Das ist nicht der Film, den Visconti ursprünglich drehen wollte. Er sollte „Custozza“ heißen, jene Schlacht von 1866 im Zentrum haben und sehr viel anders ausgehen, weniger tragisch und mit stärkerem politischem Akzent. Die damalige Filmzensur sowie das italienische Verteidigungsministerium verhinderten diese Version. Jetzt sehen wir vor allem die aufwühlende Geschichte der venezianischen Gräfin Serpieri (Alida Valli), deren Gatte für die Österreicher arbeitet – sie sind noch die Herren in Venezien - und die selbst die Aufständischen unterstützt. Dann verliebt sie sich in den österreichischen Offizier Franz Mahler (Farley Granger), liefert ihm die für die Freiwilligenarmee gesammelten Gelder aus, und verschuldet dadurch mit die italienische Niederlage bei Custozza. Sie rächt sich für Franzens Untreue, indem sie ihn als Deserteur denunziert. Daraufhin wird er erschossen und sie irrt als Wahnsinnige durch das nächtliche Verona.
Was ist da geschehen? Die Zensur hat die geplante historisch-kritische Aufarbeitung des Risorgimento weitgehend verhindert, ein vor allem gesellschaftliches Drama in ein überwiegend privates verwandelt und damit dessen mächtige melodramatische Aufladung erst bewirkt. Die noch vorhandenen Massenszenen stehen relativ isoliert da. Das gilt weniger für den Aufruhr in der Oper zu Beginn als für die Schlachtszenen, die, so mitreißend sie sind, doch kaum Berührung mit der Haupthandlung haben. „Senso“ ist faktisch zum Zwei-Personen-Stück geworden. Selbst Graf Serpieri und Ussoni, der Anführer der Venezianer Patrioten, sind Nebenfiguren von relativ wenig Bedeutung.
Franz Mahler ist eine sehr komplexe Gestalt. Er ist zuweilen von einer eleganten Schmierigkeit, er hat als gewissenloser Verführer schurkische Züge, doch reflektiert er sich selbst stark und angesichts des eigenen Charakters kann ihn Verzweiflung erfassen. Er ist ein Mann nicht auf der Höhe der Zeit, sondern unbehaust in der Tiefe des Jahrhunderts, halb noch Romantiker, halb schon zynisch Resignierter von dostojewskischer Größe. Die Gräfin ist zu klug, als dass sie nicht Mahlers charakterliche Defizite durchschaute. Sie, unbefriedigt in kinderloser Ehe lebend, scheint die Liebesbeziehung gemeinsam mit dem viel jüngeren „Feind“ als Tragödie zu inszenieren, um auf großartige Weise unterzugehen. Das hat durchaus masochistische Züge, und Mahler antwortet darauf, indem er den sadistischen Part gern übernimmt.
Ihr fatales Zusammenspiel insoweit wird am deutlichsten, als er heimlich zu ihr ins Landhaus der Serpieris in Aldeno vordringt. Zunächst weist sie ihn ab, beruft sich auf sein treuloses Verschwinden in Venedig, wo sie bereits ein Verhältnis unterhielten. Da bearbeitet er sie erneut nach allen Regeln der Verführungskunst und mit Erfolg, ganz die edel liebende Seele. Doch zwischendurch zuckt ein Mundspalt verächtlich und seine Augen blicken kalt berechnend. Er geht sogar auf die Knie vor ihr, um dabei plötzlich in ein lang anhaltendes höhnisches Gelächter auszubrechen. Die Gräfin nimmt es deutlich wahr, sie hantiert jetzt mit einer Haarnadel – bei dieser Verrichtung hat er sie bereits in Venedig einmal gedemütigt. Später, zu Beginn des furiosen Höhepunkts in Verona, wird sie ihn fragen: „Willst du mir wehtun oder dich selbst verletzen?“
Mahler verteidigt sich einmal damit, er sei eben Bestandteil einer untergehenden Gesellschaft. Die herkömmliche Filmkritik hat sich dem angeschlossen und den Befund gleich auf beide Hauptpersonen und ihre Milieus bezogen. Dabei ist es bei Mahler vor allem eine ihn selbst entlastende Pose. Habsburg war, wie der Zuschauer weiß, noch lange nicht am Ende. Und in Italien haben sich für weitere Jahrzehnte die Feudalaristokratie und das aufstrebende Bürgertum die Macht geteilt – das wurde eines der Hauptthemen im späteren „Gattopardo“. Die Gräfin verkörpert allerdings mit ihrem privaten Drama durchaus die brüchige, widersprüchliche Motivation der italienischen Oberschichten während des Risorgimento. Visconti hatte gewiss auch die weitere krisenhafte Entwicklung der italienischen Gesellschaft bis hin zu Mussolini im Kopf bei seiner neomarxistisch inspirierten Kritik. Man muss sie im Detail nicht teilen und kann doch feststellen, wie ästhetisch produktiv sie hier war, gerade auch durch das Eingreifen der Zensur. Die beiden Gestalten gewannen so eine plastische Tiefe jenseits einer rein privaten Liebes- und Eifersuchtsgeschichte.
Als Filmmusik dient, abgesehen von Verdis „Troubadour“ zu Beginn, allein Bruckners Sinfonie Nr. 7, eine spätromantische Klangorgie, immer parallel zur katastrophalen Handlung. Die Klimax des Adagios untermalt so die Übergabe der Patriotenkasse an den Feindesoffizier. Auch in Bezug auf diese Musik bieten sich historische Querverweise an. Die Sinfonie war vom Komponisten ausgerechnet dem problematischen Bayernkönig Ludwig II., später selbst Gegenstand eines Visconti-Films, gewidmet worden – und ihr Adagio erklang auf Anweisung Hitlers einen Tag nach seinem Selbstmord im Reichsrundfunk, als letzter Gruß des Führers an sein ruiniertes Volk. Von Bruckner wurde gesagt, er sei als Sinfoniker ein verhinderter Opernkomponist gewesen. Mit „Senso“ hat Visconti eine Art Filmoper geschaffen, sein vielleicht kraftvollstes Werk überhaupt.
Das ist ein Film nach einem Theaterstück, er ist knapp zwei Stunden lang, dialoglastig und spielt fast nur in einem einzigen Büroraum. Kann das ein spannender Film sein? Und ob!
Unten auf den Straßen von Madrid wird gegen eine Tagung von IWF und Weltbank gewalttätig demonstriert, oben im Konferenzraum eines Hochhauses versammeln sich zur gleichen Zeit fünf Männer und zwei Frauen. Sie sind in die engere Auswahl für einen Chefposten in einem Großkonzern gekommen. Jetzt lässt die Firma sie gegeneinander antreten, und nur einer kann gewinnen. Die Firma kommuniziert bloß indirekt mit den Kandidaten, sie schickt Botschaften auf die Monitore, stellt auf diesem Weg Aufgaben und schaltet den PC desjenigen ab, der gerade ausgeschieden ist.
