Von den Übrigen hat ihn nie einer besucht. Nur Oma machte sich auf den Weg, sie setzte sich ins Flugzeug und kam für eine Woche zu ihm, dem einzigen Enkel. Es wurde ihre letzte, ihre größte Reise überhaupt. Vor dem Krieg war sie mal dreihundert Kilometer mit der Eisenbahn gefahren und hatte ihre Tochter im Landdienst besucht. Außerdem war sie bei ihrer jüngsten Schwester in Ludwigshafen gewesen, eine Reise, die schmachvoll endete: Oma machte an der Bahnsteigsperre etwas falsch, und darauf die Schwester lachend zum Bahnbeamten: Die ist vom Land …! Oma hat es ihr nie verziehen.
Jetzt schreiben wir 1972 und Oma ist fünfundsiebzig. Sie kommt ihm aufgeregt in Tempelhof entgegen, lässt sich zum Autobus dirigieren, redet unaufhörlich, über die Mitreisenden im Flugzeug, seine Leute daheim, über Einkaufen und Kochen, wie er angezogen ist – unmöglich! Sie wird ihm Geld anbieten, damit er sich ordentlich ausstaffieren kann. Bei einem seiner Besuche hat sie gesagt: Du siehst ja gar nicht aus wie ein Herr! Ja, das war eben der entscheidende, durch nichts zu verwischende Unterschied …
Er hat Urlaub und wird sie sieben Tage lang dirigieren, quer durch die Stadt, sie soll möglichst viel sehen und begreifen, wie gut er es hat. Später wird er begreifen, dass er mit zweiundzwanzig ein Rindvieh gewesen ist. Für beide wird es eine Woche voller Mühsal. Schon diese überbreiten Straßen – sie schafft es nie in einer Grünphase von der einen Seite auf die andere. Dann müssen sie lange auf dem Mittelstreifen warten, in Lärm und Gestank. Die Autobusse haben je nach Modell den Eingang mal vorn, mal hinten, und Oma steuert zielstrebig immer das falsche Ende an.
Er zeigt ihr die Sehenswürdigkeiten. Sie gehen den Kudamm ein Stück auf und ab, sie ist unbeeindruckt. Er fährt mit ihr zur Pfaueninsel. Sie braucht zwei Stunden für den kleinen Rundgang und macht beinahe schlapp. Und was sie hier sieht, interessiert sie auch nicht. Noch mehr langweilt sie sich im Botanischen Garten, am meisten in den Pflanzenschauhäusern. – Oma, sollen wir ins Schloss Charlottenburg? – Ach, lieber nicht. Weißt du, wenn man ein Schloss gesehen hat, kennt man sie alle. (Welche Schlösser hat sie denn schon gesehen?)
Gut, dass es Edgar gibt, mit dem er locker befreundet ist. Als Fußpfleger ist Edgar Umgang mit alten Frauen gewohnt, und er macht einen Vorschlag: Er wird einen Abend mit Oma gestalten und wird noch Heino mitbringen, den hübschen und sanften Heino, der Nietzsche liest und Wachmann bei den Amerikanern in Lichterfelde ist. Sie fahren zu viert im Auto zum Kudamm und gehen mit Oma in die Gedächtniskirche. Da gibt es ein geistliches Konzert. Ob das gut geht? Oma ist seit 1920 gläubige Atheistin und lästert permanent über Kirche und Pfaffen. Es geht gut, Oma schwärmt nachher, als sie wieder nach Moabit heimfahren, von den Chören, von der Orgel, von dem wunderbaren blauen Licht.
Der Enkel ist schwul und Oma insoweit ahnungslos. An seinen Freunden fällt ihr nur auf, dass sie freundlich sind. Mag sein, dass Sexualität für Oma kein großes Thema mehr ist. War sie nicht schon immer prüde? Als Schulbub hatte er mal eine Bemerkung aufgeschnappt und vor ihr zu wiederholen gewagt, fragend: In sechzehn Monaten dreimal schwanger?! Da hatte sie ihn angefahren und niedergezischt – über so etwas durfte nicht gesprochen werden. Er war sich wie ein kleiner Verbrecher vorgekommen. Erst nach ihrem Tod, neun Jahre nach dieser Reise, wird er erfahren: Oma war siebenmal schwanger und hat viermal abgetrieben. Und in ihrem langen Todeskampf schreit sie: Schafft mir die Kinder vom Hals! (Die ungeborenen?) Das berichtet verstört die junge Pflegerin, als alles vorbei ist - so etwas Furchtbares hat sie bis dahin noch nicht mitgemacht.
Sie setzen Oma vor der Haustür ab, die sie ihr noch aufschließen, lassen sie die drei Treppen allein hinaufgehen und fahren schnell zurück in die Stadt und gehen in die Bars. Am anderen Morgen muss er sich das anhören: Sie ist hinter der Wohnungstür gestürzt und dabei auf den Kopf gefallen, hat sich später ins Bett geschafft, und es geht ihr noch nicht so gut. Oma ist Diabetikerin, er hätte sie zumindest bis in die Wohnung begleiten müssen …
Am letzten Tag sagt sie zu ihm: Ich kann ja wiederkommen, wenn du mal keinen Urlaub hast. Du gehst dann ins Büro und ich warte den ganzen Tag auf dem Balkon auf dich.
Schwertlilien
Seine Oma hasste Schwertlilien. Sie hasste die weißen wie die blauen und auch die zweifarbigen. Es seien katholische Blumen, sagte die atheistische Großmutter. Sie war unempfänglich für die weibliche Schönheit ihrer Blumenkelche, gebildet aus Dom- und Hängeblättern, unempfänglich für die prallen Spitzen ihrer Knospen, für den Geruch nach Zitronen. Sie brauchen sie für ihre Kirchen, sagte sie voller Abscheu. Entweiht, befleckt, missbraucht.
Gladiolen
Der Blumenladen hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, sie wollten noch zweihundert Stück bis zum nächsten Morgen, und nicht aufgeblüht. Sein Vater schnitt zweihundert von ihnen knapp über dem Erdboden ab, während die Dämmerung sank. Bei allen zeigte sich erst an der untersten Knospenspitze die Blütenfarbe: rot, rosa, gelb, weiß oder lila. Sein Vater riss die äußeren hartfaserigen Hüllblätter von den Stielen und zwängte dann je fünfundzwanzig Stiele in mit frischem, kaltem Wasser gefüllte Aluminiumkannen - verloren in all dem stumpfen Grün die wenigen Farbtupfer. Hier und da leuchteten auf dem Feld nicht mehr verkäufliche Exemplare in die einbrechende Nacht hinein, die unteren Blüten schon verwelkt, die mittleren voll erblüht und am oberen Ende der Rispe noch Verschlossenes. Gladiolen sind ein bisschen heikel, sagte sein Vater.
Rittersporn
Er war beim Abitur von der mündlichen Prüfung befreit worden, rief daheim an und nahm den nächsten Zug. Zu Hause empfing ihn seine Mutter in der Diele und führte ihn in sein Zimmer – da stand in einer herbeigeschafften Bodenvase ein Strauß Rittersporn, hellblau, langstielig, draußen frisch geschnitten. Sie gratulierte ihm kurz und verschwand schon in der Küche. Er betrachtete die Blumen: Rittersporn im Juni, die hellsten Tage im Jahr. Und die dreizehn Jahre endlich um. Er wird fortgehen, sie wissen es doch alle schon. Rittersporn im Juni, kein schlechter Abschluss - wird aber schnell verwelken.
Rosen, rot
Ein gutes Dutzend Jahre später in Hamburg. Auf dem Eimsbütteler Wochenmarkt waren rote Rosen im Angebot, fünfzig für fünf Mark, spottbillig. Er kaufte sie spontan, schnitt die Stiele zu Hause ein und verteilte die Rosen auf sieben oder acht Vasen, die er in den drei Zimmern aufstellte. Es sieht ein bisschen komisch aus, dachte er. Damals hielt er noch für möglich, seine Eltern würden ihn einmal in der neuen Wohnung besuchen. Tatsächlich unternahmen sie die Reise zu ihm nie. Seine Oma dagegen, die atheistische Großmutter, hatte sich einige Jahre vor ihrem Tod noch zu ihm nach Berlin aufgemacht. Die Rosen jetzt ließen am anderen Tag ausnahmslos die Knospenköpfe hängen, sie waren nicht einmal aufgeblüht. Er entsorgte sie rasch.
Schwertlilien, hellblau
Gut zwanzig Jahre später auf dem Land. Er hatte jetzt selbst einen Garten, ein Blumendickicht von dreihundert Quadratmetern. Sein Vater war schon Jahre tot, die Verbindung zur Mutter abgerissen. Im Frühjahr kam es vor, dass ihm die Triebe der Tulpen von Rehen aus den nahen Wäldern abgefressen wurden. Aber die Schwertlilien! Blühten zuverlässig Jahr für Jahr. Prachtvoll die hohen hellblauen mit ihren besonders großen Blüten. Nur schien es, sie waren ein wenig überzüchtet und starkem Wind nicht gewachsen. Regelmäßig knickten die langen Stängel um, bevor die Blüten verwelkten. Dann richtete er sie auf, band sie an Bambusstäben fest. Tags darauf zerrten weitere Böen an diesen Schienenverbänden, rissen einige Stängel mitten entzwei. Er hob die Blüten vom Boden auf, stellte sie drinnen in Wassergläser, betrachtete sie, roch an ihnen. Alles noch wie früher: Domblätter, Hängeblätter und der Zitronengeruch.
Nachtkerzen
Als auch der Garten in die Jahre kam, siedelten sich immer weitere Arten wild in ihm an. Samenanflug bescherte ihm Mahonien, Stechpalmen, Fingerhüte. Er ließ sie stehen. Und die ebenfalls eingewanderten Nachtkerzen ließ er zumeist abblühen – zuverlässig wochenlanges Zitronengelb. Sie verbreiteten sich, und er half sogar nach, verteilte die Samenkörner auf neue Flächen. Mögen sie bleiben … wenigstens eine Zeitlang.
Das Buffet der Großeltern war ein düster schwarzlackiertes Möbelstück, in dem auf einem Bord Schillers Gesammelte Werke prangten. Allerdings sah man weder Opa noch Oma je in den zehn grünen Halbleinenbänden lesen. Dafür nahm ich als Achtjähriger die verstaubten Bücher nacheinander aus dem Regal. Ich las als Erstes „Die Braut von Messina“ und danach „Don Carlos“. Ich las langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, die ganzen langen Dialoge. Nur verstand ich kaum etwas. Und erst das Demetrius-Fragment …! Worum ging es in diesen verwickelten Angelegenheiten, die da ernsthaft, langatmig besprochen wurden, mit Worten, mir ungewohnt? Keiner von uns sprach so wie diese Personen. Jahrzehnte später hatte ich im Kommunalen Kino in Hamburg ein vergleichbares Erlebnis. Ich sah einen japanischen Film in Originalfassung ohne Untertitel, in der Samurai-Gesellschaft des 17. Jahrhunderts spielend. Ich verfolgte die Mimik und Gestik der Darsteller, hörte auf ihre Stimmen, nahm Anzeichen von Freude, Trauer, Heiterkeit, Entsetzen, Erwartung und Enttäuschung wahr. Aber alles zusammen ergab keinen Sinn für mich. Ähnlich war es mir mit Schiller ergangen.
Ich ging dann zu den historischen Abhandlungen über, die ich besser verstand. Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und der „Abfall der Niederlande“ regten meine Phantasie stark an. Bald bedauerte ich, dass derart bunte Geschichten sich zu meiner Zeit nicht mehr zutrugen, dass Kurfürsten und Erzherzöge vollkommen und Kaiser und Könige weitgehend ausgestorben waren. Also erfand ich ähnliche Geschichten und schmierte sie auf Notizblöcken nieder. Souverän schaltete ich mit der Staatenwelt des Absolutismus. Koalitionen entstanden, in keinem Geschichtsbuch verzeichnet, der Wissenschaft unbekannte Herrscher saßen auf alten Thronen, Städte wurden neu befestigt und mörderische Kriege ließ ich führen, Kriege vor allem. Hatte ich die Geschichte von Jahrhunderten umgeschrieben, fing ich wieder von vorn an – Tabula rasa. Meine Eltern und Großeltern lasen meine Abhandlungen so wenig wie die Schillers, sie fanden nur, meine Handschrift sei miserabel geworden.
Schillers Werke konnte man durch die dunkel getönten Glasscheiben noch wahrnehmen – doch der bessere Lesestoff, das wusste ich, befand sich unsichtbar hinter einer der kleinen Türen links. Hier lagen immer zwei oder drei Bände, die mein Großvater sich jeweils in der Gemeindebücherei auslieh. Und hier stieß ich, ebenfalls mit acht, auf „Buddenbrooks“. Ich verschlang die siebenhundert Seiten heimlich, vor dem Buffet stehend, mit vielen, mir sehr unwillkommenen Unterbrechungen. Mir war bewusst, für meine Großmutter war Romanlektüre nur eine schlechte Angewohnheit. Worüber sie bei dem Großvater aus gewissen Gründen hinwegsah, mir hätte sie es nicht durchgehen lassen. Wenn ich also Oma von der Küche heranschlurfen hörte, warf ich das Buch schnell in das kleine Fach und setzte die heuchlerische Unschuldsmiene auf, die mir schon zu Gebot stand. Scheinbar kam ich gerade vom Fenster her, hatte die Straße beobachtet. Das Knarren der Schranktür wurde zum Glück vom Quietschen der schlecht geölten Zimmertür übertönt …
Die Geschichte aus Lübeck beschäftigte mich mehr noch als der Dreißigjährige Krieg, Hannos Tod mehr als irgendein Trauerfall in meiner Umgebung. Gerdas Abreise nach Amsterdam und die Lage der verbliebenen alten Frauen in Lübeck waren für mich wirklicher als die banalen Erlebnisse in unserer Verwandtschaft. Wie konnte die teure Familie noch vor dem Aussterben bewahrt werden? Konnte Tony nicht ein drittes Mal heiraten? Es meldeten sich erste Zweifel, ob sie noch im gebärfähigen Alter war. Ich ging nicht so weit, die Geschichte jener Getreidehändler auf meinen Kladden fortzuführen, dafür erzählte ich die Chronik aus Lübeck einzelnen Jungen aus der Nachbarschaft. Und ich fand dabei mindestens so viel Interesse wie später, wenn mich wieder einmal ein Buch wochenlang nicht losließ und ich einen fremden Stoff mit anderen teilen wollte.
Mit fünfundzwanzig ging mir nichts über Spätromantik. Kaum ein Tag, an dem ich nicht eine von Bruckners späten Sinfonien hörte - und dazu noch eine von Mahlers frühen oder mittleren. In diesen Klangmassen badete ich damals geradezu. Heute scheint mir, dass die Exzesse vor allem eines bezweckten: am Gefühlsüberschwang der Jugend noch eine Zeitlang festzuhalten in einem Alter, in dem ich schon nüchterner wurde.
Bruckner, Mahler, Sibelius waren in Berlin unverzichtbar, bevor ich abends ausging. Wer glaubt, mein damaliger Musikgeschmack sei exotisch gewesen, irrt. In den Bars gab es zwei Fraktionen, die musikalisch niemals koalierten. Die Kneipen spielten nur die aktuellen Hits der Rock- und Popmusik, und dennoch bestand die Hälfte des Publikums aus Spätromantikern. Es konnte vorkommen, dass ich Bruckners Achte zu Hause allein hörte und ihr Allegro später in der Nacht in einer fremden Wohnung als Hintergrundmusik erneut vernahm. Meistens kamen wir nicht bis zum Finale …
Zehn Jahre später in Hamburg. Ich trank jetzt an solchen Abenden viel starken schwarzen Tee und hörte dazu die modernen Klassiker des frühen 20. Jahrhunderts: Janáček vor allem oder den „Euroimpressionisten“ Respighi. Ich konsumierte ihre Klangraffinessen wie Drogen und ging gegen Mitternacht aufgeputscht zur U-Bahn, erregend fragwürdigen Abenteuern entgegen – oder bloßer Langeweile.
Dann das gesetztere Lebensalter ab Mitte vierzig. Ich wohnte jetzt auf dem Land und hatte als Fernpendler und Frühaufsteher die Woche über keine Zeit zum Musikhören. Am Wochenende war meist Besuch aus Hamburg da, dem ich abends Wohnzimmer und Fernseher überließ. Ich selbst ging dann früh ins Bett, hörte CDs und griff ab und zu nach dem Glas neben mir. Rotwein und Debussy sind für alternde Knaben die wahren Gottesgaben, dachte ich … Allerdings schlief ich dann meist schlecht - und es lag nicht am Wein. Das stellte sich heraus, als ich Debussy durch Schubert und Schumann ersetzte. Ich blieb ihnen lange treu …
… bis ich nicht mehr zu pendeln brauchte und auch wochentags lange aufbleiben konnte. Mein Musikgeschmack modernisierte sich. Er machte einen Satz von der Früh- und Hochromantik zur Minimal Music. John Adams und Philip Glass, das sind jetzt meine Götter. Endlich bin ich im späten 20. Jahrhundert angekommen. Ach, es ist schon vorüber? Pech für mich. Neuerdings lege ich am frühen Abend Astor Piazzolla auf, bevor ich den PC einschalte und tangobeschwingt einen Artikel verfasse oder bei einem Glas Rotwein feurige Kommentare ins Netz schleudere.
Ernste Musik nur noch als Konsumgut? Ich muss an Adenauer denken, der sich auf dem Sterbebett Schumanns Rheinische wünschte. Oder wird es mir wie dem Komponisten Lully in Corbiaus Film „Der König tanzt“ ergehen? Lully, sterbend, als alle Musik für ihn vorbei, staunend, bewundernd: Mein Gott, was für eine Stille …
Immer wieder diese Konkurrenz Hamburg – Berlin … Mit neunzehn erstmals an die Spree gekommen, wollte ich auch nach Hamburg – und verzichtete dann weise, unweise auf den zweiten Teil der Reise und blieb in Berlin, erst für den Rest des Urlaubs, dann auf Dauer, wie ich damals glaubte. Nur dort schien mir das Leben vielversprechend, lebenswert.
