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1. Bis an die Südgrenze

Ich stand allein vor dem Spiegel. Es war im Waschraum des Alabama, morgens um halb vier, und es war gerade keiner in der Nähe. Ich sah mich prüfend an. War alles in Ordnung?

     Es kommt nur selten vor, dass ich mich im Spiegel näher betrachte. Die Frage, ob ich gut aussehe, beschäftigt mich gewöhnlich nicht. Auch finde ich mich selbst nicht weiter problematisch. Menschen, die sich häufig spiegeln, wecken mein Misstrauen. Ihnen möchte ich nicht ähneln, auch deshalb vermeide ich gern den Blick in den Spiegel. Das ist noch kein Verdienst, ich weiß es.

     Diese Geschichte erzähle ich mir jetzt selbst. Als Gedächtnisprotokoll kommt sie Jahre zu spät. Doch habe ich mich schon damals, als der Film noch lief, fortlaufend vergewissert. Es gibt nichts zu beschönigen, auch nicht im Rückblick.      

     Ich hasse es, wenn einer sich selbst belügt. Oder genauer: wenn er es versucht und es ihm nicht gelingt und er trotzdem nicht damit aufhört. Bei mir war die Sache damals die: Ich wurde allmählich zu alt für die Disco. Es war weniger mein Äußeres, der Blick in den Spiegel bestätigte es mir: Mitte zwanzig und zum Glück nicht älter aussehend. Doch erschienen mir neuerdings die meisten anderen Besucher im Vergleich zu mir immer jünger. Auch das hing nicht allein mit dem Aussehen zusammen. Es war vor allem ihr Verhalten, es kam mir viel jünger als mein eigenes vor.

     Die meisten anderen ließen sich entweder treiben oder verfolgten leicht nachvollziehbare Zwecke. Einfach Spaß haben oder einen Partner finden, eine Partnerin natürlich, wenn es ein Mann war. Und ich? Meistens beobachtete ich damals die Paare. Was reizte mich daran? Wollte ich etwas von ihnen lernen? Ich glaube es nicht.

     Ich hatte keineswegs darauf verzichtet, Frauen kennenlernen zu wollen. Manchmal gelang es mir. Offen gestanden, es berührte mich nie sehr tief. Vielleicht ist das sogar der Normalfall. Ich sah lange keinen Grund, darüber nachzudenken.

     In dieser Nacht gab es wieder ein Pärchen, das mich stark anzog. Er sah ein wenig wie James Dean aus, auch wenn er dunkelbraune Haare hatte, genau wie die Frau an seiner Seite … Sie fand ich unvergleichlich. Schlank und fest. Selbstbewusster Blick. Alles sehr ebenmäßig und gepflegt. Ich bin nicht gut darin, eine Frau zu beschreiben, die mich beeindruckt.

     Unser Blickwechsel ging von ihr aus. Ich merkte, dass sie mit ihm über mich sprach. Dann tanzten die beiden, sie tanzten hervorragend. Ich dagegen bin nur ein mittelmäßiger Tänzer. Sie sah wieder ab und zu herüber. Da ging auch ich zur Tanzfläche, schon um nicht gewisse Vermutungen aufkommen zu lassen. Ich suchte dort die Nähe der beiden, und sie wandten sich mir allmählich zu, unmerklich, wie Blüten sich nach dem Licht drehen. Wir tanzten also zu dritt, so konnte ich es auffassen. Nach zehn oder fünfzehn Minuten hörten sie plötzlich auf, und ich ging hinaus, um mich abzukühlen.

     Ich sah ihn nun im Spiegel hereinkommen. Er trat auf mich zu. Ich drehte mich halb nach ihm um.

     Er sagte: „Du hast gerade mit uns getanzt, mit meiner Schwester und mir.“

     „Wenn du der Bruder bist.“

     „Was soll das? Natürlich bin ich der Bruder.“ Er sah mich unfreundlich an. Ich hatte ihn schon irritiert. Mit ihm würde ich nie klar kommen.

     Er fuhr fort: „Sie will einmal mit dir reden. Sie hat eine Bitte an dich. Kommst du mit mir? Sie wartet auf dem Parkplatz.“

   Wir gingen hinaus. Wenn wir eine Tür passierten, ließ er mich vorangehen. Das war nicht höflich, er führte mich fort, so kam es mir vor. Und tatsächlich, ich bin danach nie mehr ins Alabama gekommen …

     Ich konnte mir nicht vorstellen, worum sie mich bitten würde. Ich glaube, ich habe nicht zu viel und nicht zu wenig Phantasie. Nur in bestimmten Situationen versagt mein Vorstellungsvermögen vollständig. Das ist dann sogar von Vorteil. Man bleibt bis zur entscheidenden Sekunde kaltblütig. Wenn sie da ist, handelt man instinktiv, ich setze voraus: richtig.

     Das Auto sah nach Geld aus. Seine Schwester, halb im Stehen, halb auf der Kühlerhaube liegend, lehnte ihren Kopf gegen die Windschutzscheibe, das Gesicht in das halblange braune Haar gedrückt, die Beine dicht zusammen. So spielte sie die Übermüdete oder sogar die Schlafende und gab dabei vor, unser Näherkommen zu überhören. Im Profil ähnelte sie jetzt ihrem Bruder, ich hatte sie vorher so nicht gesehen. Ein Fuchskopf, wenig sympathisch. Als wir vor ihr stehen blieben und noch nichts sagten, gab sie ihre Verstellung schon auf. Sie löste sich vom Wagen, das Haar fiel herunter. Sie sah jetzt wieder aus wie beim Tanzen, elegant, gescheit, ein wenig burschikos.

     „Dirk“, sagte sie mit ihrer Altstimme, „stell uns doch vor. Ich weiß bisher nicht einmal seinen Namen.“

     Er zuckte die Achseln, ich kam mir linkisch vor. Unreif. „Heinrich“, sagte ich so unbeteiligt wie möglich.

     „Ich glaube, ich nenne dich Hein“, sagte sie. Mir gefiel es nicht, wie sie da gewissermaßen etwas abschnitt. Wir waren doch nicht in Deutschland. Ich glaube, diese Kurzform gibt es nur ganz im Norden häufig. Sie hieß Doris.

     „Bist du nicht auch aus der Gegend von Rosenberg? Ich habe dich da mal gesehen.“

     „Das muss lange her sein, fünf Jahre mindestens. Ich war da beim Heer.“ Sie ging darauf nicht ein. „Ich komme von Grafung, sogar noch ein gutes Stück weiter.“

     Dirk sagte, sie hätten gehofft, ich würde sie mitnehmen.

     „Was ist mit dem Auto?“

     „Fährt sich gut“, sagte Doris, „nur wir sind nicht mehr gut drauf. Dirk, dieses Rindvieh, hat wieder zu viel getrunken. Und ich fühl mich auch nicht mehr. Wir riskieren nicht gern was. Wir brauchen den Führerschein jeden Tag.“

     Sie hatten zu Hause eine Bäckerei. Dirk musste schnell nach Rosenberg und in die Backstube. Ich bot ihnen an, sie mit meinem Wagen heimzubringen. Es sei kein Problem für sie, sagte Doris, später am Tag zu zweit mit dem Lieferwagen hierherzukommen und den Pkw abzuholen.

     Es war nicht mein Auto, sondern das von Fritz. Ich hatte es mir ausgeliehen und war jetzt in Sorge, es könnte drinnen nach Landwirtschaft riechen. Auf dem Beifahrersitz lag seine Stall- und Feldmütze. Ich griff nach ihr und warf sie ins Handschuhfach. Doris überließ den Rücksitz Dirk. Während er sich hineinzwängte, sagte ich: „Es ist der Wagen von meinem kleinen Bruder.“

     „Kleiner Bruder, kleines Auto“, meinte Dirk. Ich ärgerte mich und beschloss, es nicht zu zeigen.

     „Oh, du bist der große Bruder“, sagte Doris.

     „Der mittlere. Von dreien.“

     „Und Schwestern sind keine da? Dirk, es ist ein Dreibubenhaus.“ Das war eine Manier von ihr, Dirk wie eine Autorität anzurufen oder bei ihm ihre Erkenntnisse zu deponieren wie Ersparnisse auf einer Bank. Ich sagte, Edmund lebe nicht mehr daheim auf dem Hof, sondern in Grafung.

     „Was macht er?“ wollte Dirk wissen.

     „Er ist bei der Bank.“

     Doris fragte nach meinem Auto, ob es kaputt sei. Nein, sagte ich, ich hätte zurzeit keines.

     Wir waren schon ein Stück gefahren, und Doris sagte: „Du fährst gut, auch wenn du kein Auto hast. Man merkt, du hast genug Fahrpraxis.“

     „Kommt wohl von der Arbeit.“

     „Du bist nicht auch bei der Bank?“

     „Nein, Polizei.“

     „Dirk, ich muss es geahnt haben. Er ist bei der Gendarmerie! Ein Gendarm bringt uns nach Hause.“

   „Nein, nicht Gendarmerie, in der Hauptstadt.“

     „Ah, in der Hauptstadt. Wie er das sagt …“ Sie gab sich ironisch, aber ich glaubte, sie sei wirklich etwas beeindruckt. Dirk schlief schon.

   Doris schwieg dann. Ich weiß nicht, ob sie auch ein wenig geschlafen hat. Ich konnte nicht einmal herausbekommen, ob ihre Augen geschlossen waren. Wir kamen um diese Zeit rasch voran. Wir fuhren der Morgendämmerung entgegen. Ich entfernte mich immer mehr von Grafung und meinem Dorf. Rosenberg liegt in der entgegengesetzten Richtung, wenn man von der Disco aufbricht. Ich würde alles zurückfahren müssen.

     Das Hochland senkt sich allmählich nach Osten. Wir fuhren gewissermaßen von der Höhe der Dunkelheit ins Licht hinunter. Ich liebe die ersten Anzeichen des beginnenden Tages. Man hat die Vorstellung oder Illusion, dass alles noch einmal neu anfangen kann. Einige Kilometer vor der Stadt, in der Dirk und Doris wohnten, führt die Landstraße steil hinunter ins Rosental. Als die ersten Häuser auftauchten, begann ich mich zu erinnern. Diese und jene Ecke kamen mir vertraut vor. Doris dirigierte mich ins alte Zentrum hinein.

     Rosenberg ist früher so oft abgebrannt, dass es fast keine schönen alten Häuser mehr hat. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Sgraffito-Haus am unteren Ende des Hauptplatzes. Dort hatte sich zu meiner Militärzeit die Konditorei Althammer befunden. Ich wunderte mich, dass Doris mich da halten ließ. Wie sich herausstellte, gab es die Konditorei noch immer. Doris war eine Althammer und Dirk war ein Althammer.

     „Du kommst doch noch mit hinauf?“ forderte Doris mich auf. „Dirk bekommt jetzt seinen Kaffee, damit er überhaupt arbeiten kann. Und du solltest nicht gleich wieder zurückfahren.“

     Ich nickte und stieg auch aus. Sie hatten nur von einer Bäckerei gesprochen, und nun waren es die Althammers, die Konditoren. Ich sah auf die Fassade, sie wirkte wie ein Blumenbeet im ersten Frühlicht, noch ein wenig grau, doch reich an Formen, ein Garten, den an diesem Tag noch niemand betreten hat. Ich machte mir klar, dass Doris nur ironisch von dem Polizisten aus der Hauptstadt gesprochen haben konnte, sie, die Tochter aus reichem Haus. Sie hatte mich sogar bloß für einen Landgendarmen gehalten.

     Im Erdgeschoss befanden sich Verkaufsräume in uralten Gewölben, im ersten Stock waren die Gasträume, wie ich mich erinnerte, ein Saal mit Stuckdecke und Nebenzimmer. Die Etage darüber musste eine Wohnung enthalten. Die beiden führten mich durch das offen stehende Tor in den Innenhof. Ich sah die Laubengänge aus Holz wieder und den wilden Wein, er hatte noch nicht ausgetrieben. Die Geschwister gingen mit mir zwei Außentreppen hinauf. Dann betraten wir von der oberen Loggia aus eine kleine Wohnung, die mir diejenige von Doris zu sein schien. Sie bestätigte es mir.

     „Früher war hier ein Gasthof. Wir haben für jeden von uns aus je zwei Zimmern eine kleine Wohnung hergerichtet. Daher die unmöglichen Fenster. Sieh darüber hinweg, wenn du kannst … Ich muss jetzt schnell den Kaffee machen.“

     Dirk verschwand gerade durch eine Tür in der linken Seitenwand. Ich sah jetzt, dass er den Kragen seiner dunkelbraunen Lederjacke hochgeschlagen trug. Das passte zu ihm, so genau glaubte ich ihn schon zu kennen.

     Während Doris in der Kochnische hantierte, stand ich an einem der beiden schmalen, hohen Fenster. Sie lagen viel zu nahe beieinander, und ihr Flächeninhalt war im Verhältnis zur Wandlänge und auch zur Größe des Zimmers zu gering. Vermutlich erhielt der Raum am Tag nur wenig Licht, doch an heißen Sommertagen würde es hier angenehm sein. Unten im Hof sah ich jetzt leere Bankreihen vor langen, blanken Holztischen. Ein schmuckloser Anbau aus jüngerer Zeit schloss den Hof an der rückwärtigen Schmalseite ab. Er hatte nur zwei hoch gelegene Fenster, aus denen Neonlicht drang. Das musste die Backstube sein. Vielleicht arbeiteten die Gesellen schon, Dirk hatte vorhin davon gesprochen. Aus der Backstube ragte ein hoher runder Schornstein in den zunehmend heller werdenden Himmel.

     Dirk kam durch die schmale Tür zurück. Er war jetzt ganz in Weiß. So gefiel er mir sofort viel besser, er sah nicht mehr aus wie ein Filmstar der fünfziger Jahre, der sich wahrscheinlich umbringen wird. Der Kaffee war fertig. Wir versanken in hellbraune Ledersessel, die auch nach Geld aussahen.

     Doris nippte nur einmal an ihrem Kaffee. Sie sagte, sie werde ja ohnehin bald schlafen gehen. Da ließ ich meinen Kaffee nach dem zweiten Schluck auch stehen.

