Mit seiner „Éducation sentimentale“ hat Flaubert einen der ersten Desillusionsromane geschrieben, wohl auch den bedeutendsten des 19. Jahrhunderts überhaupt, mit Ausstrahlung auf das gesamte 20. und noch darüber hinaus. Es ist heute schwer vorstellbar, dass das Werk bei seinem Erscheinen fast nur negative Kritiken erhielt und sich erst allmählich durchsetzen konnte. Zum Teil mag es am Titel gelegen haben, den man vor allem ironisch aufzufassen hat. Was auf Deutsch mit „Erziehung des Herzens“ oder „Lehrjahre des Gefühls“ wiederzugeben versucht wurde, das hat schon im Original irrige Erwartungen wecken müssen. Ironie im Titel ist eine zweischneidige Sache, denn ein voreingenommener Leser kann sich bei der Lektüre leicht betrogen fühlen. Tatsächlich endet dieser Erziehungsroman so fatal wie möglich. Frédéric Moreaus Erziehung durch das Leben läuft bei durchweg glänzenden Voraussetzungen – bezüglich Vermögen, Geistesgaben, Empathie und Attraktivität – vollkommen ins Leere. Nach Jahrzehnten rastloser Aktivität ist er ein Gescheiterter, allerdings auf die am wenigsten glanzvolle Weise – er ist allmählich ein abgestumpfter kleiner Rentier geworden, dem fast alles zerronnen ist. Flaubert bietet auf dieses Ende hin das meiste von dem auf, was das 19. Jahrhundert an groß gedachten und groß zu erlebenden Aktionen zu bieten hatte: Amouren, Erbschaften, Börsenspekulationen, Konjunktur der Künste, ein Duell und eine Revolution. Im Ineinandergreifen von privatem Leben und historischem Prozess schreitet dieser Roman unerbittlich voran wie eine antike Tragödie, nur dass die Abläufe hier zumeist so bürgerlich-läppisch sind, dass sich keine irgendwie erhebende Wirkung einstellen kann – und auch nicht soll! (Wenn z.B. ein Cisy sich duelliert, wird er vor Angst ohnmächtig und ritzt sich im Fallen an einem Strauch. Blut ist damit geflossen, Genugtuung erfolgt.)
Die Literaturgeschichte hat Frédéric immer wieder den Prozess gemacht und ihn für einen lebensuntüchtigen Romantiker erklärt. Sie hat sich regelrecht auf ihn eingeschossen und behandelt seine Mitwelt gern nur am Rande, als verstärkende Staffage. Man kann es auch anders sehen: Ist in der Gesellschaft seiner Zeit ein anderer Frédéric Moreau überhaupt vorstellbar? Widmen wir uns also der Frage nach Solidität und Lauterkeit der Charaktere der weiteren Figuren im Roman. Berücksichtigt man dabei nur diejenigen, die regelmäßig auftreten und das Netzwerk bilden, das die Handlung trägt, so kommt man auf ihrer achtzehn. Unter ihnen gibt es wohl Unterschiede in der Bedeutung, doch keine einzige gewinnt den Rang einer weiteren Hauptperson, nicht einmal Frau Arnoux. Frédéric ist von lauter Nebenfiguren umgeben, die oft gegeneinander agieren und sich damit um nachhaltigen Einfluss auf den Helden bringen.
Zunächst: Es gibt keinen Vater. Er ist vor Frédérics Geburt gestorben und wird nur einmal erwähnt, im Zusammenhang mit den bescheidenen Vermögensverhältnissen der Mutter. Sie agiert materiell mit großer Klugheit, verschafft sich Prestige in der Kleinstadt Nogent. Und: „Frau Moreau nährte in ihrer Seele einen stolzen Ehrgeiz für ihren Sohn.“ Also darf er in Paris studieren, womit sie jeden Einfluss auf ihn verliert. Ihre Bedeutung ist so gering, dass wir bei Romanende nicht einmal erfahren, ob sie noch lebt. Lange vorher war sie unter den Einfluss ihres Nachbarn Roque geraten – „er hatte Frau Moreau zumal durch die Hoffnung auf den Grafentitel (d.h. für Frédéric) gewonnen.“ Roque betreibt für den Pariser Kapitalisten Dambreuse unsaubere Hypothekengeschäfte in der Provinz, wird unter Louis Philippe selbst reich und erschießt 1848 einen der Aufständischen, die in den Tuilerien eingekerkert sind. Vergeblich dient er seine Tochter Louise Frédéric zur Frau an. Sie ist im Roman nur skizziert als naive, temperamentvolle junge Frau. Unglücklich verheiratet brennt sie später mit einem Sänger durch.
Frédéric hat das Ehepaar Arnoux schon zu Beginn seiner Pariser Jahre kennengelernt. Arnoux ist erst Kunsthändler und Verleger, dann Fabrikant von Fayencen und führt zuletzt ein Devotionaliengeschäft. Er ist im Auftreten nicht unsympathisch, nur hat er zu viele Charakterfehler. Als Privatmann ist er roher Genussmensch und wird als leichtsinniger Geschäftsmann zwangsläufig Bankrotteur. Von ihm heißt es: „Er diente der Emanzipation der Künste, das heißt, der billigen Verkitschung des Schönen.“ Und: „ … seine Intelligenz war weder hoch genug, um bis zur Kunst zu reichen, noch bürgerlich genug, um nichts als Profit zu erstreben; und da er so niemanden zu befriedigen vermochte, wurde alles, was er machte, notwendig sein Ruin.“ Seine intelligente Frau ist ihm charakterlich weit überlegen und hält allen Enttäuschungen zum Trotz immer zu ihm. Etwa zehn Jahre älter als Frédéric wird sie zu dessen fatalem Leitstern. Einer stets utopisch bleibenden intimen Beziehung zu ihr ordnet er alles andere unter. Als ewiger Hausfreund in spe wird er vom Ehepaar gemeinsam wiederholt materiell in Anspruch genommen, ja ausgebeutet. Den Arnoux privat wie geschäftlich eng verbunden ist auch Regimbart, „der Bürger“, wie er konstant genannt wird. Er ist eine fast nur negativ gezeichnete Figur, ein aufgeblasener kleiner Bourgeois, der Durchblick und Ernsthaftigkeit vortäuscht, alkoholabhängig ist, krumme Wechselgeschäfte macht und sich von seiner Frau und deren Schneiderei ernähren lässt.
Noch mehr deprimierende Gestalten? Da ist Rosanette, die Kokotte, mit ihrem Kreis, dem neben Arnoux und Frédéric noch der Sänger und Schauspieler Delmar und die Agentin Vatnaz angehören. Rosanette ist das schöne Mädchen aus dem Volk, mit einer Odyssee durch die Berufe wie durch die Betten, eine frühe Femme fatale, hyperaktiv, unbefriedigt lassend und unbefriedigt bleibend. Ihre Freundin Vatnaz ist rationaler, ein früher Blaustrumpf, an Emanzipation und Sozialismus interessiert, sehr geschäftstüchtig und auch vor Unterschlagung nicht zurückschreckend. Die beiden Frauen machen sich Delmar streitig, von dem es heißt: „Er … schien hochmütig wie ein Pfau und dumm wie ein Truthahn … Er hatte gewöhnliche Züge, die wie Theaterdekorationen sich nur dazu eigneten, aus der Ferne betrachtet zu werden …“ Flaubert verhöhnt in ihm den Kult populärer Schauspieler: „ … und eine Biographie … schilderte, wie er seine alte Mutter pflegte, das Evangelium las, die Armen tröstete, kurz in den Farben eines heiligen Vincent de Paul, gemischt mit denen eines Brutus und eines Mirabeau …“
Dambreuse ist der Großkapitalist unter dem Bürgerkönig schlechthin. Flaubert analysiert ihn nicht nur soziologisch, er dämonisiert ihn auch: „Eine böse Energie schlummerte in seinen grünlichen Augen, die kälter waren als Augen von Glas.“ Sein Erfolgsrezept: „Herr Dambreuse folgte wie ein Barometer stets den letzten Schwankungen der Politik.“ Unter Louis Philippe reich und einflussreich geworden, passt er sich 1848 der Februarrevolution geschickt an, um sie später mit anderen gemeinsam zu vernichten. Seine Gattin ist ihm ebenbürtig - fast.
Dann der Kreis der Gefährten. Frédéric und Deslauriers sind seit der Schule Freunde – „er (d.h. Frédéric) hatte immer auf ihn eine beinahe frauenhafte Anziehung ausgeübt“, heißt es. Gelegentlich entfremden sie sich einander vorübergehend. Deslauriers ist in allem der Aktivere, Skrupellosere und meistens auch erfolgreicher. Am Ende weist er eine zusammengestückelte Biographie voller Brüche auf, ist ebenso enttäuscht vom Leben wie Frédéric. Martinon dagegen, Typ eiskalter Streber, wird sogar Senator. Sénécal, lange Zeit so etwas wie Frédérics Rivale um Deslauriers’ Zuneigung, ist jahrzehntelang fanatischer Sozialist, um zuletzt Louis Napoléon tatkräftig bei der Installierung eines bürgerlich-autoritären Staates zu unterstützen – er erschießt 1852 den Republikaner Dussardier, den einzig Reinen im Fähnlein dieser acht nicht allzu Aufrechten. Wer fehlt noch? Cisy, ein adeliger Trottel – Hussonet, ein Hanswurst von Journalist, gescheit, eitel, gewissenlos – Pellerin, ein wenig begabter Maler, immer auf seiner lebenslangen Rundreise durch intellektuelle Theorien und Moden.