Hamburg sah ich erstmals drei Jahre später flüchtig aus dem Fenster einer S-Bahn vom Hauptbahnhof nach Altona, wo der Zug nach Sylt abfuhr. Die Alster kaum wahrgenommen, die Häuserblocks vom Schienenstrang meist weggerückt – blasses, fernes Bild der Stadt, auf die ich nicht neugierig war. Bald wollte ich fort aus West-Berlin – wehe, einer schrieb: Westberlin! und ich hatte seine Begrenztheit schon gründlich satt -, entweder nach München oder nach Köln. Hamburg war nicht mal dritte Wahl. Aber dann …
… verliebte ich mich unglücklich und fuhr an die Elbe, Spitz auf Knopf im Liebeskrieg, ach! nur ein Scharmützel. Strom und Hafen nahm ich kaum wahr. Wohl aber die zyklopische Mönckebergstraße mit Kaufhausburgen, zwischen denen rotweiße Spielzeugtrams in rascher Folge dahinsurrten, und eine Villa in Othmarschen - er war Student und Untermieter bei einem älteren Drachen. Zwei Abende auf dem Balkon, wir starrten in blauschwarzer Dämmerung auf die verschwimmende Blütenpracht der Gärten - dann war’s vorbei. Halt: vorher noch Teetrinken im Blankeneser Witthüs, recht öde. Hätte ich Hans Henny Jahnn schon gelesen, hätte ich mir da im Hirschpark was imaginieren können.
Dann jahrelang ab und zu ein Wochenende in Hamburg verbracht, ohne dem Genius loci näherzukommen. Nur Nächte in St. Georg, von erregend bis langweilig und folgenlos zum Glück.
Das Entscheidende damals geschah in Berlin, nicht in Hamburg, aber darüber nichts weiter - die Figur des Ich-Erzählers erweist sich als Fiktion, indem alles authentisch ist, doch Zentrales meist verschwiegen wird. Jedenfalls zog ich eines Tages an die Elbe und lebte da fast zwei Jahrzehnte, mal mehr, mal weniger zufrieden; meistens weniger. Berlin – seine Geselligkeit - fehlte mir anfangs sehr, dann vergaß ich es fast vollständig. Am glücklichsten war ich in Hamburg, als ich einmal zermürbt und verstört aus New York zurückkam: was für eine gut funktionierende normale norddeutsche Großstadt – deren breit hingelagerte, Urbanität nur vortäuschende Bräsigkeit ich auf Dauer dann doch nicht ertrug. Also zog ich aufs Land, wurde Fernpendler, zwölf Jahre lang, und bemühte mich erfolglos, noch ein guter Kleinstädter zu werden. Hamburg, das war jetzt nicht mehr als zweimal täglich die Hetze des Umsteigens im viel zu engen Hauptbahnhof und immer derselbe Mittagsspaziergang in der Neustadt mit ihrem ewigen, lästigen Bauboom …
Erst im Ruhestand näherte ich mich dieser Freien und Hansestadt, wie es im Notardeutsch heißt, als gäbe es noch eine andere, wieder an. Ich war viel unterwegs in der Stadt, vor allem zu Fuß, auf den Spuren von Jahnn und auch von Hubert Fichte, wieder im Hirschpark, auch in Stellingen und in Lokstedt. Ich fand die Gräber der beiden Autoren auf dem Friedhof Nienstedten. Überhaupt waren mir lieber als das Zentrum die Vorstädte, zumal die ärmlichen: Harburg oder Billstedt.
Noch einmal musste umgezogen werden, so viel war klar. Nur wohin? Ich machte mir nichts mehr vor und sah die Dinge jetzt so an: Nur von Zufällen war mein Vagabundieren bestimmt gewesen. Meinen Lebensstil konnte ich fast überall praktizieren, es gab keine idealen Orte. So pragmatisch gestimmt, fuhr ich einmal auch wieder nach Berlin. Ich verglich eine Reihe von Städten untereinander und siehe da, unterm Strich sprach in der Quersumme aus Lebenshaltungskosten, Wohnungsmarkt, Infrastruktur und Klima das meiste doch wieder für die Hauptstadt. Zwar waren die Unterschiede nur graduell, doch Hamburg war allenfalls dritte Wahl - immerhin (verglichen mit damals).
Ich nahm mir also eine Wohnung in Berlin und – aber das ist schon eine andere Geschichte.
Mit Anfang fünfzig wirkte Herr Anders schon etwas ältlich. Seine Untergebenen damals kalauerten gern über ihn: „Seht ihr die weiße Spur …“ Herr Anders trug meist graue Kleidung und sein Haar war graumeliert. Der Gang war leicht schlotterig, wie nach Rachitis in der Kindheit. Aber seine hatte noch vor Krieg und Nachkrieg gelegen.
Du warst neu im Betrieb und zum Glück, wie du dachtest, fern von ihm tätig. Doch warst du ihm schon aufgefallen – er setzte sich bei der ersten Betriebsfeier neben dich und kam gleich auf etwas zu sprechen, was mit dir zu tun hatte und ihm am Herzen lag: Ob du nicht langsam ans Heiraten dächtest - fragte der so viel Ältere den Endzwanziger. Du reagiertest heftig: Das sei deine persönliche Angelegenheit, die du jetzt nicht erörtern wolltest. Er blieb sanft und erklärte, auch er habe sich erst spät verehelicht und es durchaus nicht bereut. Er sah dich offen an, ohne dabei zu lächeln, und du wiederholtest dich wütend: Privatsache! Dass auch du schon lebenslang gebunden warst, konntest du ihm nicht sagen …
Etwas später wurde er dein Chef. Als die Umorganisation bekannt war, kam es dir wie ein großes Unglück vor: ausgerechnet der! Er ließ dich als Ersten kommen, um seine Vorstellungen darzulegen. Dass er rasches und konsequentes Arbeiten wünsche, dass die Masse der Fälle zu bewältigen sei und aus Furcht, im Einzelfall zu versagen, nichts verzögert werden dürfe. Ihm sei es lieber, die Arbeit werde insgesamt geschafft, als dass gar keine Fehler passierten. Er sagte es nüchtern, nicht unfreundlich. Dein Bild von ihm begann sich schon zu verändern: Er war gar nicht verstaubt oder verkalkt.
Dann zehn Jahre in seiner Nähe und es wurden die besten deines Berufslebens. Er war ein fleißiger Mann, kompetent und tüchtig, machte kein Aufhebens von sich, war freundlich, ohne zu übertreiben, zeigte, dass er dich achtete. Du schätzest ihn als guten Arbeiter, so wie er dich umgekehrt auch. Kamst du zu ihm, um Rat zu holen, war er gewöhnlich beschäftigt und unterbrach sich doch gleich, um dich anzuhören. Eure Gespräche, fast immer nur dienstlich, waren kurz und produktiv. Noch siehst du ihn über den Flur eilen, mit seinem schlotterigen Gang, wenn er einen der vielen Gerichtstermine hatte. Oder er trug zwei Dutzend dicke Akten ins Sitzungszimmer, die Inhalte im Kopf präsent, um sie dem Ausschuss vorzutragen.
Oft aß er eine Kleinigkeit, etwa eine Banane, während er einen Fall studierte oder einen Entwurf korrigierte. Dabei war er nie kleinlich, schon gar nicht schikanös. Er grüßte einen meist aufmunternd. Manchmal war er sogar witzig. Er wurde älter, sein Haar allmählich dünner, dann weiß, seine Haltung klapperiger. Sein Arbeitstempo, sein sachlich-freundliches Verhalten änderten sich nicht. Ob er an den Ruhestand denke, fragtest du ihn. Noch sei es nicht so weit, sagte er und gab den Grund an: Er müsse ein paar Jahre dranhängen, seine zwei Kinder, so spät gekommen, seien noch jung und studierten, das koste viel.
Nie sprach er zu dir über seine größte Sorge, die kranke Frau daheim, deren Multiple Sklerose in jenen Jahren allmählich fortschritt. Andere erzählten dir davon, auch dass er nach Feierabend und am Wochenende den Haushalt in Ordnung halte. Sie hatten ein kleines Haus in einem Vorort, ein Garten war auch zu betreuen. Deine Achtung vor ihm nahm immer mehr zu.
Als er ging und sich von dir verabschiedete, wart ihr beide bewegt, verrietet es mit Blicken, mit einer Andeutung im Tonfall. An Worten nur: danke - danke. Dann war er fort und es kam keiner mehr wie er. Einige Jahre später hörtest du, Herr Anders sei gestorben, relativ früh, gemessen am Durchschnitt. Du hättest ihm ein viel längeres Leben gewünscht. R.I.P.
Ich stamme von so vielen ab - und von mir wird später keiner mal sich herleiten. - Genealogie zu treiben, ist für einen Schwulen eine reizvolle Sache. Er blickt in die Jahrhunderte zurück, sieht die Entwicklungslinien zusammenlaufen, scheinbar alle auf seine Person hinführend. Ist er nicht ihr krönender Abschluss? Schön wär’s.
Mama war es, die früh das genealogische Interesse in mir weckte. Damals fuhren wir oft im Renault, Baujahr ca. 1950, von N. nach K., erst durch die ganze Stadt, hügelauf, hügelab und wieder hinauf und dann vom höchsten Punkt durch einen großen Wald weiter nach Süden. Die Landstraße war kurvenreich, auch sie hob und senkte sich. Eine Lichtung tat sich auf mit einem Gutshof aus alten Zeiten, in ihm ein Hotel mit feinem Restaurant. Wir hielten da nie - im Unterschied zu Marika Rökk, Zarah Leander oder Max Schmeling, die waren alle da gewesen. Mama sagte oft: „Das hat mal Vorfahren von dir gehört, von denen stammst du auch ab …“
Johann Nikolaus M …, geb. 1717, das ist der Früheste, bis zu ihm lässt sich die Abstammung zurückverfolgen. Er war Zimmermann, wechselte erst den Kleinstaat und bald auch den Beruf, wurde Wildaufseher bei einem barocken Fürsten. Mit Erlaubnis des Souveräns baute er sich im Wald ein Haus, rodete rundherum, bewirtschaftete Wiesen und Felder. Die letzte Erbin, meine Ururgrossmutter, verkaufte das Hofgut als Witwe kurz vor 1900. Erst danach wurde, wie ich heute weiß, das stattliche Landhaus an der Straße gebaut, auf das fünfzig Jahre später meine Blicke fallen sollten. Mama, würde ich gern sagen, dieses Haus hat uns nie gehört …
Die letzte M … hatte einen Bauern H … aus K. geehelicht. Die H … waren zweihundert Jahre vorher als Hugenotten aus Nordfrankreich gekommen. In einem Protokoll von 1776 – ein neuer Herzog ließ sich huldigen – sind sie als Einwohner von K. schon zahlreich vertreten. Dagegen fehlen zu meiner Überraschung die S …, deren Namen ich selbst trage und die ich seit den Tagen der fränkischen Landnahme dort ansässig glaubte. Haben sie sich der Huldigung entzogen? Kaum anzunehmen, sie werden erst später zugewandert sein. Aber wann und woher? Das bleibt im Dunkeln. Im Adressbuch der Westpfalz von 1911 finde ich sie dann, darunter auch Papas Onkel Eugen; ich traf ihn noch an, wenn wir damals nach K. fuhren, einen mürrisch-hinfälligen Mann in den Achtzigern. Fuhrmann sei er, sagt das alte Adressbuch. Der Beruf hat sich vererbt, ist mehrfach in der Sippe vertreten, wird zum Fuhrunternehmer, auch beim Holztransport aus den Wäldern. Vielleicht sind die S … wegen der Kaiserstraße nach K. gekommen, Napoleons großer Heer- und Handelsstraße, die direkte Route von Paris in Richtung auf Frankfurt.
Ein Großvater S … hat dann eine Großmutter H … geheiratet. Das also ist das althergebracht-ländliche Milieu von Seiten des Vaters: Bauern, Fuhrleute, kleine Beamte, auch mal ein Lehrer.
Die Gegenbewegung mütterlicherseits hat mit Industrie und Bergbau zu tun. So kamen die Sch…mitten im 19. Jahrhundert von der hessisch-thüringischen Grenze her. Die Erzgruben da waren nur noch wenig ergiebig, Steinkohle die Zukunft damals. Es kamen Vater und Sohn, sie wie ihre Nachkommen wohnten in der Nähe der Zechen, in den kleinen Häusern des Arbeiterbauerndorfs, das allmählich zum städtischen Vorort sich mauserte.
Dagegen siedelte sich Urgroßvater W … dicht beim Eisenwerk in N. an, wohnte mit Frau und zehn Kindern auf der Etage, und obwohl er ein frommer, sittenstrenger Evangelischer schien, hielt sich das Gerücht, er sei konvertierter Jude oder doch von solchen abstammend. Er soll in den 1880ern aus Baden herübergekommen sein, um Hochofenarbeiter zu werden. 1930 starb er. Den Ariernachweis im Dritten Reich zu erbringen, gelang seinen Kindern nicht.
Meine Großeltern mütterlicherseits, das ist die Liaison der Sippen Sch … und W …, sozusagen Kohle und Stahl zusammengeführt … und meine Eltern dann die späte Verbindung von Stadt und Land … und ich auf der Spitze dieser schwankenden Pyramide, wo das Einzelkind sich denkbar unwohl fühlte. Das Individuum war gewissermaßen ein Palimpsest und zu oft überschrieben worden. Welche Mühe, sich so viele historische Widersprüche klarzumachen, sie in seinem Bewusstsein aufzubewahren und sich sagen zu müssen: Du bist die kurze Abschlussrede, enthaltend Sinn wie Unsinn langer alter Zeiten.
Mir fehlt ein Wort, titelte Tucholsky 1929. Neunzig Jahre später mangelt es mir nicht nur an einem Ausdruck. Für einen flüssigen Stil, um Wiederholungen zu vermeiden, benötige ich oft Synonyme. Es gibt ein spezielles Wörterbuch zum Nachschlagen – für mich hatte es dieses Lexikon gegeben, es ging letztes Jahr beim Umzug verloren. Seitdem zergrübelte ich mein Hirn auf der Suche nach sinnverwandten Begriffen. Inzwischen ist schon der nächste Wohnungswechsel in Sicht. Das vermisste Wörterbuch wird nicht mehr mit einzupacken sein, dachte ich. Aber dann …
… kommt lang ersehnte Post vom Notar Dr. X. Darüber will ich die Bergmanns informieren, die es interessieren könnte. Frau Bergmann erwähnt am Telefon, dass sie und ihr Gatte demnächst Urlaub im Tessin machen, in Rasa. In mir klingt etwas nach. Bin ich da nicht mal gewesen? Aber wann und unter welchen Umständen? Liegt das nicht bei Intragna, frage ich Frau Bergmann auf gut Glück. Sie bestätigt es mir sogleich. Ich steige in ihrer Achtung als der bislang einzige Bekannte, dem Rasa etwas sage. Aber ich verbinde damit noch nichts, höchstens Tabula rasa.
Die gute Buchhaltung meines Lebens zahlt sich aus. Ich finde anhand alter Aufzeichungen heraus: Vor achtunddreißig Jahren bin ich mit Max von Ascona über die Berge nach Palagnedra gegangen. Es ist feucht-kühl gewesen, fällt mir ein, damals im Oktober. Bei Google Maps entdecke ich Rasa als winziges Dorf dazwischen. Ich erinnere mich an die verlassenen alten Häuser, an ein kleines Grotto ohne Gäste, in dem wir Grappa getrunken haben. Die Wirtin, damals schon greisenhaft, lebt sie noch? Was Max heute so treibt, weiß ich nicht. Das Leben hat uns …? – Weiche von mir, Phrase!
Welche Pfade mögen wir damals gegangen sein, vor und hinter Rasa? Es gibt einen großen weißen Karton, in dem ich, zu sentimental, um sie zu entsorgen, meine Sammlung alpiner Wanderkarten noch immer aufbewahre. Ich werde sie nie mehr brauchen. Das Blatt Locarno – Lugano endet vor Rasa – abgeschnitten, ein bisschen wie Teile meiner Vergangenheit. Aber dann mache ich doch eine freudige Entdeckung: zwischen den Karten, seinerzeit unsystematisch gepackt, das Wörterbuch der Synonyme! Es allein wird mich künftig noch weiterbringen. Apropos freudige Entdeckung – wie abgenutzt, banal! Ich schlage zu freudig nach und erhalte: erfreut, freudevoll, beseligt, heiter, munter … Und Entdeckung führt zu Feststellung, Enthüllung, Fund. Ich setze also zusammen: freudevoller Fund – und rufe mir ins Gedächtnis, was schon Italo Svevo formulierte: Außerhalb der Feder gibt es kein Heil.
Neulich plante ich eine kleine Vergnügungsreise. Ich packte am Vortag, ging abends zeitig zu Bett, nicht zu früh, nicht zu spät. Und dann geschah, was mir nur selten widerfährt: Ich konnte nicht einschlafen. Das kannte ich bisher nur bei beruflicher Überlastung. Ich war alarmiert und begann mich zu analysieren.
In einem solchen Fall ist der Mensch gespalten. Sein Verstand versucht, seinen unbewussten Regungen auf die Schliche zu kommen. Mein Verdacht: Ich wollte gar nicht reisen, jedenfalls nicht jetzt und nicht dorthin. Aber ich hatte mich doch wochenlang auf die Reise gefreut … Vielleicht hatte ich mich dazu verpflichtet gefühlt, mich zu freuen?
Vielleicht waren das die richtigen Fragen, vielleicht auch nicht – sie beunruhigten mich indessen so sehr, dass ich erst recht nicht zur Ruhe kam. Oder erst um halb fünf und dann nur für eine knappe Stunde. Um sieben hätte ich aufstehen müssen und blieb zerschlagen bis acht liegen. Dann stand ich auf und packte alles aus und wieder in die Schränke ein. Schrieb eine E-Mail an die Pension, in der ich erwartet wurde. Allmählich kamen die Verhältnisse wieder in Ordnung.
Mir fehlte nichts. Nicht einmal die kleine Vergnügungsreise. Und in der folgenden Nacht war der Schlaf wieder da. Der Schlaf der kleine Bruder des Todes? Soll ich mich deshalb wieder beunruhigen?
Ich wache aus der Narkose auf und weigere mich sogleich, diese Realität anzuerkennen, den mich umgebenden Raum und die Tageszeit. Nein, ich liege natürlich nicht auf einem Operationstisch neben einer Sichtschutzwand, die mich von anderen Operationsplätzen abschirmt, ich liege da nicht halbnackt und leicht frierend, und es ist nicht irgendwann am späten Nachmittag – die Uhr hat man mir vorher abgenommen, wie alles andere auch, bis auf den Slip? Und der hauchdünne grüne Operationsmantel, hinten aufgeschlitzt, ist hochgerutscht, entblößt mich weitgehend? All das ist nicht wahr – ich weiß sofort, dass ich nur träume, dass ich binnen kurzem in einem der Betten aufwache, in denen ich zu Hause bin. In dieser Phase hilft es, sich zu rühren, mit den Beinen muss man anfangen, sie bewegen, dann fallen Restschlaf und Traumreste wie von selbst von einem ab.