     Dirk trank seine Tasse schnell aus, stand auf und bedankte sich kurz angebunden bei mir. „Ich dank dir schön fürs Herbringen. Wir werden noch öfter miteinander reden.“ Er verließ uns durch die Tür zum Laubengang. Die Verbindungstür zu seiner Wohnung hatte er vorhin nicht geschlossen, sie stand noch immer offen. Ich konnte aber von meinem Platz nicht hinübersehen. Diese Tür beunruhigte mich etwas.

     Doris sagte: „Hein, bleib doch noch. Fahr noch nicht gleich heim. Lass uns etwas Richtiges trinken. Cinzano? Pur?“

     Ich nickte nur zu jeder Frage und dachte bei mir: Darauf ist es doch von Anfang an hinausgelaufen. Es ist die normalste Sache auf der Welt. Und sie hat es gut eingefädelt.

     Das rote Getränk veränderte rasch unsere Stimmung. Bitter macht auch lustig. Wir lachten schon, bevor das Gespräch zwischen uns richtig in Gang kam. Dann redeten wir über Dirk.

     Ich fing damit an, ich sagte: „Ich stelle mir Dirk in seiner Bäckerkleidung in der Disco vor.“ Ich grinste dabei, es war ein Versuch, sie musste es nicht komisch finden.

     Sie lachte laut. „Der arme Dirk, was machst du mit ihm. Du ziehst ihn neu an …“

     „Ja, ich modelliere ein wenig an seiner Erscheinung.“

     Sie warf sich zurück und kreischte: „Dirk ganz in Weiß? Wie eine Braut? Und auch noch mit einem Blumenstrauß? Der arme Dirk!“

     Ihre Reaktion erstaunte mich. Sie war viel stärker, als ich vorausgefühlt hatte. Ich hielt mich dann etwas zurück und ließ sie erst wieder zu Atem kommen.

     „Sah er immer schon so aus?“

     „Du meinst, wie ein falscher Fünfziger? Nein, erst seit kurzem, das ist Reginas Werk.“

     „Seine Freundin?“

     „Seine Verlobte. Auf diesen Titel legt sie Wert. Sie hat viel für Stil übrig … Sie studiert in Italien. Du solltest sie einmal sehen.“

     „Sieht sie auch gut aus?“

   „Oh! Bellissima!“

   „Ist sie eine Italienerin?“

   „Nein. Aber frag sie einmal, wo sie herkommt. Sie kommt aus - Stinkenbrunn! Sie ist unsere Bellissima aus Stinkenbrunn.“

     Sie lachte ein wenig hysterisch und verließ ihren Sessel. Sie kam zu mir herüber und nahm auf der linken Armlehne meines Sessels Platz. Sie hing schon halb über mir und legte erst noch den rechten Arm um meinen Hals. Gleich würde sie mich küssen. Ich ließ mich küssen. Wie meistens empfand ich dabei wenig oder nichts, jedenfalls nichts Angenehmes. Zwei dünne Schleimhäute auf zwei anderen dünnen Schleimhäuten, im Lauf einer langen Nacht etwas ausgetrocknete Schleimhäute, zuletzt noch vom Wermut oder etwas Naturidentischem gegerbt. Wieder dieses Gefühl von befeuchteten Krokohandtaschen. Und dann dieser Fremdkörper im eigenen Mund … Wir hätten vor dem ersten Kuss Erdbeeren essen sollen. Ich hatte noch nie einen Mann geküsst, ich stellte es mir ebenso fad vor.

     Sie führte mich zu ihrem Bett. Es war geschmackvoll wie alles im Raum.

   Nur gegen das Küssen hatte ich eine Abneigung. Das Folgende ließ mich wie üblich innerlich unbeteiligt. Ich funktionierte meiner Bestimmung entsprechend. Ich habe insofern noch nie versagt. Als Polizist bin ich körperlichen Einsatz gewöhnt, ich habe Körperbeherrschung gelernt, ich habe sie trainiert. Ich fasse Sex als eine Art Turnübung auf. Ich konzentriere mich auf mich selbst. Ich bin dann ziemlich allein. Was kann dabei herauskommen – vermutlich eine nur mittelmäßige Leistung. Wie ich ein mittelmäßiger Tänzer bin, so bin ich auch ein mittelmäßiger Beischläfer.

     Sie gehörte zu jenen Frauen, die es erregt, wenn ein Mann sich nur physisch verausgabt. Sie versuchte, diese merkwürdige Sache zwischen uns zu interpretieren. Sie sagte: „Oh, du bist ja ein Pascha!“ Sie missverstand mich von Anfang an. Wahrscheinlich wollte sie mich missverstehen, sie war ja so klug.

     Nachher lagen wir ruhig nebeneinander. Sie gefiel mir noch immer. Sie war hübsch und gescheit. Sie war nett zu mir.

     Sie sagte auch: „Du bist ein richtiger Polizist, so diszipliniert. Ich habe es gespürt, wie du dich zurückgehalten hast. Du würdest gern mehr aus dir herausgehen, aber du kannst es nicht.“ Dazu sagte ich nichts. Wir dämmerten in den Tag hinein.  

     Später sah Doris auf die Uhr und stand dann rasch auf. Sie zog sich an.

     „Bleib du nur liegen. Ich muss mal kurz weg, Ware ausliefern. Wir haben draußen noch eine Filiale. Ich will es Dirk heute nicht zumuten.“

     „Ich kann auch aufstehen. Ich muss ja doch heim.“

   „Also, Hein, also, bitte! Es ist noch nicht lange her, dass du etwas getrunken hast. Bleib noch ein oder zwei Stunden. Ich bin bald zurück. Dann gibt es Frühstück.“ Sie war in Eile. Ich blieb liegen.

     Ich muss dann richtig eingeschlafen sein, ich weiß nicht, für wie lange. Ein Geräusch weckte mich, es kam von den Fenstern her. Im Hof war anscheinend ein Ausrufer am Werk, dazu auch etwas wie Volksgemurmel. Es hörte sich beinahe wie ein Volksauflauf an. Mit drei Sätzen war ich an einem der Fenster. Da unten standen tatsächlich Leute und sahen alle zu meinem Fenster herauf. Ein sehr junger Mann deutete mit ausgestrecktem Arm in meine Richtung und hielt eine Rede dabei. Ich verstand nicht, was er sagte, doch musste es sich auf mich beziehen. Dann erst erriet ich, es war eine Stadtführung. Ich war ja im Sgraffito-Haus, der schöne Hof mit den Laubengängen, und es war Samstagvormittag. Nicht mir galt die Aufmerksamkeit.

     Ich war nackt und verbarg meinen Körper hinter dem Vorhang für den Fall, dass die Gardine durchscheinend war. Doch lugte ich weiter durch ihr Gewebe. Der Führer erzählte noch immer irgendetwas. Er war hübsch, schwarzhaarig, ein wenig bullig, er hatte sehr ebenmäßige Züge. Sein Rundschädel ließ mich slawische Abstammung vermuten. Er trug einen blauen Jeansanzug und unter der Jacke ein knallgelbes Hemd. Das waren die Farben einer Blaumeise, doch hatte er sonst nichts von diesen unruhigen Vögeln an sich. Für sein Alter wirkte er fast zu gelassen. Ich hätte ihn gern etwas in Unruhe versetzt. Nun führte er die Gruppe langsam aus dem Hof hinaus.

     Ich suchte das WC und kam an Dirks Tür vorbei. Sie war jetzt geschlossen. Er war also zurückgekommen, während ich schlief. Durch das Zimmer gegangen? Und hatte mich nackt daliegen sehen? Vielleicht besaß seine Wohnung noch einen anderen Zugang. Im Bad dachte ich an den Stadtführer. Ich sah ihn deutlich vor mir. Ich kam darüber hinweg.

     Damals unter den Soldaten hatte ich davon reden hören. Man muss nur viel zuhören, dann erfährt man, was man wissen muss. Sie sagten, wenn in Rosenberg ein Bursche einen Burschen haben will, dann geht er in jene Bedürfnisanstalt und schaut sich um und wartet. Oder er versucht es in den Anlagen im Rosental. Ich ertrug den Gestank im Pissoir nicht und machte meine ersten Erfahrungen lieber in den Anlagen. Es war immer in der Abenddämmerung. Später hielt ich meine Augen offen, wenn ich alle zwei Wochen von der Polizeischule nach Hause fuhr. Das wurde meine Spezialität, mich in den Zügen und auf den Bahnhöfen umzusehen. Es blieb fast immer anonym, manchmal war es hochdramatisch, und meistens kam gar nichts dabei heraus. Es gab niemals Scherereien. Ich hütete mich, es auch in der Stadt zu versuchen. Ich bin dann immer so verfahren, ich habe es nie aufgegeben. Es hat mich zeitweise beschäftigt, aber nie beherrscht. Das Ergebnis meiner Lebensweise war Folgendes: Viel mehr als mit bestimmten realen Frauen tatsächlich zu schlafen, hat es mich erregt, es mit bestimmten, ebenso realen Männern nicht zu tun.

     Doris kam zurück. Sie brachte einen Brotgeruch mit herein. Ich sah sie jetzt wieder gern an. Sie erlaubte nicht, dass ich aufstand. Sie wollte, dass ich im Bett frühstückte. Und sie wollte mich bedienen. Während sie alles in der Kochnische vorbereitete, unterhielt sie sich mit mir.

     „Ja, Dirk und ich, wir führen das Geschäft schon weitgehend allein. Papa zieht sich sukzessive zurück. Im Laufe des Jahres wird er es ganz tun.“

     „Er wird schon Pensionist?“

     „O nein! Unser Papa ist noch ziemlich jung, dreiundfünfzig. Er kümmert sich dann um … seine Angelegenheiten.“ Ich verstand: Das war eine Umschreibung für sein Vermögen.

     „Außerdem ist er in der Politik.“

     „Volkspartei?“

     „Ja, freilich.“

     Sie sagte, bald nach Dirks Hochzeit werde der Betrieb überschrieben. Etwas unvermittelt setzte sie hinzu: „Ich hab dich früher schon im Alabama gesehen.“

     Da sie mir bisher nie aufgefallen war, antwortete ich ausweichend: „Ich komme nicht so oft hin. Alle paar Wochen, wenn ich am Wochenende frei habe und heimkomme.“

     „Ich verstehe: der Dienst in der Hauptstadt.“

     Ich wurde beinahe von ihr gefüttert. Sie saß auf der Bettkante und aß selbst nur wenig.

     „Und Dirk?“ fragte ich. „Frühstückt er nicht? Schläft er?“

     „Ja, nebenan. Er isst erst wieder zu Mittag. Wir sind dann alle bei unserer Mama eingeladen. Nur deshalb halte ich mich so zurück.“

     „Dirk ist jünger als du?“

     „Ja, zweieinhalb Jahre.“

     Sie war jetzt viel sanfter als in der Nacht. War das die Wirkung unseres Zusammenseins? Ich wollte es nicht glauben. Ihr Familiensinn imponierte mir. Ich ließ mich wieder küssen. Lieber war es mir, wenn sie mir das Haar streichelte.

     Sie sagte: „Du hast schwarze Haare. Das ist schön, wenn die Natur sich so eindeutig festgelegt hat.“ Ich dachte an den Stadtführer.

     Sie verstand nicht, wie ich ohne eigenen Wagen durchs Leben käme. Ich musste es ihr erklären.

     „Ich spare noch. Ich will einmal nach Südamerika. Es soll eine richtig lange Reise werden. Deshalb lerne ich jetzt auch Spanisch.“

     „Nach Rio?“ Das war alles, was ihr zu Südamerika einfiel.

     „Nein, Argentinien, weißt du, die Steppen, die Pampas.“

     „Die Steppen …“ Sie sah vor sich hin. Sie hatte plötzlich einen leeren Ausdruck im Gesicht.

     Im Grunde ist es sehr unbequem, im Bett zu frühstücken. Der Körper findet dabei keinen rechten Halt. Ich hasse Krümel auf dem Laken. Es rührte mich etwas, dass sie mich gern ansah, wie ich im Bett aß.

     Nachher half ich ihr beim Abräumen. Ich glaube, ich stellte mich ungeschickt an. Sie wusch ab. Die Spüle war so klein, dass wir dort nicht zu zweit arbeiten konnten. Also ging ich in dem großen Raum auf und ab und blieb dann an einem der beiden Fenster stehen. Ich sah hinaus. Mein Blick fiel wieder auf den Schornstein, der aus der Backstube herauswuchs. Ich sah jetzt, dass er nicht mehr seinem ursprünglichen Zweck diente. Er trug ein Storchennest. Ich schwieg schon seit einiger Zeit.

     „Du sieht dir den Horst an? Ja, wir haben hier fast jedes Jahr Störche. Noch ein paar Wochen und sie kommen wohl wieder zurück. Dirk kann das Geklapper nicht leiden. Mich freut es.“

     Die Anspielung war deutlich. Ich fand, es war Zeit für mich.

     Sie wollte nicht zum Disco-Parkplatz mitgenommen werden, sie würde den Wagen am Nachmittag mit Dirk abholen. Sie käme sonst zu spät zum Mittagessen. Dabei sah ich ihr an, sie wäre gern mit mir gefahren.

     Unser Abschied war kurz. Ich versprach, sie anzurufen, bevor ich das nächste Mal zu meinen Leuten aufs Land kommen würde. Am Schluss sagt man meist etwas in der Art. Dann verließ ich diese Stadt, in der es im Sommer Störche gibt. Nach Grafung kommen sie nicht. Es ist bei uns dort oben zu kalt für sie, und ich glaube, auch zu trocken. Je weiter man nach Westen fährt, desto karger und steiniger wird das Land. Und die Höfe sind meist klein. Dort leben nur zähe Geschlechter. Man hängt am Althergebrachten, man klebt daran.

     Ich musste mich ihr gegenüber zu nichts verpflichtet fühlen. Dennoch tat ich es. Ihre Zuneigung zu mir kam mir absurd vor. Sie erstaunte mich und rührte mich auch etwas. Gewöhnlich erfahre ich von Seiten einer Frau nur kalte Rückstrahlung, wenn sie mich näher kennengelernt hat. Dass es hier anders war, schmeichelte mir auch. Das war vielleicht schon Grund genug, mich in Zukunft von ihr fern zu halten. Ich war kein Pascha. Und ich wusste sehr gut, dass sie es mit mir nicht gut treffen würde. Darüber konnte ich nicht hinwegsehen.