Als Erstes erfahren die Bewerber, dass einer unter ihnen der Firmenpsychologe ist – sie sollen ihn enttarnen. Die Aufgabe wird nicht gelöst. Leichter tut man sich, einen Versammlungsleiter zu bestimmen – woraufhin die Firma ein von ihm verschwiegenes Detail bekannt gibt. Die anderen sollen entscheiden, ob er bleiben kann – natürlich muss er gehen. Aufgabe folgt auf Aufgabe. Immer geht es darum, eine Schwäche herauszufinden und einen Bewerber zu eliminieren. Es ist Kannibalisierung, bei der sich im Verlauf der Geschickteste und Skrupelloseste herausstellen soll. Taktische Allianzen werden geschmiedet, Mitbewerber ans Messer geliefert. Persönliche Defizite müssen aufgespürt und gnadenlos instrumentalisiert werden, das ist das Gemeinsame aller Aufgaben. Beispielsweise wird angenommen, alle befänden sich während eines Atomkrieges in einem sicheren Bunker, nur dass einer zu viel ist. Welche speziellen Fähigkeiten kann jeder von ihnen anführen, um bleiben zu dürfen? Wer hat den geringsten Wert für die Übrigen und muss daher ausscheiden? Dem Zuschauer wird immer deutlicher, dass in diesem Spiel die schlechteren Karten hat, wer ein bisschen moralisch integrer oder ein wenig menschlicher ist als der Rest …
In der Pause verlagert sich das Geschehen vorübergehend in die Toiletten und Waschräume, mit fatalen Folgen darüber hinaus. Jetzt kommen Emotionen, die Grundbedürfnisse und die nackten Tatsachen ins Spiel. Wer sie am Geschicktesten einsetzt, wird schlussendlich gewinnen … Carlos (Eduardo Noriega, stellvertretend für die insgesamt großartigen Schauspieler genannt) ist hier überraschend einer früheren Beziehung wieder begegnet, und sie sind noch nicht fertig miteinander … Die beiden werden am Schluss von der „Sekretärin“ und dem „Psychologen“ – die nur engagierte Schauspieler sind, die Firma zeigt nie ihr Gesicht – förmlich scharf gemacht für das finale Duell. Unheimlich, wie die beiden ihre durchaus echten Gefühle füreinander einsetzen, um den jeweils anderen auszuschalten. Wer bleibt als Letzter im Konferenzraum zurück – um dann im Lift hinunter erkennen zu müssen, dass der andere doch stärker war, nämlich rücksichtsloser, auch sich selbst gegenüber? Der Sieger schwebt wieder hinauf und ist selbst nur noch eine menschliche Ruine … Und die Verliererin geht eine leere Straße entlang, die übersät ist von den Trümmern der Schlacht zwischen Obrigkeit und Demonstranten.
Faszinierend an Piñeyros Film ist diese Kongruenz von realistischer Filmhandlung und gesellschaftskritischer Allegorie. Vielleicht muss man Argentinier sein, um das Elend des Neoliberalismus so perfekt in Filmkunst verwandeln zu können. Im Making of rühmt Piñeyro an Noriegas Darstellung des Carlos`, er spiele ihn zugleich charmant und schrecklich. Das kann man von „El Método“ insgesamt sagen – es hat seine Goyas 2006 verdientermaßen erhalten.
Viscontis Thema hier ist der Zerfall eines vorindustriellen Familienverbandes infolge seiner Anpassung an moderne Lebensumstände. Dergleichen ist im 20. Jahrhundert millionenfach geschehen und häufig in Kunst und Literatur dargestellt worden. Doch Visconti wählte bewusst eine atypische Konstellation: Erst nach dem Tod des Familienvaters machen sich die Parondis unter Führung der jetzt dominanten Mutter von Süditalien auf ins industriell geprägte Mailand. Die Mutter (Katina Paxinou) bleibt auch in der neuen Heimat das bestimmende Zentrum der Familie, ohne sie jedoch in eine bessere Zukunft geleiten zu können. Von ihren fünf Söhnen – Töchter gibt es seltsamerweise nicht - kann keiner den Vater als Familienoberhaupt ersetzen. Die katastrophale Entwicklung nimmt ihren Lauf. Ist das bereits eine Botschaft, die der Film vermitteln will: Stirbt der Patriarch, das unumschränkte Oberhaupt der Familie alten Stils, fällt die Macht an das entwicklungsgeschichtlich ältere Matriarchat, mit verheerenden Folgen für den notwendigen Anpassungsprozess an die Moderne? War Visconti eines solchen im Kern reaktionären Ansatzes fähig, er, der homosexuelle Aristokrat, gleichzeitig Marxist wie tief verwurzelt in der bürgerlichen Hochkultur des 19. Jahrhunderts?
Die inneren Widersprüche des gleichwohl mitreißenden Drei-Stunden-Melodrams sind seit 1960, als es herauskam, oft beleuchtet worden. Kann man der Kritik noch neue Aspekte hinzufügen? Man darf vielleicht die Frage stellen, wie geeignet Alain Delon tatsächlich für die Rolle des Rocco war. Der junge Schauspieler soll hier einen durch und durch sanften, grundguten Charakter darstellen - Delon, der wenige Jahre zuvor am Indochinakrieg und als Fallschirmjäger sogar an der Schlacht von Dien Bien Phu teilgenommen hatte, lebenslang prägende Eindrücke für ihn. Alain Delon war vor wie nach „Rocco“ auf bestenfalls ambivalente Charaktere festgelegt, wie z.B. den Falconeri in Viscontis „Gattopardo“ – hier überzeugt er wirklich. Meistens spielte Delon intelligente, aalglatte Bösewichte, für Rocco war er keine ideale Besetzung. Oft spielt er ihn zu souverän, zuweilen fast weltmännisch, die Naivität wirkt dagegen hilflos oder aufgesetzt. In der berühmten Szene auf dem Dach des Mailänder Domes erinnert er gegenüber Nadia (Annie Girardot) auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung an Franz Mahler in Viscontis „Senso“, wenn dieser die Gräfin Serpieri manipuliert.
Schwerer wiegt, auf welche Weise Visconti seine kritische Analyse einer zeitgenössischen Entwicklung mit Bedeutung aufzuladen versucht hat. Vordergründig verwendet er Motive und Abläufe aus Giovanni Testoris „Il ponte della Ghisolfa“. Entscheidender für Tektonik wie Gestaltung im Detail war jedoch Dostojewskis „Der Idiot“. Rocco ist ein moderner Fürst Myschkin und scheitert ebenso tragisch. Die Parallelen sind mal subtil, mal penetrant. Mama Parondi erinnert so Rocco zu Beginn nachdrücklich an seine gerade überstandene grippale Infektion – Myschkin kommt scheinbar geheilt aus einem Schweizer Sanatorium, als die Romanhandlung einsetzt. Am Ende des Films legt sich Rocco, wie weiland der „Idiot“ zu dem anderen Russen, zu Simone aufs Bett, um sich dessen Geständnis anzuhören (Mord an Nadia), und tröstet den Bruder ganz wie Myschkin den im Wahnsinn versinkenden Mörder Rogoshin. Nadia entspricht offenkundig der gleichfalls erstochenen Nastassja Filippowna, Simone (tatsächlich großartig: Renato Salvatori) Rogoshin und Rocco eben Myschkin.
Die soziale Zeitkritik soll hier sowohl abgestützt wie auch überhöht werden durch Bezug auf ein Stück Weltliteratur des 19. Jahrhunderts, und das funktioniert nur oberflächlich, führt zu expressiv aufgeladenen Szenen, die nichts Entscheidendes zur Durchdringung des Stoffs beitragen. Das Zitat ersetzt dann die Analyse. Wenig verbindet die russische Oberschicht von damals mit den Schicksalen in Viscontis Norditalien. Myschkin war verarmter Adeliger, kein ausgewanderter ländlicher Proletarier, und er kommt zurück in eine ihm fremd gewordene Heimat - Rocco dagegen gibt seine vertraute für die Fremde auf. Myschkin ist Epileptiker, Rocco wird ein auch ökonomisch erfolgreicher Boxer. Doch redet er im Verlauf mehr und mehr wie ein Romanheld von Dostojewski, unglaubwürdig bei der geringen Bildung, die er genossen haben kann.
