, 1803“. Es folgte noch „Mein Sommer 1805“ über Reiseeindrücke aus Russland und Skandinavien.

Im Jahr vor seinem Tod schrieb er an der Autobiographie „Mein Leben“, die er nicht mehr vollenden konnte. Der ca. einhundert Seiten lange Text schildert die Herkunft des Autors sowie sehr anschaulich seine Kindheit und Adoleszenz und bricht im Jahr 1783 ab. Seume war Bauernsohn, wuchs zuerst bei Weißenfels auf, dann zog die Familie in die Nähe von Leipzig, wo der Vater ein Gasthaus mit Landwirtschaft erworben hatte. Verarmt starb der Vater früh und hinterließ eine Witwe mit fünf Kindern. Johann Gottfried, der Älteste, wurde aufgrund seiner Begabung bald durch einen adligen Großgrundbesitzer protegiert, erst in Borna, dann in Leipzig untergebracht und von bewährten Lehrern unterrichtet. Hier schickte man ihn auch auf die Universität, damit er Theologe werde. Doch stand er dem herrschenden orthodoxen Luthertum zunehmend kritisch gegenüber und brach daher 1781 das Studium ab. Er machte sich zu Fuß nach Paris auf, sein Plan: die Artillerieschule in Metz zu besuchen. Jedoch wurde er bereits am dritten Tag seiner Wanderschaft von Werbern des hessischen Landgrafen aufgegriffen und wie so viele andere damals in den Soldatenstand gepresst. Es folgten für sie eine längere Wartezeit auf der Festung Ziegenhain, dann die Reise weserabwärts und an der Küste ihr Verbringen auf englische Kriegsschiffe. Der Landgraf hatte die Männer der britischen Krone für deren Kampf im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg vermietet. Die Segelschiffreise nach Kanada zog sich aufgrund von Stürmen und kriegsbedingten Umwegen lange hin. Erst nach zweiundzwanzig Wochen erreichte man Halifax und blieb dort kaserniert bis zum baldigen Kriegsende. Also zurück nach Europa und Seume war 1783 immer noch einer der Zwangssöldner des Landgrafen. Es zeichnete sich ihre Übergabe ans preußische Militär ab (zu der es später tatsächlich kommen sollte). Seume desertierte in Bremen, erfolglos, wie wir wissen. Mitten in der Beschreibung seiner Flucht hört der Text auf: „Und nun -“.

Der heutige Leser erhält ein farbiges Bild der Lebensumstände am Ausgang der Barockzeit, auf dem Land und in der Stadt, im Bildungswesen, auf See, beim Militär. Wir lesen von Hungerkrisen und dem Aufschwung klassischer Bildung. Mit Erstaunen vergegenwärtigt man sich, wie groß die Rolle antiker Schriftsteller und der alten Sprachen war. Indem Seume diese uns so fremd gewordene Vergangenheit beschreibt, wird gleichzeitig auch sein Selbstbild entworfen, das eines energischen, selbstbewussten und gleichwohl auch selbstkritischen Mannes. Leicht befremdet wird man vielleicht konstatieren, dass ein so entschieden Progressiver der damaligen Zeit zugleich vom Militärischen, Soldatischen fasziniert sein konnte. Man kann dennoch Sympathie für ihn empfinden und sich vornehmen, bald auch wieder zum „Spaziergang nach Syrakus“ zu greifen.

 

 

34. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802

Seumes innere Beweggründe für seine Fußwanderung von Sachsen nach Sizilien und zurück über Paris sind gelegentlich erörtert worden. Man liest dann von seiner enttäuschten großen Liebe zu Wilhelmine Röder, von einer Neigung zu freiem Umherschweifen und von der Absicht, mit bisher einmaliger Aktion einen Platz in der Literaturgeschichte einzunehmen. Offen zutage liegt, dass er für seine Unternehmung den günstigsten Zeitpunkt wählte, eine mehrjährige Pause in der Kette der Koalitionskriege mit Frankreich. Napoleon hatte im Februar 1801 in Lunéville Frieden mit Österreich geschlossen, seitdem war nach schlachtenreichen Jahren endlich wieder Ruhe in Italien. Seume brach im Dezember desselben Jahres nach Süden auf und kehrte im August 1802 zurück.