     Ich betrachte mich übrigens nicht als homosexuell. Ich vermeide diesen Begriff sonst. Ein Mensch ist immer zuerst das, als was er sich erklärt. Ich kann es in meinem Fall auch begründen: Immer wieder habe ich von ernst zu nehmenden Menschen meiner Umgebung gehört, es sei wider die Natur. Dagegen kann ich mich nicht stellen, nicht gegen ihre Einsichten oder ihre Erfahrungen. Meine eigene Erfahrung lehrt mich nur eines: dass meine Lust aus mir selbst kommt und dass sie meine Natur ist und nur Natur, nichts anderes. Bei mir ist nichts verfälscht worden. Wenn homosexuell bedeutet, wider die Natur zu sein – dann bin ich es eben nicht. Was bin ich dann? In meinen Augen ein Einzelfall innerhalb der Natur.

     Meine Unlust Frauen gegenüber muss nicht einmal mit meiner Lust zu tun haben. Diese Unlust gibt es, wie ich gehört habe, auch bei anders gearteten Männern.

     Wer bin ich denn, dass ich zu derart grundlegenden Erkenntnissen gelangen kann? Es ist vielleicht nur Wortklauberei, eine unreife Spielerei. Wahrscheinlich heirate ich irgendwann doch einmal und beruhige mich und werde trotzdem unzufrieden sein, wie die Mehrheit im Land. Ja, ich werde heiraten und hoffentlich Kinder haben. Muss es denn so bald schon sein? Wer weiß, was ich noch tue.

 

 

Es wurde unvermeidlich, Doris anzurufen und ein Wiedersehen zu verabreden. Die Frage nach ihren Motiven beschäftigte mich von Tag zu Tag mehr. Wenn eine Frau sich für einen Mann entscheidet, so tut sie dies nicht unter dem Diktat eines Zufalles. Sie wählt bewusst oder unbewusst aus, indem sie gewissen Merkmalen des Mannes den Vorzug vor anderen Merkmalen anderer Männer gibt. Welchen Eigenschaften hatte ich es zu verdanken, von ihr ausgewählt worden zu sein? Es konnten nicht in erster Linie meine schwarzen Haare sein.

     Ich ging also davon aus, dass ihre Neigung zu mir jene erste Nacht überdauert hatte. Davon war ich aufgrund des Verlaufes jener Nacht so sehr überzeugt, dass mein Motiv für eine Verabredung sicher nicht darin zu suchen war, mir Gewissheit über ihre andauernde Zuneigung zu verschaffen. Ich wiederhole es: Nicht das Ob beschäftigte mich, nur das Warum, sofern es ihre Beweggründe anging. Warum wollte ich das Warum untersuchen? Ich glaube, es lag daran, dass ich noch vollkommen unentschieden war. Wenn ich mir selbst auch kein Unbekannter war, so konnte ich auf dem Umweg über Doris mehr über mich erfahren und mein Verhalten danach ausrichten.

     Ich geriet auf etwas abwegige Ideen. Ich hatte gelesen, dass nicht wenige Frauen bei der Partnerwahl nacheinander zwei entgegengesetzte Strategien verfolgen. Diese Frauen suchen zunächst materiell gut abgesicherte Männer, die ihnen und ihren späteren Kindern eine Versorgung garantieren. Daher heiraten so viele Frauen etwas ältere Männer, über deren mangelnde Attraktivität sie sich vollkommen im Klaren sind. Und beinahe zwangsläufig suchen diese Frauen dann während der Ehe sehr bald ausgesprochen anziehende Partner für den Ehebruch. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, sie täten das weniger zu ihrem eigenen Vergnügen als bewusst oder unbewusst im Interesse der Nachkommenschaft. Sie nennen das die Suche nach den guten Genen. Mir scheint, die meisten Geschichten von Seitensprüngen und Kuckuckskindern beruhen darauf.

     Diese Theorie sprach mich stark an. Ich wollte ja selbst trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten nicht gern von der Erde verschwinden, ohne meine Gene weitergegeben zu haben. Wie ich schon einmal gesagt habe, beschäftigen mich mein Aussehen und meine sonstigen Qualitäten im Allgemeinen kaum. Das liegt einfach daran, dass ich meiner selbst ziemlich sicher bin. Die Vorzüge, die man mitbekommen hat, sie liegen einem im Blut. Im Grunde kennen wir alle unseren Wert, ohne ihn uns häufig ins Gedächtnis rufen zu müssen. Das Problem beginnt erst damit, dass wir den Wert nicht kennen, den wir für einen anderen haben. Bei einer Partnerschaft hat man es mit einer Addition unterschiedlicher individueller Eigenschaften zu tun. Diese Mischung ist immer ein Experiment. Wenn man wissen möchte, welchen Wert man für ein zweites Individuum hat, dann vor allem unter einem praktischen Gesichtspunkt: Verträgt es sich? Auch in den Nachkommen?

     Ich glaube nicht, dass man in seinen Kindern persönlich weiterlebt. Diese Vorstellung erscheint mir absurd. Ich bin der Sohn meines Vaters und der Bruder meiner Brüder, ich teile mit ihnen meine allgemeine Veranlagung. Doch obwohl ich noch jung war, war mein Leben schon so verschieden von ihrem, dass der Zusammenhang mit ihrer Existenz nur lose genannt werden konnte. Warum sollte es mir mit meinem Sohn anders ergehen? Unser persönliches Schicksal nimmt seinen Ausgang von den Genen, doch unser Schicksal ist nicht dasselbe wie das Schicksal unserer Gene. Wir geben sie weiter, wir sind eine Durchgangsstation für sie und bleiben zurück als etwas Einmaliges jenseits der Veranlagung. Ich werde mich immer einsam fühlen.

     Es hätte mir demnach gleichgültig sein können, was aus meinen Genen wird. Aber es war mir nicht gleichgültig. Ich habe dafür nur eine ziemlich altmodische Begründung: Ich fühlte mich ihnen gegenüber ein wenig verpflichtet. Wahrscheinlich war das nur eine Sache der Erziehung. Wäre ich in einer anderen Umgebung aufgewachsen, hätte es mir nichts ausgemacht, kinderlos zu sterben.

     Ich versuchte, die Theorie von der Doppelstrategie auf Doris anzuwenden. Offensichtlich war sie nicht darauf angewiesen, sich einen Versorger zu angeln. War sie schon beim zweiten Schritt? War ich der Seitensprung, um schöne und einigermaßen intelligente Kinder zu bekommen? Denn was war ich denn, rein materiell gesehen? Der Sohn eines Kleinbauern, der so gut wie nichts mitbekam oder später zu erwarten hatte. Ein kleiner Polizist ohne besondere Befähigung, dafür mit der überflüssigen Neigung, sich seine eigenen Gedanken zu machen.

     Wahrscheinlich kommt es nicht oft vor, dass ein Mann so viel Theorie treibt, bevor er eine Bindung eingeht. Ich war noch nicht am Ende mit meinen Überlegungen. Ich probierte in Gedanken einen Rollentausch aus. Die Gleichberechtigung der Geschlechter erlaubt auch dem Mann, nacheinander unterschiedliche Strategien zu verfolgen, um seinen verschiedenen Interessen gerecht zu werden. Stufe eins: Einer wie ich heiratet eine materiell gut situierte Frau. Damit ist für seine Nachkommenschaft gesorgt. Insofern fallen hier die zwei beschriebenen Etappen einer berechnenden Frau schon zusammen. Dennoch Stufe zwei: Er hat nun freie Hand in der Auswahl seiner weiteren Partner. Ja, es ist eine Variante des ursprünglichen Modells, doch kann es nicht anders sein. Die Frauen besitzen das Monopol beim Gebären. Als Mann bin ich auf die Lust beschränkt.

     Zwei Tage vor meiner nächsten Fahrt nach Grafung rief ich Doris an.

     „Gut, dass du jetzt anrufst. Wir planen gerade das Wochenende. Ich hätte dich so gern hier. Wann kannst du kommen, Samstagabend?“

     „Ohne weiteres.“

     „Also gut. Komm doch bitte gegen acht. Samstag ist besser als Freitag. Dirk muss dann am anderen Morgen nicht in die Backstube.“ Dieses Argument erstaunte mich etwas. Aber ja, ich würde auch Dirk besuchen. Man konnte einfach von ihr zu ihm hinübergehen.

     Vor der Konditorei waren alle Parkplätze belegt. Ich stellte das Auto von Fritz in einer Seitengasse ab.

     Sie hatte mir nicht gesagt, dass auch Regina kommen würde. Sie war schon da. Da die Verbindungstür wieder offen stand, hörte ich ihre auffallend hohe Stimme aus Dirks Studio, während Doris mich küsste.

     „Ist er das?“ Sie war schon neben uns.

     „Na“, sagte Dirk, „dann sind wir ja mal komplett.“

     Ich war erstaunt, dass sie bei ihrer hohen Stimme so klein war. Sie war brünett und klein und mager. Dass nicht viel an ihr dran war, kaschierte sie mit viel Stoff. Ich kenne mich da nicht aus, wahrscheinlich war es sehr gute Qualität. Ein Liedtext kam mir in den Sinn: Und deine Fetzen kaufst du nur in Florenz … Sie war auf ihre Weise schön, doch begriff ich sofort, dass Doris ihre Schönheit nur in ironischem Sinn gerühmt haben konnte. Für Doris zählte Regina als Frau nur in stark eingeschränktem Umfang.

     „Bist du hungrig? Kannst du eine Stärkung vertragen, bevor die Nacht anfängt?“ fragte mich Doris.

     Ich wollte nicht abgefüttert werden. Ich wollte auch keinen Drink. Was hatten sie denn eigentlich vor?

     Sie wollten zu Alexandra fahren, die eine Party gab. „Es ist dir doch recht?“ Es war mir recht.

     „Da kannst du Rosenberg gleich richtig kennen lernen. Die halbe Stadt wird da sein“, sagte Dirk.

     „Ich bin noch nicht so weit. Da muss noch etwas aufgesteckt werden“, sagte Regina.

     „Dann steck es bitte auf.“ Doris wandte auch gegenüber Regina diesen Trick an, das letzte Wort zu behalten, indem sie den vorher gefallenen Satz einfach wiederholte.

     „Wie war der Dienst? Habt ihr Verbrecher gejagt? Oder bloß Parksünder?“ Dirk grinste mich an.

     „Ein Reifenstecher wird gejagt. Früher oder später werden wir ihn kriegen.“

     „Ihr solltet ihn bald kriegen, Hein. Dirk, das wäre furchtbar, du willst Ware ausliefern und ein Reifen ist hin.“

     „Wenn es nur einer wäre. Normalerweise erwischt er alle vier“, sagte ich.

     Regina kam mit einer hoch aufgetürmten Frisur zurück. Wir brachen dann auf.

     Dirk fuhr. Regina fragte ihn nach Leuten aus, die ich nicht kennen konnte. Ob diese oder jener auch da sein würden. Ich saß mit Doris hinten. Sie sah mich lächelnd und schweigend längere Zeit an. Sie versuchte mit der Hand in meinem Haar zu spielen. Dafür war es zu kurz.

     Sie sagte leise: „Ich freu mich wirklich, dass du gekommen bist. Wär viel schöner, wir könnten den ganzen Abend bei mir verbringen. Immer ist man fremdbestimmt. Na ja, meistens … Wir bleiben nicht so lange, ja?“

     Wir hielten vor einer älteren Villa am Stadtrand. Man sah gleich, hier lebten wirklich wohlhabende Leute. Unten war alles dunkel, dafür erstrahlte die erste Etage im Licht. Wir gingen eine mit einem roten Läufer belegte breite Treppe hinauf. Oben war vieles ausgeräumt oder umgestellt worden. Es waren sehr viele junge Menschen da. Über lange Zeit hörten wir nur Lieder von Falco. Die Gäste bewegten sich, auch wenn sie nicht tanzten, im Rhythmus dieser Musik. Die meisten hatten dabei etwas Draufgängerisches, auch wenn sie nur vom Büffet kamen. Eine Blondine umarmte uns alle vier nacheinander. War es Alexandra? Niemand stellte sich selbst oder andere einander vor. Die Blondine war blendend gut gelaunt und küsste Dirk und Doris auf die Wangen. Mir sah sie anstelle eines Kusses tief in die Augen. Ich habe nicht darauf geachtet, wie sie mit Regina umging. Regina hielt sich sehr zurück. Ich habe nicht erfahren, worin der Anlass für diese Party bestand.

     Dirk und Doris redeten mit vielen, während wir herumgingen. Regina und ich, wir lächelten die unbekannten Menschen an. So bunt gemischt die Menge aussah, es zeigte sich in jeder Minute, wer dazu gehörte und wer nicht. Die Leute in Rosenberg, besonders die aus dem Bürgertum, sind alles andere als Fremden gegenüber aufgeschlossen. Darin sind sie geradeso wie die in Grafung. Ich fühlte mich zeitweise wie ein Polizist, der im Dienst auf eine Festivität geschickt wird.

     Dann saßen wir vier eine Zeitlang auf hohen Stühlen an der Wand eines Zimmers, das alltags ganz anders aussehen musste. Wir redeten miteinander. Ich erfuhr, Regina studierte Romanistik in Turin. Sie wollte später Lehrerin für Italienisch werden, aber nicht im Staatsdienst. Dirk versicherte, Regina werde sich schon etablieren. Doris sah auf ihre Hände.

     Wir verbrachten einige Zeit damit, ein paar Kleinigkeiten zu essen. Da gab es Sachen, die ich noch nie gesehen hatte. Am Büffet wurden Dirk und Doris erneut in Gespräche gezogen. Eine sagte laut: „Wenn der die Kärntner Straße entlanggeht, erkennen ihn viele sofort wieder.“

     Dann wechselte die Musik. Sie spielten jetzt Sachen von Abba. Ich tanzte mit Doris. Ich sah, dass Dirk und Regina an ihrem Platz geblieben waren. Sie unterhielten sich miteinander. Wahrscheinlich sprachen sie jetzt freier als in meiner Gegenwart. Ich sah auf Doris und sah es ihr an, sie war froh, mich in der Nähe zu haben. Für sie spielte es keine Rolle, dass mich hier niemand sonst kannte. Und dass ich nicht besonders gut tanzte, vielleicht jetzt noch schlechter als sonst, war auch nicht wichtig. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie rundum zufrieden. War sie so leicht glücklich zu machen?