Ich versuche es, doch es bleibt kalt. Ich kann mir nicht so viel Bewegung verschaffen, dass mir wärmer wird. Ich höre jetzt zudem Geräusche, überall im Saal wird aufgeräumt, an Metallscharnieren hantiert. Ich sehe Krankenhauspersonal rasch im Raum hin- und hergehen. Mir fällt ein, dass ich der Letzte hier heute war … Dann stimmt es vielleicht doch, ich bin operiert worden?
Noch eine Zeitlang geht es im Bewusstsein hin und her wie bei Ebbe oder Flut, ablaufend das Gefühl von Traumbefangenheit, auflaufend die sich durchsetzende Gewissheit, ich sei eben hier. Und wie lange muss ich dann weiter so liegen? Sie räumen immer noch auf. Ich muss ab und zu husten. Eine Schwester tritt heran, fragt: Frieren Sie? Sie zupft meinen Kittel zurecht – als ob das was brächte.
Dann mache ich eine neue Erfahrung. Ich kann mich sonst in jede Lage finden, ihr anpassen, ihr standhalten, indem ich mich geistig vollkommen von ihr entferne. Da gibt es Bilder, die ich in mir wachrufe, Szenen, die ich nachspiele. Ich schlüpfe in fremde Identitäten, in Fiktionales und mache es real. Wie leicht das ist, Glück zu empfinden. Jetzt versagt die Methode. Ich bleibe mit allen Sinnen, allen Eindrücken, allen Gedanken in diesem Raum, auf diesem Tisch. Jede Flucht abgeschnitten. Und ich sehe zu, wie neben mir, von hoch oben, die Infusion Tropfen für Tropfen herabrinnt, ihren Weg in mich findet.
Die Schwester bringt viel später meine Sachen, stützt mich beim Aufstehen, ich verspüre etwas Schwindel, dann geht es. Es ist halb sechs. Gegen drei habe ich das Bewusstsein verloren, ausgeknipst wie ein Schalter. Merkwürdig, wie leicht das war und wie schwierig der umgekehrte Vorgang.
Sie rollen mich hinaus ins Freie, auf das Bettenhaus zu. Ein sympathischer junger Krankenpfleger ist drüben gleich zur Stelle. Ich staune: Er ähnelt ja einer Figur aus einem meiner Lieblingsfilme, Pfleger wie er hier. Jetzt bin ich wieder vollständig zurück.
Und Sie, wie haben Sie jenen Abend erlebt, wann haben Sie davon erfahren? – Falls mich später einmal einer fragen wird, werde ich antworten: Mit leichter Verzögerung, habe einen Film angesehen, während es geschah und das Chaos begann. – Welchen Film? – Einen von Xavier Dolan: Sag nicht, wer du bist (Tom à la ferme), sah ihn zum ersten Mal, seltsames Zusammentreffen. Das ist ja ein Film über die Faszination des Bösen. Noch benommen von der Handlung schaltete ich den DVD-Player aus und war mitten in einer aktuellen Fernsehsendung. Dabei blieb ich dann längere Zeit … Zwischendurch rief R. an, weinte viel. Es gelang mir, ihn zu beruhigen, weniger mit Argumenten (Wir leben ja noch, das hat man doch schon lange kommen sehen …), mehr durch den Klang der Stimme, nehme ich an.
Mäßig geschlafen und am anderen Morgen Erleichterung – sie haben den Täter! Ich ging in den Supermarkt nebenan einkaufen, später zur Bank. Nach dem Mittagessen in einem Roman weitergelesen, Gerbrand Bakkers Oben ist es still, Buch mit kleinen Fehlern, die mich jetzt nur wenig stören; immerhin viel an Beobachtung, an Gedanken, und man kann sich hineinlesen, wie in einen weiten Raum, in dem man sich für lange Zeit einrichtet. Später rief ich T. an, meinen ältesten Freund überhaupt. Natürlich hatte er zum Breitscheidplatz fahren müssen und war enttäuscht worden, es gab nicht mehr viel zu sehen. Wir stimmten in allem überein, wir waren nicht schockiert – man hat das doch schon lange kommen sehen … Wir konnten sogar schon wieder über anderes reden. Er hat ein schlechtes Gewissen, da er in letzter Zeit so selten Sport macht. Und ich war neulich beim Augenarzt, ich brauche doch keine neue Brille. Morgen, sage ich ihm, will ich mir eine Ausstellung in Potsdam ansehen. Wir wollen uns im Januar mal treffen. Dann rief ich R. an, dem es besser geht. Ihn sehe ich schon Ende der Woche wieder.
Abends Ernüchterung: Sie hatten den Falschen und müssen weitersuchen. Ich registriere in den Medien die Rituale der Ermutigung. Mir kommen sie leer vor, aber vielleicht brauchen andere sie. Ich ärgere mich sogar ein wenig. Ist das Freiheit: gemeinsam unter freiem Himmel Glühwein trinken? Nicht freie Wahlen, Demonstrationen, freie Meinungsäußerung? In den meisten Online-Plattformen der großen Zeitungen ist die Kommentarfunktion abgeschaltet. Was sind unsere Werte und wie praktiziert man sie? Darüber könnte man lange streiten. Stattdessen sehe ich mir Dolans exzellenten Film ein zweites Mal an. Pierre-Yves Cardinal ist ein schöner, gefährlicher Mann und sein Francis verführt einen, sich mit Tom zu identifizieren.
Heute ist der 21. Dezember 2016. Die Fahndung läuft noch immer und ich werde doch nicht nach Potsdam fahren. Man muss nicht unbedingt durchs Berliner Zentrum, ich könnte auch mit der Ringbahn zum Westkreuz und dort umsteigen. Das ist es nicht, sondern: Ich weiß, dass mein Kopf jetzt nicht klar genug ist für jene Bilder. Die wilden 80er Jahre? Wie lang das her ist, wie weit dahinten. Ich würde mich auf einmal alt fühlen. Wahrscheinlich fahre ich nach dem Essen ein Stück weiter nach Norden. Da ist ein Waldpark, den ich im Sommer bei großer Hitze manchmal besuche. Mal sehen, wie er heute wirkt.
Beim ersten Mal stutzte ich nur. Ich saß Ende April in einem von Berlin nach Frankfurt / Oder fahrenden Regionalexpress. Der Zug war, mitten am Vormittag, kaum frequentiert, um mich herum nur freie Plätze. Dass die Universität dort an der Grenze geschlossen ist, macht sich bemerkbar. Meine Aufmachung entsprach den neuesten Vorgaben: Mund- und Nasenschutz in Dunkelblau, bei einem asiatischen Schneider erworben.
Erkner ist die erste Station nach dem Ostkreuz, auf dem Bahnsteig kaum Zusteigende. Eine kommt durch die nächste Tür herein, steuert die leere Vierergruppe schräg gegenüber an, auch sie mit Halbmaske. Doch kaum sitzt die junge Frau, da nimmt sie sie auch schon ab, um Mitgebrachtes in aller Ruhe zu verzehren. Ich steige in Hangelsberg aus, zwei Stationen weiter. Ihre Mahlzeit dauert noch an. Not kennt kein Gebot? Oder: Ich esse, also bin ich. Was bin ich? Ein mündiger Bürger, ein freier Mensch …
Anfang Mai: derselbe dünn besetzte Zug, wieder Halt in Erkner. Hereinkommt ein Paar in mittlerem Alter, beide maskiert, und lässt sich auf der Vierergruppe vor mir nieder. Die zwei unterhalten sich auf Polnisch. Nach kurzer Zeit wird ihr die Bedeckung lästig, sie streift sie herunter und redet nun freier auf den Partner ein, der seinerseits nichts abnimmt.
Inzwischen weiß ich, dass in diesen Zügen jetzt so gut wie nie kontrolliert wird. Die anscheinende Inkonsequenz – einen Zug mit Maske zu betreten, um sich drinnen zügig davon zu befreien – ist gar keine. Sie wollen beim Einsteigen, falls sie vom Personal gesehen werden, korrektes Verhalten vortäuschen. Nachher kann man sich’s dann richten. Wie sie sich im öffentlichen Raum geben, es verrät schon etwas vom Geist und Charakter von Fremden.
Ich stand auf, sah der Mitbürgerin in die Augen und placierte mich weiter entfernt neu.
Meine Dracaena deremensis will umgetopft werden. Ich eile zu einem Bau- und Gartenmarkt, besorge rasch ein neues Gefäß. Als ich mich dem Kassenbereich nähere, ertönt von dort lautes Gezeter. Ich höre eine gellende Männerstimme, sehr empört, verstehe immer wieder: „ … Maske … Corona … Maske … !“ Dazwischen ein weniger lautes, souveränes Organ: „ … Polizei … sonst Polizei …" Es hört nicht mehr auf.
Kunden stehen nur an Kasse 2 an. Von dort fällt mein Blick auf die zwar besetzte, doch momentan gemiedene daneben und der maskenlose Zeternde kommt mir ins Blickfeld. Er mag Anfang fünfzig sein und läuft vor dem Terminal aufgeregt hin und her - er ist bereit für die Polizei, sagt er. Der Wachdienst lässt ihn den Eingang ins Innere nicht passieren und er will sich nicht entfernen. An meiner Kasse geht der Betrieb weiter unaufgeregt seinen bürgerlichen Gang. Bald habe ich die Ware bezahlt und stehe draußen.
Ich nehme die Abkürzung über den benachbarten Supermarktparkplatz. Als ich mich der großen Hauptstraße nähere, höre ich das Martinshorn. Von der Brücke über die Bahn kommt sehr zügig mit Blaulicht das Polizeifahrzeug. Es schnurrt die Allee herunter, ist im Nu zu uns abgebogen, verschwindet nahe am Baumarkt aus meinen Augen. Wie gut eingeübt das alles wirkt.
Während ich die Dracaena umtopfe, wundere ich mich ein wenig. Mich wundert, wie wenig ich mich wundere. Was nicht alles binnen kurzem Normalität werden kann.
Die drei Ordner stehen in seinem Aktenschrank ganz unten. Sie enthalten mehr als tausend Briefe aus einem halben Jahrhundert. Von den rund fünfzig Verfassern ist ein Großteil inzwischen tot. Alle Briefe – ein Riesenarchiv von Zeugnissen früheren Lebens - würden gut zweitausend Buchseiten füllen, wäre ans Veröffentlichen überhaupt zu denken.
Der Empfänger dieser Briefe erfasst sie seit längerem elektronisch, speichert sie mehrfach ab. Nach und nach drängte sich ihm als vorherrschender Eindruck die Vereinzelung der Briefschreiber auf. Zwischen ihnen gab es kaum Verbindungslinien, ihr gemeinsamer Bezugspunkt war er, der Adressat der Briefe. Frühere Klassenkameraden entfremdeten sich nach dem Abitur einander rasch. Selbst Angehörige derselben Familie verstanden sich nicht. Die meisten Absender begegneten einander nicht einmal. Und alle schrieben über ihr gegenwärtiges Leben, vor allem über ihre Nöte. Dem Hüter der Briefe wurde allmählich bewusst, worin dann doch das Gemeinsame in der Korrespondenz zu erkennen ist – es ist die Dominanz von Leid, Scheitern, nicht gelebtem Leben.
Mit sechzehn begann er, Briefe aufzubewahren und chronologisch abzuheften. Nr. 1 bis 10 sind lange Episteln einer Gleichaltrigen aus weit entfernter Gegend. Es folgten noch viele weitere von ihr. Die Schülerin sollte diejenige Frau in seinem Leben werden, mit der er den intensivsten Gedankenaustausch hatte. Sie, die sich aus der Ferne gut kennenlernten, sahen sich nie. Wurde die Möglichkeit einer Begegnung auch nur einmal erwogen? Dann verwarfen beide sie rasch in Gedanken. Die Brieffreundin ging vor ihm ihre Möglichkeiten der Berufswahl durch und es blieb nur das Lehramt übrig. Während des Studiums gestand sie ihm, von Anfang an gewusst zu haben, dass diese Entscheidung falsch sei. Sie freute sich über den Auszug aus dem Elternhaus, registrierte die Entfremdung, verspürte Schuldgefühle und beichtete sie ihm. Lange nach Ende der Korrespondenz erfuhr er auf andere Weise, dass sie auf Dauer in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, früher für sie unvorstellbar gewesen.
Nach dem Abitur kamen jahrelang Briefe von früheren Schulkameraden. Einige schrieben über Langeweile und totzuschlagende Zeit bei der Bundeswehr. Einer wollte Studienrat werden und erkannte nach sechs, sieben Semestern, dass er nicht zum Pädagogen taugte. Er machte trotzdem mit dem Studium weiter. Ein anderer blieb zum Schein immatrikuliert, sah sich aber inzwischen als Berufsrevolutionär. Als der Sozialistische Deutsche Studentenbund sich auflöste, fand er Anschluss bei Trotzkisten und stieg dort in den Führungszirkel auf. Bei ihm klang stets alles hochgemut und zugleich falsch. Der Adressat der Briefe kannte ihn zu gut.
Die Mutter des Briefesammlers ließ nur gelegentlich durchblicken, dass sie seinen Weggang nicht verwinden konnte. Lieber beschrieb sie, die Bäuerin, ihre große Arbeitsbelastung. In einer Woche hatte sie fünfzig Hühner geschlachtet, nun schmerzten ihr die Arme. Erbangelegenheiten verbitterten sie später und dazu musste sie sich um ihre eigene, ungeliebte Mutter kümmern. Deren Briefe an den fernen, einzigen Enkel waren allmählich immer schmerzlicher zu lesen. War ihr Hauptinhalt früher Sparen und Vermögensbildung gewesen, so ging es später nur um Krankheit, Einsamkeit und Enttäuschung. Die Nachkommen führten ein so ganz anderes Leben, als sie es für sie erhofft hatte.
Viel vitaler wirkten dagegen die Briefe seiner auswärtigen, oft auch ausländischen schwulen Freunde und Liebhaber. Sie reisten sehr viel, wenn sie nicht gerade an einer Infektionskrankheit litten. Sie zogen oft um, innerhalb ihrer Gemeinde, von einer Stadt zur anderen, über Landesgrenzen und sogar von einem Kontinent zum anderen. Es schien ihnen immer, das Leben wäre woanders befriedigender zu führen. Einer fing nach seinem Studium als Erzieher an einer Korrektionsanstalt an und ließ sich von den Insassen drangsalieren. Politische Karrieren endeten, kaum dass sie begonnen hatten. Kurzgefasste Todesnachrichten häuften sich. Oder man brach miteinander und ein letzter Brief blieb unbeantwortet.
Der Sammler so vieler Briefe will sie nicht mit sich untergehen lassen. Sie gehören, denkt er, in ein Archiv. Andere vermachen der Wissenschaft ihren toten Körper, er möchte ihr zur Erforschung dieses Herbarium voll von Zeichen erstorbenen Lebens überlassen. Und wie vorher mit all dem Material umgehen? Fordert es nicht zur Gestaltung heraus? Wenn er selbst es, darüber schreibend, verwendet, macht man ihm oft den Vorwurf fehlenden Mitgefühls und allzu großer Glätte. Als ob mangelndes Formbewusstsein ein Beweis tiefen, echten Gefühls wäre. Ist nicht im Gegenteil harte Arbeit an der Form letzter noch möglicher Liebesdienst? Oder hätte er es mit buddhistischer Einstellung versuchen sollen?
Als ihre Tante gestorben war, übernahm meine Mutter aus dem Nachlass eine Briefsammlung. Es waren die Feldpostbriefe ihres Cousins von der Ostfront, an seine Eltern gerichtet. Sie hatte ihn persönlich gekannt und gemocht, er war 1944 in der Ukraine gefallen. Meine Mutter las die Briefe mit viel Interesse und zeigte sie mir bei meinem nächsten Besuch. Sie waren in einer altertümlichen Schrift abgefasst, die ich nicht lesen konnte. Schon sah ich die Briefe später in meine Hände übergehen und nahm mir vor, einmal die alte Schrift lesen zu lernen. Damals durfte ich auch Fotografien des Cousins betrachten und erfuhr wichtige Daten seines Lebens: das Elternhaus regimetreu, er selbst Ortsgruppenleiter der Hitler-Jugend, dann Jurastudent in Frankfurt. Als ich die Bilder durchging, schien mir der Cousin im Lauf der Zeit weniger schneidig aufzutreten, vor dem Krieg als zackiger Anführer männlicher Dorfjugend uniformiert eine Brücke überschreitend, dann auf Fronturlaub leger in Zivil vor dem Elternhaus, zuletzt mit seiner Verlobten bei einem Besuch Hamburgs: Blankenese und der Rathausmarkt, noch unzerstört. Wirkte er da nicht wie geläutert, schicksalsergeben? Ich würde die Briefe genau studieren.
Zwei Jahre später vernichtete meine Mutter die Briefe. Ich war schockiert. Wozu so alte Sachen aufbewahren, meinte sie lahm und wich weiterer Erörterung aus. Verriet ihre Handlung eine aliterarische Einstellung – oder hatte sie Details entdeckt, die das Bild des Cousins verdunkelten? Ich erfuhr ihr Motiv nicht. Einige Jahre später wiederholte sich der Vorgang. Mein Vater starb und meine Mutter vernichtete zahlreiche Dokumente, ihn betreffend. Schlimmer noch, sie beseitigte zugleich auch alle Briefe von mir, mehr als dreihundert, die ich ihr in drei Jahrzehnten geschrieben hatte. Wir sprachen nicht darüber. Um diese Zeit schrieb sie mir einmal, sie wäre während der Ehe zeitweise gern fortgegangen, nur wohin?
Diese Abläufe kamen mir wieder in den Sinn, als ich neulich eine Biografie André Gides las. 1918 war Gide mit Marc Allégret, seinem jungen Geliebten, in England und Gides Ehefrau Madeleine vernichtete daraufhin seine sämtlichen an sie gerichteten Briefe. Gide war entsetzt. Die Preisgabe von Briefen, die man lange wertgeschätzt und aufbewahrt hat, ist es nicht wie Bilderstürmerei? Spuren werden getilgt und etwas wird ausradiert: als ob es nie gewesen wäre.