Dass Dussardier die absolute Ausnahme unter den Gestalten des Romans darstellt, ist schon anderen aufgefallen. Er ist Handlungsgehilfe und mischt sich bei seinem ersten Auftreten beherzt ein, als Polizisten bei Studentenunruhen einen jungen Burschen vermöbeln. Frédéric erscheint er als ein „Herkules“: „Der furchtbare Mensch war so stark, dass wenigstens vier von ihnen nötig waren, um ihn zu bezwingen.“ Frédéric folgt dem festgenommenen Riesen auf die Wache und nimmt ihn näher in Augenschein: „Nun zeigte sich das grobe Gesicht Dussardiers, das mit seinem struppigen Haar, seinen ehrlichen kleinen Augen und seiner breiten Stülpnase irgendwie an den Kopf eines treuen Hundes erinnerte.“ Er ist also riesig, bärenstark, treuherzig, grundehrlich und sehr anhänglich – das Idealbild eines guten Freundes. Frédéric, dessen Gefühle allen anderen Romanfiguren gegenüber unbeständig sind und zeitweise bis zum Hass sich steigern können, empfindet ihm gegenüber nur anhaltende Sympathie. Gleichwohl bleibt ein Abstand zwischen ihnen, der Bildungsunterschied ist groß, die Gespräche mit ihm sind wenig ergiebig. Dussardier leiht sich Bücher von ihm aus, besucht ihn zeitweise „jeden Abend“. Als Frédéric seine Freunde erstmals gemeinsam in seine kleine Stadtvilla einlädt – er hat inzwischen geerbt -, wird Dussardiers besondere Stellung erneut deutlich. Von den anderen heißt es: „Sie erbitterten ihn allmählich so, dass er Lust hatte, sie hinauszuwerfen.“ Stattdessen „trat (er) mit Dussardier zur Seite und fragte, ob er ihm mit etwas dienen könne. Der Gute war gerührt …“
Haben wir es mit einem Fall von Subtext zu tun? Frédéric scheint nur allgemein-menschlich von Dussardier angezogen, nicht speziell erotisch. Immerhin ist er ein Held des 19. Jahrhunderts so wie sein Autor ein Mann desselben Zeitalters. Dennoch liest man sich hier und da verwundert fest, so an der Stelle, wo nach dem Duell Arnoux und „der Bürger“ Zynisches über Frauen äußern und Frédéric sich innerlich distanziert. Es folgt ein für Flaubert typischer Sprung, der den gedanklichen Zusammenhang verdeckt, und der nächste Absatz beginnt so: „Aber dankbar war er Dussardier für seine Treue …“ Während der Februarrevolution von 1848 verbringt Frédéric mit Rosanette ruhige Tage in Fontainebleau und sie kommen sich näher als je zuvor. Dann findet Frédéric in der Zeitung Dussardiers Namen auf einer Verwundetenliste. Er beschließt, sogleich nach Paris zurückzukehren und den Freund aufzusuchen. Rosanette, sehr aufgebracht, bleibt unterwegs in Melun allein zurück.
Die fortlaufend im Roman erzählte Handlung dauert vom 15. September 1840 bis zum 3. Dezember 1851. Am Tag davor hat der Staatsstreich Louis Napoléons stattgefunden. Dussardier verteidigt die Republik von 1848 im Straßenkampf. Frédéric sieht ihn ein letztes Mal vor einem Caféhaus: „Auf den Stufen von Tortoni blieb ein Mann stehen, Dussardier, von fern schon durch seinen hohen Wuchs sichtbar, starr wie eine Karyatide. Einer der Polizisten, der voranmarschierte, den Dreispitz über den Augen, bedrohte ihn mit seinem Degen. Der andere trat einen Schritt vor und rief: ‚Hoch die Republik!’ Er fiel auf den Rücken, die Arme ausgebreitet wie am Kreuz.“ Die stützende weibliche Figur, zu der jener Herkules des Beginns nun geworden ist, bringt mit ihrem Fall den Prozess der Desillusionierung zum Abschluss. Die Republik ist untergegangen, die wichtigen Frauen im Leben Frédérics sind ihm endgültig ferngerückt, der einzige Mann, dem gegenüber er echter Freundschaft fähig war, ist tot. Der Roman ist im Wesentlichen zu Ende, es folgt nur noch ein Epilog in zwei Kapiteln, der die Jahre danach kurz zusammenfasst.
Maxime du Camp, Schriftstellerkollege und jahrzehntelang Freund von Flaubert, will die Vorbilder der Romanfiguren wiedererkannt haben. Flaubert selbst erwähnt in seinen Briefen mehrfach, wie ihn bei der Niederschrift des Romans die Gestalt des Bürgers – womit hier Fréderic Moreau gemeint ist – ermüde und ihm zuwider sei. Nun ist Frédéric nach seiner Struktur und Geschichte erkennbar vom jungen Flaubert abgeleitet, in der Gestaltung dann insoweit changierend zwischen Selbstanalyse und Selbsthass. Wie nahe die Hauptperson ihrem Schöpfer steht, wird z.B. aus dem 3. Kapitel im 3. Teil deutlich. Frédérics Analyse der gescheiterten Revolution ist identisch mit der des reifen Flaubert. Und im 4. Kapitel äußert sich wiederum Dussardier zum gleichen Thema ganz ähnlich. Das ist weniger Schwäche der Figurenzeichnung als vielmehr der Versuch, auf dem Umweg über politische Fragen Harmonie und Identität zwischen zwei Männern und ihrem Porträtmaler herstellen zu wollen.
Dussardier ist innerhalb des Romans das zwingend erforderliche Gegengewicht zu einer als vollkommen eitel dargestellten Gesellschaftswelt. Ohne ihn wäre sie so unerträglich wie unwahr. Darüber hinaus hat Flaubert mit Dussardier womöglich einem unbekannt gebliebenen Mann des 19. Jahrhunderts ein berührendes Denkmal setzen wollen. In diesem Fall ist ihm auch das gelungen.
(Zitate nach der Übersetzung von Paul Wiegler in „Gustave Flaubert, Lehrjahre des Gefühls – Geschichte eines jungen Mannes“, Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, nachgedruckt als Insel Taschenbuch)
Flaubert hat die letzten sechs Jahre seines Lebens mit der Niederschrift des Fragment gebliebenen Romans „Bouvard und Pécuchet“ verbracht. Das Werk war so weit gediehen, dass es 1881 – ein Jahr nach Flauberts Tod – in Buchform erscheinen konnte. Die Handlung war zu geschätzt neun Zehnteln abgeschlossen, der restliche Verlauf einschließlich eines umfangreichen Anhangs aus den Notizen des Autors erschließbar. Der Roman behandelt die systematische Rundreise zweier alternder, von Paris aufs Land übergesiedelter Freunde durch fast alle praktischen wie theoretischen Wissenschaften ihrer Zeit, und zwar stets sowohl mit dem Feuereifer der Dilettanten wie dem immer gleichen Ergebnis: Frustration und Langeweile.
Das satirische Buch hat bei weitem nicht den Erfolg beim großen Publikum gehabt wie „Madame Bovary“ oder die „Éducation sentimentale“. In der Fachwelt jedoch wurde es von Anfang an viel beachtet und besprochen. Dabei fällt dreierlei auf: die insgesamt sehr facettenreiche Durchleuchtung des Textes – die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, den Roman abschließend befriedigend zu analysieren – die krasse Nichtübereinstimmung in der Beurteilung, besonders auch durch Flauberts nachgeborene Schriftstellerkollegen. Da ist alles dabei, vom Totalverriss über differenzierte Meinung bis zum enthusiastischen Lob. Innerhalb der „Flaubertologie“ hat sich so die Auslegung von „Bouvard und Pécuchet“ fast als eine Spezialwissenschaft etabliert.
Manche Kritiker gingen bei ihrer Untersuchung vom Bild Flauberts aus, das überliefert ist, seiner seelischen Grundverfassung, ihrer Problematik. Das ist der individualpsychologische Ansatz, der häufig mit einer negativen Gesamtbeurteilung des Romans einhergeht. Viel zahlreicher sind jedoch die Arbeiten, die sich von Anfang an auf den Text konzentrieren und sich allenfalls Querverweise auf die innere wie äußere Biographie des Autors erlauben. Innerhalb dieser Kritik nimmt den breitesten Raum die Auffassung ein, der Roman sei eine gelungene satirisch-enzyklopädische Abrechnung mit Wissenschaft an sich, zumindest mit der des 19. Jahrhunderts. Dieser Aspekt stellt seit langem alle anderen Interpretationsmöglichkeiten in den Schatten. „Bouvard und Pécuchet“ ist für die Literaturgeschichte also primär Wissenschaftskritik mit den Mitteln eines Romans. Zweifellos ist er das auch und nicht nur en passant. Rein quantitativ überwiegen die komisch scheiternden Versuche der beiden Männer, zusammenhängendes, überzeugendes Wissen zu erwerben. Flaubert setzt sie dabei als Vermittler seiner eigenen frustrierenden Leseerfahrungen ein. (Diese Lektüre hat er zum großen Teil erst im Hinblick auf das Romanprojekt betrieben.) Die Methode ist immer die gleiche: emsiges Durchdringen möglichst allen angehäuften Wissens, Herausarbeiten der tiefen Widersprüche zwischen den Autoren, Aufspießen von Plattheiten, von barem Unsinn, sich verächtlich ab- und erwartungsvoll einem neuen Gebiet zuwenden.