     Dann kehrten wir an unseren früheren Platz zurück. Bald darauf tanzte Doris mit Dirk, sie tanzten längere Zeit. Regina und ich sahen ihnen zu.

     „Du gibst neben Doris eine gute Figur ab“, sagte Regina. „Das ist für sie keine Nebensache. Alle sind neugierig, wer du bist. Sie werden es nach und nach erfahren.“

     „Und wie?“

     „Sie werden telefonieren. Jetzt merken sie sich erst einmal dein Aussehen. Wenn sie dich wiedersehen, wissen sie schon viel mehr über dich.“

     „Mir scheint, eine ziemlich indirekte Art, ein neues Gesicht kennenzulernen.“ Ich wollte ihr nicht sagen, sie komme mir hier geradeso isoliert vor wie ich mir selbst. Sie hatte vorhin im Auto Namen genannt und war doch bisher von niemand ins Gespräch gezogen worden. Ich glaubte schon, dass sie ehrgeizig und hartnäckig sein müsse. Diese kleinen, zarten Frauen gleichen die ihnen fehlende Raumverdrängung mit einer dauernden Anspannung ihres Willens aus, das habe ich oft beobachtet. Dabei verstehe ich nicht viel von Frauen.

     „Es ist in unserem Fall auch besonders schwierig …“

     „Ich verstehe nicht …“ Sie hatte gesagt: in unserem Fall. Bezog sich das auf sie und mich, sah sie uns als Verbündete? Ich war wirklich neugierig.

   „Ich stelle mich nur auf den Standpunkt der anderen Leute. Für sie sind Dirk und Doris seit langem ein … ein Begriffspaar.“ Sie war sichtlich stolz auf diese Wendung. Möglicherweise traute sie mir weniger Verständnis zu, als ich besitze. Sie fuhr fort: „Verstehst du, eine Art Marke. So wie es heißt: reich und mächtig. Oder Geld und Gut. Sie sind seit Jahren nur zusammen gesehen worden. Was an sich noch nicht viel besagen will …“

     „Wer sie zum ersten Mal sieht, kann sie für ein Pärchen halten.“

     „Beinahe zwangsläufig. Aber niemand hier hat sie dafür gehalten, hörst du, niemand.“

     „Sie waren nicht anderweitig gebunden?“

     „Wer kann das wissen, da müsstest du dich bei Doris erkundigen. Was mich betrifft, ich habe mich vergewissert.“

     Wir sahen hinüber zu ihnen. Sie tanzten auffallend gut. War etwas dabei? Gerade von dem Paar, das bei einem Turnier den ersten Preis gewinnt, erfährt man meistens, die beiden gehen in der Liebe getrennte Wege.

     „Es war niemand vor uns da“, sagte sie dann. „Man muss sich erst an uns gewöhnen.“

     Die Geschwister kamen jetzt zurück. Dirk und ich, wir holten Getränke. Dirk trank von da an ziemlich viel. Wir redeten über andere Paare. Wir waren der Ansicht, dass manche nicht zueinander passten.

     Es war mir im weiteren Verlauf des Abends nicht möglich, noch einmal mit Regina allein zu reden. Ich verstand sie so: Sie hatte etwas angedeutet und es dann zurückgenommen und dann vielleicht auch diese Rücknahme in Frage gestellt. Woran war ich nun? Es traf mich unvorbereitet. Falsch, es traf mich vorbereitet. Ein Baum, der gefällt wird, erhält erst einzelne Axthiebe. Wann war die für mich entscheidende Situation gewesen? Hatte mein Instinkt versagt – oder hatte er sich besonders gut bewährt?

     Nach Mitternacht drängte Doris uns zum Aufbruch. Sie fuhr jetzt den Wagen ins Stadtzentrum zurück. Regina kam nicht mit uns hinauf, als wir am Hauptplatz ankamen. Sie kehrte nach Stinkenbrunn heim, sie wollte am Tag nach Italien weiterfahren. Dirk küsste sie lange.

     Als wir den oberen Laubengang erreichten, fasste Dirk mich am Arm und zog mich dann in seine Wohnung hinein. Auch sie konnte man von außen erreichen. Doris ging durch die andere Tür in ihre Wohnung, ohne mich anzusehen.

     Drinnen schloss Dirk die Verbindungstür von seiner Seite aus. Er schwankte etwas beim Gehen. So hatte ich ihn bei unserer ersten Begegnung nicht erlebt. Es war für mich irritierend, von Dirk in einen ganz gleichen Sessel, wie er drüben bei Doris stand, gedrückt zu werden. Er lächelte mir zu, das war bisher noch nicht geschehen.

     „Nur ein paar Worte unter uns“, sagte er, „falls Regina sich falsch ausgedrückt haben sollte. Ihr habt doch über die Zukunft geredet?“

     „Darüber dass sie undeutlich ist.“

     „Lass dich von ihr nicht verrückt machen. Sie kann nur gewinnen.“

     „Und das hängt auch von mir ab?“

     „Auch von dir. Aber egal, wie du es anstellst, sie und ich werden heiraten, und sie wird immer gewinnen.“ Er kam zu mir herüber und packte sich auf die Sessellehne. Dann legte er, nein, nicht den Arm um mich, er schlug ein Bein über das andere und nahm den Fuß in die Hand. Sollte er das Gleichgewicht verlieren, müsste ich ihn auffangen.

     „Wenn du Doris heiratest, neutalisierst, nein, neu-tra-li-sierst du sie. Sagt Regina. Wenn du es aber nicht tust, bekommen wir den Hauptteil vom Erbe.“

     Ich ließ es mir näher erklären. „Ja, schau einmal“, sagte er, „ich will ja, dass Doris auch heiratet. Und Papa will es ebenso. Wenn es nicht dazu kommt, wird er ihren Anteil halbieren. Das hat er gesagt. Warum? Er hat nur uns zwei und er will Enkel von uns haben. Papa ist sehr ta- … tra- … tra-di-tio-nell.“

     „Steht das Geld im Vordergrund?“

     Er lachte und sah dabei jetzt hübsch aus. „Nein, im Hintergrund. Wenn man es hat, steht es im Hintergrund. Aber sei ganz ruhig, Doris mag dich. Wir mögen dich alle. Ich … ich gebe dir die Hand von Doris. Ich gebe sie dir hiermit als Bruder.“ Er roch nach allem Möglichen. Er war betrunken und er nutzte es, mir zu sagen, was ich wissen musste.

     „Aber wieso: Doris neutralisieren?“

     Er sah mich misstrauisch an. Er lächelte nicht mehr. Vielleicht konnte er sich schon nicht mehr daran erinnern, dass er selbst sich so ausgedrückt hatte. „Nur ein fixe Idee von Regina. Mehr nicht. Was glaubst du denn?“ Er stand auf, legte dann den Arm um meinen Hals und sagte: „Geh jetzt hinüber.“

     Ich stand auch auf und wurde so seinen Arm schnell los. Physisch war er mir ja eher unangenehm. Ich ging rasch durch die kleine Tür. Dirk rief noch hinterher: „Gute Nacht, ihr zwei.“

      Dann schloss er sie sofort.

     Doris saß in einem Sessel und untersuchte den Absatz eines Schuhs. Ich ließ mich im Sessel gegenüber nieder. Sie sah vom Schuh auf und mir ins Gesicht.

     „Ich kann mir denken, was er dir gesagt hat. Dass er heiraten muss. Früher musste man heiraten, weil ein Kind kam. Dirk muss heiraten, damit eins kommt.“ Sie lachte, zum ersten Mal an diesem Abend wieder etwas hysterisch. Sie fing sich bald.

     „Komm“, sagte sie und zog mich auf das Sofa hinüber. „Das sind seine Sachen. Ja, natürlich muss er heiraten. Regina wird einen Mann aus ihm machen. Er trinkt zu viel in letzter Zeit … Ich bin nur froh, dass ich dich hier habe. Dass wir allein sind.“ Sie begann, meine Kopfhaut zu massieren.

     Ich sagte mir: Herr der Lage bleiben. Es war nur eine Phrase, ich wusste es. Dennoch wollte ich unbedingt Herr der Lage bleiben, das versprach ich mir. In dieser zweiten Nachthälfte schwieg ich meistens. Ohne Zweifel musste ich erst noch nachdenken. Ich würde später nachdenken und mich dann entscheiden. Aufschlüsse hatte ich nun genug.

     Ihre Zärtlichkeit nahm zu. Im gleichen Ausmaß vergrößerte sich auch meine Reserve, ich meine damit den Abstand, aus dem heraus ich uns beide beobachtete. Sie war als Frau sehr attraktiv und dabei in ihrer Rolle ein wenig unsicher. Ich als Mann ließ mich lieben. Ich war äußerlich ungerührt und zwang mich innerlich, jetzt über nichts nachzudenken. Nur auf diese Weise ertrug ich die Lage, in die ich geraten war. Ich sagte mir: Das ist ein Übergang, es ist unwichtig, du kommst bald darüber hinweg. Wenn ich mich nicht täusche, fiel mir dieses zweite Zusammensein mit ihr bereits viel leichter als das erste. Doch was heißt hier Zusammensein? Sie war mir ohne Zweifel näher gekommen, verglichen mit dem vorigen Mal – aber ich war gerade jetzt nicht mehr neugierig auf sie, ich war schon ein gutes Stück von ihr abgerückt. Nein, das ist nicht ganz der richtige Begriff, es war wie in der U-Bahn, wenn sie überfüllt ist. Man steht dann eingekeilt zwischen so vielen fremden Leibern, und je weniger man sich rühren kann, umso weniger nimmt man auch von diesen Menschen wahr. Zwangsläufig wendet man sich dann nach innen. Ich war jetzt in dieser Zwangslage, ich war beinahe glücklich.

     Sie sagte nachher: „Du hast dich fast schon an mich gewöhnt. Tu es bitte nicht zu sehr.“ Ich staunte wieder über ihre Klugheit. Wie präzise sie sich täuschte.

     Dann lag ich da, und sie umarmte mich. So muss ich eingeschlafen sein. Ich weiß noch, im Übergang zum Schlaf fühlte ich mich wieder wie in der U-Bahn in der inneren Stadt, wenn im Berufsverkehr eine Bahn ausgefallen und man froh ist, einen winzigen Stehplatz ergattert zu haben. In einer solchen Lage erlebe ich mich am intensivsten. Sicher habe ich in dieser Nacht auch geträumt, nur wovon? Merkwürdig, an Alpträume erinnere ich mich meistens sehr deutlich, auch an die seltenen Träume, aus denen ich vollkommen glücklich aufwache. Nur diese leichten, beruhigenden Träume, sie hinterlassen so gut wie keine Spuren.

     Ich setzte es durch, dass wir diesmal nicht im Bett frühstückten. Wir aßen an einem kleinen Tisch zwischen den schmalen hohen Fenstern. Wir saßen im Schatten, das Morgenlicht floss in zwei langen Bahnen an uns vorbei.

    Doris war jetzt gerade so aufgeräumt wie ihre kleine Wohnung. Wir stellten in einem Punkt Übereinstimmung fest: Wie ich selbst war auch sie gewöhnlich früh am Morgen in der heitersten Verfassung. Das hinderte sie allerdings nicht, mir zielbewusst Fragen zu stellen, die ich jetzt noch nicht wahrheitsgemäß beantworten konnte oder wollte. Vielleicht fühlte ich mich an diesem Morgen aus einem besonderen Grund so leicht: Ich neigte nun dazu anzunehmen, auf dieses zweite Frühstück mit ihr würde kein weiteres mehr folgen. Es kostete mich daher nichts, schon gar nicht Überwindung, noch einmal freundlich zu ihr zu sein. Sie sollte mich in guter Erinnerung behalten.

     „Darf ich eigentlich davon ausgehen, dass du dich jetzt hier öfter sehen lässt?“

     „Aber ja.“

     „Dass wir auf irgendeine Weise verbunden sind? Es muss noch nicht näher definiert sein.“

     „Ich sehe es genauso.“ Dazu lächelte ich.

     Etwas später wollte sie wissen, warum ich fast immer allein in die Disco gekommen sei. „Spricht dafür, dass du seit längerem ungebunden bist.“

     „Seit längerem.“ Ich imitierte ihre Art, Echo zu sein. Den Sachverhalt erklärte ich mit meinem ständigen Hin- und Herfahren zwischen Stadt und Land. Nun hätte ich meine Gegenfrage stellen können: Und wie ist es bei dir gewesen? Aber ich wollte es nicht mehr wissen. Um sie abzulenken, erzählte ich ihr von Fritz. „Um ihn mache ich mir mehr Sorgen als um mich selbst. Er findet keine Frau.“

     „Und er leidet mehr darunter als du bisher?“ Vielleicht war ich unbewusst ein klein wenig zusammengezuckt, denn sie bemühte sich sofort, den Eindruck ihrer Frage oder Feststellung zu verwischen. Sie schob schnell eine Frage nach Edmund hinterher. Ob er verheiratet sei?

     „Ja. Und hat zwei kleine Mädchen.“

     Alle diese Einzelheiten schienen sie zu beschäftigen. Sie war jetzt nachdenklich. Ich wusste nicht, zu welchen Schlüssen sie noch kommen würde. Ich wollte es nicht wissen. Ich sagte ihr, ich könne nicht länger bleiben, Fritz warte auf mich, er warte auf sein Auto.

     Als ich vom Tisch aufstand, küsste ich sie aus eigenem Antrieb. Zum Abschied benahm ich mich so, wie sie es erwarten konnte.

     Ich schonte den Motor nicht, als ich die Serpentinen hinauffuhr. Sonst nahm ich mehr Rücksicht, es war doch der Wagen von Fritz. Das Rosental lag jetzt unter mir, ich kam schon auf der Hochebene Richtung Grafung voran, mir schien, schneller als beim vorigen Mal. Nun, es war Sonntagmorgen, und ich gab mehr Gas als sonst. Ich zwang mich, langsamer zu fahren.