Auf der einen Seite steht also die Inkonsequenz des Films – er ist ein halber Abfall vom Neorealismus. Das Dargelegte soll über sich hinaus etwas bedeuten, zu welchem Zweck es auf ungeeignete Weise mit Bedeutung aufzuladen versucht wird. Doch zugleich weist der Film eine paradoxe Qualität auf. Trotz großer Konstruktionsmängel im Ganzen sprechen fast alle Szenen unmittelbar stark an. Ob sie im Boxstall oder in einer chemischen Reinigung spielen, die handwerkliche Qualität wie die künstlerische Potenz stehen im Detail nie in Frage. Dass der Film dennoch auf hohem Niveau scheitert, liegt wohl an Viscontis ungeklärter Stellung zwischen den Klassen, Zeiten und Fronten.
Der letzte deutsche Kaiser war zugleich der meistfotografierte und meistgefilmte Mensch seiner Zeit. Erstaunlich souverän nutzte er bereits die Möglichkeiten der neuen Medien, sich in Szene zu setzen und in der Öffentlichkeit allgegenwärtig zu sein. Schamoni verwendet hauptsächlich das überreiche Material, das seit dem Tod des Kaisers 1941 in Schloss Doorn archiviert war. Es wurde rekonstruiert, nach Themen geordnet und musikalisch untermalt. Selbstverständlich erklingt vor allem Richard Wagner. Mario Adorf spricht den Text des Erzählers, Otto Sander leiht dem Kaiser die Stimme, wenn er selbst zu Wort kommt.
Wilhelm II., eine der umstrittensten Figuren im Verlauf der jüngeren Geschichte, hat seit langem eine überwiegend schlechte Presse. Die negativen Urteile resultieren aus zweierlei: dem katastrophalen Ende seiner Regierung und seiner unheilvollen Neigung zum Bramabarsieren und Schwadronieren. Indessen verstellt dieses Verdikt den Blick auf den realen Kaiser in seiner realen Zeit. Er soll hier keineswegs als Mensch und Politiker entschuldigt und reingewaschen werden, doch kann es vielleicht unseren Blick schärfen, die damals wirksam gewesenen Kräfte zu erkennen.
Der letzte Kaiser war als konstitutioneller Monarch nach der Verfassung das Zentrum der Macht. Dem entsprach sein Verständnis vom Gottesgnadentum seiner Herrschaft. Er ernannte den Reichskanzler, der nur von seinem Vertrauen abhängig war – in der Theorie. Praktisch war der Kanzler vor allem auf den Reichstag angewiesen, ohne den kein Gesetz durchkam und der auch alle Gelder bewilligen musste. Es gab drei Hauptkräfte auf der politischen Bühne: die alte adlige und grundbesitzende Elite, die neue großbürgerlich-industrielle und dazu von unten die anschwellende Flut der Sozialdemokratie. Die Interessen von alter und neuer Elite deckten sich gewöhnlich nicht. Kompromisse zu finden, wurde durch den Dualismus von Reich und Preußen stark erschwert. Im Gesamtstaat kamen nach dem allgemeinen Wahlrecht stets andere Mehrheiten zustande als nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht. Diese politische Gemengelage wirkte sich verheerend in einem Reich aus, das innerhalb einer Generation vom Agrarstaat zu einer hochproduktiven Industriegesellschaft mutierte. Dazu nehme man noch die religiösen und ethnischen Gegensätze, die außenpolitisch schwer zu haltende Balance, den rasanten Fortschritt von Technik und Wissenschaft und die kulturellen Umwälzungen … Wir können uns kaum vorstellen, wie instabil jene „gute alte Zeit“ tatsächlich gewesen ist.
In diesem Kräftefeld war die Manövrierfähigkeit des Kaisers eher gering. Er sah seine Hauptaufgabe darin, das innerlich zerrissene und materiell stark expandierende Reich durch Fixierung auf seine Person zusammenzuhalten, und zu diesem Zweck erstrebte er permanente reale und mediale Omnipräsenz. Er beschäftigte bald Dutzende von Hoffotografen, deren Erzeugnisse millionenfach verbreitet wurden, und wurde später bei seiner unendlich großen Zahl pompöser öffentlicher Auftritte gefilmt, gefilmt, gefilmt. Wilhelm zu Pferd, Wilhelm zu Fuß, Wilhelm in der Eisenbahn, Wilhelm auf dem Dampfschiff – er wurde eine moderne Reinkarnation der mittelalterlichen Reisekaiser. Der Volksmund nannte ihn Wilhelm den Plötzlichen und interpretierte I(mperator) R(ex) mit Wilhelm Immer Reisefertig. Er besuchte in einem Jahr bis zu hundert deutsche Städte, er durchkreuzte im Frühjahr das Mittelmeer und schiffte sich im Sommer zum Nordkap ein. Dann Wilhelm auf der Jagd und Wilhelm bei der Truppe. Oder er weihte Brücken, Bahnen, Denkmäler oder Museen ein. Wilhelm empfing Monarchen, er nahm an Regatten teil. Wilhelm war sehr fotogen.
Ein Aspekt tritt im Film stark hervor: Der Kaiser war ein arger, man verzeihe den harten Ausdruck, Uniformfetischist. Ganze Zimmer voll mit Schränken voll mit Uniformen der verschiedensten Zeiten und Waffengattungen, supranational! Und da ihm das nicht genügte, entwarf er selbst noch Phantasieuniformen. Seine Zeitgenossen machten sich über die Marotte weidlich lustig. So untertitelte der „Simplicissimus“ eine Karikatur: „Majestät, im Badezimmer ist ein Rohr geplatzt.“ – „Bringen Sie die Admiralsuniform.“ Wie in unserer Zeit Jörg Haider zog er sich zu jedem Auftritt um, zehn- bis zwanzigmal am Tag. Bei einem Besuch in der Schweiz nahm er Dutzende von Schweizer Uniformen mit, um in ihnen den Eidgenossen zu imponieren.
Und dann wieder werden Parallelen ausgerechnet zu - Sissi sichtbar, deren Schloss auf Korfu er später erwarb und zeitweise bewohnte. Wie sie war er den Großteil des Jahres auf Reisen – vielleicht ebenso auf der Flucht, z.B. vor der Einsicht in die Vergeblichkeit des eigenen Tuns. Männer machen keine Geschichte, nicht mehr zu seiner Zeit.
Im Weltkrieg machte Wilhelm bekanntlich eine traurige Figur, litt an Depressionen. Der wahren Machthaber, Hindenburg und Ludendorff, benutzten ihn jetzt als Staffage für Propagandafilme. Und dann das Exil in Holland – wir sehen nun einen rüstigen Weißbart, Holz sägend, Rosen züchtend, die Armen beschenkend, Verehrer aus Deutschland empfangend. Er hat lange gehofft, zurückgeholt zu werden. Weder Hindenburg noch Hitler taten ihm den Gefallen.
Er war ein würdiger Greis mit viel Ausstrahlung. Mir scheint, Schamoni ist ihm insofern doch noch ein wenig auf den Leim gegangen. Nur lese man in einer Zitatensammlung, was er selbst damals noch Antisemitisches gesagt hat … Als er aber von der realen „Reichskristallnacht“ erfuhr, war er entsetzt und empört. So viele Widersprüche … Mit etwas Übertreibung kann von ihm sagen: Er war die Kraft, die meist das Gute wollte und fast immer das Üble erreichte.