Wie alt war ich, als mich das Universum an sich zu beschäftigen begann? Neun Jahre, zehn Jahre? Ich will das Kind nicht klüger machen als es war - der Anlass für solches Grübeln war banal: Opa hatte als Abonnent von seiner Tageszeitung ein broschiertes Buch über die gesamte Weltgeschichte erhalten und diese Jahresgabe begann mit Entstehen und Ausdehnung des Universums. Ich las die Darstellung und kam aus Staunen und Fragen nicht heraus und fand keine Antworten. Das Dilemma beschreibt heutzutage Wikipedia knapp und exakt so: Zeiten „vor“ dem Urknall und Orte „außerhalb“ des Universums sind physikalisch nicht definierbar. Daher „gibt“ es in der Physik weder ein räumliches „Außerhalb“ noch ein zeitliches „Davor“ noch eine Ursache des Universums. Das Kind dachte dennoch immer wieder über räumliche und zeitliche Grenzen des Universums nach. Wie konnte man sich dergleichen vorstellen: Unendlichkeit? Endlichkeit? Es waren Kategorien jenseits menschlicher Erfahrbarkeit. Da gab es keine Antworten, nur weiter das Bedürfnis zu fragen. Nicht einmal die erkenntnistheoretische Sackgasse wies ein Ende auf, sie blieb Zustand, an die Existenz des Individuums mit begrenzter Erkenntnisfähigkeit gebunden. So näherte sich das Kind, lange bevor es den Begriff zum ersten Mal las, dem Agnostizismus.
Vor Tagen sah ich erstmals den Film "Permanent Residence" von Scud. Er sprach mich mit vielen Details unmittelbar stark an. Besonders berührte mich, wie der erwachsene Ivan seinem Freund Windson in Hongkong etwas aus seiner Kindheit in Kanton erzählt - den kleinen chinesischen Jungen hatte dieselbe Problematik wie mich seinerzeit beschäftigt. Der Film ist semi-autobiographisch. Ivan trägt Scuds originären Familiennamen Wan. Der Filmemacher heißt tatsächlich Danny Cheng Wan-Cheung und erklärt seinen Künstlernamen als Abkürzung für "Scudding clouds", das ist der chinesische Name ins Englische übersetzt. Allgemeines Thema in "Permanent Residence" sei, so Scuds Definition, "the limits of life". Der Film, in China, Japan, Thailand, Australien und Israel spielend, ruft heimatliche wie brüderliche Gefühle in mir wach: auch ich eine treibende, fegende Wolke, irgendwo im Nirgendwo und glücklich, am sonst leeren Horizont noch eine Wolke wahrzunehmen. Ich will den Film wieder und wieder ansehen und zu erfassen versuchen, was für Scud die Grenze des Lebens bedeutet.
Man hat also gewagt? Uns zu berauben? In einem Literaturforum publizierte Texte, Prosa und Lyrik, wurden massenhaft von frevelnder Hand zusammengestellt und unter Vorspiegelung falscher Autorschaft zum Verkauf angeboten. Da musste doch eingeschritten werden! Wirklich?
Nun, so selten ist dieses Mausen nicht. Vor einem Dutzend Jahren äußerte sich in einem anderen Literaturforum schon mal ein weiser alter Mann apodiktisch so: Was ins Internet gestellt wird, ist verloren. Der Mann musste es wissen, er selbst war Journalist und wurde bald darauf als fleißiger Plagiator enttarnt.
Ein krasses Beispiel, das mich betraf: Eines Tages entdeckte ich einen meiner Texte auf einer Hurenwebsite ohne Angabe eines Verfassers. Die Damen glaubten vielleicht, es besonders geschickt angestellt zu haben. Vom Ursprungstext waren der erste und letzte Satz entfernt und an den vorletzten war ohne Übergang eine mir unbekannte Story aus fremder Feder angehängt worden. So macht man das also … Doch ich kam ihnen auf die Schliche: Mitten im Text war mein Pseudonym eingebaut. (Filmemacher praktizieren es ähnlich, wenn sie den Vorspann erst in einigem Abstand zum Filmanfang präsentieren – zur Nachahmung empfohlen.) War ich entrüstet? Ach wo. Mein erotischer Text hatte sonst keinen ungeteilten Beifall gefunden, dass ihn Frauen vom Fach zu schätzen wussten, schmeichelte meiner Eitelkeit.
Diebstahl geistigen Eigentums? Materielle Schäden entstehen mir infolge von solchen Praktiken nicht. Ich verbuche vielmehr als ideellen Gewinn, wenn mir liebe Stoffe und meine Gedanken dazu von anderen weiterverbreitet werden, für mich kostenlos und oft auf Kanälen, die mir nicht zur Verfügung stehen. Ist es nicht eine Auszeichnung, wenn aus der heutigen unübersehbaren Feierabendmassenproduktion etwas von mir Geschaffenes ausgewählt wird? Viel wichtiger als mein Name darunter oder darüber sind mir die Stoffe. Ich wünsche mir, dass von manchem noch zu lesen sein wird, wenn ich nicht mehr existent bin; gern auch ohne Bezug auf meine Person. Vielleicht wird unter einem solchen Text einmal stehen: Unbekannter Verfasser.
Das ist kein Plädoyer für die Abschaffung des Urheberrechts. Wer vom Schreiben lebt, muss vor Textklau geschützt bleiben. Das Urheberrecht ist historisch mit dem Aufkommen von Berufsschriftstellern verbunden und hat so auch weiter seine Berechtigung. Es jedoch im Internetzeitalter exzessiv auf die Produkte von Laienliteraten anzuwenden, halte ich für verfehlt. Das hat dann etwas von Häkeldecken auf Nierentischen: weder zweckmäßig noch schön.
Selig mögen geistig Arme sein - unselig sind die geistig Beraubten, wenn sie sich so vorkommen, ohne es tatsächlich zu sein.
An diesem Spätsommernachmittag sitze ich wieder einmal mit Sascha in einem Café in Berlin-Lichtenrade. Gemeinsam schweigen wir und ich hätte Zeit, mich an so viel mit ihm Unternommenes zu erinnern. Stattdessen wenden sich die Gedanken sehr viel länger Zurückliegendem zu. Ich mache mir klar, dass dies ein Zeichen des Alterns ist: Das Vergangene kann in beliebiger Reihenfolge aufgerufen werden, und was vor sieben Jahren war, erscheint dabei nicht bedeutender, nicht eindrucksvoller als das von vor sieben mal sieben Jahren. So lange ist das wirklich schon her und ich erinnere mich so genau noch an manche Details?
Damals unterhielt ich einige Monate lang ein, mit Verlaub, Fickverhältnis zu einem jungen Mann aus Lichtenrade. Gewöhnlich kam Axel zu mir nach Moabit, nur selten war ich bei ihm, einmal an einem Freitagabend, mit der Einladung verbunden die Information, Onkel Hans würde uns beim Abendessen Gesellschaft leisten. Der scherzhaft als Onkel Bezeichnete war Axels väterlicher Liebhaber, älter als wir beiden jungen Männer zusammen. Er war ihm Vater- und Mutterersatz, seine Stütze und sein Rettungsanker und sein Bettgespiele. Stell dir vor, sagte Axel einmal mit gesenkter Stimme, als wäre das Folgende nicht sehr rühmlich, Onkel Hans war Soldat bei der Wehrmacht, er hat sogar am Schluss den Krieg im Osten noch mitgemacht …
An jenem Abend aßen wir also zu dritt in Axels Ein-Zimmer-Wohnung. Onkel Hans kannte ich schon, ich hatte einmal mit Axel bei ihm Kaffee getrunken. Der Onkel hatte sympathisch gewirkt, unkompliziert, kein Anzeichen von Eifersucht festzustellen. Jetzt beim Essen stellte ich mir den Mann von damals um die Fünfzig wie unter Zwang immer wieder in Feldgrau vor. Der Krieg kam nicht zur Sprache, war dennoch in meinem Kopf gegenwärtig. Ein Vexierbild trieb da sein Unwesen, mal war es Axels viel älterer Geliebter, mal ein Brustbild meines eigenen, noch sehr jungen Vaters in Wehrmachtsuniform. Jahrzehnte behauptete es seinen Platz auf Mamas Vertiko, und wie sehr es mich bei meinen immer seltener werdenden Besuchen irritierte, dieses Foto aus Russland mit seiner unveränderlichen halbschüchternen Jungmännlichkeit, wie festgefroren, während ich mich rasch immer weiter zu entwickeln glaubte. Onkel Hans erschien mir nun unvorstellbar alt, er wirkte geradezu unnatürlich alt. Heute, wieder einmal in Lichtenrade und fast fünfzig Jahre später, versetze ich mich in seine Rolle damals und konfrontiere ihn erst mit den zwei blutjungen Männern am Tisch ihm gegenüber und gleich danach, ohne ihn selbst weiter altern zu lassen, mit mir, so wie ich gerade mit Sascha Kaffee trinke. Wie jung mir der Onkel auf einmal vorkommen muss … Seltsame Experimente mit der Zeit und ihren schwankenden Gestalten sind das.
Wir plauderten damals nur über Unverfängliches, auch nach dem Essen noch. Als der Beschluss gefasst war, zu Bett zu gehen, nahm mich Axel neben seinem Lager beiseite, während der Onkel weiter auf dem Sofa saß. Du gefällst dem Onkel auch, sagte Axel leise, kann er zu uns kommen – also eine Sache zu dritt? Ich lehnte flüsternd ab und Axel überbrachte die Botschaft dem Onkel, für mich kaum hörbar. Für ihn wurde dann rasch auf dem Sofa aufgebettet. Während ich kurz darauf Axel im Bett umarmte, hörte ich ihn im Geist zum Onkel sagen: Laden wir ihn für Freitag zum Essen ein und nachher sehen wir ja, wie er reagiert, du weißt schon … Onkel Hans musste noch wach liegen, und ich versuchte, das Peinliche unserer Lage wegzuküssen. Am anderen Morgen gaben wir uns alle drei unverändert gleichmütig. Axel erzählte beim Frühstück vom Abflammen seiner Zimmertür. Er hatte sie erst bemalt, dann ausgehängt und auf den Hof transportiert. Bei seinem Hantieren mit dem Gasbrenner seien die Nachbarn unruhig geworden. Kann sich aber sehen lassen, sagte Axel, sieht neu und doch irgendwie auch alt aus, richtig chic, oder?
Den Onkel bekam ich danach nie wieder zu Gesicht. Axel blieb mir noch eine Zeitlang erhalten. Aber tatsächlich verloren habe ich beide nie, auf Dauer sind auch sie Teil meiner Entwicklung, meiner Geschichte, meiner Wirklichkeit, nicht anders als Sascha, mit dem ich jetzt gerade das Lichtenrader Café verlasse.
Noch so ein wichtiger Tag, schon wieder einer … Ich nähere mich zu Fuß dem Haus im Berliner Norden, in dem ich Jahre gewohnt habe, und weiß, es ist mein letzter Gang dahin. Die Wohnung ist verkauft, der Kaufpreis überwiesen. Die Übergabe heute wird eine Formalität sein. Ich blicke am Haus hoch und würde mich gern leichtem Abschiedsschmerz hingeben: Mehr oder weniger schöne Jahre waren es und trotz der bekannten Mängel hat es sich rentiert – die günstige Marktlage eben!
Warum stehen jetzt mehrere Leute vor dem Haus? Ich erkenne den Käufer wieder, einen jungen Chinesen aus Berlin, und Frau Schüttebier, die Maklerin. Ihn habe ich erst beim Notar kennengelernt. Genau wie damals strahlt er arglose Freundlichkeit aus. Frau Schüttebier, nervös und optimistisch wie immer, tänzelt um unsere kleine Gruppe und will vorstellen. Der Chinese hat also zur Übernahme einen deutschen Architekten mitgebracht? Nur um festzustellen, dass alles in Ordnung sei, wie der Graukopf mit einigem Nachdruck versichert. Die kleine alte Frau ist die Mutter des Käufers, vielleicht auch sein Finanzier, sie ist eigens aus China zu Besuch gekommen, und in ihrem Schlepptau jetzt der dreijährige Enkel. Die Frau des Käufers, hochschwanger und kurz vor den Wehen, ist diesmal daheimgeblieben.
Wir fangen ganz unten an. Im miterworbenen Kellerabteil vermisst der Architekt eine Beleuchtung. Frau Schüttebier und ich, wir äußern uns dazu nicht. Gekauft wie gesehen, wir denken es nur. Wir bleiben auch stumm, als behauptet wird, Eingangshalle und Treppenhaus entsprächen nicht den damaligen Bauvorschriften. Kann man das wirklich wissen? Unterwegs verlieren wir die Oma und den Enkel, fangen sie ein und versammeln uns endlich im Objekt, sechs Personen auf gut fünfzig Quadratmetern. Wir verteilen uns in den Räumen.
Frau Schüttebier fingert an einem Schlüsselbund, sie hat ein Verzeichnis aller Schlüssel, die sie nun ausprobiert. Was passt, soll dem Erwerber gleich übergeben werden. – „Frau Schüttebier“, sage ich, „auf keinen Fall dürfen Sie an der Wohnungstür die Kette vorlegen, sie ist defekt, lässt sich, einmal eingeschnappt, nicht mehr lösen. Wir saßen hier so mal gefangen.“ – Sie verspricht es.
Der Architekt hat inzwischen schon wieder etwas gefunden. Die uralten Isolierbänder an der Balkonverglasung seien porös wie Mürbeteig, auch das müsse noch auf den Kaufpreis angerechnet werden. Nun sage ich es doch: „Gekauft wie besehen, das gilt auch hier.“ Es kommt zu kurzem Streit, den die Maklerin auf ihre Weise schlichtet: Die Hitze der letzten Wochen sei schuld am maroden Gummi. Das ist lächerlich – und ich hafte für zwischen Notartermin und Übergabe eingetretene Schäden! Frau Schüttebier widmet sich dann wieder ihren Schlüsseln. Architekt und Käufer wandern weiter durch die Räume, probieren dies und das aus. Oma und Enkel langweilen sich und ich schaue durch ein Fenster in den Himmel. Hoffentlich ist es bald vorbei.
Stattdessen kommt die Maklerin aufgeregt aus dem Flur zurück. Sie hat die Kette doch ausprobieren müssen und sie lässt sich nicht mehr lösen! Jetzt sind wir hier alle eingeschlossen, schauen uns ratlos an. Frau Schüttebier verschwindet im Flur und hantiert hörbar weiter an der festgehakten Kette, erfolglos. Der Architekt macht sich im Bad zu schaffen. Der kleine Junge mault weinerlich, seine Oma nimmt ihn in die Arme und ihr Sohn geht stumm und besorgt von einem zum anderen. Ich sehe durchs Fenster auf den Parkplatz hinunter: ob sich einer zeige, dem man etwas zurufen könnte. Damals haben wir durch den kleinen geöffneten Spalt ins Treppenhaus geschrien: Hilfe, Hilfe! Und der Nachbar von gegenüber ist gekommen und hat versprochen, den Hausmeister zu alarmieren …
Eine Viertelstunde später. Frau Schüttebier hat die Kette doch noch losbekommen und zeigt Abschürfungen an den Handgelenken vor. Der Architekt scheint davon unbeeindruckt, er hat inzwischen im Bad eine Leckage entdeckt: Der Abfluss des Waschbeckens sei undicht. „Ist wohl lange nicht benutzt worden“, sagt er, sichtlich befriedigt, und lässt reichlich Wasser vor unseren Augen plätschern, am Boden schnell eine Riesenpfütze. Die Maklerin und ich, wir wischen sie gemeinsam auf, und während wir uns dabei mit den Köpfen sehr nahe kommen, sage ich leise: „Frau Schüttebier, das wird wohl heute nichts. Ich muss morgen für drei Wochen verreisen, lassen sie bitte alles rasch in Ordnung bringen und mir in Rechnung stellen. Die Übergabe können sie dann ohne mich über die Bühne bringen, möglichst noch vor dem Ersten, ja?“
Kurz darauf fahren wir alle im Lift hinunter. Wir vertagen uns und ich sage mir: Unter solchen Umständen verlasse ich also dieses Haus gerade für immer …
Zum Schönsten, das Robert Walser geschrieben hat, gehören seine Porträts Berliner Zimmerwirtinnen. Ich würde ihm gern nacheifern, doch fehlt es mir zu der Person, die ich dafür im Auge habe, an Material, an Details, an Hintergrundwissen. Und gerade dieses Defizit ist so bezeichnend, so vielsagend, daher ist es eine vielleicht doch reizvolle Aufgabe, seiner Ursache nachzugehen.
Ich war blutjung und sie gewiss schon über siebzig; schlank, nur mittelgroß, fast zierlich und dabei rüstig. Wenn ich ihr am Monatsersten die Miete in ihr Zimmer brachte, empfing sie mich so, wie sie sich immer verhielt: freundlich und nüchtern, stets ansprechbar, doch kaum einmal zu Gesprächen aufgelegt. Sie war für einen da, sie sorgte für alles, sie machte nie Ärger. Für einen jungen Menschen, den Coming-out und Ausbildung schon ausfüllten – und zwar in dieser Reihenfolge -, war sie die ideale Zimmerwirtin. Man musste sich für ihre Person nicht weiter interessieren. Ihre große Wohnung lag in einer Seitenstraße des vorderen Kurfürstendamms, im dritten Stock des Hinterhauses, das beschönigend Gartenhaus genannt wurde, wie üblich. Drei der fünf Zimmer waren untervermietet, zwei an junge Männer – ich hatte das prächtigste von allen – und eines an ein altes Ehepaar.
Einige Wochen nach meinem Einzug weihte mich die Untermieterin neben mir in Geheimnisse der Wohnung und ihrer Inhaberin ein. Sie senkte die Stimme in dem großen Durchgangzimmer, das alle benutzten: „Fräulein S … ist Jüdin. Sie war in einem Lager und hat überlebt. Sie ist zurückgekommen.“ Ich erfuhr noch, die Vermieterin sei Sekretärin in jener Warenhausfirma gewesen, der auch das Miethaus gehörte, in dem wir lebten. Heute weiß ich, es war ein jüdisches Familienunternehmen, unter Hitler arisiert, nach dem Krieg restituiert und inzwischen untergegangen.
Fräulein S … hatte also den Holocaust überlebt – das war überraschend, vielleicht bewegend, in jedem Fall wissenswert. Nur änderte es für mich nichts, weder in meinem Verhalten noch in meiner Perspektive auf die Zimmerwirtin. Ich konnte damals den Wittenbergplatz nicht passieren, ohne dass mein Blick kurz ehrfürchtig an der mahnenden Tafel mit der Liste der Vernichtungslager hängenblieb: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen … (Befand sie sich damals nicht am Straßenrand, nicht wie heute zentral am westlichen U-Bahn-Zugang?) Aber über jenes Lager, dem die Vermieterin entkommen war, wurde bei uns nie gesprochen. Sie selbst erwähnte die Zeit nicht einmal und ich dachte auch nicht darüber nach, geschweige dass ich eine Frage gestellt hätte. Es war kein Tabu – die Vorstellung von Auschwitz und Treblinka war nicht kompatibel mit dieser nüchternen, kultivierten, dabei bescheiden wirkenden alten Frau. Ich erfuhr insoweit gar nichts in den zehn Monaten bei ihr und es kümmerte mich auch nicht.