     Mein Entschluss stand so gut wie fest. Ich würde in Rosenberg nicht einmal mehr anrufen. Über die Gründe dafür oder dagegen brauchte ich nicht erst nachzudenken, ich war meiner Sache sicher. Allerdings ließ mein Verstand sich nicht so gut drosseln wie der Motor, er stellte mir unaufgefordert einige Motive für meinen Verzicht auf Rosenberg vor Augen. Zunächst einmal kam ich mir lächerlich vor. Was hatte ich nicht alles vor dem Wiedersehen bedacht, ich hatte Theorien gewälzt und Pläne erwogen. Ich hatte die Motive von Doris erforschen wollen und wollte sie nun nicht mehr näher analysieren. Ich hätte sonst vielleicht zu dem Ergebnis kommen können, ich selbst sei sorgfältig von ihr ausgesucht worden, unter Gesichtspunkten, die wenig schmeichelhaft für mich sein würden. Kommt immer allein in die Disco. Steht herum, beobachtet, beobachtet vor allem Pärchen. Hübscher Junge, armer, hübscher Junge. So einer war ich.

     War wirklich etwas wie Geschwisterliebe im Spiel? Ich vermied diese Frage nicht länger und konnte sie doch nicht beantworten. Sollte es so gewesen sein, hätte ich mich für unzuständig erklären müssen, auf diesem Gebiet hatte ich keine Erfahrungen, auch keine eigene Meinung. Nein, so war es nicht. Der Gedanke daran erfüllte mich vielmehr instinktiv mit Abneigung. Und dann sagte ich mir, eine vergleichbare Abneigung könnte nur eine Frau verspüren, die feststellt, dass ihr Mann von Männern angezogen wird. Das fing jetzt schon an, sehr kompliziert zu werden. Ich sollte die Finger von Doris lassen.

     Eine andere Vorstellung begann in mir zu rumoren: Wie, wenn ich seinerzeit in Rosenberg aufgefallen wäre, als ich gewisse Experimente anstellte? Dirk könnte mich vielleicht im Rosental in einer verfänglichen Situation beobachtet haben. Aber nein, das war gewiss nur eine Wahnvorstellung. Zu jener Zeit sah ich noch sehr viel jünger aus, die Haare waren viel länger, und ich hatte noch keinen Schnauzbart. Dennoch – hatte Doris mich nicht gleich in einem ihrer ersten Sätze mit dieser Rosenberger Vergangenheit in Verbindung gebracht? Und war ich am Ende vielleicht nur deshalb so bereitwillig auf ihren Wunsch eingegangen, um wieder einmal nach Rosenberg fahren zu können?

     Ebenso gut konnte auch die Idee vom Inzest nur eine Wahnvorstellung sein, die mir Regina aus noch undurchsichtigen Gründen eingeimpft hatte. Und selbst wenn etwas daran war, so konnten die Geschwister jetzt voneinander loskommen. Regina und ich, wir brachten die Rettung. Aber warum gerade ich? Mein Misstrauen nahm wieder zu, ich wusste selbst nicht, warum. Um darüber hinwegzukommen, vergegenwärtigte ich mir die positiven Eigenschaften, die Doris mir vermutlich zuschrieb, ich muss mir das jetzt nicht wiederholen. Dann rief ich mir ins Gedächtnis, womit sie mich beeindruckt hatte. Sie war gut aussehend, sie war freundlich, sie war klug. Ja eben, klug.

     Was die materiellen Aussichten an Doris’ Seite anging, so nahmen sie jetzt schon märchenhafte Züge für mich an. Sie war fabelhaft reich oder würde es nach der Hochzeit mit mir sein. Man sagt, dass Geld sinnlich macht. So ganz traf das bei mir nicht zu. Ich kam mir in meinen Zukunftsphantasien zwar zeitweise wie der Held eines orientalischen Märchens vor, aber auch der Gedanke an bestimmte Luftspiegelungen kam mir wiederholt. Fata morgana! Vielleicht sollte ich auch hierin getäuscht werden? Ich wollte mich nicht täuschen lassen. Ich war im Übrigen kein Haschischesser. Ich stellte mir die Steppe als eine ideale Landschaft vor, nicht die Wüste. Ich war Polizist. Ich war unsicher, ob ich mich noch auf meinen Instinkt verlassen konnte.

     So zauderte ich zehn Tage lang und unternahm nichts. Da rief Doris mich an. Sie lud mich auf den folgenden Sonntag zum Mittagessen bei ihren Eltern ein. In ihrer Stimme spürte ich neben Sympathie für mich vor allem Vernunft. Ich empfand ihren Anruf als beinahe erlösend. Unser Verhältnis konnte geklärt werden.

 

Ich holte sie am Sonntag aus ihrem Apartment ab, bevor wir zu ihren Eltern hinübergingen. So hatte sie es am Telefon gewünscht. Übrigens hat sie weder vorher noch nachher ihre kleine Wohnung so genannt, nur dieses eine Mal. Doris drückte sich gewöhnlich unironisch aus, einfach und direkt. Wenn sie ausnahmsweise einmal gestelzt redete, spürte ich die Anstrengung heraus, mit der sie sich zu etwas zwingen wollte.

     Sie küsste mich kurz und fragte: „Fertig?“ Dann schob sie mich bereits auf die Loggia hinaus. Während wir den Hof halb umrundeten, erfuhr ich, Dirk sei bei Regina in Stinkenbrunn.

     Als ob sie sich entschuldigen müsste, sagte sie: „Wie ich Mama kenne, wartet sie schon. Wir können also gleich anfangen … Du wirst die beiden beim Essen kennenlernen. Sie werden dich ein wenig ausfragen.“

     Doris klingelte an einer anderen Tür, wir waren jetzt auf der Rückseite des Vorderhauses. Es wurde sofort geöffnet. Die Mutter – es war doch die Mutter? – stieß einen Überraschungsschrei aus, der mir ziemlich vertraut vorkam. Auch in meiner Verwandtschaft kann man ihn bei Gelegenheiten wie dieser hören.

     Sie rang ein wenig die Hände, nur andeutungsweise, und sagte dabei mit Nachdruck: „Nein, wie wir uns freuen …“

     Sie sah aus wie Ende vierzig, war etwas mollig und alpenländisch gekleidet: cremefarbene Bluse mit rosa Besatz. Der Rock war, glaube ich, kariert. Noch in der Diele fühlte ich mich erleichtert: Sie hatte nichts Einschüchterndes an sich. Ich hatte vorher von Doris auf sie geschlossen und sie mir auf unbestimmte Weise damenhaft streng vorgestellt.

     Sie wiesen mir beide den Weg ins Speisezimmer, wo bei meinem Eintreten mein zukünftiger Schwiegervater rasch seinen Sessel verließ und die Presse auf eine zwei Meter entfernte Anrichte warf. Seine Bewegung dabei kann ich nur als dynamisch bezeichnen, sie war federnd und schwungvoll zielend. Sie stand in auffälligem Kontrast zu dem altertümlichen Sessel. Ich glaube, die Einrichtung des Zimmers war vollständig Biedermeier. So etwas kannte ich von zu Hause nicht.

     Herr Althammer erschien mir jünger als seine Frau, obwohl sein buschiger Schnauzbart schon eisgrau war. Er war hager und gebräunt. Sah so heute ein Konditormeister aus? Ich fand, er wirkte gesünder als Dirk. Er sagte: „Ah so, da wären wir also, na ja.“ Er trug einen dunkelgrauen, beinahe schwarzen Anzug und war auf seine Art elegant, ich meine, ungefähr wie ein Abgeordneter vom flachen Land, und das wurde er einige Zeit später tatsächlich.

     Wir musterten uns gegenseitig kurz und intensiv, die Eltern mich und ich sie und Doris abwechselnd die Alten und mich. Ich stellte fest, dass die Haut der Mutter über dem Dirndlblusenbesatz vergleichsweise käsig aussah und einige Leberflecken aufwies.

     Die Mutter sagte: „Es ist nicht wie in vornehmen Häusern. Dass Sie nicht enttäuscht sind … Es ist alles bereit. Doris, hilf mir beim Auftragen.“

     Sie hatten also keine Bedienung, jedenfalls heute nicht. Auch das fand ich erleichternd.

     Herr Althammer suchte mich noch vor dem Beginn der Mahlzeit in ein Gespräch zu ziehen. Er fragte, welche Straße ich nach Rosenberg genommen hätte, und ging auf meine Antwort hin sofort auf den allgemeinen Zustand der Landstraßen bei uns über. Dabei stand er mal hier und mal da im Zimmer, und die Frauen, die auftrugen, gingen um ihn herum. Ich blieb natürlich auch stehen und versuchte, in seiner Nähe zu bleiben, möglichst ihm gegenüber. Dabei passte ich auf, dass ich Doris und der Mutter nicht mehr als unvermeidlich im Weg stand.

       „Gesegnete Mahlzeit!“ Ich hatte mit einem Tischgebet gerechnet.

     Herr Althammer ließ den Löffel über dem Suppenteller schweben. Die Verkehrsverbindungen, das war sein Thema. Er nannte mich bereits junger Freund. „Junger Freund, das wird für Sie erst anders, wenn wir in einer fernen Zukunft auch hier eine Autobahn bekommen. Eine Autobahn nach Prag.“ Er lachte kurz auf, wie abgehackt.

     „Rechnen Sie im Ernst damit?“ Seine Vorstellung kam mir absurd vor. Die Grenze war für mich die Grenze und nichts weiter. Wo ich herkam, dachte man nicht oft an sie. Und jetzt eine Autobahn nach Prag.

     „Natürlich erst im nächsten Jahrtausend.“

     „Und dann wird sie vermutlich näher an Stinkenbrunn liegen“, sagte Doris.

     „Meine Mutter kommt aus Krumau, Krumau in Böhmen“, sagte die Mutter von Doris. Niemand ging darauf ein.

     Der Tafelspitz spielte beim Hauptgang die Hauptrolle. Ein traditionelles Gericht, mit dem man kaum falsch liegen kann. Sie wussten ungefähr, wen sie zu Tisch haben würden. Man aß bei ihnen natürlich nicht aus einer Schüssel.

     Doris’ Vater fragte nach unserem Landbesitz. Ich weiß die genaue Fragestellung nicht mehr. Ich glaube, er hat so geschickt formuliert, dass ich begriff: Er will wissen, mit wie viel ich rechnen kann, obwohl ich nicht der Jüngste bin. Dass wir drei Brüder sind und ich der mittlere, das wussten sie schon.

     „Ja, Doris hat es uns gesagt.“

     „Wir haben da bei Haftlach einen Bauernwald, der ist mir schon übereignet worden.“

    „Ach ja?“ Er blickte scharf, als ob er nicht wüsste, wie wenig ein Bauernwald dort oben wert ist. „Alles Fichten?“

    „Nein, meistens Buchen, auch Eichen. Mittelwald.“ – „Immerhin.“

     Mir bedeutete dieser Wald etwas. Ich erzählte ihnen, dass ich den Wald im Jahr davor auf den Stock gesetzt hatte. Was ich ihnen nicht sagte, ist das: Das Geld für das Eichen- und Buchenholz habe ich damals heimlich Fritz gegeben. Davon hat er den gebrauchten Kleinwagen gekauft. Nicht einmal mein Vater wusste das. Ich fand, die Eltern von Doris ging es noch weniger an.

     Doris sah mich an: „Du hast das alles selbst gemacht?“

     „Fritz hat mir dabei geholfen. Mein jüngerer Bruder.“

     „Sie arbeiten sicher gern in der Natur? Wo Sie nun einmal vom Land sind.“ Frau Althammer sah mich an. Ihre Miene drückte gar nichts aus. Vielleicht reizte mich das zu einer Unvorsichtigkeit.

     Ich sagte: „Ich betrachte diesen Wald als mein privates Naturschutzgebiet.“

   „Bravo. Contra Waldsterben, junger Freund?“

     „Nein, an und für sich schon.“

     „Gut, sehr gut. Genau die richtige Einstellung. Sie werden mir doch kein heimlicher Grüner sein, Sie als Polizist!“ Er lachte jetzt wieder auf seine kurz angebundene Art.

     „Nein, das kann ich mir bei Ihnen schon nicht mehr vorstellen, bei Ihrer Herkunft … Und noch dazu Polizist. Obwohl, obwohl … Wisst ihr, in Deutschland sind die Polizisten jetzt grün uniformiert. Nicht sehr sympathisch, muss ich schon sagen. Wie die Laubfrösche sehen sie aus auf ihren Motorrädern, wenn sie einen auf der Autobahn überholen.“ Herr Althammer war neulich beruflich in Hamburg gewesen, wegen einer Ausstellung. Er sagte: „Stundenlang fährt man durch diese Ebenen, diese Pampas da, grauenhaft.“

     „Hein, du bist noch nie in Deutschland gewesen?“ Doris musste es erraten haben. Bis dahin hatte ich ihr nicht gesagt, dass ich noch nie im Ausland war.

   „Nein. Trotzdem scheint mir, ich kenne es gut – aus dem Fernsehen.“

   „Wie wir alle. Aber Vorsicht“, – Herr Althammer beugte sich vor und zu mir herüber – „das Volk dort denkt anders, die Straße redet anders, als Sie es erwarten würden.“ Er lehnte sich wieder zurück und fuhr nach kleiner Pause fort: „Da ersucht man uns jetzt, sozusagen offiziös, doch bitte sehr Abstand zu nehmen von der Wahl des uns genehmen Kandidaten zum Präsidenten. Welche Zumutung! Diese gleichen internationalen Kreise, denen der Kandidat für die Vereinten Nationen passabel erschien, wollen uns nicht erlauben, ihn hier zum Bundespräsidenten zu wählen. Aber glauben Sie, die einfachen Menschen in Hamburg, in München fordern das auch?“

     Das war eine ziemlich leichte Examensfrage. Ich antwortete: „Vermutlich hat das niemand in Deutschland von Ihnen verlangt.“

     Vermutlich hätte ich mich eindeutiger äußern müssen. Tatsächlich bewegte mich die Präsidentenfrage nicht sehr stark. Ich war natürlich wie überhaupt alle, die ich kannte, für diesen Kandidaten. Ein anderer wäre doch wirklich nicht in Frage gekommen. Aber es war auch wiederum so, dass er mich nicht gerade in einen Begeisterungstaumel versetzte.