Diese Zettelkasten-Methode, an Jean Paul erinnernd, doch mit äußerster Prägnanz arbeitend, wird hier unerbittlich angewandt, mit der Konsequenz, dass der Leser selbst allmählich ermüdet, Überdruss empfindet und sich zu langweilen beginnt: zu viele Autoren, zu viele angeschnittene Sachfragen, Systeme, Techniken, zu viele Paradoxien, nicht Nachzuvollziehendes, schlechthin Blödsinniges. Beispiel: das Erwärmen von Badewasser durch bloße Körperwärme eines sich im Zuber emsig Bewegenden, von einem Wissenschaftler behauptet und von Bouvard im praktischen Versuch widerlegt. All das ist im Detail zumeist erheiternd, nur Überfülle des Materials wie Monotonie seiner Durchdringung ertöten allmählich die Leselust …
… doch Flaubert facht sie regelmäßig wieder an, indem er die Dorfgesellschaft ins Spiel bringt, von den Honoratioren bis zu den Randexistenzen, ihre Begegnungen und Zusammenstöße mit den beiden Protagonisten. Es ist ein Anliegen dieses Aufsatzes, dass den Nebenfiguren des Romans etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde. Gewiss kann man einwenden, dass auch ihrer zu viele sind, so dass sich nur bei konzentrierter Lektüre alle Namen und Berufe einprägen. Flaubert, der Fanatiker der Exaktheit, gibt eben ein Bild der differenzierten Dorfhierarchie, der differierenden Interessen und Psychogramme. Dennoch sind diese Figuren keine realistischen Abbilder, sondern ihrerseits satirisch gezeichnet. Unter ihnen sind prachtvolle Exemplare, etwa die nach Grund und Boden gierende Witwe Bordin. Bouvard, erotisch von ihr angezogen, hätte sie ums Haar geheiratet, doch die beste seiner Ländereien ihr als Morgengabe überschreiben? Da wird das Experiment im letzten Moment lieber abgebrochen, wie manch anderes vorher und nachher. Noch bissiger die Darstellung des Dorfpfarrers, eines Tartüffs im geistlichen Gewand. Auf dem Höhepunkt der 1848er Revolution segnet er den frisch eingepflanzten Freiheitsbaum (von Bouvard und Pécuchet dem Dorf zu diesem Zweck geschenkt), predigt ölig gegen die eigene Überzeugung, und nach dem erneuten Umschwung bekommt er den Baumstumpf der gefällten Pappel, um damit zu heizen. Der Tischler Gorju kommt nicht besser weg, der Arbeiter ist ein demagogisch begabter Lumpenproletarier, ein eitler und sehr auf den eigenen Vorteil bedachter Aufrührer.
Bouvard und Pécuchet selbst sympathisieren unverkennbar mit den Ideen der 48er Revolution. Ihr Verlauf wie Scheitern in Paris und das Echo in der Provinz werden im sechsten der zehn Kapitel behandelt. Das ist der große Wendepunkt im Ablauf der Handlung, ähnlich wie schon in der „Éducation sentimentale“. Von nun an werden die beiden Pariser vollends zu Dorfaußenseitern, ihre Position zunehmend unhaltbar. Auf der anderen Seite werden sie von Flaubert allmählich sympathischer, einsichtsvoller dargestellt. Ging es in den vorangegangenen Kapiteln vor allem um Agronomie, Gartenbau, Naturwissenschaften und Geschichte, sind von nun an Religion, Philosophie, Pädagogik und Reformen der Gesellschaft die Themen. Die beiden Dilettanten verschmelzen dabei langsam mit ihrem Schöpfer, dem Autor hinter ihnen. Damit erschließt sich eine tiefere Motivation von Langeweile und Ekel, des Generalthemas des Romans. Es ist die Enttäuschung, die Flaubert selbst über die politische Geschichte Frankreichs zu seinen Lebzeiten sowie die kulturelle Entwicklung überhaupt verspürte. Sie vor allem hat ihn dazu gebracht, dem für ihn tief unbefriedigendem Verlauf theoretisch auf den Grund zu gehen und gleichzeitig die den Geschichtsprozess Vorantreibenden karikierend vorzuführen. Die Langeweile ist ein ausgedehnter Ort in der Zeit, der hier aufgesucht und schreibend erledigt wird.
Flaubert hat sich also kritisch mit Grundlagen und Ergebnissen von Aufklärung und bürgerlicher Demokratie befasst. Er gibt als Romanautor zugleich ein Zeitbild wie ein überzeitliches Muster, das ist seine volle Leistung. Seine Aktualität steht außer Frage. Wer will, kann die Linie durchziehen von 1848 über 1968 bis hin zum Arabischen Frühling, nur zum Beispiel.
Von Gustave Flaubert (1821 – 1880) sind einige Tausend Briefe erhalten und veröffentlicht. Der mir vorliegende Auswahlband (Diogenes-Taschenbuchausgabe von 1977) umfasst gut 700 Seiten Briefe. Der früheste darin datiert vom 31.12.1830, der letzte vom 3.5.1880, fünf Tage vor seinem Tod. In dieser Auswahl ist ab 1837 durchgehend jedes Kalenderjahr vertreten, zumeist mit zweistelliger Zahl an Episteln. Die Anzahl der Empfänger ist sehr groß, unter ihnen fast jeder von einiger Bedeutung, der Flauberts Lebensweg gekreuzt hat. Flaubert schrieb auch Briefe an viele literarische Größen seiner Zeit, darunter Baudelaire, die Goncourts, Sainte-Beuve, Taine, Turgenjew, Zola, Maupassant. Wir können nachvollziehen, wie sein Leben verlaufen ist, wo er sich wann aufgehalten und mit wem in Verbindung gestanden hat. Da stellt sich leicht die Phrase vom „Roman seines Lebens“ ein, den diese Korrespondenz darstellen könnte. Sie tut es indessen nicht. Flaubert verstand sich selbst nicht als Privatmensch mit Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung. Für ihn ging es fast ausschließlich um Kunst, der zu dienen, der sich aufzuopfern war. Die Vorstellung von Glück hielt er für illusionär, das Streben danach für schädlich.
Wohl gibt es eine Reihe von Freundesgestalten, die regelmäßig Briefe empfangen. Darin geht es jedoch vor allem um Flauberts eigene laufende Arbeit oder um Nachfrage nach den Projekten der anderen oder um Kritik an beendeten Werken. So bleiben die Briefe trotz oft großer Gefühlsbetontheit eigentümlich unpersönlich. Der Jugendfreund Ernest Chevalier ist als Bezugsperson wie Briefpartner abgetan, nachdem er als Beamter installiert ist. Im Verhältnis zu Maxime du Camp, Autor wie Flaubert, gibt es ein Auf und Ab, das zu verfolgen lohnend sein könnte, wenn nicht beide ihre Korrespondenz nach Absprache zum größten Teil vernichtet hätten. War dieser Inhalt zu persönlich? Die erhaltenen Briefe zwischen ihnen lassen große Differenzen nur bezüglich von Rolle und Ethos eines Schriftstellers erkennen. In den ausführlichen Briefen an seine langjährige Partnerin Louise Colet – der Höhepunkt der Auswahl schlechthin – geht es wiederum primär um Literatur. Außerdem zieht er immer wieder Grenzen, bezeichnet sich als unfähig für eine normale Liebesbeziehung, weist ihr in seinem Leben die zweite Geige nach der Literatur zu. Die Krisen zwischen ihnen finden ihren Ausdruck darin, dass er sie abwechselnd duzt und siezt. Bei den weiteren Hauptbriefpartnern Ernest Feydeau, Louis Bouilhet und George Sand geht es dann fast nur noch ums Schreiben. Je mehr Erfolg er hat, umso flacher werden seine Briefe. Das Niveau derjenigen an Louise Colet wird nie mehr erreicht. Beteuerungen der höchsten Wertschätzung erscheinen nun nicht immer ganz aufrichtig – Flaubert äußert sich gelegentlich in Briefen an andere herablassend über die Wertgeschätzten. Er hat jetzt nur noch wenig Zeit und Energie übrig für diese Korrespondenz. Seine Arbeitstage, zwölf bis vierzehn Stunden lang, werden fast ganz von den eigenen großen Werken und der sie begleitenden Lektüre beansprucht.
Momente von außen treten dazwischen: der Tod so vieler Bezugspersonen, in seinem letzten Lebensabschnitt die gefährdete materielle Absicherung. Das erschüttert ihn und vor allem: Es macht ihn vorübergehend arbeits-, d.h. schreibunfähig. Mit den historischen Zeitumständen ist es ähnlich. Sie sind vor allem Störfaktoren. Flaubert hatte ihnen gegenüber Einstellungen, Urteile – politische Bindungen nicht. Er zog sich auf eine Art Mandarinismus zurück: Alles würde viel besser gehen, wenn nur die Besten die unverbesserliche Masse regierten und die Elite zu diesem Zweck gründlich genug erzogen würde. Flaubert durchlebte sechs Stadien der französischen Geschichte: die bourbonische Restauration, das bourgeoise Bürgerkönigtum, die Turbulenzen um das Jahr 1848, das autoritäre, dennoch nach der Volksmeinung schielende Regiment Napoleons III., den Krieg von 1870/71 mit der Pariser Kommune und die Dritte Republik – gemocht hat er keines der Systeme, keinen ihrer Repräsentanten.