Je weiter er sich von der Heimat entfernt, desto mehr nimmt er an äußeren Eindrücken auf und umso informativer und anregender wird seine Darstellung für den Leser. Dresden wird noch rasch und wenig freundlich abgehandelt, erst mit der Wanderung durch die habsburgischen Länder nimmt der Bericht zunehmend Fahrt auf. In Wien sieht Seume einen Zusammenhang zwischen staatlicher Repression und allgemeiner Missstimmung in der Bevölkerung. Er zieht über die winterlich verschneiten Alpen, kommt über Graz und Laibach mit dem Frühling in Venedig an. Österreich hat als Entschädigung für seine verlorenen westlichen Territorien Venezien erhalten. Seume registriert, was das mit sich bringt, wie die Stimmung dort ist. Er sieht auch im weiteren Verlauf genau hin. Im Großteil Italiens sind nach republikanischem Zwischenspiel mit französischer Besatzung gerade die vorrevolutionären Zustände restauriert worden. Der Kirchenstaat wurde wiederhergestellt, in Neapel herrschen wieder die Bourbonen. Seume beklagt die grassierende Armut, die schlechte Verwaltung, die Straßenräuberei, die vernachlässigte Landbebauung. Er ist parteiisch, ein Mann der Aufklärung, für den Freiheit und Gerechtigkeit zwei Aspekte derselben Staatsverfassung sind. Er hat Hoffnungen in die Revolution von 1789 gesetzt und ist jetzt ein scharfer Kritiker Napoleons, den er schon damals historisch zutreffend einzuordnen weiß. Eine spezielle Abneigung hat Seume gegen das Wiedererstarken der Macht der katholischen Kirche, gegen Klöster und Mönche. Eines seiner Spezialinteressen: Kunstraub während der französischen Besatzung.

Soweit der politisch denkende Zeitgenosse Seume. Aber er ist auch Privatmann, Reisender an sich, Landschaftsgenießer, Kunstreisender. Er dürfte tatsächlich mehr als die Hälfte der insgesamt etwa 6000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben. Manchmal vertraut er sich auch geführten Maultieren an, und wenn er mal per Kutsche reist, steigt er gern aus, um ein Stück vorwegzugehen. Er wird in Italien unterwegs zweimal überfallen. In den Städten grast er öffentliche wie private Sammlungen nach antiken Kunstwerken ab. Er liest während der gesamten Reise in mitgeführten Büchern griechischer oder römischer Autoren und sucht gern die Orte auf, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Er hat Empfehlungsbriefe an Männer der Wissenschaft in fast jeder größeren Stadt. Vor allem aber macht er unterwegs immer wieder Bekanntschaft mit anonymen oder ohne ihn anonym gebliebenen Personen, deren Verhalten wie Schicksal er im Buch skizziert. Auf diese Weise erhalten wir von ihm selbst auch noch ein Bild: das eines offenen und neugierigen Charakters, so selbstkritisch wie selbstbewusst.

Seumes Faszination auf Spätere besteht u.a. darin, dass er in einer für die moderne Welt grundlegenden Phase lebte, dass er ihren Krisen ausgesetzt war und davon unmittelbar Zeugnis ablegte. Mehr als ein Hauch Tragik liegt insofern über seinem Leben, als er in so vieles involviert war, dessen Abschluss er nicht mehr erleben durfte. Er kam 1763 mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges zur Welt, das den damals weltumspannenden englisch-französischen Gegensatz nicht abschließend aufzuheben imstande war; er dauerte über Seumes Tod hinaus fort. Seume wurde 1781 in den Soldatenstand gezwungen, an England ausgeliehen, um in Nordamerika gegen die abgefallenen Kolonien zu kämpfen. Er erlebte deren Sieg und die Unabhängigkeit der neuen Vereinigten Staaten, doch nicht mehr ihren langsamen Aufstieg im 19. Jahrhundert. Er hatte an Kanadas Küste Kontakt zu den dort noch lebenden Autochthonen und sah, worin sie sich von Europäern unterschieden; ihr weiteres Schicksal enthüllte sich ihm nicht mehr. Er erlebte aus größter Nähe die Dritte Teilung Polens und auch dazu nicht den weiteren Verlauf. Vor allem aber war er Zeitgenosse der Französischen Revolution, auch ihr Sympathisant, und er sah richtig voraus, wohin Napoleon das Land führen würde. Seume starb 1810, als Preußen und Österreich auf dem bis dahin tiefsten Punkt ihrer Machtentfaltung angelangt waren; sein heimatliches Sachsen ein französischer Vasall. Wie sehr er an alledem noch Anteil genommen hätte: am Feldzug in Russland, am Wiener Kongress, an Napoleons Ende, an Restauration und bürgerlicher Transformation der Staaten Europas … Allerdings ist schwer vorstellbar, dass all das diesen Mann im Ergebnis hätte befriedigen können. Er bietet das paradoxe und anrührende Bild eines in und hinter der Zeit zurückbleibenden Progressiven.

 

 

 

35. Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise

Kann man über Jean Pauls satirische Erzählung „Dr. Katzenbergers Badereise“ noch Neues sagen nach gut zweihundert Jahren der Rezeption? Es ist eines seiner bekanntesten Werke und hat vor den großen Romanen einige Vorzüge, die die Lektüre erleichtern: nicht allzu lang, ausnahmsweise eine abgeschlossene Handlung und viele unmissverständlich deftige Stellen.