     Herr Althammer schien etwas enttäuscht von meiner matten Antwort. „Was glauben Sie, was soll ich Ihnen sagen: Man hat mich wiederholt auf die Causa Waldheim angesprochen – und zwar im entgegengesetzten Sinn. Man schämt sich, hören Sie, man schämt sich dafür, wie man mit uns umgeht … Wie stehen Sie übrigens zu dieser Frage?“

     „Ich bin sicher, dass er gewählt wird, und das freut mich schon jetzt.“

     „Ah, sehr gut, das wollte ich hören. Wissen Sie, Sie gehören einer anderen Generation an. Es fällt mir schwer, einem jungen Menschen die politische Einstellung von der Stirn abzulesen, aber ich glaube, Eva, wir können beruhigt sein.“

     „Hilft ja nichts“, sagte Doris, „ob es wem passt oder nicht, er wird ja doch gewählt.“

     „Auch ein kleines Land hat seine Rechte“, fügte die Mutter hinzu. „Wir sind souverän, nicht wahr?“

     Mein künftiger Schwiegervater hatte das letzte Wort: „Dem Mann muss man Respekt zollen.“ Ich glaube, kurz darauf habe ich den Tafelspitz gelobt, wie es sich gehört.

     Die Marilleneisknödel kamen natürlich aus eigener Herstellung. Das ging für mich schon aus der Art hervor, wie Frau Althammer uns die Dessertteller vorsetzte. Damit meine ich nicht, dass sie sich eine Spur herausfordernd bewegte und die Dirndlbluse über dem Teller vorübergehend etwas verrutschte … Das sieht man ja immer so in der Werbung, vielleicht hat sie es unbewusst kopiert. Nein, ich meine diesen dummen und stolzen Gesichtsausdruck. Das war ihr Höchstes. Sie waren die Konditoren. Ich war nicht so dumm, ihre Erwartung zu enttäuschen.

     „Das Eis schmeckt noch immer so gut wie damals, als ich beim Heer war. Ich war fast jede Woche in Ihrem Café.“ Das war zumindest übertrieben. Ich hatte seinerzeit nicht das Geld, so viel für Konditoreien auszugeben.

     „Und Sie hätten damals nicht gedacht, dass Sie dieses Eis später einmal ein Stockwerk höher serviert bekommen würden?“

     Herr Althammer meinte, in Rosenberg lebe es sich überhaupt gut. Würde ich denn gar nicht zurück wollen, wieder heraus aus dem Moloch da drunten? So drückte er sich aus.

     „Sie fragen mich, ob ich wieder hier leben möchte? Ich glaube schon. Aber ich lebe ja von dem, was ich da unten an Gehalt beziehe.“

     „Könnten Sie sich denn nicht zur Gendarmerie versetzen lassen?“ fragte die Mutter.

     Da ich mit der Antwort zögerte, nur einen kurzen Augenblick, antwortete Doris für mich: „Ja, er hat gesagt, dass das ziemlich oft vorkommt, nicht, Hein?“

   Ich konnte mich nicht erinnern, darüber schon mit ihr gesprochen zu haben. „Ja, das ist nicht so selten. Ja, das kann man immer versuchen. Ich könnte es mir vorstellen.“

     Dann gab es Kaffee. Er belebte das Gespräch jedoch nicht mehr. Das Wichtige für diesen Tag schien schon gesagt zu sein. Doris sagte, wir würden gern zu ihr hinübergehen.

     Frau Althammer fragte, ob wir ins Grüne fahren würden. Nein, das war nicht geplant. Ich musste ja bald zurück in die Hauptstadt. Da fanden es die Eltern von Doris naheliegend, dass wir den Rest des Nachmittags im Haus verbringen würden.

     „Alles gut gegangen“, sagte Doris, als wir hinübergingen. Sie berührte meinen Oberarm mit ihren Fingerspitzen.

     Als ich mit Doris schlief, machte ich wieder diese für mich schon nicht mehr neue Erfahrung: Ich nahm Doris nur am Rand wahr, während ich normal funktionierte. Mich beschäftigten vor allem die Eindrücke aus den Stunden unmittelbar davor.

     Es war nicht in erster Linie die Mutter, die mir zu denken gab. Warum haben Männer von Gewicht so oft blasse Frauen? Jedenfalls scheint mir dies viel öfter vorzukommen als der andere Fall, in dem in einer Ehe Mann und Frau sich gegenseitig voranbringen. Würde auch in unserem Fall die Entwicklung ungleichmäßig verlaufen? Dann war ich entschlossen, mich nicht an den Rand drängen zu lassen. Indem ich das mehr fühlte als dachte, gewann ich eine viel positivere Einstellung zu mir selbst als sonst. Es entging mir vollkommen, wie ich dabei auf Doris wirkte. Ich konnte nicht mich selbst und gleichzeitig auch noch sie beobachten, das war unmöglich.

     Natürlich konnten ihre Eltern nicht Modell für uns sein. Wir könnten sie nicht kopieren, selbst wenn wir es wollten. Doris war nicht blass genug. Sie überstrahlte einen nicht gerade, doch schien sie mir einen ziemlich festen Kern zu besitzen. Er würde es ihr nicht erlauben, sich wesentlich kleiner zu machen. Mir fällt auf: Fast alle meine Sätze sind negativ formuliert. Ich konnte mir die an diesem Nachmittag wieder ein wenig wahrscheinlicher gewordene Verbindung mit Doris noch immer nicht konkret vorstellen.

     Ja, sie war wahrscheinlicher geworden. Das Tempo dieser Entwicklung verblüffte mich, es machte mich auch in Gedanken weitgehend sprachlos. Doch es war jetzt zweifellos so: Doris und ihre Eltern betrachteten mich als einen ernsthaften Kandidaten. Das ging eindeutig aus ihrem Verhalten hervor. Gerade auch Herr Althammer setzte auf mich. Er war dabei auf eine altmodische Weise förmlich gewesen. Vorhin hatte er mir beim Abschied die Rechte mit beiden Händen gedrückt. Wahrscheinlich war das bei einem Mann wie ihm ein Anzeichen, dass es ihm ernst war.

     Seine Art zu sprechen imponierte mir an sich wenig. Man konnte sie mit wenig Mühe lächerlich machen, indem man sie einfach kopierte. Doch ich spürte etwas dahinter, das mich anzog. Der Mann wollte sich auf jeden Fall durchsetzen, das gefiel mir. Und er bot einem an, einen dabei zu beteiligen. Das gefiel mir noch mehr. Ich will es so ausdrücken: Ein Mann von Qualität erkennt immer den Mann von Qualität. Nur dumm, wenn sich später herausstellen sollte, es sind verschiedene Qualitäten. Vorerst einmal war er die Autorität. Er hatte alles unter Kontrolle. Das war es, was mir imponierte.

     Mit mir muss an diesem Tag eine Veränderung vorgegangen sein. Als ich mich von Doris verabschiede, nenne ich ihr den Termin, an dem ich das nächste Mal zwei Tage hintereinander dienstfrei haben werde. Dann komme ich auch wieder nach Rosenberg.

     Als ich abends im Zug sitze, der mich in die Hauptstadt zurückbringt, kommt mir ein neuer Einfall. Ich werde ein Notizbuch kaufen und es jedes Mal eintragen, wenn wir wie Mann und Frau einander nahe gewesen sind.

 

 

Jetzt muss ich die Geschichte unserer Verlobungsreise erzählen. Regina war es, die bei meinem nächsten Besuch das Stichwort gab: „Werdet ihr euch offiziell verloben?“ Alle sahen mich an. So wie es schien, hing das vor allem von mir ab.

     „Die Einzelheiten haben wir noch nicht festgelegt.“

     „Jedenfalls nichts großes Gesellschaftliches“, sagte Doris.

     „Also am besten in aller Stille“, ergänzte Dirk.

     „Da gibt es eine ideale Lösung“, sagte Regina, „man verreist kurz zusammen und kommt als verlobt zurück. Es ist dann ganz spontan gewesen.“ Es war mir noch unklar, ob ich mit Doris allein verreisen sollte. Oder würden die beiden mitkommen?

     Doris sagte, sie sehne sich nach dem Frühling, nach dem Süden, nach Wärme. Zwangsläufig kam es zu der Idee, für einige Tage nach Italien zu fahren.

     Regina beriet uns mit ihrem Sachverstand. „Venedig? Um Gottes Willen, all die vielen frisch Verheirateten … Wer will sich das zumuten. Nein, in Venedig könnt ihr euch nicht verloben.“ Stattdessen schlug sie Triest vor, das sei viel weniger touristisch. Man könne auch nach Grado fahren. Oder im Friaul landeinwärts.

     Ich beriet mich mit Doris, als wir allein waren. Als ich fragte, ob nur wir zwei nach Italien fahren würden, sah sie mich sonderbar an.

     „Ja, freilich. Alles andere würde ja komisch aussehen.“

     Es wurde uns bald klar, dass wir es kaum bis nach Italien schaffen würden. Es lag nicht an mir. Im Mai hatte ich drei Wochen Urlaub. Aber Doris sagte, sie könne sich nur über ein Wochenende frei machen. Sie war erst im Februar mit Dirk in Ischgl gewesen, und jetzt würden sie nur schwer eine Aushilfe für mehr als zwei Tage für sie finden. Wir beschlossen, trotzdem in den Süden zu fahren, nur ein kleines Stück. Wir würden im Land bleiben, doch bis an die Südgrenze fahren. Bis an die Grenze, immerhin. Dort müsste es eigentlich um diese Zeit schon fast Sommer sein, dachten wir. Die Reise würde nur kurz sein, aber ihren Zweck erfüllen. Da unten, in der milden Luft, da würden wir uns plötzlich verloben.

     Ich setzte mich an jenem Freitag in die Bahn und fuhr Doris ein Stück entgegen, nach Norden also. Doris hatte mich bei mir in der Stadt abholen wollen, aber ich setzte es durch, dass ich am Bahnhof von K. in ihren Wagen stieg.

     „Es kostet zu viel Zeit, wenn du erst in die Stadt hineinfährst und dann wieder hinaus. Wir wollen doch an diesem Tag so weit wie möglich nach Süden. Oder?“

     Ich erlebte sie zum ersten Mal länger am Steuer. Sie fuhr sicher, zügig und dabei umsichtig. Ich hätte es nicht besser machen können. Sie schien heiter. Vorfreude lag auf ihren Zügen. Ich nahm mir vor, sie nicht zu enttäuschen. Zugleich erfüllte mich die Furcht, es schlecht zu machen. Es gibt ein vorwegnehmendes Schuldbewusstsein.

     „Weißt du, was mich am meisten freut: dass wir endlich einmal so lange allein beieinander sind.“ Sie summte, keine bestimmte Melodie, eher den Ansatz zu einer Improvisation, über den sie dann nicht hinauskam.

     „Ja, zwei Tage so sind eine richtig lange Zeit. Das lohnt sich wirklich.“ Es war mir ja ernst. Es war ein Experiment, von dem ich mir Aufschluss versprach.

     Damals war die Umfahrung der Hauptstadt noch in Bau. Wir mussten die Autobahn erst verlassen und über Stadtstraßen an der Peripherie die Südautobahn erreichen. Wir vertrödelten eine Menge Zeit.

     „Wir könnten noch immer abbiegen und zu dir fahren. Ganz spontan?“

     „Nein, lieber nicht. Denk doch an das, was gewesen ist. Die Atomwolke …“

     „Ach ja. Das Unglück … Aber warum soll es hier gefährlicher sein als in Rosenberg?“

     „Weil meiner Meinung nach hier viel mehr Staub in der Luft ist. Oder auf den Gebäuden liegt. Staub, das ist verseuchte Materie, verstehst du? Du atmest es ein, ohne die Gefahr zu erkennen.“

     „Ja, vielleicht ist es so. Kann sein. Du zeigst mir später einmal, wie du hier lebst?“

     „Sicher. Es kann nicht lange dauern, bis die Gefahr vorbei ist. Der Regen wird ja alles wegwaschen. Fortspülen, sehr einfach.“

     Wir hatten bis dahin fast nicht über den Reaktor gesprochen. Dabei waren in jenen Tagen für mich mehr Überstunden als sonst angefallen. Ich hatte nicht darüber reden wollen. Das Leben war mir zeitweise irreal vorgekommen. Ich müsste jetzt nachträglich aus mir herausgehen.

     „Wenn du … also wenn du, altmodisch gesprochen, gesegneten …“

     „Schwanger?“

     „Ja …“

     „Das kann man jetzt nicht wissen, du nicht und ich vielleicht auch nicht.“ Sie lächelte nicht.

     „Ich wollte sagen: In diesem Fall wäre ich unbedingt dafür, dass du die nächsten Tage weiter weg von hier verbringst.“

     „Fahren wir also an die Südgrenze.“

     Von der Grenze war noch öfter die Rede, während wir immer weiter nach Süden fuhren. Ich sagte ihr, dass ich noch nie über eine Grenze gefahren sei.

     „Du wirst es ja auch diesmal nicht tun.“

     „Aber ich werde sie sehen.“

     „Deine Grenze … Wo sind deine Grenzen?“

     „Das weiß man vorher nicht.“

     Wir passierten den Alpenhauptkamm. Ich schlug ihr vor, die nächsten zwei, drei Stunden an ihrer Stelle zu fahren. Sie nahm es an, mir schien, sie hatte es erwartet.

     Die immer noch hohen Bergkämme zogen mal mit uns nach Süden, mal bogen sie zur Seite ab. Sie verloren nur allmählich an Höhe. Demnach hatten wir noch einen weiten Weg vor uns. Es war schon mitten am Nachmittag, das Tiefland deutete sich bisher nirgends an. Wir blickten in immer neue Gebirgskammern hinein, die sich schnell wieder dem Blick entzogen. Der Waldteppich zerfranste allmählich. Die Wiesen waren der Jahreszeit entsprechend gelb gesprenkelt. Abseits der Straßen herrschte unumschränkt Einsamkeit.

     „Fällt es dir nicht auch auf: Man sieht nirgendwo Vieh auf den Weiden.“ Sie hatte es endlich auch bemerkt.