Für Flaubert geriet zeitlebens fast alles zur Irritation, die persönlichen Beziehungen wie die Zeitgeschichte, die eigene Gesundheit wie die Aufnahme seiner Werke … Irritation war für ihn nicht nur unterbrechender Störfaktor, sondern ein konstitutiver Akt seines Schaffens. Oft genug drückt er in seinen Briefen diesen unermesslichen Hass auf die Mitwelt aus und kennzeichnet ihn als Hauptantrieb für seine Produktion. L’art pour l’art ist für ihn persönlich schicksalhafte Bestimmung, nicht Liebhaberei oder Spleen – es ist der notwendige Ausgleich für eine insgesamt verfehlte Schöpfung. Kunst ist die einzig mögliche Rettung. Wenn es um Kunst, um große Literatur geht, ist er der Zuwendung zu anderen in hohem Maß fähig. Er kritisiert nicht nur, er entwickelt auch Verständnis, unterstützt lebhaft, z.B. Zola und vor allem Maupassant, dessen Anfänge als Schriftsteller er noch miterlebt und nachhaltig fördert.
Flauberts Briefe sind in ihrer Gesamtheit kein Roman seines Lebens, eher ein Roman seiner Werke und zum kleineren Teil auch derjenigen anderer. Dem Literaturkenner mögen die Briefe kein grundsätzlich neues Flaubertbild verschaffen – doch ist das Panorama einer vom Kunstwillen derart beherrschten Biographie für ihren Leser gewiss ein eindrucksvolles Erlebnis.
Von Kafkas nachgelassenen Romanen ist „Der Verschollene“ - manchen noch unter dem von Max Brod gewählten Titel „Amerika“ bekannt – gewiss der nebenbei auch amüsanteste. Elemente der Komik durchziehen ihn wie Erzadern. Man muss sie nicht aufsuchen, man stößt en passant beim Lesen auf sie und fragt sich: Was war das eben? Man kann dabei den Autor förmlich sehen, wie er beim Schreiben – ja, was: gelacht hat? Mir scheint, die an solchen Textstellen aufscheinende Gemütsverfassung wird sichtbar auf jener Fotografie, die Saul Friedländer zum Titelbild seiner Kafka-Biografie von 2012 bestimmt hat. Sie zeigt den Dichter auf dem Altstädter Ring in Prag, die Hände vor dem Unterleib verschränkt, die Augen von der Hutkrempe beschattet, der Mund verschlossen, die Mundwinkel, so scheint es, von einer seltsamen Befriedigung auseinandergezogen – kurzum: Kafka schmunzelt tiefgründig in sich hinein. Das ist nicht mehr der todernste Kafka, der uns wie ein Fahndungsfoto von den Rückseiten der Fischer Bücherei seinerzeit anblickte.
Zu Kafkas Lebzeiten wurde vom Amerika-Roman allein das erste Kapitel unter dem Titel „Der Heizer“ veröffentlicht. Seltsam, dass komische Effekte hier nur wenige zu finden sind, während sie ab dem zweiten Kapitel sich häufen. Leicht komisch ist die kurze Passage, in der Karl Rossmann und der Heizer die Schiffsküche passieren, wo es von den lachenden Mädchen und ihren Schürzen etwas anzüglich heißt: „Sie begossen sie absichtlich.“ „Der Onkel“ (Kap. 2) ist ergiebiger. Schon die Figur eines superreichen Onkels in Amerika an sich ist ein witziger Griff in die Kiste banaler Klischees – und trefflich ausstaffiert ist er, dabei nicht unverdächtig, er hat Züge eines diskreten Sadomasochismus. Er lässt den Neffen extrem früh aufstehen, zwingt ihm ein närrisch überladenes Erziehungsprogramm auf und berauscht sich an Karls Rezitation eines Gedichtes über eine Feuersbrunst. Die leise Komik erreicht ihren Höhepunkt, wenn sich frühmorgens zackiger Reit- und übermüdeter Englischlehrer in der Reitschule ein Stelldichein für Karl geben müssen. Ins Satirische hinüber spielt die Darstellung der Betriebsabläufe in einem der Unternehmen des Onkels: Das Grüßen ist da gänzlich abgeschafft.
Noch grotesker geht es danach in „Ein Landhaus bei New York“ (Kap. 3) zu. Das Essen dort gerät zur Tortur, die Tochter Klara neigt zu knabenverschlingendem Ringkampf, ein Fenstersturz wird knapp vermieden. Und: „Das Haus war eine Festung, keine Villa.“ Aber überall Zugluft und Kerzenflecke. Onkels Scheidebrief, mit dem das Kapitel schließt, ist ein prachtvolles Kabinettstück in einem halb sentimentalen, halb sarkastischen Tonfall.
Auf dem „Weg nach Ramses“ (Kap. 4) erweist sich der zu Beginn des Romans verloren gegangene, zuletzt glücklich zurückerhaltene Koffer – nur störend inzwischen der Geruch nach der Dauersalami in ihm - als schwere Last und Ausgangspunkt der Entzweiung mit den neuen Gefährten Delamarche und Robinson. Hier wird besonders ein Hauptmechanismus der Komik bei Kafka deutlich, es ist wie bei den altbekannten Tantalusqualen: Dem Versprechen auf Glück und Befriedigung folgt die Enttäuschung auf dem Fuß, und zwar auf eine den Leser leicht belustigende Weise. In dieser Richtung geht es auch im „Hotel Occidental“ (Kap. 5) weiter. Die goldglänzende Uniform des Liftjungen, in die man Karl steckt, ist atembeklemmend eng und überdies feucht von altem Schweiß.
Von ernsterem Charakter dann „Der Fall Robinson“ (Kap. 6), schon mit deutlichen Parallelen zum späteren Roman „Der Prozess“. Lächerlich ist hier der grundlegende Kontrast zwischen tatsächlich Vorgefallenem und dem immer mehr aufgebauschten Ermittlungsergebnis - ein Unschuldslamm wird zum Verbrecher stilisiert. Kleine humoristische Ornamente fehlen dabei nicht: So wird Karls Rock hinten glatt gezogen, da Falten stören, oder ein Kragen muss noch geglättet werden, während es doch um Karls Rauswurf geht. Der Oberportier ist die gröbere Version eines makaber-komischen Sadisten und er weiß auch, was vergnüglich daran ist, Karl zu piesacken: „Aber da du nun einmal da bist, will ich dich genießen.“ Sagt dieser gemütliche Unmensch.
„Ein Asyl“ (Kap. 7) – da ist schon der Titel, obgleich von Max Brod stammend, reine Ironie. Der Zwangsdienst bei Brunelda ist eher die Hölle, allerdings eine denkbar komisch organisierte. Die verfettete Sängerin inmitten von Schmutz und Unordnung ist zugleich eine pedantische Despotin – und natürlich wieder sadistisch, mit menschelnden Zügen dazwischen. Die herrliche Jagd nach einer Parfümflasche, die gar nicht existiert und auf der sie ihre Geschöpfe Delamarche, Robinson und Karl durch das Zimmerchaos hetzt, das ist eine der größten Possen in Kafkas Werk überhaupt. Mehr Tiefgang hat indessen Karls Blick hinab vom Balkon auf den Wahlkampfauftritt eines Richterkandidaten, auf jene Glatze mit Zylinder. Die Komik liegt in der Perspektive von oben, die die Vorgänge zu ebener Erde scheinbar verzerrt und sie gerade dadurch zurechtrückt. Der Auftritt des Kandidaten endet in einem Tohuwabohu von Anhängern und Gegnern und seine Rede kann jetzt ebenso gut bloß Ruf um Hilfe in größter Not sein - Kafka trifft sich mit Chaplin.
Dem abschließenden Kapitel „Das große Naturtheater von Oklahoma“ fehlt die vorher oft anzutreffende aggressive Note der Komik. Sie ist jetzt zärtlicher, etwa wenn die als Engel verkleideten Trompeterinnen blasen, jeder Seines, eine tolle Kakophonie, es ist auch visuell ein Durcheinander, doch Auge wie Ohr nicht unangenehm. Die Aufnahmekanzleien mit ihren seltsamen Prozeduren sind schon bedenklicher. Immerhin wird Karl angenommen und sein Name erscheint wie der aller anderen Neueinstellungen auf der Anzeigetafel, die sonst die Siegerpferde verzeichnen – wir sind ja auf einer Pferderennbahn, auch dies ein tiefsinniger Scherz.
Das Schlusskapitel ist Fragment geblieben, mithin auch der ganze Roman. Nach Max Brod war ein Happyend geplant. Insofern fällt eine zuverlässige Einordnung der komischen Anteile in die Architektur des vorgestellten Gesamtwerks etwas schwer. Schließen wir daher die Betrachtung mit zwei vielleicht aussagekräftigen Zitaten, die Fingerzeige für weiterführende Interpretation geben könnten:
„´Ich bin doch schon entlassen´, sagte Karl und meinte damit, dass ihm im Hotel niemand etwas mehr zu befehlen habe. – ´Solange ich dich halte, bist du nicht entlassen´, sagte der Portier, was allerdings auch richtig war."
Drückt der letzte Halbsatz nicht auf für Kafka typische Weise eine leise ironische Feststellung der Macht des Faktischen aus? Oder nun die umgekehrte Konstellation:
„´Ja, frei bin ich´, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser."
Die Kafkasche Komik erscheint als das zwangsläufige Nebenprodukt eines mit Isolationsschmerzen verbundenen Freiheitsgefühls, wie das nachhallende Echo der äußeren Welt in der Einsamkeit der inneren.