Heute würde ich sie gern nach ihrer Zeit im Lager befragen, auch nach den Jahren unmittelbar davor und danach. Hatte sie Verwandte verloren? Lebten wir damals alle in der Wohnung ihrer Eltern? (Die schönen Möbel stammten zum Teil von der Jahrhundertwende.) Aber ich weiß auch, warum wir damals nicht darüber sprachen: Wäre das Grauenvolle thematisiert worden, wir hätten nicht nur nicht mehr unbefangen bei ihr leben können, es wäre vielleicht überhaupt unmöglich gewesen. Einer Überlebenden in einem großen Saal zuzuhören, wenn sie ihr Schicksal vor vielen ausbreitet, das scheint erträglich – aber dann täglich mit ihr die Wohnung, die Küche, das Bad teilen? Das Monströse ihres Schicksals, von ihr selbst unverschuldet, ist nicht gänzlich von der Person zu trennen. Die unsichtbaren Toten, die sie umgeben, werfen ihre Schatten, uns verstörend. Wenn ich ihr Zimmer betrat, war sie still mit Papieren beschäftigt, hatte vielleicht ruhig aus dem Fenster in den Hof geschaut oder auf die Wand. Heute erst glaube ich die stumme, kaum merkbare Reserve zu verstehen, mit der sie sich umgab und schützte. Sie blieb das Opfer und wir, wenn wir jung waren, waren vielleicht die Kinder und Enkel von Tätern.
Sie löste ihren Haushalt auf und zog ins Süddeutsche, wo Verwandte von ihr lebten, erfuhr ich. Die viel zu große Wohnung war nicht länger finanzierbar. Beim Abschied zeigte sie ihre Zufriedenheit und wurde erstmals ein wenig persönlich. Sie ermunterte mich: „Bleiben Sie so brav, wie Sie hier waren.“ Wahrscheinlich wäre sie enttäuscht worden, auch von mir.
Schon mit acht, neun Jahren wusste er, dass er später schreiben würde; eine Krankenschwester könnte es bezeugen. Sie antwortete dem kleinen Blinddarmpatienten: Dazu musst du erst noch viel lernen.
In seinen Zehner- und Zwanzigerjahren schlugen spezielle Schreibversuche – Erzählungen, Dramen – regelmäßig fehl und er brach sie alle ab. Dennoch schrieb er damals sehr viel: Tagebücher und Briefe.
Mit dreißig verhob er sich unter Prousts starkem Eindruck an einem autobiographischen Roman und kam nicht über zwei Dutzend Seiten hinaus. Noch mehr zu erleben, das erschien ihm vorerst wichtiger als darüber zu schreiben.
In seinen Dreißigerjahren ging er, damals in Hamburg lebend, noch immer viel aus, doch in den Zeiten von Aids verlagerte sich der Schwerpunkt: vom Erleben aufs Beobachten, Sublimieren. Am Ende des Jahrzehnts mühte er sich mit Kurzprosa und kleinen Erzählungen ab, angeregt von Robert Walser und Cesare Pavese. Er gönnte sich nach gut zwei Dutzend abgeschlossenen Texten erschöpft eine längere Pause.
Mit Mitte vierzig aufs Land gezogen und dort zwei mittelgroße Erzählungen verfasst, bevor die Produktion erneut für einige Jahre versiegte. Dann setzte sie unter dem Einfluss der Werke von Hans Henny Jahnn wieder ein, um bis heute anzuhalten. Nacheinander schrieb er in zehn Jahren drei Romane und eine lange Erzählung.
Mit Ende fünfzig kam sein Einstieg ins Internet und die Rückkehr zur kleinen Form: Skizzen, Schnipsel, Rezensionen. Er filetierte nun seine Romane, stellte Auszüge ins Netz, den Stil verbessernd.
Als Siebziger - und inzwischen wieder in Berlin - findet er es nicht der Mühe wert, weiter Ureigenes hervorzubringen und zu gestalten. Schier unendlich die Welt uns überlieferter Literatur, gewiss nicht zu überbieten, kaum zu erreichen in Qualität und Vielfalt. Darin kann er sich, sie betrachtend und ausdeutend, nun verlieren.
Mit dem Zufall scheint es bei mir so abgelaufen zu sein: Mit dreizehn wechselte ich in die Eingangsstufe eines Aufbaugymnasiums. Der Zustrom dahin war dermaßen gewaltig, dass für den Jahrgang sechs Klassen eingerichtet werden mussten. Infolge zahlreicher Abgänge konnte ihre Zahl schon ein Jahr später auf fünf reduziert werden und die Schüler meiner Klasse wurden auf die anderen verteilt. Wir erfuhren es am ersten Tag nach den Ferien, auch wohin wir jeweils zu gehen hatten. Nacheinander sah ich alle Schulkameraden aus dem Saal verschwinden, ich blieb als Letzter zurück, wurde nicht aufgerufen. War das ein gutes oder ein schlechtes Omen? Vielleicht hatte mein Name auf der Liste gefehlt oder die Sekretärin war unkonzentriert gewesen. Zufall?
Zufall - ich will es nicht glauben. Ich durfte mir meine Klasse aussuchen und entschied damit, wer die drei für mich wichtigsten Menschen meiner Jugendzeit wurden. Zwei davon kannte ich noch nicht, als ich Bastian folgte, meinem liebsten Kameraden. Ich hatte mir seine neue Klasse gemerkt und entschied mich sofort für die weitere Nähe zu ihm. Fatum? Schon eher.
Bastian war als hochgewachsenes, blondes Flüchtlingskind aus dem Osten der Exot bei uns im Südwesten, ein freundlicher, korrekter, intelligenter, fleißiger Bursche. Unter seinem Einfluss änderte ich meine Sprache, meine Ansichten, Interessen und Perspektiven. Bastian erzählte von Berlin und den Landschaften des Nordostens. Ohne es anzustreben, bereitete er mich auf ein Leben am anderen Ende Deutschlands vor. Kann ich mir vorstellen, im Südwesten geblieben zu sein, unter Menschen, die gemüthaft miteinander umgehen und selten reines akzentfreies Hochdeutsch reden – ganz gewiss nicht. Mit Bastian verstand ich mich in allen Schul- und anderen Sachen bestens, so schien es, und dennoch entstand langsam in mir ein leises Fremdsein, ein Gefühl fast körperlicher Abneigung. Ich kam ihm nicht auf den Grund und suchte noch andere Kameraden.
Da war der dunkelhaarige, mittelgroße Sigurd, noch intellektueller als Bastian, ein einheimischer Exot allein aufgrund seiner exzeptionellen geistigen Ansprüche. Die vielen langen Gespräche mit ihm förderten mich mit sechzehn, siebzehn außerordentlich. Sigurd las Schopenhauer und Nietzsche und entwickelte sich später, für mich überraschend, zum Trotzkisten und Berufsrevolutionär. Er deutete an, dass er homosexuell sei, sprach es aber nie offen aus. Das vermied er, wie ich bemerkte, ganz bewusst. Er erfüllte mich mit noch stärkerer körperlicher Abneigung als Bastian und ich verstand allmählich … Er war ausgesprochen hässlich.
Den auch mittelgroßen Ulrich, Haarfarbe milchkaffeebraun, fand ich dagegen immer anziehender. Wenn man wollte, konnte man ihn hübsch finden. Wollte ich das – offenbar ja und ich stritt es im Dialog mit mir selbst nicht mehr lange ab. Im Übrigen bestach er durch größtmögliche Durchschnittlichkeit, das Fehlen jeder Exzentrik. Ich begann einen Kult zu treiben mit seiner anspruchslosen Gewöhnlichkeit. Es gehört für mich zu den dunkelsten Geheimnissen überhaupt, wie ausgerechnet er mein Denken und Fühlen eine Reihe von Jahren weitgehend ausfüllen konnte. Ich suchte seine Nähe und fand bloß einen Banknachbarn, der von mir zu profitieren suchte und mich nach der Schule rasch fallen ließ. Mit Sigurd und Bastian hatte ich noch länger Umgang und wir entfremdeten uns erst im Lauf unserer weiteren Entwicklung und dann auch vollständig.
Dieses Trio also umkreiste mich in der entscheidend prägenden Phase meines Lebens, oder vielmehr orientierte ich mich in meinem eigenen Lauf an diesem Sternbild. Bin ich überhaupt jemals später aus diesen Verhältnissen, Konstellationen herausgetreten? Will man mir nahe bringen, sie seien nur zufällig entstanden, an ihrer Stelle hätten andere, ganz andere sich entwickeln können, ohne den Fehler der Schulsekretärin damals? Ich kann es weder glauben noch akzeptieren. Allzu sehr fühle ich mich eins mit Verlauf und Substanz meiner Geschichte.
Mag ihn der eine oder andere wiedererkennen, ich werde hier nur von W. reden. Ich bin ihm bloß wenige Male begegnet und will mich nicht für einen Intimus oder Spezialisten ausgeben. Wir haben, ausgenommen ein einziges Mal, immer nur kurz miteinander gesprochen, und ich weiß kaum noch worüber. Nur der allgemeine Eindruck von ihm hat sich bei mir erhalten. W. hatte etwas von einem freundlichen, gutartigen Kobold.
In Salzburg war ich mal in einer Bar mit ihm ins Gespräch gekommen. In den Jahren darauf sah ich ihn gelegentlich in München wieder und wir wechselten jeweils ein paar Worte. Beim letzten Mal verlief es anders. Wir hatten uns nun viel mehr zu sagen – wenn ich nur wüsste, was eigentlich … Das ging fast bis zur Sperrstunde so, wir gehörten schon zu den Letzten in der Kneipe. Ich wollte nicht mit ihm schlafen, dafür fand ich ihn amüsant und sehr geistreich, auf seine leicht verdrehte Art - nein, so kann ich das nicht stehen lassen. Er war kein Sonderling, nur auf eine mutwillig-ernsthafte Art verspielt. Inzwischen habe ich auch ein Bild von ihm aus jener Zeit entdeckt, da wirkt er zugleich kultiviert und zerzaust. Er glaubte vielleicht damals etwas wie Seelenverwandtschaft wahrzunehmen und mochte sich gar nicht mehr von mir trennen. Als ich aufbrach, bot er an, mich zu meiner Pension zu begleiten; sie war ganz in der Nähe. Dabei hatte ich längst klargemacht, dass ich nicht allein reiste und dort im Doppelzimmer schon einer schlief. Es war halb vier am Morgen, zur Mittagszeit würden wir die Rückfahrt antreten.
Ich stand im Vorhof der Pension, schob das gut mannshohe Gitter vor und schloss ab. Er blieb draußen und wollte noch immer nicht weggehen, musste weiter mit mir reden. Er streckte die Arme zwischen die Gitterstäbe und hielt sich an ihnen fest. „Das ist hier ein bisschen wie im Zoo, sehr unbefriedigend“, meinte er, „wann kommst du wieder nach München?“ – „Anfang Mai wahrscheinlich.“ – „Zu dumm, gerade da bin ich mit einer Reisegruppe in Burgund, alles wohlhabende ältere Damen.“ Er war Kunsthistoriker und professioneller Cicerone, das wusste ich schon. Jetzt gab es nichts weiter zu verabreden, kurzer Abschied und jeder ging seines Weges.
Ich bin ihm nie mehr begegnet. Heute krame ich in alten Papieren, stoße dabei unvermutet auf seinen Namen und finde im Netz schnell heraus, er ist schon fünf Jahre tot. Ich trauere also ein wenig um einen, den ich kaum gekannt habe. Vielleicht kann ich posthum doch noch vertrauter mit ihm werden. Ein Spezialgebiet von ihm war alte Malerei, darüber hat er in jenen Jahren ein Buch verfasst, das erfahre ich erst jetzt. Damals in einem großen Verlag erschienen, ist es heute gebraucht leicht zu beschaffen - es ist schon bestellt. Was erwartet mich? Vielleicht die Fortsetzung eines Dialogs durch Gitterstäbe. Und finde ich in Stil und Gedanken seinen Geist wieder, den ich auf Anhieb so sehr bewunderte?
Das wird keine gelehrte Abhandlung mit umfassendem Überblick, eher eine Art Feldblumenstrauß, am Lebenswegrand gepflückt. Mit seiner dekorativen Wirkung wird es nicht weit her sein. Vielleicht reicht es am Ende bloß fürs Herbarium? Ich will die Echtnamen vermeiden, jede Figur bezeichne ich mit einer Initiale, fortlaufend nach dem ABC.
Mit A. kam ich 1969 eines Nachts in einer Diskothek ins Gespräch. Wir saßen an einem der kleinen Tische und er verriet mir, er sei aus Ost-Berlin und im amtlichen Auftrag im Westteil der Stadt. Er verhandele tagsüber mit Senatsdienststellen, worüber, das erfuhr ich nicht. Ich fragte ihn, ob im Osten zu leben für einen Homosexuellen schwierig sei. Da lächelte er kühl und tat überlegen. Seine Antwort: Für mich nicht, es gibt genug private Zirkel.
Einige Wochen später lernte ich dort B. kennen, wir tanzten, redeten, gingen durch die nächtlichen Straßen. Er war abgemagert, wirkte stigmatisiert, sehr verletzlich. Ich sah ihn zwei Tage später wieder und erfuhr noch mehr. Die Geschichte, die er erzählte, war hochdramatisch. Er habe dem Intimleben hoher Funktionäre nachspioniert, Informationen darüber und das Treiben in den Gästehäusern weitergegeben und sei so mit der Staatsmacht in Konflikt geraten, habe Jahre gesessen, auch wegen Staatsverleumdung. Ich kannte den Begriff nicht und er wies mir Tätowierungen an rechter Hand und linkem Unterarm vor, die seien aus Bautzen. Wenn alles zutraf, was er vorbrachte, hatte er Frau und Kind in Ost- und Eltern in West-Berlin und war erst kürzlich auf illegale Weise herübergekommen. Als er von heute auf morgen nicht mehr zu sehen war und mein Brief mit dem Stempel „unbekannt verzogen“ zurückkam, machte ich mir noch eine Zeitlang Sorgen.
1972 war ich vorübergehend mit C. liiert. Er war neben seinem Brotberuf literarisch und journalistisch tätig und schrieb damals auch für „Die Wahrheit“, das war die Parteizeitung des West-Berliner Ablegers der SED. Er sprach nicht darüber, seit wann er im Westen lebte und weshalb er übergewechselt war. Er reiste wiederholt in die DDR und beklagte sich bei mir einmal über die Einstellung der Bürger von Karl-Marx-Stadt, sie sei rein negativ gegenüber ihrem Staat und der Gesellschaft.
Ausgestattet mit einem westdeutschen Pass unternahm ich in jenen Jahren gelegentlich Tagesbesuche in Ost-Berlin und wurde einmal bei der Einreise im Bahnhof Friedrichstraße festgehalten. Man führte mich in ein abgelegenes Büro, wo mich einer, der sich nicht vorstellte, höflich nach diesem und jenem befragte, bis meine Harmlosigkeit oder Unbrauchbarkeit erwiesen. War ich ein Zufallstreffer, der sich als Niete herausstellte? Gab es doch Material über mich? Die Fragen gingen ins Persönliche: Warum meine Haare so kurz seien und dergleichen.
1973 begleitete mich einmal D. und wir besuchten mitten am Tag ein schwules Café, am oberen Ende der Friedrichstraße gelegen, glaube ich. Oder war es schon in der Chausseestraße? Personal wie Gäste ließen uns merken, wir seien unerwünschte Eindringlinge. Wir gingen bald und wollten später in einem Restaurant im Bahnhof Friedrichstraße essen. Es wurde placiert und die Schlange war lang. Wir standen erst kurz an ihrem Ende, als von vorn schon ein Ruf erschallte: „Die beiden einzelnen Herren! Ein Tisch für die beiden einzelnen Herren …!“ Mir war es peinlich, aber D. lachte und fand unsere Bevorzugung erklärlich.
Als ich schon in Hamburg lebte - ab 1978 -, hörte ich, der taubstumme E., mir aus Berliner Bars vom Sehen bekannt, sei als Fluchthelfer erwischt und verurteilt worden. Er saß in Rostock ein. Ob man ihn vorzeitig freibekommen hat, erfuhr ich nicht.
Im letzten Jahrzehnt der DDR tauchten immer mehr Übersiedler auf, die mit oder ohne Erlaubnis der DDR-Behörden ausgereist waren. Ich erinnere mich an F. und G., lebenshungrige junge Männer, die dem Anschein nach rasch manches nachholen wollten. Von F. weiß ich, dass er vielbeschäftigt war und zwei Jobs hatte. Beide standen mir ein bisschen zu sehr unter Strom.
Nach dem Untergang des ostdeutschen Staates reiste ich selbst jahrelang kreuz und quer durch das „Beitrittsgebiet“. Es waren vor allem die Landschaften und die Stadtbilder, die mich anzogen. Ich hatte auch mit Menschen Kontakt, meist nur flüchtiger Art, mit anderen Reisenden oder Vermietern. Noch später zog ich wieder nach Berlin und verbringe inzwischen den Großteil meiner Zeit in Ostdeutschland. Zwangsläufig habe ich nun auch hier mit Nachbarn zu tun. Da ist menschliche Nähe, mal mehr, mal weniger angenehm, wie üblich. Die DDR und die Sexualität, das ist kein Thema mehr.
In der Coda wäre jetzt der Buchstabe H dran, aber seinen Namen brauche ich nicht zu verschweigen: Ronald Schernikau (1960 – 1991), der verspätete Wanderer zwischen den Welten. In Leipzig stieß ich nahe der Universität vor Jahren zufällig auf das Haus, an dem eine Tafel an ihn und seine Zeit dort erinnert. Heute komme ich selten mal durch die Straße in Berlin-Kaulsdorf, in der er am Schluß gewohnt hat; auch hier eine Gedenktafel. Weiteres über ihn und von ihm könnte ich nachholend aus Büchern erfahren …
Für B. wünschte ich mir ein Memorial.