     „Es ist verboten. Die Wiesen sind gesperrt.“

     „Aus dem gleichen Grund?“

     „Ja, aber nur noch kurze Zeit. Der Regen hat es gebracht, der Regen nimmt es wieder fort.“

     Über das was im Land jetzt vor sich ging, war sie offenbar nur schlecht informiert. Das erbitterte mich in einem Maß, das mir selbst übertrieben vorkam, jedenfalls dem Anlass nicht angemessen. Sollte ich mit ihr jetzt über den Ausstieg reden? Selbstverständlich sollte man alles stilllegen, wir hatten ja den Anfang damit gemacht. Aber ich wusste auch, es war oft nicht einfach auszusteigen. Ich zum Beispiel könnte zwar jetzt anhalten und aus dem Wagen steigen – nur was dann? Dann musste ich allein einen Weiterweg suchen und kam vielleicht nach kurzem wieder an derselben Stelle vorbei. Orientierungslos. Oft wünscht man sich auszusteigen und weiß nur zu gut, man tauscht dabei Risiken, die man schon kennt, gegen noch unbekannte ein.

     Sie summte wieder vor sich hin, dabei etwas auf dem Gesicht, das ich als Ratlosigkeit deutete. Sie schien mir doch im Übrigen so klug.

     Die Bergketten verliefen sich. Wir kamen jetzt auf Landstraßen nur noch langsam voran. Obstbaumwälder, die für dieses Jahr ihre Blüte schon hinter sich hatten. Kleine Städte und Marktflecken, die mir ungarisch vorkamen. Jedenfalls stellte ich mir Ungarn ungefähr so vor wie sie. Diese langen, niedrigen Häuserzeilen, das verblichene Ocker ihrer Fassaden, sollte das unser Süden sein?

     „Wir sind noch nicht an der Grenze. Es muss weiter im Süden sein.“

     „Hinter diesen Hügeln? Dann sag mir, wo ich abbiegen soll.“

     Doris vertiefte sich in die Karte. Sie ließ mich wiederholt abbiegen. Im Ergebnis gerieten wir immer tiefer in ein System parallel verlaufender, flacher Höhenzüge hinein, zwischen denen unbedeutende Senken von Nord nach Süd strichen. Die Landschaft war so regelmäßig wie das Straßennetz undurchschaubar. Aus einem Flugzeug wäre die Orientierung sehr einfach gewesen.

     Die Sonne sank ihrem Untergang immer rascher entgegen. Ihr Licht füllte diese lächerlichen Gräben schon nicht mehr aus. Ich fuhr durch tiefen Schatten eine sanfte Anhöhe hinauf, von deren überraschend scharfem Grat es sogleich ebenso sanft abwärts ging. Dabei blendete mich die Sonne. Doris ließ mich an der nächsten Verzweigung nach Osten abbiegen, ich glaubte, nur aus Mitleid. Wir erreichten bald wieder den Grat, und die Straße folgte ihm doch endlich einmal geradewegs nach Süden. Sie war gesäumt von kleinen ländlichen Anwesen, die alle so aussahen, als hätten ihre Besitzer den endgültigen Ausstieg bereits geschafft. Wahrscheinlicher war, sie waren niemals irgendwohin aufgebrochen.

     Um eine barocke Kirche, rosarot und weiß, die in der Dämmerung schon angestrahlt war, verdichteten sich die Häuser. Einem Straßenschild zufolge erhob die Häusergruppe den Anspruch, als Marktgemeinde zu gelten. Als ich beim Kirchenwirt anhielt, sah mich Doris fragend an.

     „Wir können morgen immer noch bis an die Grenze. Fragen wir hier nach einem Zimmer?“

     Vom Parkplatz übersah man einen großen Ausschnitt rasch dunkler werdenden Landes. An vielen Stellen flammten jetzt auf den Kämmen die Lichter in den vielen vereinzelten Häusern auf. Nur im Süden, wo es eben zu sein schien, herrschte fast ungestörte Finsternis.

     Eine kleine alte Frau trat aus einem flachen und fensterlosen Gebäude, eine Milchkanne hing ihr von der rechten Hand herab, fast bis zum Boden. Daraus schloss ich, dass sie vom Melken kam.

     „Sie suchen etwas für die Nacht? Nur für eine Nacht?“ Sie führte uns zu einem anderen niedrigen Gebäude mit flachem Dach. Jedes der wenigen Zimmer hatte eine eigene Tür auf den Parkplatz hinaus. Das gefiel uns auf Anhieb, auch mangels sonstiger herausragender Merkmale. Die Wirtin ließ uns einziehen, und wir brachten unser Gepäck hinein. Wir würden ja nachher in die Gaststube hinüberkommen, um dort zu nachtmahlen, sagte sie. Vermutlich gab es im Umkreis von zehn Kilometern keine andere Gelegenheit dazu.

     Doris sagte: „Sieh einmal, wie klein das Fenster ist. Sie schützen sich vor der Sonne. Das ist der Süden.“

     Die Gaststube war mittelgroß, die meisten Tische waren besetzt. Wir fanden für uns einen freien nahe dem Eingang. Nur saßen wir dabei über Eck. Ich überblickte den Großteil des Lokals und spürte ab und zu den Luftzug von der sich öffnenden Eingangstür her. Doris sah nur den Schanktresen vor sich. Wir vermissten die Wirtin. Sie zeigte sich an diesem Abend nicht mehr. In dem älteren Mann mit der graugrünen Strickweste, der zeitweise neben uns Bier zapfte, die meiste Zeit allerdings weiter hinten bei Stammgästen kiebitzte, vermuteten wir den Wirt. Dann gab es noch ein Servierfräulein, das auch uns bediente. Sie lief geschäftig zwischen den Tischen, dem Tresen und der Durchreiche hin und her. Das Wurzelfleisch erschien auf unserem Tisch.

     „Schau, sie haben auch Kernöl. Aber passt es auch dazu?“

     Ich zuckte die Achseln. „Bin nicht kompetent in solchen Fragen.“

     „Kompetent … Worin ist ein Polizist kompetent? Verbrechen?“

     Ich ging darauf ein: „Ordnung, positiv ausgedrückt. Magst du sonst Kernöl?“

     „Ja, sehr sogar. Mama hasst es. Kernöl und ihre böhmische Küche – unmöglich für sie … Stellst du mich bald einmal deinen Leuten daheim vor?“ Da wurden aus dem Stegreif Ansprüche formuliert, es verdross mich sogleich.

     „Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Soll ich dann dafür sorgen, dass Kernöl im Hause ist?“ Ich spürte wieder den Luftzug, sah eine Silhouette vorbeitänzeln. „Glaubst du“, sagte ich, um meine Verwirrung zu verbergen, „dass diese Saaltochter die Tochter des Hauses ist?“ Wenn ich es schweizerisch ausdrückte, so war das eine ironische Nebelkerze. Er war mehr als ansehnlich - blendend, auf den ersten Blick.

     Doris musterte das Fräulein. „Nein, sie wirkt nicht so.“

     „Woran erkennst du es?“

     „Die Haltung, die Miene … Ihr Profitinteresse scheint mir eher weniger ausgeprägt.“

     Ich bewunderte ihren Scharfsinn. Nun, sie war selbst eine Art Wirtstochter, doch ihr Blick war nicht so scharf, dass sie die Hauptrichtung meines Blickes entdeckt haben konnte. Ich war damals sicher, sie nahm nur das frei Schwebende darin wahr. Dem Unwissenden verrät es nichts. Ich schien mich nur mäßig für die Bauern dahinten zu interessieren. Er saß jetzt neben ihnen auf der Ofenbank, schwarzhaarig, viel glänzender schwarz als mein eigenes Haar. Er hatte zu ihnen etwas durch die Zähne gesagt, ihren Blicken nach etwas für sie Unverständliches. Dennoch rückten sie zur Seite, mehr als nötig.

     Ein harmonischer Anblick hängt auch vom richtigen Abstand oder Blickwinkel des Betrachters ab. Fehlt er oder ändert sich die einmal erreichte ideale Perspektive, dann wird der Gesamteindruck rasch unerfreulich. Ich ahnte schon, die Faszination des Fremden war von dieser Art. Er würde erst lächeln und dann zu reden anfangen und sich als ziemlich gewöhnlich und keineswegs mehr begehrenswert erweisen. Ich wollte die Stärke seiner Anziehungskraft auf mich ermessen, indem ich ihren Verfall studierte. Diesen Vorgang habe ich wiederholt erlebt, vorher und nachher. Man ist danach angenehm enttäuscht, und man schläft gut. Mir erschien das als eine passende Vorbereitung auf unsere Verlobung.

     All das konnte ich damals so natürlich nicht vor Doris analysieren, und später übrigens erst recht nicht. Sie wollte zurück auf das Zimmer. Da legte ich ihr nahe, schon einmal vorzugehen. Als wären wir ein altes Ehepaar.

     „Ich brauche noch ein Viertel vom Wein. Weißt du, die Fahrt war recht stressig.“

     Sie zuckte ein wenig zusammen. Aber sie hatte sich in der Gewalt. „Du hast Recht, ich kann ja auch drüben warten. Nimm dich aber in Acht … vor diesem Schilcher.“ Damit verschwand sie schon. Wenn sie ein wenig verstimmt war, so war ich es auch. Meine Absichten waren durchaus ehrbar, ich konnte ihr nur nicht erklären inwiefern.

     Jetzt aß er, hingebungsvoll. Er war so sehr mit Essen beschäftigt, dass ihm der Weggang von Doris entging. Vorher hatte er einige Male mit dem Anschein von Arglosigkeit zu uns herübergesehen. Er aß langsam. Es dauerte seine Zeit, bis mein zweites Glas Wein auf dem Tisch stand. Dann war er endlich mit Essen fertig, und nun erst fiel sein Blick über das erhobene Bierglas hinweg wieder einmal auf mich. Ja, er stutzte. Für Sekunden blieb das Glas in der Luft: als ob er sich daran festhalten wollte. Ich lachte ihn an, voller Anerkennung. Er war geschmeichelt und zeigte es. Seine Augen blitzten. Und blies er nicht sogar die Backen ein wenig auf? Es tat ihm keinen Abbruch.

     Wir tranken beide absichtlich langsam den jeweiligen Rest aus. Als er gezahlt hatte und weggegangen war, ließ auch ich den Wirt kommen.

     Ich traf den anderen dann auf dem Parkplatz neben seinem Lastwagen. Der lange, hohe Kasten verdeckte jetzt die Sicht auf den Stall. Er ging am Fahrzeug auf und ab, offenbar bereit, einzusteigen und abzufahren.

     Ich fragte, wo es hingehen solle.

     Er war aus Deutschland und fuhr regelmäßig von Dortmund nach Saloniki. Als er anfing zu reden, kam mir die Erinnerung an einen schlecht funktionierenden Kinovorhang. Wenn er sich erst nicht öffnet und dann mit einem Ruck aufspringt, kann es vorkommen, dass die Stoffbahnen seiner Segmente den Vorspann auf der Leinwand einige Momente lang in isolierte Streifen zerlegen, Fragmente, die kein Gesamtbild ergeben. Ähnlich zersetzend auf seine zuerst so blendende Erscheinung wirkten seine Redeweise mit dem häufigen Nä? und sein unsteter Blick dabei.

     Er esse oft hier oben, wo es reichlich und billig sei, und wolle jetzt einen Parkplatz in der Nähe ansteuern: „Zum Pennen, nä?“ Witterte er schon den Gendarmen in mir, auf seine Weise doch schlau, wie primitiv auch sonst?

     „Deine Braut vorhin? Die bei dir am Tisch war … Schläft schon, nä?“

     „Nein, das war meine Schwester.“ Es kam mir ohne Absicht über die Lippen. Von einem Reflex kann man nicht sagen, er sei eine Lüge.

     Sein Interesse an mir nahm zu. Es war deutlich zu sehen, wie meine Auskunft ihn belebte. Er sah mich erwartungsvoll aus feucht schimmernden großen Augen an. Ich kam mir vor wie sein Abendessen vorhin. Aber ich wollte schon nichts mehr von ihm.

     „Auch für mich ist es Zeit. Komm gut nach Saloniki.“ Ich hörte ihn noch wegfahren, als ich die Tür zu unserem Zimmer aufstieß.

     Doris stellte sich schlafend, und zwar so, dass ich ihre Verstellung bemerken musste. Ich glaube, sie hatte auf diesen Augenblick zwei Stunden lang warten müssen. Ich legte mich neben sie hin. Sie schlief dann bald wirklich ein, und ich lag fast bis zum Morgen wach.

     Ich rechnete in dieser Nacht mit mir ab. Da ich erst gar nicht eingeschlafen war, brauchte ich nicht aus jenen schönen Träumen aufzutauchen, in denen man scheinbar alles durchschaut und aus denen man mit dem Gefühl aufwacht, man hätte nun endlich den Schlüssel gefunden, den Schlüssel zum Wissen, zum Glück, und dann zerrinnt einem diese Gewissheit zu nichts. Weit davon entfernt, euphorisch zu sein, empfand ich von Anfang an die unangenehme Klarheit der Schlaflosigkeit. Meine Lage war mehr als prekär: Sie war unmöglich.

     Ich erkannte auch oder ich erkannte an, dass ich den Lastwagenfahrer gekränkt haben musste. Ein schlichtes Gemüt, aber er würde mich jetzt nicht ignorieren, mich nicht mit Verachtung strafen. Wirklich nicht? Er wird jetzt vielleicht an mich denken, sagte ich mir, aber mit welchem Gefühl? Er wird mich aufreizend und ein bisschen widerlich finden und mit einem schlechtem Geschmack im Mund einschlafen: Das ist die Erinnerung an mich, verdorben, so frisch sie noch ist. Wenn sie schwächer wird, wird sie weniger unangenehm sein. Ich sah voraus, dass sich dieser Ablauf an der Seite von Doris wiederholen müsste, viele Male. Schon aus diesem Grund sollte ich verzichten. Worauf eigentlich verzichten? Das war noch immer die Frage.