Die amerikanische Originalausgabe von Friedländers Buch trägt den Titel „Franz Kafka. The Poet of Shame and Guilt“. Die deutsche Übersetzung, erschienen 2012 bei C.H. Beck, muss ohne den Untertitel auskommen – das zeugt von einer gewissen verlegerischen Mutlosigkeit, womit man leider die Souveränität und geistige Offenheit des Autors konterkariert. Dabei hatte Saul Friedländer die Vorsichtsmaßnahme aufgrund seines längst etablierten Rufs als Autor nicht einmal nötig. Der israelische Historiker, geb. 1932 in Prag, hat mit „Das Dritte Reich und die Juden“, eines der großen, bleibenden Bücher über den Holocaust geschrieben. Jetzt präsentiert er, der jahrzehntelange Kafka-Leser und –kenner, das Wesentliche seiner Gedanken über den Dichter in einem 250 Seiten starken Buch, das er als „biographischen Essay“ bezeichnet. Die deutsche Ausgabe war noch vor der amerikanischen auf dem Markt und fand bald zahlreiche, überwiegend positive Rezensionen. Dieses Echo allerdings konzentrierte sich seltsamerweise dann doch auf „Scham und Schuld“, und zwar vor allem auf mit der Sexualität zusammenhängende. Damit verzerrte man den Inhalt des Buches in genau in der Weise, die der Verlag mit seiner schamhaft-schüchternen Titelvergabe vermutlich hatte vermeiden wollen.
In der Tat durchleuchtet Friedländer auch Kafkas problematische Sexualität und ihre Auswirkungen auf Leben und Werk. Er kommt dabei zu durchaus nachvollziehbaren, jedoch eben nicht spektakulären, d.h. allzu eindeutigen Festlegungen. Vielmehr sehen wir dank Friedländer insoweit nun einen Komplex von möglichen Ursachen und Wirkungen, der die Interpretation zahlreicher Werke Kafkas bereichern kann, ohne die tradierte grundlegend umzustürzen. Dieses Muster – Kafkas Prosa durch vertiefte Kenntnis seiner Lebensumstände noch besser erklären zu können, ohne den Autor auf etwas bestimmtes Einzelnes sozusagen festzunageln – zieht sich durch das gesamte Buch von Friedländer. Damit steht er selbst in einer Tradition, die Kafkas Werk immer neue Facetten von Interpretationsmöglichkeiten abgewonnen hat.
Friedländer beginnt seine Studie mit einer Untersuchung zur Vater-Sohn-Problematik, erörtert dann die Situation des Judentums damals in Prag wie überhaupt in Mittel- und Westeuropa, und erst Kapitel 3 befasst sich mit „Liebe, Sex und Phantasien“. Dabei sind diese drei grundlegenden Kapitel annähernd gleich lang. Im zweiten Teil setzt Friedländer nacheinander diese Schwerpunkte: das Werk, das auf der vorher beschriebenen Basis entstand (mit besonders ausführlicher Interpretation von „Ein Landarzt“) – das Umfeld, in dem der erwachsene Franz Kafka lebte und schrieb (Umgang mit Zeitgenossen, die politische Geschichte, geistige Einflüsse) – schließlich die Frage, welche existenzielle Bedeutung das Schreiben für Kafka besaß.
Der Autor setzt sich häufig mit der bisherigen Sekundärliteratur zu Kafka auseinander, stimmt zu, widerlegt, schließt sich zum Teil an oder formuliert Fragen. Dieses Verfahren sprengt gelegentlich den Rahmen eines längeren biographischen Essays, nimmt dann Züge eines stark verkürzten wissenschaftlichen Diskurses an, dem ein weniger gut unterrichteter Leser nicht immer leicht folgen kann. An vielen anderen Stellen profitiert er indessen von der gleichen kritischen Methode. Insbesondere wird für ihn deutlich, wie sehr Max Brod das Kafka-Bild über Generationen geprägt und zum Teil auch entstellt hat. (Dennoch schulden wir Brod immerwährenden Dank dafür, dass er den zur Vernichtung bestimmten Nachlass veröffentlicht hat, das wiegt alle Kritik an ihm auf.) Friedländer widerlegt so z.B. die Legende vom zu Sozialismus und Anarchismus neigenden Kafka, die noch Klaus Wagenbach in seiner Biographie von 1964 gern aufgegriffen hat. Kafka, wie ihn die neue Biographie vorstellt, scheint relativ apolitisch gewesen zu sein.
Friedländers Buch ist in bestem Sinne geistig anregend – anregend zur Begegnung oder Wiederbegegnung mit Kafka selbst und anregend dazu, sich mit der zitierten weiterführenden Literatur zu beschäftigen. Saul Friedländer hat ein Buch geschrieben, das fruchtbar werden kann.
Bei der Lektüre von Kafkas Erzählungen – oder wenn wir uns später an sie erinnern – konzentrieren wir uns leicht auf die surrealen Elemente. Da sind die Tiere – ein Riesenkäfer, ein Hund, Mäuse oder ein Affe -, die, obgleich keineswegs vermenschlicht, doch mit scharfem menschlichem Verstand ausgestattet sind. Sie analysieren sich selbst in ihrer Tierhaftigkeit und lassen zugleich die verwandten animalischen Züge des Menschen zutage treten. Oder die phantastischen, stets fruchtlosen Zeitabläufe, etwa „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ oder „Vor dem Gesetz“; die unglaubliche Kunst des „Hungerkünstlers“; die anscheinend mit Willen und Bewusstsein ausgestatteten Spielbälle in „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“. Es ist zu Recht oft bemerkt worden, dass solche Sequenzen Traumcharakter haben. Sie sind wie Alpträume, die in ihrer konkreten Ausgestaltung hyperrealistisch wirken, so sehr, dass wir lesend erschrecken, als hielten wir träumend den Schrecken für real.
Daneben gibt es den Kafka, der die, häufig banale, Realität des menschlichen Lebens auf ihrer alltäglichen ökonomischen, psychologischen oder sonst wie gelagerten Ebene so akkurat, ja übergewissenhaft und dabei mit größtmöglicher stilistischer Brillanz darstellt, bis wir glauben, das quälend Realistische wäre ein Alptraum und wir eben aus ihm aufgewacht. Für dieses Verfahren stellt die kurze, erst posthum veröffentlichte Erzählung „Das Ehepaar“ ein gutes Beispiel dar. Der Text verzichtet auf Surreales vollständig. Der Ablauf ist mehr oder weniger alltäglich, bis auf den Plot, der einer heutigen Kurzgeschichte noch gut anstünde, gäbe es die von Kafka nicht bereits.
Der Ich-Erzähler ist ein Geschäftsmann und berichtet vom Aufsuchen eines Geschäftsfreundes in dessen Privatwohnung. Mit wenigen Worten wird die allgemeine Wirtschaftslage angedeutet: Depression und Labilität bestimmen sie. Der Geschäftsfreund ist ein leidender alter Mann. Der Erzähler trifft ihn an, wie er gerade mit seiner Gattin von einem Spaziergang heimgekehrt ist. Man begibt sich in das Zimmer des Sohnes, der gleichfalls krank ist. An dessen Bett sitzt bereits, zum Missvergnügen des Erzählers, ein geschäftlicher Konkurrent, der im Erzähler wie im Sohn sublime ambivalente Regungen hervorzurufen scheint. Es folgen die scheinbar sinnentleerten Reden oder Handlungen der männlichen Akteure, bis der alte Mann plötzlich alle Anzeichen einer Agonie aufweist und dann tatsächlich tot zu sein scheint. Die hilflose Verlegenheit der drei übrigen Männer endet, als die vermeintlich Witwe Gewordene aus einem Nebenraum zurückkehrt und den vermeintlich Toten als nur schlafend bezeichnet. In der Tat verhält es sich so, und aufgewacht entfaltet der Alte sogleich eine unangenehme Rührigkeit. Der Erzähler sieht ein, dass hier kein Geschäft mehr zu machen sei, und tritt den Rückzug an.
Der Text wäre nicht von Kafka, wenn er nicht voller Anspielungen und Deutungsmöglichkeiten steckte. So fällt auf, dass der Sohn („ein Mann in meinem Alter“) Symptome von Tuberkulose haben könnte – Kafka war selbst zum Zeitpunkt der Niederschrift unheilbar an ihr erkrankt. Der alte Geschäftsfreund verweist mit seiner Mischung aus Hinfälligkeit und Dominanz auf Kafkas eigenen Vater. Wenn der Sohn dem Erzähler mit der Faust droht, um ihn gegenüber dem Vater zum Schweigen zu bringen, verrät sich damit möglicherweise ein innerer Konflikt des Schreibenden. In diesem Fall wären Sohn und Erzähler identische Figuren, verschieden nur wie Freudsche Instanzen. Der Erzähler vermerkt dazu passend zur alten Gemahlin, „dass sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere“. Überdies ist die Aufspaltung einer Person dem Autor Kafka nicht fremd. Schon in „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ bleibt Raban im Bett liegen und sagt sich: „Ich schicke meinen angekleideten Körper.“
Andere Details können als sexuelle Anspielungen verstanden werden: das Gefuchtel des Konkurrenten mit seinem Hut – „in seinem schönen, offenen, aufgebauschten Mantel saß er großmächtig da“ - als exhibitionistische Geste, fraglich nur wem gegenüber; die intensiven Bemühungen der alten Frau um den Pelz des Gatten – „unter dem sie fast verschwand“ – als Liebesspiel unter Senioren; und wenn der Alte sich nach seinem Erwachen aus dem todesähnlichen Schlaf zur weiteren Erholung einfach zum schwerkranken Sohn ins Bett legt, in die Zeitung schaut und gleichzeitig die zwei Besucher barsch abfertigt, so haben wir damit den restituierten Patriarchen vor uns, der den ödipalen Zweikampf wie den geschäftlichen für sich entschieden hat. Die Fülle der Interpretationsmöglichkeiten ist hiermit bloß angedeutet.