Man kann heute versuchen, sich mit einem feministischen Ansatz interessant zu machen. So könnte man mit einigem Recht sagen, dass nicht Katzenberger die Zentralfigur der Erzählung ist, sondern seine ihn begleitende Tochter Theoda. Tatsächlich ist sie es, die Beziehungen zu allen wesentlichen Figuren hat oder erst aufnimmt. Der Doktor selbst steht generell eher am Rand, fast ein Menschenfeind, und reist nur, um im Badeort einen Berufskollegen zu verprügeln, der Katzenbergers wissenschaftliches Schrifttum schlecht rezensiert hat. Theoda wird auf der Hinreise und anfangs auch noch nach der Ankunft in Bad Maulbronn von einem Mitreisenden umworben. Dieser Herr von Nieß gibt sich als Freund des Erfolgsautors Theudobach aus, an den Theoda unbekannterweise einen Brief voller Verehrung geschrieben hat. Tatsächlich ist Nieß, der Theoda im Übrigen kühl lässt, selbst der Dramatiker und Theudobach nur sein Pseudonym. Im Badeort dann der Knalleffekt der Handlung: Ein echter Theudobach tritt auf, ein junger preußischer Offizier und Militärschriftsteller. Zu ihm fühlt sich die junge Frau sogleich hingezogen und Jean Paul lässt sie im weiteren Verlauf ein Paar werden. Dazwischen verfolgt ihr Vater seinen Racheplan mit unerwartetem Ergebnis. Eine weitere wichtige Bezugsperson für Theoda ist ihre Busenfreundin Bona, eine Nachbarin, die während der Reise ein Kind bekommt. Theoda schreibt ihr unterwegs gefühlvolle Briefe.

Die Satire ist eine doppelte Abrechnung. Zum einen nimmt sie Jean Paul mit Konstruktion und Ausgestaltung am damaligen Literaturbetrieb vor, an sentimentalen Erfolgsstücken, an deren unkritischer Aufnahme durch ein naives Publikum. Zum andern kritisiert er in der Gestalt des Ekelpakets Katzenberger inhumane Tendenzen der Wissenschaft. Theudobachs Poesie ist künstlich, verlogen, und Katzenbergers Interesse ist das Monströse. Als Kontrast und Ideal erscheint dagegen, vertreten durch Theoda und Bona, andeutungsweise auch durch den jungen Offizier, das einfache, tätige Leben auf der Basis eines reinen natürlichen Gefühls. Jean Paul scheint den Vorwurf einer idealisierenden Scheinlösung zu fürchten und skizziert den positiven Verlauf der Haupthandlung mehr, als dass er ihn kräftig ausmalt. Das Glück dieses Paares bleibt etwas Exklusives, vielleicht Ephemeres.

In seiner Kritik an den Auswüchsen von Literatur und Wissenschaft ist Jean Paul weniger auf der Höhe seiner Zeit angekommen, als dass er deren weitere Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert ahnungsvoll vorwegzunehmen scheint. Hierin ähnelt er Balzac, der eine Generation später die Gesellschaft seiner Zeit studiert und aus den erkannten Tendenzen Figuren und Geschichten formt, die lange als Grundmuster gültig sein sollten. Kann man sich Katzenberger und Nieß noch als Karikaturen heutiger Zeitgenossen vorstellen? Gut möglich. Und Theodas Entwicklung auch als gegenwärtig denkbar? Vielleicht.

 

INHALT

1. Edmund White: Abschiedssymphonie 

 

2. Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten

 

3. Rattawut Lapcharoensap: Sightseeing 

 

4. Über eine Stelle bei Saul Bellow 

 

5. Władisław-Stanisław Reymont Die Bauern 

 

6. Anton Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen 

 

7. Mark Twain lesen 

 

8. Arthur Schnitzlers Welt in unserer Zeit 

 

9. Simplicius und die vaterlose Gesellschaft 

 

10. Italo Svevos Alterserzählungen 

 

11. Harry Graf Kessler: Nach Weimar! 

 

12. André Gide: Der Immoralist 

 

13. Robert Walser: Jakob von Gunten 

 

14. Ketzerisches über Proust 

 

15. Robert Walser und der Weltkrieg 

 

16. Altchinesische Novellen 

 

17. Li Yü: Jou Pu Tuan  - Erotikroman 

 

18. Lesage: Der hinkende Teufel 

 

19. Nikolai Leskow lesen 

 

20. Tucholsky rüffelt Brecht: Keine Plagiate! 

 

21. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus

 

22. Hans Keilson: Das Leben geht weiter 

 

23. Zwei Erzählungen von Hans Keilson 

 

24. Pavese im Doppelkammerbeutel 

 

25. Alexander Roda Roda - Sein Werk und seine Zeit

 

26. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit - Gestalten bei William Gaddis

 

27. Zwei Stellen bei Dos Passos

 

28. Aufstieg oder Untergang - Soziale Mobilität bei Dos Passos

 

29. E.T.A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr

 

30. Über Tomasi di Lampedusas Erzählungen

 

31. Honoré de Balzac: Vetter Pons

 

32. Klaus Mann: Letztes Gespräch - Erzählungen

 

33. Johann Gottfried Seume: Mein Leben

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.05.2019

Alle Rechte vorbehalten

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