Mir wurde unverhoffte Ehre zuteil: Einer hat ein Gedicht über mich verfasst und veröffentlicht. Und als krönender Abschluss musste dabei mein Unterleib herhalten. Um die seither gewiss unbändige allgemeine Neugier zu befriedigen, gebe ich hiermit zu Protokoll, falls gewünscht und die Kosten übernommen werden, gern auch vor einem Notar:
Ich bin zweiundsiebzig Jahre und habe seit Jahrzehnten zu keinem lebenden oder toten Wesen den geringsten sexuellen Kontakt, weder zu einem Mann noch zu einer Frau noch zu Minderjährigen, auch nicht zu einem Tier. Ich habe auch kein Bedürfnis danach; finde Sex mit oder unter alten Leuten indiskutabel. Muss ich mich dafür rechtfertigen? Jedenfalls kommt für mich eine Rolle bei solcher Paarung überhaupt nicht in Frage. So, Nackttanz beendet.
Natürlich weiß ich, dass all das den Verfasser der Eloge gar nicht interessiert – abgesehen davon, dass es ihn auch nichts angeht. Er hat die allgemein bekannte Tatsache meiner homosexuellen Veranlagung bloß benutzt, um mir zu schaden. Es war eine Fehlspekulation. Ich bin nicht verletzt, nicht einmal überrascht. Das kleine Werk bestätigt den Eindruck, den ich längst von seinem Autor habe.
Den Schaden hat allerdings – und deshalb geht es hier nicht um eine Privatfehde – den Schaden hat das Literaturforum als Ganzes. Wenn solche Spielchen toleriert werden, wird es Nachfolgetäter und -aktionen geben. Es wird heißen: Da kannste die Sau rauslassen.
(Geschrieben im Februar 2022)
(1) Mein, dein, sein Werdegang? Werde-Gang ist schon mal irreführend - eher sind wir wie Läufer auf der Aschenbahn des Lebens, die zeitversetzt ihre einsamen Runden drehen und sich manchmal begegnen.
(2) Bin ich Schriftsteller? Im engeren Sinn wohl nicht. Ist das zu bedauern? Finde ich nicht (sagte der alte Fuchs, dem die Trauben zu süß waren). Es gibt eine spezielle Seite im Netz für Autoren wie mich, da siehst du halb- und dreiviertelprofessionelle Schriftsteller, die sich fürchterlich abstrampeln, Vollprofis zu werden. Für einen Absatz von hundert Buchexemplaren würden manche auch ihre Oma verkaufen. Oder ihren Hund öffentlich verbrennen. Schon die Themenauswahl erfolgt meist nur unter dem Gesichtspunkt: Was ist marktfähig? Und wenn es noch kein Buch über Dampfbügeleisen gibt, dann schreibt man eins und bringt die Propagandawalze in Schwung. Ach, nein, lieber nicht.
(3) Mich ziehen solche Stoffe an, die ich bald unbedingt schriftlich gestalten will. Oder gestalten muss. Ich bin also Textproduzent und verbreite meine Sachen unsystematisch, auf ähnliche Weise wie ein Schmetterling seine Eiablage, vielleicht mit weniger sicherem Instinkt. Warum beschäftigt man sich als Literat überhaupt mit der Nachwelt? Es ist eine Illusion, sie gezielt beeinflussen zu können. Wir sind dann nicht mehr und können diese Zukunft nicht einmal in Umrissen erahnen. Ich glaube nicht an Genie und Originalität, die sich irgendwann durchsetzen oder es wenigstens verdienen. Ich wünsche auch nicht, persönlich ein kleines Stück Weiterleben via Literatur zu ergattern. Warum also dennoch kein Verzicht auf Schreiben und Weitergabe? Ich denke, es sind Zwangshandlungen, die ihren Grund im kulturellen Prozess selbst haben. Wir sind Teil von ihm. Es ist so natürlich wie Einatmen und Ausatmen. Die menschliche Gattung hat offenbar das Bedürfnis, ein kollektives Archiv ihrer Erfahrungen anzulegen. Nur in diesem allgemeinen Zusammenhang erkenne ich Sinn im Schreiben.
(4) Eine Rolle spielen - genau das liegt mir nicht, nirgendwo. Ich bin ziemlich ungesellig, mit Isolation und Einsamkeit wohlvertraut. Ich mache in den Literaturforen, wozu ich gerade Lust habe. Die Leserschaft ist für mich insgesamt eine anonyme Masse, der ich meine Texte zur Verfügung stelle, nichts weiter. Ich betrachte mich nur als Partikel in einem umfassenden kulturellen Prozess. Auf meinen Namen und dessen Geltung kommt es gar nicht an. Wenn aus dieser Masse dann einzelne Gesichter auftauchen, die ich mir merken kann und auch gern merken will, ist mir das natürlich willkommen.
(5) Zum Thema Sprachkunst. Gewiss bleibt ohne sie die Produktion tief unbefriedigend, aber sie ist nicht alles. Man kann sich etwa bei Rilke, Stefan George oder Verlaine noch heute am rein Sprachlichen berauschen, an Melodie, Rhythmus, reichem Ausdruck. Aber kann sich unsere Rezeption allein darauf beschränken? Nur das auf mich wirken zu lassen, empfinde ich bald als schales Vergnügen. Warum fällt mir jetzt gerade Thomas Bernhard ein? Da haben wir vor uns die artistische Routine eines Mannes, der besessen schien von sehr wenigen Themen. Mir sind es zu wenige, und wenn er am Ende nicht ganz so besessen war, wie seine Sprachkunst es erscheinen lässt?
(6) Sex und Liebe als Stoff? Über Sex zu reden, kann einen bis zu Wittgensteinscher Resignation führen. Jede bestimmte Aussage darüber ist zugleich richtig und falsch. Sprache und sexuelle Handlungen erscheinen mir derart verschiedenen Sphären anzugehören, dass sie kaum kompatibel sind. Die Begriffe, die wir insoweit anwenden, die schon bereitliegen, sie decken sich kaum einmal mit der individuellen Wahrheit des jeweiligen Erlebens. Und mit Liebe tue ich mich noch schwerer … In Jahnns „Fluss ohne Ufer“ erzählt Horn seinem Gefährten Tutein gegen Ende ihrer gemeinsamen Zeit seine bittersüßen Jugenderinnerungen, und Tutein stellt sachlich fest: „Du warst schwach in der Liebe.“ Das könnte ich auch von mir sagen und es wäre zugleich vollkommen falsch. Ich finde den Begriff unbrauchbar, ich meide ihn.
(7) Manche wollen Liebe überhaupt für eine Illusion erklären. So weit gehe ich nicht. Ich frage mich nur: Handelt der Liebende tatsächlich jemals gegen seine eigenen Interessen? Ist Liebe wirklich kein Geschäft? Das Charakteristische dieser Liebe-an-sich-Diskussion ist, dass in ihr Liebe zu einem abstrakten Begriff wird, losgelöst von den Umgebungen, in denen sie auftritt. Dabei ist dieser Zusammenhang das Entscheidende: Sie tritt gar nicht rein auf, sondern immer in einer Legierung, in ständig wechselnden Mischungsverhältnissen mit einer Vielzahl anderer Motive, z.B. körperliches Bedürfnis, ästhetisches Vergnügen, Herrschsucht, soziales Geltungsbedürfnis, Versorgungsstreben usw. Wenn Liebe jedoch nie für sich allein existiert, sondern als ein Gefühlszustand definiert werden kann, der sich in den unterschiedlichsten Situationen auf nicht restlos aufzuklärende Weise einstellt, dann frage ich mich: Welchen Wert haben Aussagen über die „Macht der Liebe“? Vielleicht ist sie gar keine Macht, sondern nur ein Nebenprodukt innerhalb unseres emotionalen Stoffwechsels? Auffallend ist, dass Liebe sich in sowohl zeitlicher wie räumlicher Distanz zum Liebesobjekt entwickeln kann, dann manchmal sogar besonders gut. Liebe ist außerdem synthetisch herstellbar. Das zeigen gewisse Produkte der Unterhaltungsindustrie, z.B. Liebesgroschenromane. Ihre Verfasser wissen, wie sie es anstellen müssen, dass eine Leserin sich mit der Heldin vollkommen identifiziert, mit dem Ergebnis, dass sie vorübergehend fühlt wie diese. Ich sehe keinen Grund, den Begriff Liebe zu verklären, sie als einzigartige, auf irgendeine Weise erhabene Grenzerfahrung anzusehen. Dergleichen kennt auch die Religion. Ist unsere moderne Auffassung von Liebe vielleicht nichts anderes als säkularisierter religiöser Inhalt oder gar Wahn?
(8) Lange erschien es mir fragwürdig, dass ich überwiegend Bücher von Autoren lese, die schon lange tot sind. Ich rechtfertigte diese einseitige Auswahl meiner Lektüre vor mir selbst damit, dass sich die Werkbiografien toter Schriftsteller besser überschauen und abschließend beurteilen ließen. Unter dem Gesichtspunkt der Zeitökonomie wollte ich mir Fehlinvestitionen von Lebenszeit in die Lektüre von Werken ersparen, die sich aus guten Gründen nicht durchsetzen würden. Ich weigerte mich also, auf irgendeine Weise an der Kanonbildung zu meinen Lebzeiten mitzuwirken, und machte mir zugleich das Sichten und Einordnen durch Generationen früherer Leser zunutze. Inzwischen habe ich schon so lange gelebt, dass sich abzeichnen müsste, wer in den letzten fünfzig Jahren, ob noch lebendig oder auch schon gestorben, in den Kanon bleibender Namen neu aufgenommen worden ist. Da bieten sich nur sehr wenige an und gerade sie entsprechen zumeist nicht meinem Geschmack, meinen Bedürfnissen. Es kann nicht an einem Mangel an Autoren und Texten liegen, eher im Gegenteil. Der Literaturmarkt ist zu breit, zu vielfältig und geradezu unüberschaubar geworden. Das ist nicht nur eine Frage der Quantität – je differenzierter die Gesellschaft wird und je mehr die Autoren mit ihren Stoffen und deren Gestaltung den Interessen jeweils einzelner Gruppen entsprechen, umso geringer ihre Strahlkraft auf den Großteil der Leserschaft insgesamt. Was jedoch geblieben ist: das Bedürfnis nach einem Kanon mit einer insgesamt doch begrenzten Zahl großer Namen. Also greift man wieder zu den Werken aus jenen alten Zeiten. Virginia Woolf mit „Mrs. Dalloway“, das wird bleiben, aber die Vielzahl von neuen Namen und Werken, die uns etwa der Deutschlandfunk allnachmittäglich präsentiert? Kaum besprochen, schon verweht.
(9) Jahrelang viele Notizen gemacht für einen Roman über die Schwulenszene der 70er Jahre in Berlin und anderswo. Die Konzeption war schon ausgefeilt, aber ich schreibe den Roman nicht. Der Arbeitsaufwand steht in keinem Verhältnis zum absehbaren Echo. Und der Stoff kommt mir jetzt auch schon allzu historisch vor. Das „Sixty years ago“ hat mich vorzeitig ereilt.
(10) Mit mir über Musik ernsthaft sprechen zu wollen, kann frustrierend sein. Ich habe zwar Vorlieben und vermutlich keinen vollkommen schlechten Geschmack, bin aber unfähig, über Strukturen mitzureden. Die gesamte Rock-/Pop- usw. Produktion ist vollständig an mir vorbeigegangen. Das alles habe ich nur als meist angenehmes Hintergrundgeräusch in Bars wahrgenommen. Debussy habe ich daheim oft und gern gehört, "Le martyre de Saint Sébastien", "Jeux", "Nuages", "Khamma" vor allem. Heute bevorzuge ich Minimal Music: John Adams, Philip Glass und Steve Reich. Über Filmmusik zu "Happy Together" entdeckte ich Astor Piazzolla für mich. Merkwürdig, obwohl ich all das nicht analysieren kann, stelle ich fest, dass Anhören produktiv anregend wirkt, Ideen erzeugend und sie bereits im Kopf sortierend. Man setzt sich Qualität aus, nimmt sie als solche unscharf wahr und ihr Einfluss erstreckt sich weit über sie hinaus. Ich höre „Octet“ von Steve Reich und auf einmal ist da der Nucleus eine Erinnerung, an den sich rasch weiteres Material anlagert, zur Stofffülle wird. Die Musik ist zu Ende und mir steht der Text vor Augen, den ich schreiben werde.
(11) Auf heutigen US-Amerikanern lastet oft ein für uns schwer nachvollziehbares Quantum rigider Sittlichkeit und Religiosität. Sie sehen vielleicht aus wie wir Menschen aus Nordwesteuropa, denken, fühlen, reagieren jedoch nicht selten anders. Ein Münchner Freund brachte einmal seinen Lover aus North Carolina mit zu mir. Ich ließ sie Rimski-Korsakows Orchesterstück „Russische Ostern“ anhören. Der junge Amerikaner war darüber ernsthaft verstimmt, nicht aus Gründen, die mit Musik oder Ästhetik zusammenhingen – er fand es an sich „frivol“. Auch E-Musik darf so etwas nicht: ein christliches Fest darstellen und sich dabei der Mittel sakraler Musik bedienen, meinte er. In diesem Fall waren es auch die Glocken, die seine Ablehnung hervorriefen.
(12) Neoliberalismus gibt es natürlich auch im Kopf. Wer seine Sozialisation nach 1980 gehabt hat, ist meist davon geprägt. Das macht die Verständigung mit diesen Leuten so schwierig, wenn man älter als sie ist. Es wurden gewissermaßen Bewusstseinsinhalte privatisiert, d.h. Komplexe, die man vorher in unauflöslichem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorgängen sah, werden nun primär durch die individualpsychologische Brille betrachtet. Daher die Renaissance moralischer Werte und Tugenden. Obwohl die ökonomische Grundlage des Neoimperialismus heute stark schwankt, ist das von ihm geprägte Denken noch wenig erschüttert.
(13) Bisexuelle habe ich sexuell meist als normal schwul erlebt. Die Ergebnisse jener bekannten kanadischen Studie haben mich nicht überrascht. Gewiss gibt es zahlreiche bisexuelle Biographien, doch originäre, anlagemäßige Bisexualität halte ich für ziemlich selten. Was mich an Bisexuellen reizte, war durchaus nicht der Sex, sondern die pikante soziale Situation. Etwa, wenn einer auf die Frage: Und wenn die Gattin dich jetzt ertappen würde? antwortet: Sie ist in Miami! und das so hocherfreut und ein bisschen hämisch herauskommt, dass man spürt: Zwischen denen ist ein spezieller Atlantikgraben. Außerdem schien mir, dass sie bei ihren seltenen Ausflügen in die andere Welt ein ungeheures Behagen verspüren und auch selbst verströmen. Wie viel Innigkeit! Geht man jedoch zu sehr auf sie und ihre unerfüllbaren Wunschvorstellungen ein, können sie in Panik geraten. Alles in allem sehr interessante Charaktere.
(14) Robert Musil ist für mich ein seltener Glücksfall innerhalb deutscher Literatur. Er untersucht Tieferliegendes mit einer Art romanischer Klarheit, war Offizier, Ingenieur und Philosoph, dann Erzähler mit hoch entwickeltem Formbewusstsein; satirisch veranlagt und zugleich auf der Suche nach zeitgemäßer Mystik; jedes Werk und Kapitel ein Experiment mit spezieller Versuchsanordnung. Ich habe den Mann o. E. erstmals mit siebzehn gelesen und dann tagelang in den Schulstunden versucht, mich durch Autosuggestion in den von Musil beschworenen „anderen Zustand“ zu versetzen. Einmal ist es mir für einen ganzen Tag gelungen. (Agathe ersetzte ich durch meinen Banknachbarn.) Wo Musil Zeitkritik übt, kommt er mir oft merkwürdig aktuell vor. Sein Werk hat auch eine Nachtseite. Sie wird sichtbar, wenn in der bekannten Schulgeschichte der junge Törless fasziniert und zugleich angewidert beobachtet, wie Reiting Basini zum Objekt sadistischer Bedürfnisse macht. Noch deutlicher wird es in „Der Vorstadtgasthof“. Formal ist das: Kleist meets Thomas Bernhard. Eine Ehebrecherin trifft sich dort erstmals mit einem Fremden, der ihr im Liebesspiel die Zunge abbeißt, alles elegant und kraftvoll erzählt inklusive des viehischen Endes. In Musils Nachlass fand sich etwas über Menschenfresserei, gar nicht brutal, sondern harmonisch, geschmackvoll. Im Mann o. E. vertritt der irre Sexualmörder Moosbrugger diese Seite. - Musils Frauengeschichten und Theaterstücken konnte ich nicht viel abgewinnen.
(15) Die Bilder von Stefan Hoenerloh sind weniger düster phantastisch als vielmehr eine künstlerische Weiterentwicklung und Interpretation durchaus real vorkommender urbaner Szenerien. Dieser gigantomanische schwere Neoklassizismus hat vor und nach 1900 in der Architektur vor allem der USA eine große Rolle gespielt. Das sind dann diese scheinbar für die Ewigkeit gebauten gutbürgerlichen und später zu Slums verkommenen Stadtviertel in den Zentren z.B. von Philadelphia, Boston usw. Hoenerlohs Thema ist diese Diskrepanz zwischen ideal gedachten und entworfenen Städten und ihrem späteren Verfall. Ist das nicht das Hauptthema moderner Stadtentwicklung überhaupt: dass man seit 200 Jahren mit immer größerem (auch materiell größerem) Aufwand immer Perfekteres baut und den späteren Verfall, die urbane Abnutzung nach wie vor nicht aufhalten kann? In den letzten Jahrzehnten gibt es als Antwort auf diese Problematik eine teilweise Rückkehr zum Kleinteiligen, aber das ist ein untauglicher Versuch, wie sich auch schon zeigt. Mir fällt jetzt als Beispiel Nürnberg-Langwasser ein. Der jüngste Bauabschnitt, kleinteiliger, detaillierter und schon eine Vorahnung der Postmoderne, machte auf mich einen bereits stärker heruntergekommenen Eindruck als die älteren, schlichteren, rein funktionalistischen Teile. Heruntergekommen waren auch die meisten historischen deutschen Altstadtviertel, die im 2. Weltkrieg den Bomben zum Opfer fielen. Materie verbraucht sich, und je größer der materielle Aufwand beim Aufbau, desto bestürzender der Eindruck des späteren Verfalls - den ich ästhetisch sehr reizvoll finde.