Ums Geschäftsleben geht es in diesem Kafka-Text am wenigsten. Womöglich ist „Geschäft“ nur eine Chiffre für Produktion und Vertrieb eigener literarischer Werke, Kafkas Hauptberuf nach seinem Verständnis, das Kafka senior durchaus nicht teilte. Stärker schimmert die häusliche familiäre Konstellation durch, wenn auch bearbeitet und gegenüber dem Original variiert, auf jeden Fall ein Alt-Prager Neurosen-Gärtlein. Darauf und auf den fließenden Übergang zwischen Traum und Realität bezieht sich schon jene berühmte Briefstelle in der Korrespondenz mit Max Brod: „Ich jause im Garten.“ Das hörte der aus einem Nachmittagsschlaf eben erwachte junge Kafka eine Nachbarin seiner Mutter draußen zurufen, und er resümiert gegenüber Brod später: „Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen.“ Dieses Erstaunen über die Leidensfähigkeit beim Erdulden des für ihn kaum Erträglichen ist eine der Triebfedern der Kafkaschen Produktivität: Leben scheint ihm wie Alpträumen und Alpträume wie gelebtes Leben, beides nur schreibend zu ertragen.
Bei der Kafka-Lektüre lohnt es sich, das Hauptaugenmerk von den phantastischen Elementen ab- und den realistischen zuzuwenden. Es kann die Entschlüsselung erleichtern, die gleichwohl zu bewältigen ist. „Das Ehepaar“ – der Titel ist nicht von Kafka, sondern von Max Brod – stellt sich dann als kurzes familiäres Drama heraus, in dem auf ein paar Seiten in verhüllter Form die großen Schrecken der modernen Kleinfamilie behandelt werden: erzwungene Nähe, Konkurrenz, Versagen und Versagung, Frustration …
Wer zur Kafka-Rezeption im Netz recherchiert, stößt bald auf ein Phänomen: Schülerfrust. So liest man etwa: „Die Abi-Pflichtlektüre ‚Der Process’ war ihm zu langweilig …“ Und eine wissenschaftliche Untersuchung spricht gar von „Schockzuständen leseunerfahrener Schüler“. Gewiss war Kafka einer der ganz Großen der Literatur der Moderne – seinem Andenken erweist man einen Bärendienst, wenn man ihn der Jugend mit System verleidet. Es kommt darauf an, Texte von Kafka so zu erschließen, dass junge Menschen unmittelbaren Zugang finden, sich mit Lust auf ihre Details einlassen. Wie kann das funktionieren? Bleiben wir beim Roman „Der Prozess“ …
Man könnte damit beginnen, die jungen Leser Namen von Romanfiguren sammeln, ihre Assoziationen aufschreiben zu lassen und dann darüber zu reden. Was ist auffallend am jeweiligen Namen, welche Tendenzen zeichnen sich ab, welches Bild vom Leben steckt dahinter? Dass Kafka die Namen seiner Figuren sehr bewusst gewählt hat, wird bald deutlich. Bei einigen liegt eine Interpretation nahe, so bei Staatsanwalt Hasterer – er ist der eifervoll Hastende bei seinem Geschäft. Fräulein Montag ist der passende Name für eine puritanisch graue Maus. Doch die Mehrzahl der Namen lässt – für Kafka bezeichnend – verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu, je nach Standpunkt und Struktur des individuellen Lesers. Warum heißt die Zimmerwirtin wohl Grubach? Ist Huld für einen Anwalt, der die Interessen seines Klienten zu vertreten hat, nicht ein seltsamer Name? Der Maler Titorelli – das erinnert von fern an den großen Tintoretto, das Weglassen des N und erst recht die Endung –relli durchkreuzen die würdevolle Assoziation, verschieben sie ins Läppische. Aufmerksamen jungen Lesern wird nicht entgehen, dass der Onkel des Helden mal Karl und mal Albert heißt. Ist es ein Versehen des Autors, der Roman blieb schließlich Fragment, oder welche Bedeutung innerhalb des Textes könnte damit verbunden sein? Der Gehalt des Romans scheint sich infolge dieser Fragen wie hinter einem Spiralnebel zu verbergen. Das könnte Neugierde erregen, hinter seine Geheimnisse zu kommen.
Und der Held Josef K. – steht die Initiale für Kafka selbst? Und was signalisiert der Vorname: vielleicht keuscher Josef? Und wenn seine Freundin Elsa heißt, ist Josef K. dann etwa ihr Lohengrin: Nie sollst du mich befragen? Dass die Namenswahl sich auch auf sexuelle Problematiken bezieht – vielleicht sogar vor allem auf sie -, verrät sich schon am Beispiel von Fräulein Bürstner. Der halbwegs gewitzte Schüler kommt der Bedeutung ihres Namens mit Hilfe von http://www.fremdwort.de auf die Schliche …
… womit wir beim pikanteren Teil des Unterrichts angekommen sind, der noch mehr Interesse finden dürfte. Da wird es eher dem Pädagogen als den Schülern zu bunt. Viel anzügliches Material: von der simplen, nymphomanischen Gerichtsdienerfrau über Leni, Hulds Gehilfin, die Erotomanie mit Kalkül zu verbinden weiß, hin zu zwei sadomasochistischen Szenen homoerotischer Art. Und dann die kleinen Mädchen bei Titorelli mit ihrer „Mischung aus Kindlichkeit und Verworfenheit“! Selbst Titorellis Hose macht sich verdächtig, sie ist „mit einem Riemen festgemacht …, dessen langes Ende frei hin und her schlug.“ K., dem es in dieser Lasterhöhle von Maleratelier bald zu heiß wird, legt ab und die durch die Ritzen der Wand spähenden Mädchen triumphieren: „Er hat schon den Rock ausgezogen!“ Und der Maler später zu ihm: „Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett, das tut jeder, der hier hereinkommt.“
Die angeführten Stellen in der Titorelli-Episode haben zumeist vordergründig eine banale Bedeutung, die jeden erotischen Bezug zu entbehren scheint – ein augenzwinkerndes Spiel mit vorgetäuschter Harmlosigkeit. Es verstärkt noch die Komik, die schon daraus resultiert, dass K. und der Maler im Atelier juristisch spitzfindig die Abläufe eines absurden Gerichtsverfahrens durchgehen. Komik ist auch in diesem Roman ein großes Thema. Insoweit ragen zwei Nebenfiguren heraus: K.s plump-geschäftiger Onkel aus der Provinz und der Direktor-Stellvertreter mit seiner kaltschnäuzig lächelnden Überlegenheit. Eine komische Rolle spielen wiederholt Stickluft und Luftknappheit. Den stärksten tiefgründig humoristischen Effekt erreicht Kafka, wenn er Titorelli eine Serie identischer Heidebilder an K. verhökern lässt.
Kafka war freilich kein Humorist. Damit stellt sich die Frage, welche Funktion die Komik innerhalb seines Werkes hat. (Mit ihr könnte eine Unterrichtseinheit abschließen.) Ist sie mildernd, versöhnlich oder gar ein Moment der Befreiung? Erhöht sie den ästhetischen Wert eines literarischen Kunstwerks? Oder unterstreicht sie auf ihre Weise noch das pessimistische Bild vom Prozess des Lebens, das der Roman entwirft? Hält es Kafka mit Schopenhauer, der im Leben jedes Einzelnen ein Trauerspiel gesehen hat, ein zwangsläufiges und ein stets missglücktes dazu, da es den Akteuren an Wert und Würde mangele, so dass sie nur läppische Lustspielcharaktere abgäben? In der Tat sprechen die letzten acht Wörter des Romans für eben diese Sicht – „es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Man muss zugeben, das ist keine ermutigende Botschaft. Vielleicht rührt die Abneigung so vieler jugendlicher Leser Kafka gegenüber weniger von Leseunerfahrenheit her als vielmehr von instinktiver Abneigung gegen ein Wissen, das sie noch früh genug selbst erlangen werden.
Kafka in der Schule lesen oder lieber doch nicht? Vielleicht sollte man ihm zweimal im Leben lesen, d.h. in der Jugend befremdet von ihm sein, um ihm im Alter einsichtsvoll wieder zu begegnen.