Der Film, 1999 herausgekommen, wiederholt im Fernsehen gezeigt, jetzt als DVD erhältlich, ist ein mitreißendes historisch-ästhetisches Gesamtkunstwerk.
1998 kam „Apo tin akri tis polis“ des Griechen Constantinos Giannaris in die Kinos. Die Dialoge in diesem nur in Athen spielenden Film sind abwechselnd griechisch und russisch (DVD mit deutschen Untertiteln erhältlich). Wie erklärt sich das? So: Im Zentrum der anderthalbstündigen Handlung steht eine Gruppe junger Männer, die mit ihren griechischstämmigen Familien aus Kasachstan ausgewandert sind. Ihre Vorfahren lebten schon seit der Antike an der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres, auch auf der Krim. Erst Stalin hat sie nach Mittelasien deportiert. Diese Übersiedler sind nun vor allem am schäbigen Rand Athens zu Hause und fühlen sich dort in Menidi eher unbehaust.
Sasha (Statis Papadopoulos) ist siebzehn, geht zumeist keiner Arbeit nach, schafft mit den anderen auf dem Omonia-Platz an. Das Geld geht für Drogen und Disco-Besuche drauf. Notfalls wird auch geklaut. Der Film wirft Seitenblicke auf die Athener Schickeria. Zwei junge Männer finden im Kontakt mit ihr den Tod. Die Haupthandlung führt Sasha vom Straßenstrich in ein Bordell, er soll eine besonders einträgliche junge Russin unter Kontrolle behalten. Der, dem sie hörig ist, will sie gegen ihren Willen in die Provinz verkaufen. Doch Sasha verliebt sich in sie, flieht mit ihr zu seinen Eltern nach Menidi. Gleich hinausgeworfen wollen sie zurück ins Stadtzentrum, werden aber vorher von den am Geschäft mit der Russin beteiligten Zuhältern aufgespürt. Im Kampf tötet Sasha den Verkäufer. Die Russin wird von ihren Erwerbern weggefahren, während Sasha in einem Polizeiwagen abtransportiert wird – Filmende.
Der Streifen beeindruckt noch immer durch seine ausdrucksstarke Ästhetik. Es ist, als ob Dostojewski einen Film im Stil des frühen Pasolini gedreht hätte, unter Fassbinders Assistenz. Rein formal besticht der rasche Wechsel von realistischen Spielszenen zu Rückblicken und Traumsequenzen, die in einer weizengelben kasachischen Steppe angesiedelt sind. Als drittes Element kommen interviewartige Passagen dazu, in denen ein Unsichtbarer, vielleicht der Skriptschreiber, der Hauptfigur wesentliche Fragen stellt, die diese mit großer Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit beantwortet. Der Film arbeitete mit Laiendarstellern, die sich in ihren Rollen, den Rollen ihres eigenen, noch jungen Lebens, durchweg bewähren.
Der Streifen zeigt das Athen der Jahre vor der Olympiade und vor der großen Krise, doch schon fiebernd. Deshalb ist er auch zeitgeschichtlich von Interesse.
Ein Tanzfilm als Geschichtsstunde - Ettore Scolas Film „Le Bal“ von 1983 gehört zu den relativ seltenen Streifen, die fast nur Anerkennung und Bewunderung hervorgerufen haben. Es ist ein Film ohne Dialog, in dem sich in der Geschichte eines Tanzpalastes diejenige Frankreichs von 1936 bis 1983 widerspiegelt, allein mit den Mitteln von Tanz, Musik und Pantomimik. Ohne Zweifel ist es ein formal glänzendes Werk, gedreht in einer idealen Kulisse, ein Produkt bruchloser Zusammenarbeit eines großen italienischen Regisseurs mit dem damals auf seinem Höhepunkt stehenden Theaterkollektiv „Théâtre du Campagnol“.
Und doch … Der Verfasser dieser Zeilen war, als das Werk herauskam, erst so alt wie der Film heute selbst. Das ermöglicht bei seiner Wiederentdeckung jetzt eine distanziertere Perspektive. Was damals sogleich enthusiastisch aufgenommen wurde, kann jetzt im Detail gegen das Licht der Erfahrung gehalten werden. Historische Filme funktionieren allzu oft wie der Blick eines Autofahrers in den Rückspiegel. Das sich Entfernende wird als etwas Gegenwärtiges wahrgenommen, an dem der Wagenlenker Orientierung finden kann. Mit dem, was er sieht, muss er auf seiner eigenen Lebensreise zurechtkommen - und er kann in dem kleinen Spiegel sogar Blickkontakt zu sich selbst aufnehmen, d.h. sich ins Bild setzen. Dadurch wird das historisch Einmalige von damals sowohl nahegerückt wie auch verfälscht, auf jeden Fall benutzt. Von dieser Tendenz ist auch „Le Bal“ nicht frei.
Die Rahmenhandlung, aufgeteilt in je eine lange Sequenz zu Beginn und Ende des Films, spielt 1983 und zeigt zwanzig Tanzlustige, neun Frauen und elf Männer. Sie sind karikierend dargestellt und ergeben insgesamt eine beißend satirische Zeitkritik. Die Figuren erzählen von Veräußerlichung, Vereinzelung, Narzissmus und großer Konkurrenz untereinander. Ihre Beziehungen weisen das auf, was seinerzeit gern Warencharakter genannt wurde. „Le Bal“ könnte betrachtet werden als großartige frühe Kritik der Postmoderne, der sich abzeichnenden Lebensumstände im Neoliberalismus – beschränkte es sich auf die Gegenwart der Filmproduktion. Doch es blickt zurück auf ein halbes Jahrhundert französischer Geschichte, und dies geschieht sowohl satirisch als auch objektivierend und gelegentlich sogar gefühlvoll. Aufschlussreich für die Tendenz ist vor allem, in welchen Passagen die karikierende Methode vorherrscht.
Die Filmerzählung springt von 1983 zurück ins Jahr 1936. Es ist der Abend des Tages, an dem die Volksfront die Parlamentswahl gewonnen hat. Die Parteigänger der Sieger feiern im Tanzpalast. Die Szene ist der positive Gegenpol zu 1983. Es bietet sich ein Bild harmonischer Geschlossenheit, von Karikatur kaum ein Anzeichen. Doch es kommt ein Störenfried - der Bourgeois. Das ist eine genial-witzige Schießbudenfigur. Schon wie er die Frau an seiner Seite in den Saal hineinzerrt: Brutaler Chauvi, ruft ihm der Zeitgeist der 1980er Jahre zu. Und wer ist der Kokainist – der Bourgeois natürlich. Er darf sogar einen Lernprozess durchmachen und verlässt, vor dem Suizid gerettet und ein bisschen geläutert, die Bühne vor den anderen, die wirklich dazugehören, also das Volk repräsentieren. Selbstverständlich gibt diese Passage nicht die komplizierte innenpolitische Lage Frankreichs 1936 wieder. Sie prägt aber das Bild, das der nachgeborene Filmzuschauer sich machen soll.