(16) Hamburg hätte ich mir als meinen späterhin jahrzehntelangen Wohnort ursprünglich nicht vorstellen können, dann bin wegen meines Partners dahin gezogen. Die Umstellung von Berlin auf die andere (verschlossenere nordwestdeutsche) Mentalität fiel mir schwer. Draußen im Land herrschen oft falsche Vorstellungen von der Stadt. Die Leute haben dann nur die Schauseite im Blick, die ich bürgerlich-steif und insgesamt wenig geschmackvoll finde. Sie spiegelt noch immer das Repräsentationsbedürfnis einer reichen Kaufmannsaristokratie wider: Man ist es sich schuldig. Dafür treibt man gern unangemessenen Aufwand. Andererseits wird auch gespart, und zwar am Notwendigen. Das hat lange Tradition. Der Patrizier denkt ökonomisch, er spart am Gesinde und gönnt sich selbst hin und wieder etwas Besonderes. Also immer ein wenig protzig, aber nie wirklich großartig. Die Kehrseite: Keine zweite große deutsche Stadt hat so ausgedehnte trübselige Wohnviertel für die unteren und mittleren Schichten. Eine monotone, deprimierende Schäbigkeit überall. Verrottete Fassaden, aus Gelbklinker wurde Grauklinker. Zu schmale Straßen und Gehwege. Ein unterentwickeltes öffentliches Verkehrsnetz. Was das Geistige angeht: Der Ruf, prinzipiell liberal und fortschrittlich zu sein, ist unverdient. Die Hamburger Eliten passen sich dem Zeitgeist jeweils nur an. Thomas Freeman, der Biograph von Jahnn – hanseatischer Hamburg-Hasser, schrieb vom „Gestank ihrer Hauptbücher“ – sah das nach vielen langen Aufenthalten in der Stadt so: Maßgebend sei ein in sich geschlossenes konservatives mittleres Bürgertum, das Neuem wenig geneigt sei. Im 20. Jahrhundert gab es zweimal längere Gegenbewegungen, ausgehend von Krisensituationen: vor und nach dem 1. Weltkrieg, dann in der letzten Nachkriegszeit. In diesen Perioden herrschte ein Geist, der mehr an der allgemeinen Wohlfahrt orientiert war, echten Gemeinsinn aufwies (siehe die Architektur von Fritz Schumacher). Um 1910 war es auch eine Reaktion auf die katastrophalen Zustände in den Gängevierteln. Robert Koch sah sich nach der großen Choleraepidemie 1892 dort um und befand, Hamburg habe entschieden die fürchterlichsten Elendsquartiere in ganz Mitteleuropa. Spätestens mit Ole von Beust ist die Stadt wieder zu ihren Traditionen zurückgekehrt, die Elbphilharmonie der gebaute Ausdruck davon. – Die Presse? Die wöchentlich erscheinende ist beachtlich, ist fürs ganze Land und hat sich nach dem Krieg angesiedelt, da Berlin als Zentrum ausgefallen war. Aber es gibt bei 1,8 Millionen Einwohnern nur eine einzige nennenswerte Tageszeitung, das „Hamburger Abendblatt“, deprimierend spießbürgerlich, langweilig und paradoxerweise nicht immer vollkommen seriös. Man vergleiche den Markt für Tageszeitungen in Frankfurt, München und Berlin.
(17) Bei mir war das familiäre Umfeld von beträchtlichen Spannungen und komplizierten Vorgeschichten erfüllt, die sich auch topographisch darstellten. Meine Eltern wohnten höchst romantisch in den zugewachsenen Steinbrüchen, aus denen während der Industrialisierung Material für den Bauboom gebrochen worden war. Der Vater meines Vaters, als Pfälzer bis 1918 Berufssoldat im königlich-bayerischen Heer, hatte sich nach seiner Ausmusterung dort als Landwirt ansiedeln lassen. Das war die Welt väterlicherseits: Bauern, Lehrer, Soldaten – alter rheinfränkisch-hugenottischer Mittelstand, der im Abstieg begriffen war. Dagegen waren die Vorfahren meiner Mutter zugewanderte „Proleten“, fortschrittlich, im damaligen Sinne, geistig aufgeschlossen und am materiellen Aufstieg stark interessiert; auch ein jüdischer Zweig dabei. Diese beiden Wurzeln des Familienstammbaums harmonierten nur schlecht. Meine Großeltern achteten ihren Schwiegersohn gering. Wenn ich hinter dem Elternhaus auf die am höchsten gelegene Wiese stieg, hatte ich die zwei Welten (wie die „zwei Wege“ bei Proust) sehr plastisch vor mir liegen: auf der einen Seite in einem Talkessel und an der Hälfte der Bergflanken die Schwerindustrie und die städtischen Wohn- und Geschäftsviertel, in der anderen Richtung dagegen die traditionelle Ländlichkeit eines Feld-, Wald- und Wiesenhügellandes – und ich genau auf der Kante. Diese prekäre Situation hat mich geprägt, und noch in Berlin sagte mir einer auf den Kopf zu, ich sei zugleich „in und out“. Meine Wunschstadt ist also eher groß als klein, eher modern als altertümlich, muss aber rundherum sehr viel Platz und Ruhe haben. Hamburg und Berlin erfüllen diese Voraussetzungen. Warum bin ich mit sechsundvierzig in eine kleine Kurstadt auf dem Land gezogen? Wahrscheinlich aus der gleichen Lust am Kontrast, ich war ja weiter viel in Hamburg. Damals hatte ich das Gefühl, die andere Seite sei zu kurz gekommen. Als ich nicht mehr arbeitete und überwiegend auf dem Land war, verdross mich eine Beschaulichkeit, die zum guten Teil aus Vergreisung und ländlicher Idiotie bestand, immer mehr und ich zog noch einmal um, wieder nach Berlin.
(18) Wie authentisch im Sinne von unverfälscht sind wohl unsere jeweiligen aktuellen Stimmen, so wie sie erklingen? Da habe ich meine Zweifel, da ist sehr viel bewusst oder unbewusst der Situation Angepasstes. Ich habe hier als CD eine Thomas Mann-Aufnahme mit seiner Schiller-Schmonzette „Schwere Stunde“. Der Dichter liest selbst, bräsig hochkulturell. Ganz anders dagegen seine Darbietung aus dem „Felix Krull“, die habe ich mal im Radio gehört: leichtfertig dahintänzelnd. Man hört: Ironie, Travestie und dass er weder Stoff noch Zuhörer noch sich selbst gerade vollkommen ernst nahm. Oder Wowereit: normalerweise sonor staatstragend, selbst bei seinen Späßchen für die breite Öffentlichkeit. Aber der Wowereit bei der Verleihung des schwulen Filmpreises „Felix“ (ohne Krull), der hörte sich sehr verschieden davon an, baute immer wieder Kiekser ein, die man sonst nicht von ihm hörte. Wer von uns kennt schon seine eigene Stimme wirklich, sozusagen im Naturzustand? Aber gibt es den überhaupt? Als ich Anfang zwanzig war, schnitt ich mal im Büro unabsichtlich mein Gespräch mit einer Kollegin mit, das Band lief, ohne dass ich es wusste. Ich fand meine Stimme nachher mir unvertraut, ein bisschen wie ein schneller Schleiertanz. Wir sind immer kulturelle Wesen mit einem Rest Naturausstattung. Oder umgekehrt. Jedenfalls ein Mischmasch.
(19) Einmal gab ich bei Google den Namen eines Mannes ein, mit dem ich um 1990 locker befreundet gewesen war. Der Kontakt riss ab, als ich die Bars und Cafés nicht mehr besuchte. Wir hatten uns auch zu Hause getroffen, aber mein freiwilliger „gesellschaftlicher Tod“ schuf eine unüberbrückbare Distanz zwischen uns … Und nun las ich, er sei seit fünfzehn Jahren tot, mit Ende dreißig schon gestorben. So stand es auf dem Vorblatt eines neuen Buches über einen großen Philosophen, das dem Andenken meines Freundes gewidmet war. Ich konnte die Nachricht nur schwer verarbeiten, hatte ich doch in der Zwischenzeit schon in einem Roman aus ihm eine Hauptnebenfigur gemacht. Er spielt darin die Rolle eines ziemlich anspruchslosen Snobisten. So war er tatsächlich: schrieb am Neujahrstag Briefe aus dem Café Kranzler und fühlte sich dort auf der Höhe der Epoche. Und die neue Ledermontur musste von „Amerikas erstem Lederschneider“ sein, der in Portland, Oregon war, und dann passte die persönlich in Oregon abgeholte Jacke nicht. Man musste seine Maße vorher schriftlich dorthin schicken. Ich hatte ihn dazu einen ganzen Abend lang vermessen und ich habe auch das im Roman verwendet. Ich habe beinahe eine Karikatur aus ihm gemacht und vielleicht ist die Figur sogar relativ gelungen. Aber er war mir mehr, einer, der gut zuhören konnte und ein Gespür für Zwischentöne hatte. Er ließ sich von mir anregen, Proust zu lesen und Italo Svevo. Mir empfahl er die Lektüre von Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Dem kam ich nach und mit großem Vergnügen, aber erst, als er schon aus meinem Leben verschwunden war. So einer bin ich, einer, der sich von Freunden keine Bücher empfehlen lassen mag, und wenn sie tot sind, wird er ein bisschen sentimental. Woraus man vielleicht wieder einen Text machen könnte.
(20) Heute Morgen auf dem Hamburger Friedhof Nienstedten das Grab von Hubert Fichte gesucht und gefunden. Es verströmt wie sein Werk diese Mischung aus hieratisch und verspielt: kurz gehaltene Buchsabdeckung und aus ihr hervorbrechend und gestutzt zwei Rosensträucher, mittelhoher schwarzer Stein mit unregelmäßig abgebrochenen Kanten, auf der oberen abgelegt zwei kleine graubräunliche Feldsteine. Die Inschrift: Vor- und Zuname in Großbuchstaben, dann Lebensdaten taggenau, darunter ein Empedokles-Zitat in altgriechischer Schrift und Sprache, übersetzt lautet es: „Denn ich war schon einmal ein Junge und ein Mädchen und ein Busch und ein Vogel und ein aus dem Meer springender wandernder Fisch.“ Ich machte es aber nicht wie Josef Winkler, der Erde vom Grab Jean Genets nahm, bloß um daraus wieder Literatur herzustellen. Vor Wochen sah ich schon das Haus des Fichte-Großvaters in Hamburg-Lokstedt. Straße und Haus haben inzwischen den Aufstieg vom Klein- ins Mittelbürgerliche geschafft. Eine Gedenktafel fehlt, kein Wunder angesichts bissiger Anmerkungen des Autors zu den Veränderungen am Haus nach dessen Verkauf. Bei Hans Henny Jahnn wurde sie erst angebracht, als sein Geburtshaus abgerissen und durch einen Standardneubau ersetzt war. (Geschrieben im Januar 2012)
(21) Ich habe jahrzehntelang die Strategie verfolgt, mich vor meinen Eltern nicht offen als Schwuler zu outen, ihnen den Sachverhalt jedoch durch Mitteilen vieler Details zur gefälligen Schlussfolgerung nahezulegen. Die Ergebnisse waren wenig überzeugend. Mein chronisch kranker Vater reagierte auf Erwähnung meines Freundes bis zum Schluss nervös-verunsichert. Ich sagte mir, dass ich ihn besser schonen, also einfach schweigen sollte, zumal ich ja weit weg lebte. Meine Mutter dagegen deutete währenddessen Jahr um Jahr Interesse und Sympathie für meinen ihr unbekannten Freund an. Ich ließ mich täuschen und glaubte, mit dem Tod meines Vaters kämen andere Zeiten und ich könnte dem, mit dem ich schon zwanzig Jahre zusammen war, mein Elternhaus doch noch zeigen. Aber meine Mutter gab mir nun zu verstehen, sie wünsche das nicht, und ich glaube, für sie stand im Vordergrund: Was würden die Leute sagen? Ihre Ablehnung war ein wesentlicher Grund dafür, dass ich nicht mehr hinfuhr. Dann kamen wir bei anderen Fragen über Kreuz und sie verlangte, dass ich sie ganz in Ruhe ließ. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die inzwischen uralte Frau noch immer allein in ihrem großen Haus in dem kleinen Wald lebt. Alle paar Jahre bestätigt mir das Einwohnermeldeamt, dass sie am Leben ist und noch dort wohnhaft. Das ist alles und es macht mir nichts aus. Eine sehr ausgeprägte Mutterbindung besaß ich nie. Ich war zwar Einzelkind, aber nur bei meiner Großmutter mütterlicherseits hatte ich den Eindruck, ich sei für sie ein Individuum mit dem Recht auf eine eigenständige Entwicklung. Für die anderen stand die Funktion innerhalb der Familie im Vordergrund, aber ich bin fortgegangen, habe das von ihnen Aufgebaute nicht übernommen und weitergeführt. Ich habe mich auch tatsächlich selbst enterbt, keine Redensart. - Unterm Strich: Ich hätte es schon früh klar und deutlich sagen sollen, wie die Filmfigur Cédric in „Nur eine Frage der Liebe“. Und dann am besten wegbleiben. Letzten Endes ist es ja doch gerade darauf hinausgelaufen.
(Geschrieben März 2012)
(22) Wenn es um lokale und regionale Identität geht, nehme ich viel Nicht-Exaktes und oft auch Ahistorisches wahr. Je länger die alten Zeiten her sind, umso weniger Kenntnisse haben die dort Beheimateten von den früheren tatsächlichen Abgrenzungen und Einwirkungen. Die Begriffe verschwimmen und wandeln sich, werden willkürlich oder schlicht falsch gebraucht. Im Internet hat mal eine junge Frauensperson einen sehr dürftigen Text über „Saarländisch“ veröffentlicht, gemeint war der Dialekt, für sie eine genau bestimmte einheitliche Sprache. Da bin ich ihr in die Parade gefahren, Saarländisch gebe es gar nicht, dafür Rheinfränkisch (bei uns zu Hause) und Moselfränkisch und beide unterschieden sich beträchtlich. Die Antwort war nur beleidigtes Schweigen. Noch ein Beispiel: Die Tourismuswerbung hat es geschafft, der „saarländischen“ Küche starke französische Einflüsse aus der Geschichte anzudichten – aber keine Spur! Herkömmlich ist eine eher bescheidene Arme-Leute-Kost ohne Raffinesse. Nur die sehr gehobene Gastronomie kennt heute französische Küche, wie fast überall in Deutschland.
Das sind alles Versatzstücke einer Pseudoidentität, so ähnlich wie die Sachen, die man in den Bau- und Gartenmärkten für drinnen oder draußen kaufen kann: rustikal, mediterran usw. Wir leben in einer Zeit des Neohistorismus, das hat mit der Postmoderne angefangen. Käufliche Stilmasken, die mit echter Identitätsbildung wenig zu tun haben. Interessant ist auch zu sehen, wie die Medien so etwas prägen. Besonders deutlich ist es an den 3. Fernsehprogrammen. Sie haben alle ein Bild von der jeweiligen regionalen Identität, die sie aber zum großen Teil erst selbst schaffen. Die Moderatoren wie die Reporter werden danach ausgewählt, ob sie in Sprache und Gemütsausdruck diesem Klischee entsprechen. Die in Berlin sind immer wendig, voller Sprachwitz, bohrend, unbestechlich und grundehrlich – die Hamburger reserviert, etwas dröge und vor allem überaus seriös. Ganz schlimm, was sie mit den Niedersachsen im Programm ganz allgemein machen: alles Dorfdeppen, aber mit goldenem Herz, und sie neigen zu kindischen Späßen. Das Üble ist, dass diese Muster sich allmählich tatsächlich ausbreiten. Die Fiktion, ursprünglich bestenfalls stark verzerrte Teilrealität, wird zur realen Normalität. Wer die 789. Aufzeichnung aus dem Ohnsorg-Theater gesehen hat, reagiert ganz automatisch so wie diese Schießbudenfiguren. Der Mensch ist nicht nur, was er isst, er ist auch, was er im Fernsehen immer wieder gesehen hat.
Manche glauben, dass sich nur an der Oberfläche alles angeglichen habe und in den tieferen Schichten die Traditionen dennoch weiterlebten und sich im Verhalten Ausdruck verschafften. Ich denke, dass die Zusammenhänge komplizierter sind, dass die Identität der Person sich heute vor allem aus dem sozialen und materiellen Status sowie der individuellen Bildung ergibt und dass die Gruppenidentität überwiegend eher kulturell vermittelt als noch ursprünglich vorhanden ist. Gerade weil die realen Lebensverhältnisse innerhalb einer Schicht sich landesweit und noch darüber hinaus so stark angeglichen haben, gibt es ein sekundäres Bedürfnis nach kultureller Differenzierung. Der Konsument will nicht bloß Konsument, die Arbeitskraft nicht bloß Arbeitskraft sein, und aus diesem Gefühl des Unbefriedigtseins erwächst das Bedürfnis, mehr zu sein – und dann geht die Suche los im Warenhaus der Identitäten und Mentalitäten. Die einen werden Esoteriker, die anderen Traditionalisten. All das hat etwas Zufälliges und Willkürliches. Sein Spiegelbild hat es im Äußeren der Eigenheimsiedlungen der letzten dreißig Jahre. Was für eine groteske Mischung der Stile und Bauformen, ein kategorischer Individualismus aus der Fabrik - grauslich.
Das Thema könnte mich endlos beschäftigen. Dabei weiß ich, dass ein Einzelner es nicht objektiv zu Ende bringen kann, da er immer an den ablaufenden Prozessen beteiligt ist. Es ist nur natürlich, dass ich diese Einschätzungen so vornehme – schließlich habe ich in meinen jungen Jahren einige radikale Brüche vollzogen. Meine Eltern haben es nie akzeptiert, dass ich weggegangen bin, und meine Mutter hat mir noch am Schluss (bevor wir endgültig auseinanderkamen) vorgeworfen: Du hast keine Heimat! Womit sie nicht so falsch lag. Heimat hat es für mich immer nur im eigenen Kopf gegeben, und es bezeichnet für mich bloß ein Mosaik diverser positiver Bilder, die man sich hier und da verschafft hat und bei sich aufbewahrt. Lassen wir es damit bewenden. Nur zum Abschluss noch ein Wikipedia-Zitat über Stuttgart: „Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund betrug 2007 40%.“ (Ohne die auch zugezogenen Nord- und Ostdeutschen!) Wie traditionell kann da Mentalität überhaupt noch sein?