Carlo Emilio Gadda wagt in diesem Roman stilistisch den großen Spagat zwischen seinem üblichen verschachtelt-humoristischen „Makkaroni“-Erzählstil und lapidaren Äußerungen von Romanfiguren voll äußerster Tristesse und Verzweiflung. Zunächst ein Beispiel für Ersteres. In Kapitel 7 leitet der Autor die anstehende nächtliche Vernehmung der Prostituierten Ines dadurch ein, dass er einen Polizisten zum zweiten Mal eine Brotzeit bestellen lässt:
„Pompeo seinerseits sah keinerlei Gegenindikation, welche dem Introitus einer Wiederholung des Sieben-Uhr-Brotes in Stiefelgröße entgegenstünde: diesmal mit Einlage von Roßbiff und gekochter Mortadella in Wechselschichten, von den höchst erfahrenen, molligen Fingern des Nudelkochs weich aufs Brotkanapee gebettet: welches er schließlich – durch einen Blick die Zulassung erteilend – mit dem vorausgeschnittenen und zur Seite gelegten Brotdach (der oberen Hälfte) bedeckelte: indem er selber die Unterlippe vorschob, kaum einen Millimeter zwar: während der komprimierte und sozusagen gegen den Kragen (wenn er einen Kragen überhaupt trug) geplättete Halsspeck ihm die Frühjahrskrawatte zudeckte, den gepünktelten Schmetterlingsbinder in Erbsgrün.“
Für einen Kriminalroman, in dem es vordergründig um die Aufklärung von Raub und Raubmord geht, ist das ein seltsamer Einschub. Gadda zieht hier im auktorialen Erzählstil die Register eines bei aller Eleganz der Formulierung doch etwas platten Humors: verfressener Polizist, korpulenter Koch, die Parallelität von Stulle und Doppelkinn. Unmittelbar danach hat die arme Ines dann allerdings nichts zu lachen. Das lange, bohrende Verhör entreißt ihr den Namen des Mannes, der sie mies behandelt hat, den sie noch immer liebt und den die Polizisten als einen Hauptverdächtigen betrachten. Der Autor nähert sich, für ihn typisch, allmählich dem personalen Erzählstil und wir sehen die Dinge schließlich mit den Augen der Prostituierten an. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung heißt es dann:
„Nackt kam sie sich vor, unbewehrt, gegenüber der Macht der Inquisitoren über Nacktheit und Schmach, von welchen sie, wenngleich ohne Hohngelächter, doch gerichtet wurde: nackt, unbewehrt: wie sie es sind, die Töchter, die Söhne ohne Schutz, ohne Schirm, in der bestialischen Arena dieser Erde …“
Nur noch formal ist das derselbe Makkaroni-Stil. An die Stelle der Komik einer von außen und mit leichter Boshaftigkeit beobachteten Imbiss-Szene ist die tief von innen kommende Klage einer elenden jungen Frau getreten: Bestialische Arena dieser Erde …! Diese Stelle hat eine Entsprechung, die noch stärker berührt. Der Kriminalist Ingravallo versetzt sich in Kapitel 2, gewissermaßen stellvertretend für den Erzähler, in das Mordopfer Liliana Balducci, und zwar in ihren letzten Minuten und Sekunden. Das Erleben ihrer eigenen Vernichtung ist höchst prägnant beschrieben und umfasst als Fazit, als letzte Erkenntnis, bevor ihr die Kehle durchgeschnitten wird: „Die unerwartete Wildheit der Dinge, plötzlich enthüllte sie sich ihr … flüchtige Jahre!“
Demgegenüber noch ein Beispiel für den auch mit ernsteren Verhältnissen seinen Schabernack treibenden Autor. Die Ermittlungen zum Kriminalfall verlagern sich in der zweiten Texthälfte von Rom in die ländliche Umgebung („Castelli Romani“). Hier wird der Maresciallo Santarella dadurch lächerlich gemacht, dass er bei seinem ersten Auftritt der höchst verdächtigen „Hexe“ Zamira etwas zum Färben bringt:
„Frauenunterleibchen waren’s, diese Pakete: denn der Maresciallo Santarella, der eines Tages ein Weib zum Altar geschleppt hatte (und noch nicht mal so geschwollen war sie), lebte mit neun Weibern: die Frau, deren alte Mutter und eine etwas blöde Schwester, dann die eigene Schwester, völlig unbefleckt, mit allen psychischen Schnörkelzeichen der Unbeflecktheit, welche Schwestern befallen, drei Töchter, noch nicht im Alter, um etwa nicht mehr unbefleckt zu sein, und zwei Untermieterinnen, Zwillinge, einstmals auf bestem Wege, aus der Unbeflecktheit herauszutreten, nunmehr jedoch (nach gleichzeitigem Entfleuchen des erhofften Ent-Unbefleckers, welcher, nachdem er sich nicht für eine der beiden hatte entscheiden können, sie beide hatte sitzenlassen, ehe er noch … Hand angelegt hatte), nunmehr also endgültig in die Unbefleckheit zurückgekehrt.“
Dieser überlange Satz, mit der Assoziation von Chemischer Reinigung – Zamira betreibt eine – und Befleckung im Sinne von Entjungferung spielend, liest sich wie eine Parodie auf Proust, der alles genau weiß und es genauestens mitteilen muss. In Teilen könnte man Gaddas Roman, der ja viel mehr Sozial- und Milieustudie als Kriminalgeschichte ist, allerdings auch als komische Version von Joyce’ „Ulysses“ auffassen. Am ehesten gerecht wird man Gaddas Genie, wenn man die „Via Merulana“ als eine in Stil und Weltbild barocke Angelegenheit betrachtet, beeinflusst vielleicht von neuesten Erkenntnissen der Physik (Ingravallo als Vorläufer der Chaostheorie?). Es geht jedenfalls um eine Welt zwischen Eros und Tod, zwischen liebenden Vereinigungen und endgültigem Abscheiden. (Nebenbemerkung: Viel weniger überzeugend ist der Roman als zeitgeschichtliche Abrechnung mit dem Mussolini-Regime. Zwar wird der Diktator in dem kurz nach Kriegsende geschriebenen Buch häufig als lächerliches Hassobjekt eingeflochten, doch erscheinen diese Stellen allzu stereotyp, um tief empfunden oder durchdacht zu sein – Gadda war zudem in jungen Jahren selbst Mitglied der Faschisten-Partei. Die Funktion der Tiraden gegen Mussolini für den Roman erschließt sich gewöhnlich nicht. Polizeiarbeit und Verfolgungsdruck dürften vor wie nach Mussolini sich nicht viel anders dargestellt haben als hier 1927, dem Jahr der Romanhandlung.)
Eine weitere mögliche Assoziation: Der Roman erinnert in seinem Auf und Ab, mit seinem Hin und Her an Tango-Musik, ein Musikstil, der in Europa in Mode kam, als Gadda jung war. (Als Elektroingenieur hat er damals selbst eine Zeitlang in Argentinien gearbeitet.) Man kann den Text lesen wie man eine zwischen Elegie und Groteske schwankende Musik, etwa von Astor Piazzolla, anhört. Gadda beherrscht meisterhaft sein literarisches Bandoneon, sein Pizzicato.
Es herrscht Ausgewogenheit zwischen Frauen und Männern, der Zahl nach wie bei ihrer kritischen Würdigung durch den Erzähler. Die Geschlechter sind in einen Reigen umeinander gebannt, Männer um Frauen, Frauen um Männer, Frauen um Frauen, der Erzähler seinerseits um all seine Figuren. Die Namen sprechen oft für sich. Liliana Balducci ist die Reine, Unschuldige, allerdings stark angekränkelt durch die Tatsache ihrer Kinderlosigkeit. Die junge Ines ist zwar dem Dienst der Venus geweiht, doch nur aus materieller Not und im Elend gefangen. Die Zamira als Wahrsagerin, Zuhälterin, Hexe und alte Vettel ist so bewusst überzeichnet, dass sie als Kunstfigur der Misogynie schon wieder durchgehen kann. Die Kusinen Mattonari, bei der Zamira als Nähmädel beschäftigt, so verschieden wie möglich, einander spinnefeind, ergeben einen weiteren tragikomischen Kontrast. Mit Lilianas früherem Dienstmädchen Assunta (= die in den Himmel Aufgenommene) bricht der Roman in Kapitel 10 überraschend ab. Ist er Fragment geblieben oder die Handlung an ihr Ziel gekommen: größtmögliche Verwirrung? Die möglichen, ja wahrscheinlichen Haupttäter sind herausgefunden, doch erfahren wir nichts mehr von deren Festnahme und endgültiger Aufklärung.
Der Kriminalist Ingravallo steht dem Erzähler offenkundig am nächsten. Er vertritt dessen Theorie von der „Vielzahl von konvergierenden Ursachen“ und in ihm spiegelt sich zum Teil Gaddas eigene Homosexualität verstohlen wider. Ingravallo schätzt die schöne, unfruchtbare Liliana als reine, anbetungswürdige Frau. Das hat etwas von asexuellem Minnedienst. Andererseits begehrt er Assunta körperlich. Er wie der Erzähler empfinden instinktiv intensive Abneigung gegen attraktive heterosexuelle Männer, die Frauenhelden sind, wie Lilianas Vetter Valdarena oder die vermutlichen Haupttäter Iginio und Diomede. Seine Antipathie verleitet Ingravallo wiederholt dazu, in falsche Richtung zu ermitteln. Ganz anders der Brigadier Pestalozzi, der auch privat in jenem subproletarisch-ländlichen Milieu verkehrt, in dem die Täter zu suchen – und die geraubten Juwelen ebenfalls: Pestalozzi spürt sie auf. Zwischen flatternden Hennen, einem tobsüchtigen Köter und aus einem Nachtgeschirr kollernden Nüssen entdeckt er sie. Hier ist Gadda auf der Höhe seines bitter-humoristischen Erzählens. Und während Pestalozzi zielstrebig ermittelt, wirft der Erzähler zwischendurch interessierte Seitenblicke auf dessen jüngeren Kollegen, den „braven Knaben“. Sagen wir es so: Bei der Darstellung der Frauen sehen wir eine Empathie des Herzens am Werk, bei jener der Männer eher eine der Sinne.
Der abrupte Schluss bleibt zweideutig. Worüber empfindet Ingravallo mehr Scham: über sein Abirren beim Aufklären oder dessen subjektiven Gründe? Der letzte Satz des Buches:
„Diese schwarze, senkrechte Falte zwischen den beiden Brauen des Zorns, im schneeweißen Antlitz des Mädchens, sie lähmte ihn, verführte ihn zum Nachdenken: zur Reue fast.“
(Alle Zitate nach der Übertragung ins Deutsche von Toni Kienlechner für den Piper Verlag.)