Wie geht es weiter? 1940 beschränkt der Film sich auf rein Menschliches, ohne Parteinahme. Wir sehen Menschen in einer Extremsituation – sie haben sich während eines Bombenangriffs in das Ballhaus geflüchtet, verhalten sich je nach Temperament verschieden, zittern gemeinsam um ihr Leben. Ganz anders dann die Szene von 1944. Extrem karikierend dargestellt werden ein französischer Kollaborateur, sehr bürgerlich natürlich, und ein tragisch-trauriger Hanswurst von deutschem Feldgrauen. Dagegen sind die ihnen Ausgelieferten glaubwürdige Normalos von eher proletarisch-kleinbürgerlichem Habitus. In diesem stilistischen Kontrast wird ein innerer Widerspruch der Filmerzählung besonders deutlich.
1946 wird Frankreich als faktische US-Besatzungszone dargestellt. Cola ist ein neues, ekelerregendes Gesöff. Derselbe Kollaborateur von 1944 ist wieder da, er führt statt des Mannes mit der SS-Marke jetzt zwei GI’s ins Vergnügungslokal, einer weiß, einer farbig. Der Weiße hat die farblose Rolle, dem Farbigen widerfährt Ausgrenzung und ihm gelingt Emanzipation durch Kunstausübung: Er setzt, isoliert durch die anderen, seine Solotrompete an den Mund und das Live-Orchester damit schachmatt. Das ist als Drehbuch mühsam konstruiert, doch als Film – einfach nur gut gespielt.
Der fatale Indochina-Krieg findet für das Ballhaus nicht statt. Auf Algerien wird dagegen 1956 zweifach Bezug genommen. Ein Soldat verbringt letzte Stunden im Saal und zieht dann traurig mit dem braunen Koffer in den Krieg. Ein charmanter junger Nordafrikaner versucht lange vergeblich, Tanzpartnerinnen zu finden. Seine arabische Herkunft stößt sie ab. Als er dennoch mit einer tanzen darf, tritt ein einheimischer Fascho-Schlägertyp dazwischen, spielt ein wenig mit ihm wie die Katze mit der Maus, drängt ihn dann ins WC und richtet ihn dort übel zu. Diese Szene ist an sich überzeugend in ihrem Ablauf, nur scheint mir ihr Bezug auf die Zeit des Algerien-Krieges hier nicht zwingend genug.
Am schwächsten die damals jüngste historische Passage: Mai 1968. Eine Gruppe demonstrierender Studenten flüchtet sich vor eskalierender Gewalt draußen ins Ballhaus, wartet ab. Es sind Erschöpfte, Kiffende, zärtlich Liebende. Wie in Trance hören sie den Beatles zu: Michelle, ma belle … Der Mai 68 war auch so, aber nicht nur und nicht in erster Linie.
Der Film ist parteilich und konstruiert ein parteiliches Geschichtsbild. Selbstverständlich darf er das. Ist es daher ein künstlerisch misslungener Film? Offenbar trotz Parteilichkeit nicht, wie die einhellig lobende Kritik zeigt. Das scheint mir darin begründet zu sein, dass er abgesehen von seiner Kunstfertigkeit zugleich voll überzeugender und mitreißender Details steckt. Jeder kann in ihm Geschichten entdecken, die lebenswahr und zugleich überzeitlich sind. Nur drei von vielen Beispielen abschließend dafür.
1940 sehen wir einen alten Intellektuellen während des Bombardements konzentriert in einem Buch lesen, sich Notizen machen, scheinbar unbeeindruckt von der Lebensgefahr. Erst während der Entwarnung bricht er plötzlich seelisch zusammen. Hier wird auf originelle und ergreifende Weise die Rolle von Kultur illustriert, als etwas Sekundäres, als Vademekum, als Firnis, der abplatzen kann; vital dann nur noch die Lebensangst. – 1944 kommt ein Invalide die Treppe im Ballsaal herunter, angestarrt von seinen entsetzten Freunden von vor dem Krieg. Es ist totenstill, bis die Musik wieder einsetzt und der Einbeinige untergehakt in den Kreis der Tanzenden aufgenommen wird: Vitalität aus Überlebenswillen und Solidarität.
Die Passage von 1956 beginnt so: Die Kamera fährt von der Decke die Wand herunter, an der Erinnerungsfotos aus der Geschichte des Tanzpalastes hängen. Die Köpfe zweier Männer kommen allmählich ins Blickfeld. Es ist der charmante Maghrebiner und ein einheimischer schlanker Lockenkopf. Der junge Mann bietet dem Nordafrikaner eine Zigarette an, die dieser wortlos und sehr befremdet ablehnt. Im Folgenden wird deutlich, dass der junge Franzose sich allein für den Araber interessiert. Er verfolgt, passiv bleibend, nur mit den Augen, dessen erfolgloses Bestreben, Anschluss zu finden an die Welt der Normalfranzosen. Der Araber dagegen nimmt seinen dezenten Bewunderer nicht einmal mehr wahr. Ganz konzentriert ist hier enthalten die Einsamkeit der Minoritäten, ihre Fremdheit auch untereinander. Szenen und Bilder wie diese sind es, die „Le Bal“ das Niveau bloß unterhaltender oder, schlimmer, absichtsvoller Geschichtsstunden im Kino weit überragen lassen.
Das Folgende soll keine Filmkritik sein, nur ein soziokultureller Querverweis. Für eine Rezension des Films wäre etwas mehr Sachkenntnis vonnöten als der Verfasser besitzt. Er war nie in Los Angeles, er weiß wenig vom Filmgeschäft und konsumiert nur selten Hollywoodstreifen. Dennoch springt für ihn jetzt die Aktualität des Films „Skin & Bone“ ins Auge. Everett Lewis hat ihn schon 1996 gedreht und man kann den Streifen daher als Vorläufer und zugleich Kronzeugen der MeToo-Bewegung betrachten. Lewis widmet sich darin arbeitslosen Schauspielern (oder solchen, die es sein oder werden möchten), den Verbindungen zur Pornoindustrie und dem Abgleiten in die Prostitution. Von den drei jungen Männern Harry, Dean und Billy sind die ersten beiden hetero- und der letzte vermutlich homosexuell. (Billy sieht aus wie ein jüngerer Otto Waalkes als Edelstricher und wird nach amüsanter, gefühlvoller doppelter Verwechslung grausig hingemetzelt.) Alle drei sind Angestellte einer Firma Twelve Noon, die Callboys vermittelt, sowohl an Frauen als auch - und im Film überwiegend - an Männer. In ihren seitenlangen Verkaufs- und Buchungslisten werden alle denkbaren Varianten sexueller, von der Norm abweichender Bedürfnisse erfasst und nach Vertragsabschluss auch befriedigt. Der Kunde hat insoweit immer Recht, sein Recht auf Vertragserfüllung. Dem angestellten Stricher – denn das ist er natürlich – bleibt neben dem Broterwerb die Illusion, mit seiner Schauspielkunst vorher fixierte Phantasien für die gebuchte Zeit real werden zu lassen.
Diese Illusion zerplatzt in jenen Szenen, in denen Harry sich um eine echte Filmrolle bemüht. Auch hier prostituiert er sich, jetzt vor den Filmgewaltigen, ganz ohne Kunst, nur als attraktives männliches Individuum, das seinen Körper verkauft. Und genau darin liegt die Parallele zu den Bekenntnissen US-amerikanischer Schauspielerinnen seit 2017. Der Film ist insofern ein beweiskräftiges Dokument, das schon sehr früh Missbräuche in der Filmindustrie anzusprechen gewagt hat.