Januar 2016. Beim Abtippen und Speichern bleibe ich an einer Passage hängen …
Nur selten wünsche ich mich in die alten Zeiten zurück. Gestern bemerkte ich einen, den ich damals in Berlin oft beobachtet hatte - mehr war nie geschehen. Er kam aus Süddeutschland, sprach mit hartem Akzent eindringlich und viel, schien intelligent - er dürfte Student gewesen sein. Trotz seines anziehenden Äußeren schien er für erotische Abenteuer nicht begabt zu sein, nur für den Kopf zu leben. Da ist jetzt noch immer das hübsche, männliche Gesicht und die enorme Adlernase und sehr dichtes, dunkles Wuschelhaar, das sich allerdings in der Mitte ein wenig zu lichten beginnt. Er ist in meinem Alter. Nun wirkte er eher introvertiert. Im Gegensatz zu früher hatte er auch Augen für mich. Doch konnte ich nicht herausbringen, ob er sich bloß an mich erinnerte oder mich erstmals mit Interesse wahrnahm. Ich hätte ihn ansprechen können, aber er war zu Besuch bei einem dieser Hamburger Faustficktypen. Er wird doch nicht mit ihm geschlafen haben? Nachher, als er fort war und der Hamburger noch blieb, war es zu spät, die Verhältnisse näher zu untersuchen. Er kann ja bloß bei ihm gewohnt haben. Eine Konzession hat der Berliner im Lauf der Jahre an den Geschmack der anderen gemacht: Er trägt nun eine schwarze Lederjacke. Alles andere ist immer noch so studentisch lustlos wie in den APO-Tagen. Für mich verkörpert er weiter den diskursiven Geist, der in den Kneipen herrschte, damals in den Siebzigern. Aber auch an ihm war nicht zu übersehen, wie die Art selten und etwas melancholisch geworden ist. Eigentlich rührend, ein anachronistisch gewordener Progressiver … Ich stelle bei ihm wieder fest, was mein Hauptantrieb ist: ihnen unter die Schädeldecke zu schauen.
Geschrieben im Mai 1987 in Hamburg. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen, nie mehr an ihn gedacht. Jetzt, selbst wieder in Berlin lebend, würde ich ihn nicht einmal mehr erkennen. Umso plastischer sein Bild noch in mir, das ursprüngliche wie das spätere. Vergeht die Zeit wirklich? Oder vergehen eher wir in ihr, wie in ein uns unzuträgliches Element getaucht?
Heute ist Samstag, der 17. September 2022. Sascha ist wieder für ein paar Tage zu Besuch bei mir. Wir stehen wie gewöhnlich gegen acht Uhr auf, er macht das Frühstück und hinterher wasche ich ab. Dann geht er einkaufen und ich fege die Wohnung aus. Später schreibe ich einige Zeilen über ein Buch, das ich gerade lese, und was es in mir auslöst. Ich veröffentliche den Text hier und da. Sascha hat inzwischen das Mittagessen fertig, es gibt Bratwurst mit Blumenkohl. Ich lobe das Essen und indirekt damit auch Sascha. Nach dem Dessert wasche ich zum zweiten Mal ab. Das Wetter ist herbstlich, wir wollen nicht ins Grüne, erledigen Einkäufe in einem Warenhaus hier im Bezirk. Tatsächlich haben wir Glück und bekommen rasch, was wir an Ersatz benötigen, ich eine neue Isolierkanne – in der alten neuerdings bald immer nur kalter Kaffee – und er für seine schwachen Augen eine Armbanduhr mit großer Digitalanzeige. Hinterher will Sascha mit der Straßenbahn in den Wedding, da habe ich einige Jahre gewohnt. Die lange Strecke quert eine Reihe von Stadtvierteln, die unterschiedliche Erinnerungen in mir auslösen. Der Bauboom der letzten Zeit hat viele uns von früher bekannte Ecken verändert. Wir fahren am Jüdischen Friedhof Weißensee entlang und nehmen uns erneut vor, ihn einmal zu besuchen. Im Wedding laufen wir einen Teil der Geschäftsmeile ab. Sie ist noch weiter heruntergekommen. Enttäuschend dann auch das Kaufhaus: die Warenpräsentation früher nie so lieblos – und die Preise nie so hoch wie nun. Wir verzichten auf weitere Einkäufe, wollen im Restaurant Kaffee trinken: der nächste Schock, es ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Hier, wo ich einst so oft und gern gegessen habe, scheint alles seinem Untergang entgegenzutreiben; kaum Auswahl, wenig Gäste, kein Personal zu sehen. Wir flüchten mit der U-Bahn in Richtung Reinickendorf. In der uns bekannten Bäckerei sieht es nur wenig besser aus. Das Kuchenbüffet weist vor allem große Lücken auf, das Personal ist stark gestresst. Sascha bekommt statt heißer Schokolade, die er bestellt und teurer als früher bezahlt hat, Kaffee, den er strikt meiden muss. Er reklamiert mit Erfolg und beklagt sich dann bei mir, dass sein Heißgetränk fast nur heißes Wasser sei. Mein Kaffee schmeckt ganz ähnlich und ist mitleiderregend schwach. Stark besetzt dafür die U-Bahn nach Hause. Wir wundern uns, dass schon wieder oder immer noch so viele Touristen nach Berlin kommen. Die erhoffte wie die befürchtete Briefpost ist auch heute nicht eingetroffen, stattdessen eine E-Mail. Einer, der dazu befugt war, hat eine Maßnahme, mich betreffend, getroffen. Sie trifft mich indessen nicht wirklich, umso leichter kann ich mir versagen, was mir ohnehin nicht gestattet: sie öffentlich zu kritisieren. Lege mich lieber eine halbe Stunde aufs Ohr bis zum Abendbrot. Noch einmal Abwaschen und danach Rundtour durchs Internet – Sascha sieht im anderen Zimmer fern -, wieder mein schon routiniertes Erschrecken über unsere Zeit mit ihren Krisen, Katastrophen und Vorahnungen. Dann ist der Bericht über den Tag fertig, es ist 22 Uhr neununddreißig. Ich kann noch ein paar Seiten in dem wunderbaren Buch lesen, bevor ich rasch einschlafen und dann wie seit Monaten Nacht für Nacht von Alpträumen zermürbt werde.
Auf Friedhöfen ist er schon immer gern spazieren gegangen. Für ihn sind es Orte der Kontemplation, gestaltet nach Prinzipien einer harmonischen Ästhetik. Wer sich auf ihnen nur ergeht, für den rückt die Zweckbestimmung der Anlagen in den Hintergrund - doch nicht so weit, dass sie ganz aus dem Blick geriete. War da nicht noch etwas vorzubereiten? Er hatte seinen gesamten Lebensroman von Jugendzeiten her durch die wechselnden Schauplätze strukturiert, auf denen die vielen Akte und Zwischenakte abrollten, und nun wünschte er sich ein passendes Schlussbild: all das Vorangegangene versöhnend, seine Lebensmotive dort verklingen lassend …
Die Wahl des Friedhofs für die eigene Bestattung beschäftigte ihn jahrelang. Als er sich entschieden hatte, wollte er sichergehen und die spätere Abwicklung in professionelle Hände legen. Er rief ein großes Beerdigungsinstitut an und erschien zehn Minuten vor der Zeit zu dem vereinbarten Termin. Die Details des Vorsorgevertrages wurden in einem Raum ausgehandelt, dessen Gestaltung von Geschmack und Raffinesse zeugte. Die Dekoration changierte in der wohl beabsichtigten und auch erreichten Wirkung zwischen sanft befriedend und dezent vitalisierend. Sein Blick fing sich immer wieder an der Grisaille-Malerei auf der Wand gegenüber: War es der Torso eines Todesengels? Wie viel da angedeutet schien: Geist und Eros, das Mysterium unserer Existenz und ein Fluidum von Transzendenz. Er ermahnte sich selbst, der rätselhaft reizvollen Gestalt nicht so viel Aufmerksamkeit zu widmen.
Er wünschte ein Erdbegräbnis und nannte den Friedhof dafür. Die Bestatterin enttäuschte ihn: Ich war noch nie da, sagte sie, man kommt hier gar nicht aus dem Geschäft heraus. Dann wurden lauter praktische Fragen an ihn herangetragen, die er sich vorher leider nicht gestellt hatte, wie zum Beispiel nach Material und Form des Sarges, welcher Blumenschmuck sein letztes Möbelstück garnieren würde und ob er im Sarg eigene Kleidung bevorzuge? Er fühlte sogleich, dass seine insgesamt nachlässige Garderobe nicht zu dem, wie es hieß, mediterranen Gesteck passen würde: dann doch lieber ein neues Totenkleid vom Bestatter. Und dessen Farbe? Ein sehr helles Beige empfahl sich, er hatte es zunächst für Krankenhaus-Weiß gehalten.
Es irritierten ihn die rasch aufeinanderfolgenden Bilder von Särgen, die ihm gezeigt wurden. Ihre Form wies fast immer etwas mühsam gebändigt Pompöses auf, das ihm missfiel, gleich ob das Material Eiche oder Kiefer war. Ohne vollkommen überzeugt zu sein, ließ er ein Modell aus Linde eintragen – es wirkte weniger altväterisch, vielleicht doch ein wenig zeitlos freundlich.
Dann war alles besprochen und entschieden und alle Posten addiert - er unterschrieb den Vertrag. Am Ende des Tages ist der Gedanke an den schönen Friedhof verdrängt von der Vorstellung eines verschlossenen Sarges. Zeigen sich da bei ihm jetzt nicht gewisse klaustrophobische Tendenzen? Ja, gewiss, er wird dort nicht mehr herumgehen, sondern still daliegen und das Ende der Liegezeit abwarten. Und danach? Er hat erfahren, dass etwa noch aufzufindende Gebeine dann tiefer gelegt werden. Es wäre übertrieben, das eine neue Perspektive zu nennen – immerhin wird es eine Veränderung der Lage sein. Fortsetzung folgt, womöglich.
Über mich und einige andere darf im Internet Unzutreffendes verbreitet werden. Es wurde behauptet, wir seien in der DDR sozialisiert worden, das merke man uns an. Es war nicht als Kompliment gedacht und traf bei mir so wenig zu wie bei den übrigen Gemeinten. Meine Widerrede blieb fruchtlos; dann „verschwand“ sie. Die Falschbehauptung hat Bestand.
Ich vergewissere mich selbst: Bin als Nachkriegskind geboren und aufgewachsen im Saarland. Habe später in West-Berlin und im Raum Hamburg gelebt, bis ich vor fünf Jahren ins Beitrittsgebiet zog. Kulturell ging mein Blick früh nach Westen. Ich las Autoren vor allem aus Frankreich, Italien und den USA. Auslandsreisen? In eben dieselben Länder. Trotzdem ostsozialisiert? Eine grundlose Behauptung.
Pikant würde es sein, näher zu untersuchen, wer hier denn tatsächlich in jenem Drüben sozialisiert worden ist. Dialektischer Rabulismus, zur Rechtfertigung eingesetzt, wie nach Parteischulung riechend, gibt einen Fingerzeig - odeur stalinisque.
Vergilbtes
Im Netz alte Fotos von Saarbrücken ansehen, warum nicht? Ich betrachte, wie ich annehme, lauter Aufnahmen der noch unzerstörten Stadt vor dem Krieg. Da ist die Schlossgegend, die ich so nicht kenne. Die Serie der Schwarzweißbilder wirkt jedoch allzu gleichmäßig vergilbt. Ich erkenne Menschen, gekleidet wie um 1930, doch auch Kriegsruinen und Automarken der Nachkriegszeit. Ist zum Teil retuschiert, künstlich gealtert worden?
Hauptbahnhof
Eine Fassade mit zwei monströsen hohen Festungstürmen. Ich glaube mich dunkel an ihren Anblick zu erinnern, daran, dass sie das Kind damals ängstigten. Dachten ihre Erbauer, sie böten Schutz vor einem Feind auf den Höhen? Jedoch wurde der Bahnhof nicht von dort beschossen, sondern aus der Luft bombardiert; er wurde als Ganzes zu Schutt, nur die erschreckenden und dennoch schönen Türme hielten stand, nun noch gebieterischer überragend das nach dem Krieg hastig zwischen ihnen und um sie herum Zusammengeflickte. Das Bild des Bahnhofs war Mahnung, Drohung. Ich war ihm nur zweimal kurz ausgesetzt, mit acht und mit zwölf Jahren. Danach fielen die Türme, ersetzt durch eine lange, nichtssagende moderne Scheibe.
Rote Ampel
Die Großeltern waren sehr gut zu Fuß. Sie führten den Zwölfjährigen weg von den Türmen und traten mit ihm den weiten Weg zu einem neuen Park am Stadtrand an. In einem Viertel mit viel Autoverkehr verblüfften sie mich: Sie überquerten eine Straße bei Rot für Fußgänger, Opa vorneweg. Ich folgte, machte ihm Vorhaltungen. Es stellte sich heraus, dass er die Bedeutung des Signals gar nicht kannte, er, der von seinen jahrelangen Streifzügen durch halb Europa – das alte Europa! - lange erzählen konnte. Als Rentner kam er nicht mehr aus seinem Nest heraus und hatte den Anschluss an so vieles verpasst, an die moderne Zeit wie ihren Fortschritt. Dieser Ausflug nach Saarbrücken war der einzige größere, den sie mit mir je unternahmen. Nach ihm war Opas Autorität für mich kleiner geworden.
Verlagshaus
Gut, dass markante Objekte mit Bildunterschrift versehen sind. Da ist ein Klotz mit expressionistischer Fassade und ich lese: Saarbrücker Landeszeitung. Ich erinnere mich, Opa erwähnte die Zeitung oft, da war er in der ersten Saargebietszeit Setzer gewesen. Da es das Blatt zu meiner Zeit nicht mehr gab, verband ich nichts mit dem Titel. Ich lese erst jetzt nach und staune: Eine Parteizeitung des katholischen Zentrums? Und Opa Atheist und damals auch Kommunist? Jene Partei und ihre Zeitung warben noch nach der Machtergreifung für die Heimkehr ins Reich – und bei Opa daheim im Keller betrieb die KP vor der Rückgliederung eine kleine Druckerei. Opas Schatten wird auf einmal für mich wieder länger.
Bierlokal
Man konnte dort auch preiswert essen, ich weiß. Diese Saarbrücker Version von Aschinger lag so nahe am Hauptbahnhof, dass sie sich vor allem für eine Einkehr zwischendurch anbot: Umtrunk nach Feierabend, letztes Bier vor Heimfahrt mit dem Zug. Ich sehe das Foto, lese die Bildunterschrift und mache mir klar: Seit über fünfzig Jahren ist dir das Lokal kein einziges Mal mehr in den Sinn gekommen. Opa hat es oft erwähnt, lächelnd, mit Nachdruck. Ich brauche etwas Zeit, bis ich mich selbst dort wiedererkenne, in Gesellschaft von Ulrich, dem Schulfreund. Wir waren siebzehn oder achtzehn … Auf einmal stellt das Gedächtnis die Erinnerung scharf, da ist erstmals wieder nach so langer Zeit dieser Splitter. Wir zahlten jeder seine Zeche und der Kellner gab Ulrich falsch heraus. Der Freund bemerkte den Betrug, fuhr auf wie eine Natter, zischte erregt. Nie hatte ich ihn so energisch gesehen. Der Kellner gab gleich nach und rückte das fehlende Wechselgeld heraus.
Warum war mir die Szene so lange entfallen? Vielleicht, da ich selbst zu wenig herausbekommen hatte … Die Sache war die, dass Ulrich Berufsoffizier werden wollte – er wurde es und machte Karriere – und ich stets pazifistisch dagegenhielt. Die Sache war auch die, dass er drei, vier Jahre lang drei Viertel meiner Gefühls- und Gedankenwelt ausfüllte – ohne selbst daran stark interessiert zu sein. Es wurde auf meiner Seite eine einzige groß angelegte Fehlspekulation. (Und vielleicht hatte ich sie gerade zu diesem Ausgang überhaupt unternommen.)
Was bin ich? Schreibender Enkel eines alten Mannes, der viel las und immer mehr Abstand zur Welt gewann.
Es gibt Autoren, die unter Pseudonym Bücher veröffentlichen und sich unter ihrem bürgerlichen Namen auf Internet-Plattformen glänzende Rezensionen schreiben. Noch weiter verbreitet das Gegenteil: Buchveröffentlichung unter Klarnamen und Lobeshymne unter Pseudonym, beides aus einer Hand. Davon ein besonders krasser Fall, vor Jahren von mir entdeckt: Buchautor X installiert im Lauf der Jahre an einer Vielzahl von Stellen im Netz einen gewissen Y (den es gar nicht gibt). Y bleibt die meiste Zeit im Sparmodus, ab und zu mal ein kurzer Kommentar ohne viel Substanz, keine eigenen Sachen, bis auf Buchrezensionen von X. Zur Hochform läuft Y nämlich auf, wenn X mal wieder ein neues Buch veröffentlicht hat. Das geht bis in die Onlineausgaben großer Zeitungen. X ist in der Literaturszene gut vernetzt und staubt auch schon mal Preise ab. So kommt man zu was … Ich war misstrauisch geworden, gab bei Google beide Namen zusammen ein und nach längerer Suche fand ich in einem kleinen, wenig bekannten Blog ein Gespräch von X mit Z publiziert. Dort ist es ihm rausgerutscht: Als sein eigener fiktiver Pressesprecher Y habe er, X, dies und das getan … Der Kerl ist auf diese Manipulationen sogar stolz. Ich habe überlegt, was ich nun mache. Ergebnis: gar nichts. Skandal! zu rufen, würde ihm nur zusätzliche Reklame bringen. Nur Finger weg von solchen Figuren.
Ein anders gelagerter Fall aus der obskuren Szene: Ich glaubte einmal N.N. dabei erwischt zu haben, wie er mich plagiierte. Unter seinem Namen schien er von einer meiner Buchrezensionen eine Kurzfassung in verschiedenen Blogs veröffentlicht zu haben, ohne jeden eigenen Gedanken. Es war dieselbe Abfolge der Details und es waren zum Teil sogar identische Formulierungen nicht ganz alltäglicher Art. Da stellte sich mir die Frage, ob er das Buch überhaupt selbst gelesen hatte. Ich recherchierte im Netz und siehe da – der Gedanke, dass er unmöglich alles, was er kurz und oberflächlich bespricht, selbst gelesen haben kann, kam auch anderen. Einer sprach von Tausenden von Werken, die er auf nur einer Plattform innerhalb weniger Jahre rezensiert hatte. Er müsse also, wurde boshaft vorgerechnet, pro Tag drei bis vier Bücher und pro Stunde ca. 300 Buchseiten bewältigt haben. All das amüsierte mich nur, es war mir auch kein Schaden entstanden. Inzwischen sind dort ein paar Tausend weitere Besprechungen von ihm zu lesen. Und sein Profil weist Follower auf, die im derzeitigen deutschen Geistesleben sehr hoch angesiedelt sind. Kaum zu glauben …
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2018
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