Verstörend am 1. Weltkrieg sind für Nachgeborene schon die Größenordnungen, die Menschenmassen, die verheizt wurden. Dies gilt auch für Nebenkriegsschauplätze wie die italienisch-österreichische Front. Als Italien Ende Oktober 1917 bei der Schlacht von Caporetto katastrophal unterlag, gerieten allein dabei 300.000 Soldaten in Gefangenschaft. Diese waren in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich in Lagern unterzubringen, zu bewachen, zu ernähren. Letzteres war im Hungerwinter 1917/18 fast unmöglich. Die Unterernährung begünstigte erst die Tuberkulose, später die Spanische Grippe. Viele Tausende überlebten die Gefangenschaft nicht. Carlo Emilio Gadda (1893 – 1973) konnte Anfang 1919 heimkehren, physisch in leidlichem Zustand, seelisch instabil – und mit einem Tagebuch aus der Zeit in Deutschland. Er veröffentlichte es 1955. Erst 2014 kam es im zu Klampen Verlag in Übersetzung heraus, zusammen mit weiteren Texten: „Die Baracke der Dichter – Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918 – Texte aus der Kriegsgefangenschaft“.
Zufällig war der junge Gadda, später einer der renommiertesten Erzähler Italiens im 20. Jahrhundert, etwa zehn Monate lang in derselben Baracke in Scheuen wie die künftigen Literaturgrößen Tecchi und Ugo Betti untergebracht. Scheuen, ein kleines Heidedorf nördlich von Celle, später eingemeindet, wies mit auf dem Höhepunkt 30.000 Gefangenen eines der großen Lager auf, unter ihnen 3.000 Italiener. Im Lager befand sich auch Francesco Nonni (1885 – 1976), erfolgreicher Maler und Zeichner seiner Zeit. Von ihm illustrieren bedrückende Zeichnungen den Band, zusammen mit Fotografien von damals. Das verdienstvolle Buch ermöglicht mit seinen Dokumenten einen realistischen Blick auf die existentiell extreme Situation jener Zeit.
Noch bedeutsamer ist das Buch für ein vertieftes Verständnis von Gaddas Person und Werk. Hier ist allerdings kritisches Lesen angebracht. Der Herausgeber Oskar Ansull rechnet sich einer „gegenläufigen Heimatliteraturgeschichtsschreibung“ zu. Sein Bestreben, jene lange verdrängten Schrecken publik zu machen, ist ehrenwert. Dabei hat er sich leider einer vorhandenen kurzschlüssigen Tendenz angeschlossen, Gadda primär aus jenem Erlebnis von Krieg und Gefangenschaft zu erklären: „Krieg und Gefangenschaft haben den Autor Gadda geformt, und es brach die Wunde ein Vierteljahrhundert später erneut auf.“ Er zitiert auch Gustav Seibt, der im Akzente-Heft von 1993 über Gadda von der „Urkatastrophe“ Krieg und Gefangenschaft spricht. Und Ansull lässt Antonio Tabucchi (1943 – 2012) mit einem nicht durchweg überzeugenden Textauszug Gaddas Tagebuch kommentieren. Tabucchi zieht Parallelen zwischen Cervantes und Gadda und den Schlachten von Lepanto und Caporetto, wobei er davon absieht, dass jene Seeschlacht im Unterschied zur Niederlage von 1917 triumphal endete. Tabucchi: „Gadda beginnt … in der Lüneburger Heide, sich und seine Lage zu durchschauen. Ein gescheiterter bürgerlicher Intellektueller, der mit zigtausend anderen voll Opferbereitschaft und Selbsthingabe in den Krieg gezogen ist, die damit politische Hoffnungen verbanden, eine moralische Erneuerung der Gesellschaft ersehnten … Beide (d.h. Gadda und Cervantes) schrieben sich in ihren Gefangenschaften – und noch lange darüber hinaus – die Enttäuschungen und Irrtümer von der Seele …“
Mit Verlaub: Das kommt pseudoprogressiver Literaturgeschichtsfälschung nahe. Gadda entwirft von sich und seinen Motiven ein anderes Bild. Noch bei der Publikation des Tagebuchs nach dem 2. Weltkrieg versichert er, er sei kein Remarque und seine Einstellung zum Krieg sei im Wesentlichen unverändert. 1918 notiert er seine „Leidenschaft für den Krieg“. Er, der Kriegsfreiwillige, weiß, dass es im Celle-Lager zwei Parteien gibt, die für und die gegen den Krieg, und zwischen beiden ist „Hass“. Für die Gegenpartei steht Savini, „eine banale, bürgerliche, schüchterne Seele: ein ruhiges Leben, Geiz, nieder mit dem Krieg, wie viel Unheil hat der schon angerichtet, etc. etc“. Italien war schon vor und bei Kriegseintritt gespalten. Es kämpfte nicht nur für die Befreiung Trients und Triests, auch für rein imperialistische Ziele, den Erwerb der Adria-Ostküste, für Kolonien rund ums Mittelmeer. Es hatte 1911/12 der Türkei in einem Raubkrieg Libyen und den Dodekanes abgejagt. Libyen war im Weltkrieg der italienischen Kontrolle entglitten und musste also nach Kriegsende noch einmal erobert werden. Gadda kann sich in Celle gut vorstellen, dass er Offizier bleibt und auch in Libyen dabei ist. (Dazu kam es nicht, vielleicht auch aufgrund des Kriegstodes des einzigen Bruders.) 1921 tritt er Mussolinis Partei bei und macht 1923 in Argentinien Propaganda für den Duce. Nach dem 2. Weltkrieg textet er Tiraden gegen Mussolini - dem er zuvor in Fachaufsätzen pflichtschuldig gehuldigt hatte. Noch Jahrzehnte nach Gaddas Tod wird in Italien die Frage diskutiert, wie lange und wie intensiv er tatsächlich als Mitläufer einzuschätzen ist.
Ohne Zweifel waren Krieg und Gefangenschaft einschneidende Erlebnisse für den jungen Gadda. Sie haben eine vorbestehende Problematik verschärft und durch ihren Verlauf den Ausweg, den er für sich sah, verhindert. Gadda empfand sich als deklassierten Außenseiter. Die väterliche Textilfabrik war perdu, die Mutter hatte nach dem frühen Tod des Vaters Lehrerin werden müssen. Gadda bezeichnet sich wiederholt als „arm“. Dazu kommt die sexuelle Differenz. Er notiert, dass er allein in der Baracke kein Frauenbild am Bett befestigt hat. Da ist eine „adrette Wirtstochter“ – nur: „Keinerlei sinnlicher Gedanke in mir, sondern, ich weiß nicht wieso, Langeweile, Eintönigkeit und gereizte Nerven.“ Eine Bahnwärtertochter küsst er „nur anstandshalber“. Ihm imponiert bei allem sonstigen Hass auf das Militär des Feindes ein deutscher Leutnant: „groß gewachsen; kurze, trockene Befehle, undurchdringliches Gesicht; Marmorkatze. Das ist mein Ideal, das, was ich in meinem Paradestil zu erreichen gesucht habe.“ Nach Fotos von Gadda aus jener Zeit hat man sich diese Marmorkatze weniger schnarrend als vielmehr – schnurrend? vorzustellen.
Der Kriegsverlauf bleibt für Gadda trotz des Sieges eine persönliche Katastrophe, da er selbst sich infolge der Schlacht von Caporetto nicht hatte bewähren können. Sein Tagebuch lässt deswegen schon im Mai 1918 deutliche Schuldgefühle erkennen. Er entwickelt kompensatorische militärische Phantasien. Er konstatiert an sich: „schwerwiegende Defekte, negative Eigenschaften“. Und hier deutet sich jener andere Ausweg für den Unverstandenen, sozial nicht Akzeptierten an: „Die einzige lebendige und korrekte Form des Ausdrucks, die mir entspricht, ist die des niedergeschriebenen Gedankens.“ Das und nichts anderes ist der Ursprung der Gaddaschen Dichtung. Tecchi, der dann lebenslang mit ihm befreundet war, formuliert es ein halbes Jahrhundert später so: „ … dass sich aus einem so merkwürdigen Gewirr … von Skrupeln und Ressentiments, von Freundlichkeit und Schroffheit, von Unterwerfung und Revolte, von Höhenflug und Erschöpfung, aus einer so komplizierten Kette nicht nur eines, sondern vieler sogenannter Minderwertigkeitsgefühle unversehens jenes blendende Überlegenheitsgefühl ergeben würde, das bei Gadda die sichere Beherrschung des Wortes ist.“ Oder so: „Gadda … trug vielleicht schon jenen Urgrund von Bitterkeit in sich, jene Anwandlung von Rebellion gegenüber dem Leben, gegenüber dem Schicksal des Einzelnen und dem Schicksal aller, der er erst viele Jahre später Ausdruck verleihen sollte.“
Wir dürfen also vermuten: Gadda wäre auch ohne Krieg und Gefangenschaft im Wesentlichen der Gadda, wie wir ihn kennen, geworden.
INHALT:
1. Ein Held bei Flaubert: Dussardier
2. Flauberts Spätwerk als Vermessung der Langeweile
3. Flauberts Briefe, kein Roman seines Lebens
4. Kafkas Amerika-Roman - Die Komik des Schreckens
5. Über Saul Friedländers "Franz Kafka"
6. Kafkas "Das Ehepaar" - Realität als Alptraum
7. Kafka in der Schule lesen
8. Über Carlo Emilio Gaddas "Die grässliche Bescherung in der Via Merulana"
9. Die Baracke der Dichter: Gadda in Celle
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2016
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