Werfen wir doch noch einen kurzen Seitenblick auf den ästhetischen Wert des Independent-Films. Er experimentiert auf verschiedene Weise: häufiger Wechsel von Farbe zu Schwarz-Weiß und zurück, Einblenden zahlreicher Fragmente aus dem Telefon-Orkus, Hin- und Herspringen zwischen Dramatischem und Satirischem. Die Präsenz und Auffassungsgabe des Zuschauers werden ständig gefordert. Er kann viele Details – es geht bis zur Leichenschändung - schockierend oder reißerisch finden. Und Ghislaine, die diabolische Chefin der Callboy-Firma, ist eine wahrlich erschreckende Figur, die nun kaufmännisch emanzipierte Femme fatale früherer Zeiten. Die professionelle Kritik war gespalten, als der Film herauskam. Lassen wir es offen, „Skin & Bone“ ist auf jeden Fall ein Fundstück von zeitgeschichtlichem Wert.
James Dean ist noch immer jedem ein Begriff – und Sal Mineo ist weitgehend vergessen. Dabei ist Mineos Leben ungleich aufregender verlaufen und er hat uns viel mehr hinterlassen als der andere, jener fast schon vergöttlichte Frühverstorbene. Was die beiden verbindet, ist der Film „ … denn sie wissen nicht, was sie tun“ von 1955. James Dean war Jim Stark und Sal Mineo Plato. Erinnert man sich?
Plato ist für mich die wahre Hauptfigur des Films. Gewiss, Dean verkörpert auf geniale Weise diesen Jim, einen sowohl rebellischen als auch seltsam vernünftigen jungen Mann. Jim leidet mit Größe, vor allem an seiner Familie. Er handelt nur gezwungenermaßen, er reagiert auf eine aus dem Lot geratene Außenwelt. Plato ist viel übler dran, er hat keine Familie und lebt beziehungslos in einer leeren Wohlstandswelt. Er sucht Menschen, an die er sich binden kann. Am Anfang schießt er frustriert auf Hunde und am Ende verzweifelt auf Menschen. In der ersten Hälfte des Filmes wartet er seine Chance ab, ein flinker Beobachter, Begleiter, Antragsteller, ein verfrühter Mephisto auf der Suche nach seinem Faust. Als jedoch die erste Katastrophe sich ereignet hat, das Auto mit Buzz die Klippen hinuntergerast ist, bestimmt er den weiteren Gang der Dinge. Es ist seine verlassene Villa, in die sich die Handlung verlagert. Er realisiert für einige Minuten seinen viel zu schönen Traum von der Ersatzfamilie und fällt anschließend in ein umso tieferes Loch.
Salvatore Mineo jr. war der Sohn eines aus Sizilien eingewanderten Sargtischlers. Geboren 1939, in der Bronx aufwachsend, ist er schon mit acht Mitglied einer Straßengang, mit zehn in einen Raubüberfall verwickelt – und wird zur Bewährung auf eine Schauspielschule geschickt. Mit zwölf steht er zum ersten Mal auf der Bühne, in einem Stück von Tennessee Williams. „ … denn sie wissen nicht, was sie tun“ ist sein dritter Film. Er ist jetzt sechzehn. Mit achtzehn macht er einen kurzen, erfolgreichen Ausflug ins Schlagergeschäft. Er dreht noch viele Filme und handelt sich den Spitznamen „Klappmesserkid“ ein – immer ist er der traurige, zu Gewaltexzessen neigende Problemjugendliche. Dagegen ist der Mensch hinter den Rollen ein lebenslustiger junger Mann, der gern alles mitnimmt. Mit Otto Premingers „Exodus“ gelingt ihm der Rollenwechsel nur scheinbar, für Hollywood bleibt er „Plato“. Als er dafür allmählich zu alt wird, macht er – aus damaliger Sicht – einen großen Fehler: Anlässlich der Trennung von Jill Haworth lässt er jeden wissen, eigentlich sei er gay. Von nun an bekommt er keine großen Rollen mehr angeboten. Es scheint ihm nicht viel auszumachen, beim Fernsehen verdient er genug zum Leben.
1976 hält sich Sal Mineo in Los Angeles auf. Auf dem Heimweg von einer Theaterprobe wird er Opfer eines Raubüberfalls und verblutet aufgrund eines Messerstichs, der das Herz getroffen hat. Die Polizei ermittelt erst in die falsche Richtung. Dann setzt John Lennon eine hohe Belohung aus und 1979 wird der Täter doch noch gefasst. 2015 hat James Franco den letzten Tag im Leben Sal Mineos verfilmt (Titel: Sal“).
Im Januar 2019 wäre Sal Mineo achtzig geworden. Schon achtzig? Man fasst es nicht. Er wird für immer Plato bleiben. Viele von uns fühlten sich damals in scheinbar intakten Elternhäusern wie Plato: unbehaust, sich nach einer anderen Familie sehnend. Nur dass wir nicht geschossen haben, weder auf Hunde noch auf Menschen.
Anfang 1987 kam der damals neue Film des Briten Derek Jarman erstmals in deutsche Kinos. Die Kritiken waren ausnahmslos, so schien es mir, voll von enthusiastischem Lob. Ich sah die Malerbiographie an einem Montagabend und notierte mir danach: „… lebendiger Kunstfilm … vollkommen authentische Bilder … atemberaubend schön …“ Zweiunddreißig Jahre später lasse ich mir den Film auf DVD kommen (Edition Salzgeber) und kann meine frühere Begeisterung nicht mehr nachvollziehen.
Möglich, dass ich „Caravaggio“ damals in deutscher Synchronfassung gesehen habe. Inzwischen ziehe ich Originalfassungen mit Untertiteln vor. Diese hier ist eine – und sie befremdet mich auf Anhieb: römischer Barock und dann alles Reden in British English, abgestuft von Oberschicht bis Gosse, seltsam anzuhören. Überhaupt nicht romanisch auch die meisten Physiognomien, eher angelsächsisch bis keltisch. Das steigert den Verfremdungseffekt. Dass so der Anblick von Tilda Swinton als Lena und noch mehr der von Sean Bean als Ranuccio eine leichte Antipathie in mir hervorrufen, ist vielleicht mein Problem – aber wie es ist um die Schauspielkünste von Nigel Terry als Caravaggio bestellt? Er scheint hier als Hauptfigur nur über zwei Mienen zu verfügen: die gönnerhaft lächelnde und die leidend tief betrübte. Caravaggios innerer Monolog, der wenig kunstvoll laufend neben der Filmhandlung assoziiert und phantasiert, kommt wie ein Mix aus englischer Romantik und W.H. Auden daher. Er zeugt wie der ganze Streifen von stark zum Ausdruck drängendem Kunstwillen. Die reichlich im Film eingestreuten Anachronismen (Taschenrechner, Schreibmaschine, Motorrad, Zigaretten usw.) wirken wie allzu absichtsvolle Gags. Sie fanden beim Publikum seinerzeit auch viel Beachtung.
Das Grundprinzip der Filmstruktur ist zunächst einleuchtend: Verknüpfung von Lebenssituationen mit gemalten Bildern. Das komplizierte Verhältnis von Bildproduktion, sei es für ein Gemälde oder den Film, zur Sinnproduktion in der erzählten Filmhandlung analysiert überaus tiefschürfend der Kunsthistoriker Klaus Krüger in einem der DVD als Bonusmaterial beigegebenem Vortrag. Nur dass mich bei aller Aufklärung darüber das Ergebnis dieser angestrengten Kunstübung ästhetisch dennoch nicht befriedigt. All die Anachronismen, das Spiel mit Filmzitaten, mit Garderoben unterschiedlichster Zeiten, mit technischem Gerät aus jüngster Zeit oder zzt. des Drehs schon wieder überholtem, es stellt ein willkürliches Sammelsurium dar. Gewiss wird so ein traditionelles biographisch-cineastisches Herangehen an einen Stoff wie diesen konterkariert, doch aus der Zertrümmerung entsteht nichts formal überzeugend Neues. Ist es am Ende ein Film über Vergeblichkeit von Kunst oder von Leben überhaupt?
In der zweiten Hälfte des Films wird jenes Grundprinzip überlagert und fast schon durchkreuzt von einem trotz allem zunächst konventionell erscheinenden Dreiecksverhältnis. Aber so wie alle Nebenfiguren undeutlich bleiben, so auch die Psychologie dieses Trios. Die schwangere Lena – von wem schwanger? - verlässt Caravaggio und Ranuccio, die, wie sie erklärt, einander genügten. Sie wird Scipiones Geliebte. Ranuccio ertränkt sie bald darauf im Tiber und gibt als Motiv gegenüber Caravaggio an, er habe die Frau für sie beide, den Maler und sich selbst, umgebracht. Dafür wird er nun von Caravaggio erstochen. Das Seelendrama hinter diesem blutigen Schauerkurzroman wird nicht einmal an-, geschweige denn ausgeleuchtet.
Verdankt sich der seinerzeitige Erfolg des Films der Übereinstimmung mit dem Zeitgeist der 1980er Jahre, dem Geist der Postmoderne, eines ästhetischen anything goes usw.? Ist uns Jarmans „Caravaggio“ einfach fremd geworden, da wir selbst uns in einer seitdem sehr veränderten Welt neu zu orientieren haben? Gegen diese Annahme spricht immerhin eine negative Kritik von damals, die ich entdeckt habe. Wolfgang Limmer fand schon 1987 in einer „Spiegel“-Rezension die Schwachpunkte heraus (Titel: „Klappbilder, homoerotisch“). Er monierte dort das Überwiegen von reinen Posen, den „platitüdenreichen Kommentar“, konstatierte, es umgebe „eine fröstelnde Kälte diese Hitzigkeit … Nichts stimmt in den Beziehungen der Lustsubjekte untereinander.“ Und zu den Spielereien mit Anachronismen: „Jarman hat sich dabei was gedacht, vermutlich irgendwas mit universal. Ich habe nichts dabei gespürt.“ Mir geht es heute ebenso.
Es hat 85 Jahre gedauert, bis Gides großer und einziger Roman „Die Falschmünzer“ sich in einen zweistündigen Film verwandelte, von 1925 bis 2010. (Die Version mit deutschen Untertiteln kam 2014 heraus.) Das lange Warten hat sich gelohnt. Der Film von Benoît Jacquot hält geschickt die Balance zwischen Nachzeichnen der Vorlage und Setzen eigener Akzente und verzichtet zum Glück auf Einführen vollkommen neuer Elemente. Die Struktur ist insofern verändert, als nun rein linear erzählt wird – keine Rückblenden mehr. So vertauschen Lauras Hochzeit und Edouards erste Begegnung mit Georges ihre Plätze mit Bernards Flucht aus der Familie. Außerdem wird das Geflecht aus Personen und Handlungssträngen deutlich gestrafft. Nebenfiguren und manche Episoden entfallen. Dennoch befinden wir uns in jeder Minute in Gides Welt. Es zeigt sich, wie filmreif die Kapitel aus dem Buch bereits angelegt waren.
Die exzellenten Schauspieler – allen voran Melvil Poupaud als Edouard – erscheinen durchaus wie Menschen des sehr frühen 20. Jahrhunderts. Über dem Edouard des Films liegt allerdings wie über dem des Romans ein Hauch Zwanzigerjahre. Er spiegelt so den Autor Gide, ein um zwanzig Jahre verjüngter Gide und dennoch mit den Lebenserfahrungen und der schriftstellerischen Praxis des Mittfünfzigers. Vielleicht liegt auch in dieser historischen Ambivalenz Edouards starke, rätselhafte Anziehungskraft begründet. Alle übrigen Figuren sind zeitgeschichtlich bruchlos wie im Roman, Gestalten der Welt vor dem 1. Weltkrieg, kein Fin de Siècle mehr, doch scheinbar in einer stabilen, gesellschaftlich unerschütterlichen Ordnung lebend. Es sind die privaten Eigenschaften und Dramen der Erwachsenen, die die Heranwachsenden aufdecken und sie zu Reaktionen herausfordern: Mittelmäßigkeit, Hohlheit, falscher Ehrgeiz, Ehebruch, Senilität. Auf die Falschmünzerei im Wortsinn, die im Roman eine Nebenrolle spielt, verzichtet der Film. Er rückt auch das Handwerk und die Abenteuer der Romanproduktion, im Buch ein zentrales Thema, an den Rand zugunsten des Sittenbildes und der seelischen Entwicklung der Individuen.
Die Bilder des Filmes, vor allem von Innenräumen und –dekorationen oder Garderoben, erzeugen eine vollkommen authentisch wirkende Atmosphäre von Paris und Saas-Fee damals. Um welches Jahr mag es sich gehandelt haben? Als spätestes muss man 1907 annehmen, da der historische Skandalliterat Alfred Jarry auftritt und in einer Bankettszene die Handlung entscheidend vorantreibt. Jarry, hier schon sehr heruntergekommen, starb 1907. Wahrscheinlicher ist als Zeitrahmen der Handlung das Jahr 1906: Es ist einmal die Rede von einer anstehenden Wahl des Politikers und Romanciers Barrès, der in jenem Jahr sowohl in die Académie française wie ins Parlament kam.
Vertiefen kann man das Filmerlebnis, indem man erneut oder erstmalig zur Romanvorlage greift. Man freue sich auf die Begegnung mit weiteren klassisch gewordenen Gestalten der Weltliteratur, die im Film keinen Platz mehr gefunden haben, so auf Madame La Pérouse, auf Strouvilhou oder Armand. Verfilmen wir diese Szenen in unserem eigenen Kopf.
1975 – Carl Orff wird achtzig und das ZDF bestellt bei Jean Pierre Ponnelle eine Verfilmung von „Carmina burana“. Ponnelle (1932 – 1988) war als Opernregisseur einer der ganz Großen seiner Zeit. Anfangs war er Bühnen- und Kostümbildner für das Musiktheater gewesen und dieser Ursprung kam der Verfilmung jetzt zugute: Ohrenschmaus und Augenweide sind einander wert.
Orff hatte seinem Werk einen lateinischen Untertitel gegeben, der übersetzt lautet: „Weltliche Gesänge für Sänger und Chöre, begleitet von Instrumenten und magischen Bildern“. Die magischen Bilder hier zeugen, trotz der Aufbauten des Bühnenbilds im romantisierenden Mittelalterstil, vom Zeitgeist der 1970er Jahre. Ausgesprochene Modernismen sind nur selten eingestreut, das Treiben wirkt dennoch wie das quicklebendige Kostümfest einer Hippie-Gemeinde. Zu den unverwüstlichen Ohrwürmern von 1935 feiert sich ein Mittelalter-Woodstock vierzig Jahre später. Es ist der Geist eines ironischen Optimismus, dessen unernste Züge nicht vollkommen den schicksalsschweren unter den Gesängen zu entsprechen scheinen. Das atmet die Luft der sexuellen Befreiung und einige Bilder könnten heißen: „Make love, not war“. Manches kommt uns verspielt neckisch: Menschenkinder wie Maikäfer im zartgrünen Baum, viele niedliche Tiere im sprießenden Gras (worunter sogar rammelnde Häschen), ein erzenes Doppelgrabmal mit sich reckenden, sich berührenden Armen … Und da ist auch Lust auf Revolution. Während die Gesänge auf Küchenlatein fordern, „dass das Schicksal auch den Starken hinstreckt: das beklagt mit mir“, plündert das sich tummelnde Schauspielervolk den Prunk des gestürzten Herrschers und treibt Schabernack mit seinem Skelett. Erotische Unterwasserszenen fehlen auch nicht.
Das Verwunderliche: All das schadet dem Werk nicht, es verstärkt seine Wirkung noch, irgendwie amalgamierend. Die genial erfundene Musik ist nicht nur nicht totzukriegen, es singen hier auch allererste Stimmen: Hermann Prey, Lucia Popp, John van Kesteren. Ach, und die Schauspieler, die Chöre … Die Choreographie und diese Kostüme, Perücken …! Man kann sich das heute, fast ein halbes Jahrhundert später, auf DVD oder gleich im Internet ansehen und anhören und sei gewarnt: hohes Suchtpotential. Und dann erwacht man mitten in der Nacht und es summt unaufhörlich in einem: O Fortuna oder Swaz hie gat umbe …
Ponnelle hat aufgegriffen und sich zunutze gemacht, was Orffs Werk charakterisiert: seine universelle Aussage. Die Texte der originalen Lieder verbinden bereits Mittelalter und Spätantike. Orffs Komposition selbst ist eine Brücke vom Archaischen zu früher Minimal Music. Der Dualismus von Leib gegen Seele und Wollust statt Heil oder, wie es im Text heißt, das Alternieren von Aufbäumen und Erschlaffen, das alles, Vergänglichkeit mit Diesseitsfreude vermengt, ist auch europäisch-barock und zugleich fernöstlich-ewig. Wir alle waren, sind und werden immer sein: aufs Rad geflochten. Schmerz und Ekstase in einem, das ist der Zauber dabei, gerade auch dieser Musik wie des Films.
„El fulgor“ (dt. Glanz) von Martín Farina, gedreht 2021, ist ein Dokumentarfilm und zugleich mehr. Offensichtlich ist zunächst die Nähe zur Kunstfotografie, nur dass sich hier die Bilder auch noch bewegen. Wer den Film zu Hause anschaut, kann beliebig viele von ihnen zum Stillstand bringen und sich in jedes von ihnen kontemplativ versenken. Das ergibt eine Galerie von Hunderten unterschiedlichster Porträts und Studien. Was als Gemeinsames auffällt, ist die Materialität der Objekte, das Betonen optischer Strukturen, die Nähe zu Stillleben. Arrangiert erscheinen die Szenenbilder wie Fotoreproduktionen an einer Wand aufgereiht, in mehr oder weniger zufälligem Mix. Nur langsam und erst bei wiederholtem Anschauen bekommt der Zuschauer ein Gefühl für die erzählerische Seite des Werks. Nicht selten scheint die Grenze vom rein Dokumentarischen zum Inszenierten doch überschritten.
Der Film wechselt gelegentlich von Farbig zu Schwarz-Weiß und wieder zurück. Es gibt keinen Dialog, dafür viele charakteristische Hintergrundgeräusche, etwa die Rufe der Viehtreiber oder vereinzelte Schüsse, und eine akzentuierende Filmmusik. Zum Ende des Films hin trägt eine Erzählerstimme einen poetischen Text vor, bei uns deutsch untertitelt, etwas Balladesk-Philosophisches, das vermutlich einen Schlüssel zum Verständnis des Gesamtzusammenhangs bieten soll.
Farina hat in der argentinischen Provinz gedreht, auf einer großen Rinderfarm. Er zeigt, wie Gauchos dort leben und arbeiten. Wir sehen sie mit den Tieren umgehen und bei der Verarbeitung des Fleischs. Reste des Fleischs sind auf Zäunen und an Baumästen aufgehängt. Vögel bedienen sich. Was heruntergefallen ist, lockt Hunde, Schweine, Hühner an. Spinnen kommen wiederholt ins Bild. Tiertransporte werden bewerkstelligt. Rinder und Pferde blicken großäugig in die Kamera. In einer Hallenruine wird aufgeräumt. Es gibt kontemplativ wirkende Naturszenerien: Wald und Wasser. Die Arbeiter duschen, sie ruhen, auch im Freien.
Überlappend mit dem ersten setzt sich allmählich das zweite Milieu durch, die Welt des Karnevals von Gualeguaychú, der nationalen Hochburg sehr farbenprächtiger Umzüge. Manche der Gauchos nehmen aktiv daran teil, andere sind Zuschauer. Als Einstimmung präsentiert der Film Schaufensterpuppen von Schuljungen, sie ähneln Heiligenfiguren. Die Tänzer staffieren sich aus, nachdem sie viel nackte Haut gezeigt haben. Sie tragen phantastisch geschmückte Mini-Shorts und raffiniert entworfene Kostüme. Der Film verweilt gern, wenn die Männer Schmuck anlegen: prächtig verzierte Gürtel, Armbänder, Kopfzierden. Draußen nimmt man eine zunehmende Dynamik wahr. Da gibt es einen zu einem Corsodrom umgebauten stillgelegten Bahnhof. In ihm treten abends die Tanzgruppen auf, rollen die Prunkwagen daher. Orgiastische Massentanzszenen rundum steigern sich zu ekstatischen Explosionen der Vitalität.
Der Film kehrt erst vorübergehend, dann abschließend zurück aufs Land. Wir sehen suggestive Schlussbilder, Naturstillleben im grünen Dickicht eines feucht subtropischen Klimas. Darin einer der beiden Hauptmitwirkenden, deren Namen im Nachspann herausgehoben sind: Franco Heiler und Vilmar Paiva; zwischen ihnen ist vielleicht eine besondere Nähe angedeutet. Man kann den rätselhaft poetischen Text im Film auf Heilers Stellung als Gaucho und Tänzer beziehen. Er und Paiva und noch intensiver Martín Farina gehören seit längerem zum Umkreis des erfolgreichen argentinischen Regisseurs Marco Berger. Zu dessen beliebten Stilmitteln gehört das Einbetten der Schauplätze in ein grünes Dickicht, alle Rätsel unaufgelöst enthaltend und in dem doch alles zur Ruhe zu kommen scheint. Heiler hatte in Bergers Film „Der Blonde“ (2019) eine Nebenrolle und Paiva war schon in des Filmemachers ganz frühem Kurzfilm „Ein letzter Wunsch“ (2008) dabei. Farina drehte wiederholt zusammen mit Berger Filme, der Mitproduzent bei „El fulgor“ wurde. Bei Bergers eigenem Film „Gualeguaychú: El país de carnaval“ war Farina Kameramann und Heiler und Paiva wirkten als Darsteller mit. Paiva ist in Argentinien und darüber hinaus vor allem als Grillmeister-Gaucho bekannt geworden, mit TV- und anderen öffentlichen Auftritten. Wer selbst Asador werden will, kann seine DVDs als Lernmittel zum Fernstudium erwerben. So schließt sich der Kreis von Viehzucht, Karneval, Kunst und Gewerbe.
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2017
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