     Ich darf sie nicht heiraten! Das sagte ich mir immer wieder, und mit dieser Gewissheit wurde ich allmählich ruhiger und schlief, wie gesagt, gegen Morgen doch noch für einige Stunden ein. An die Träume dieser Nacht kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich damals sogar auf Träume verzichtet, ich meine, nicht nur in dieser Nacht, sondern in diesem ersten Abschnitt überhaupt.

     Ich erwachte davon, dass Doris sich im Bett unruhig hin und her bewegte. Der Ablauf des vergangenen Abends war mir sogleich gegenwärtig. Ich sah sie an. Sie vermied meinen Blick. Ich sagte „Einen guten Morgen“, so munter wie möglich, und erhielt zur Antwort nur diesen unbestimmten Ton aus der Kehle, wie man ihn mit den Stimmbändern hervorbringt, wenn man dabei die Lippen nicht bewegt. Stör mich nicht in meinem Schmerz, konnte das beispielsweise heißen.

     Ich stand auf, zog Hose und T-Shirt an und öffnete die schmale Tür, die auf die Terrasse hinausführte. Und da fand ich sofort den Süden, den wir gesucht hatten. Er umgab mich mit seiner schon ziemlich warmen, schmeichelnden Luft. Ein Sommerwind fächelte sie mir ins Gesicht und trug die Düfte zahlreicher Pflanzen und Blüten mit sich. Ich sah den Frühsommer vor mir, wie man ihn so intensiv bei uns zu Hause auf dem Hochland nicht erleben kann, auch nicht in der zu eng bebauten Stadt. Das dichte Grün der weithin abfallenden Gärten wies allein schon eine ganze Palette unendlich vielfältig ineinander verwobener Nuancen auf. In ihm sah ich den roten Mohn hier und da aufleuchten, ich sah die rosafarbenen Pfingstrosen dicht bei der Terrasse und in der Ferne das Weiß des Bauernjasmins. Sein Parfümduft mischte sich mit dem herberen von Weißdornhecken, die weiter unten auch schon blühten. Die Jahreszeit war hier sechs Wochen weiter als bei uns im Norden. Und der Sommer würde lang sein, der Herbst später kommen und länger mild sein. Die Farben der jetzigen Saison waren schon die Italiens. Eine Ziege meckerte in der Nähe. Ich machte mir klar, dass da unten am jenseitigen Ufer eben nicht Italien lag, sondern dieses seltsame Land, bewohnt von Tschuschen, wie mein Vater daheim sie nannte. (Einige Zeit nach dieser Geschichte hat es aufgehört zu existieren.)

     Die Tiefebene in der Ferne war eintönig grün, ohne Beimischung anderer Farben. Dort unten war es dunstig, hier oben bei aller Wärme klar. Warum noch weiterfahren? Ich kam zu keinem Entschluss mehr, denn gerade da spürte ich plötzlich das warme Rieseln. Nasenbluten, wieder einmal. Ich stürzte zurück ins Zimmer und warf mich quer übers Bett, in Rückenlage und den Kopf flach. Damals hatte ich zwei- oder dreimal im Jahr solche Anfälle, immer bald nach dem Aufstehen. Manchmal ließ sich der Blutfluss nur schwer stoppen. Eine Ursache ist nie gefunden worden. Inzwischen tritt es schon lange nicht mehr auf.

     „Bleib liegen. Ich kümmere mich darum.“

   Doris sah die frischen roten Flecken auf dem weißen T-Shirt und stellte keine überflüssigen Fragen. Sie verschwand im Badezimmer und kam mit einem Handtuch zurück, das sie mit kaltem Wasser getränkt hatte. Sie formte einen Wickel daraus, den sie mir unter den Nacken schob. Sie ging sehr zielstrebig vor, nur wenige, zweckmäßige Handgriffe. Dabei fasste sie mich sanft an. Ich fühlte, wie ich mich entspannte. Den kleinen Schrecken, der mit einem derartigen Blutsturz immer verbunden ist, ich hatte ihn schon überwunden. Nun schmeckte ich das allmählich gerinnende Blut am Gaumen. Natürlich würde es bald wieder aufhören, nach zehn Minuten oder einer Viertelstunde. Nur nicht zu früh aufstehen. Sie strich mir mit den Fingerkuppen zart über die Stirn, dann über die Stoppeln meiner erst vor zwei Tagen sehr kurz geschnittenen Haare. Ich sah ihre Brüste über mir. Vielleicht sah ich ihren Busen überhaupt zum ersten Mal bewusst an, ich meine in dem Sinn, dass ich mich fragte: Wie gefällt dir das? In meiner damaligen Lage, hilflos, zum Stillliegen verurteilt, nahm ich ihre sehr weibliche Erscheinung auf eine mir bis dahin ungewohnte Weise zur Kenntnis, zu meiner eigenen Verwunderung angenehm erfreut. Ihr Bild schien mir gut zu dem Eindruck der Gärten draußen zu passen: unaufdringlich schwellend, die Nuancen in den Farben und Formen gut aufeinander abgestimmt, im Ganzen auf eine nicht näher bestimmte Weise verheißungsvoll. Warum nicht doch?

     „Passiert dir das öfter?“

     „In großen Abständen. Aber es ist nur einfaches Nasenbluten. Meine Wunden heilen sonst immer schnell.“

   „Du bist also kein Bluter?“ Sie mimte Besorgnis.

   „Nein, das wenigstens nicht.“ Ich lachte.

   „Und selbst wenn …“ Mir kam es vor, sie sei jetzt doch ernst. Dann nahm sie meine rechte Hand, drehte sie im Gelenk um und küsste die Haut da, wo sich das Geflecht der Adern auf der Innenseite des Unterarmes abzeichnet.

     Doris ließ mich allein und verschwand im Badezimmer. Ich hörte sie hantieren, ich hörte den Wasserstrahl der Brause, den Fön. Sie war versöhnt und ich zum ersten Mal auf dieser Reise ziemlich entspannt.

     Bald darauf stand ich auf und konnte auch duschen gehen.

     Wir frühstückten nicht in dem großen Gastraum. Unsere Wirtin kam aus der Küche, als wir eintraten. Am Vorabend war sie mir nicht so klein erschienen. Sie war zierlich und ältlich, aber noch keine Greisin. Sie bat uns, ihr in den Frühstücksraum zu folgen. Ihre Art zu sprechen war verschieden von derjenigen der Saaltochter, ihr Dialekt war weniger breit. War sie eine aufs Land verschlagene Städterin? Oder kam aus einem entfernteren Teil des Landes?

     Wir saßen dann allein in einer Art kleinem Kabinett, das ziemlich düster war. Blaugrün und scharlachrot gefärbte Butzenscheiben verhinderten den freien Blick auf den Parkplatz.

     Als alles aufgetragen war, blieb die Wirtin neben uns stehen, um ein Gespräch zu beginnen. Doris ging bereitwillig darauf ein. Sie redeten über das Wetter, die Jahreszeit und die Nachtruhe, die hier ungestört sei. Ich schwieg dazu. Doris gab sich ungezwungen, sogar lebhaft. Das erschien mir nach dem bisherigen Verlauf der Reise nicht selbstverständlich. Ich erriet ihr Bedürfnis nach Normalität, besser gesagt: nach dem Anschein von Normalität und Zufriedenheit. Das hätte mich freuen sollen – sie sorgte sich um den Eindruck, den wir als Paar auf andere machten. Sie hielt unsere Schauseite in Ordnung. Stattdessen begann es mich zu ärgern – es war unaufrichtig.

     Die Wände waren mit zahlreichen Fotografien von Pferden tapeziert. Die Urkunden, die hier und da den Bilderzyklus unterbrachen, bezogen sich meistens auf Hengstprüfungen.

     „Sie züchten hier auch Pferde?“ fragte Doris, die also meinem Blick gefolgt war.

     „Ja, nur ein wenig. Mein Mann gibt sich damit ab. Wissen Sie, so ein Mann braucht etwas Besonderes als Lebensinhalt. Wir leben ja schlecht und recht vom Gasthof, ja, eigentlich so schlecht nicht … Die Pferde … sind ein Zuschussgeschäft. Wenn’s ihm nur Freud macht.“

     Um nicht nur zu schweigen, sagte ich: „Es sind schöne Tiere darunter.“

     „Ach, da haben wir letzten Herbst ein wirkliches Pech gehabt: Im Sommer sind die Pferde auf einer Weide am Rosalienberg, und da haben wir ein so schönes Hengstfohlen dabei gehabt … Und einmal ruft ein Nachbar an: Es zeigt sich vielleicht etwas in der Färbung an der Flanke. Mein Mann ist gleich hinaufgefahren und hat etwas Alkohol verrieben. Hätt ja nur Schmutz sein können. Aber nein, es ist doch ein Fleck gewesen, ein kleiner Fehler in der Farbe. Also die ganze Mühe mit ihm umsonst. Die Herren in der Kommission, die sind so streng.“

     „Und was wird dann mit dem Fohlen?“ Doris fragte wie ein Reporter, der nur professionell interessiert ist.

     „Nachher kommt’s dann in die Metzg.“

     „Schad drum“, sagte Doris im gleichen Ton wir vorhin.

     „Ja, das ist immer ein Geldverlust, wenn so etwas vorkommt.“

     Das Gespräch erbitterte mich. Nicht dass mir die Gebräuche in der Pferdezucht bis dahin unbekannt gewesen wären – es war dieser sachliche Verhandlungston, in dem der minimale Farbfleck eines Fohlens und seine daraus resultierende Verarbeitung zu Pferdefleisch von den beiden Frauen abgehandelt wurden. Das traf mich, ich weiß nicht wie, unmittelbar im Innern.

     Nachher stand ich mit Doris auf der zu unserem Zimmer gehörenden Terrasse. Wir schauten über die Gärten hinweg in den fahlen grünen Brei der Ebene.

     „Da unten wäre also unser Ziel“, sagte Doris in einem etwas zweifelnden Ton.

     „Es lohnt sich wohl nicht, noch weiterzufahren. Hier oben war es schön. Es wäre nur noch Abstieg.“

     Panik sah ihr aus den braunen Augen, als sie gleich nachsetzte: „Du willst schon wieder umkehren?“ Das hatte ich nicht vorgeschlagen. Doch nickte ich jetzt, und damit war unsere sofortige Rückkehr beschlossen.

     In den folgenden Stunden sagten wir uns nur das Nötigste. Darüber hinaus sagte Doris einmal: „Was hätte nicht alles sein können.“

     Damals funktionierte ich auch innerlich so, wie man es in einer derartigen Lage von mir erwarten konnte: Ich verspürte Reue und so weiter. Sollte es der Kulminationspunkt gewesen sein? Ich konnte es nicht akzeptieren, dass mich die Verwurstung eines Fohlens mehr ergriff als die Traurigkeit, in der Doris jetzt seit zwei Stunden auf dem Beifahrersitz verharrte. Und doch war es so …

     Als wir den Alpenhauptkamm geschafft hatten und es sich von da an angenehm bergab fuhr, sagte ich, das Ende dieser Reise, nur kein Ziel vor Augen: „Ich habe da etwas von einer freien Stelle bei der Gendarmerie in Riegersbach gehört.“

     „Und?“

     „Ich will es mir überlegen. Das heißt prüfen. Das heißt ja, wenn möglich.“

     „Kann ich es Papa schon sagen?“

     Ich nickte. Dann versprach ich, noch vor dem Ende meines Urlaubs wieder zu ihnen in den Norden zu kommen. Ich sagte, ich müsse mich zuerst um meine Wohnung kümmern. Sie sei ziemlich heruntergekommen.

     „Und so könntest du sie nicht übergeben?“

     „Richtig.“

     Damit hatten wir uns also zwar nicht stillschweigend, nur auf eine etwas indirekte Weise doch noch miteinander verlobt.

     Doris ließ mich an einem S-Bahnhof südlich der Stadt aussteigen. Während ich auf die Bahn wartete, befühlte ich das Innere meiner Jackentasche. Das neue Notizbuch war noch da. In diesem Augenblick beschloss ich, noch am gleichen Abend ins Schwarze Beisl zu gehen, zum ersten Mal überhaupt.

 

2. Das Schwarze Beisl

Warum geht einer wie ich zur Polizei? War es auch nur ein Beispiel falscher Berufswahl? Nun ist die Polizei an sich, noch dazu an den verschiedenen Orten und erst recht im Wandel der Zeit, ein sehr verzweigter, schwer zu überschauender und noch schwerer zu verstehender Organismus. Davon hat man, wenn man vor der Entscheidung für oder gegen sie steht, keine wirkliche Vorstellung. Es ist eher eine Frage des Instinktes als der Berechnung, ob man die richtige Wahl trifft.

   Ich bin bis jetzt nicht unzufrieden. Bin damit einverstanden, im Materiellen knapp gehalten zu werden, doch will ich auch sicher versorgt sein. Dies entspricht genau meinen Bedürfnissen. Ein Mehr als notwendig würde mich verwirren, das Notwendige jedoch muss mir garantiert sein. Nur so kann einer wie ich existieren.

     Die Polizei ist im Wesentlichen ein Apparat aus Männern. Diese Tatsache war mir natürlich bewusst, als ich in den Dienst trat. Damals kannte ich mich selbst schon ein wenig. Ich wusste, dass ich Männern gefühlsmäßig den Vorzug gebe. Doch war ich nicht in einem bestimmten Sinn berechnend, als ich mich in diese Gesellschaft von Männern eingliedern ließ. Insofern konnte ich ja keine unmittelbaren Vorteile erwarten, so ahnungslos war ich nicht … Ich nahm mir nur vor, die Vorzüge ihrer Gesellschaft zu genießen und die für mich persönlich immerhin denkbaren Nachteile zu vermeiden. Es ist alles gut gegangen.

     Worin besteht denn das Angenehme an einem Männerberuf? In meinen Augen vereinfacht es die Abläufe. Die Ebene zwischen den beiden Geschlechtern entfällt. Und wenn einer wie ich Grund hat, auf ihr Komplikationen zu fürchten, ist das allein schon entlastend. Merkwürdig nur, dass ich diese Wirkung auch bei so vielen Kollegen festgestellt habe, vielleicht bei den meisten. Es muss da etwas Gemeinsames zwischen ihnen und mir geben, jenseits des individuellen Geschmacks. Ich ahne nicht einmal, was dieses Gemeinsame sein könnte, aber ich habe es immer in Rechnung gestellt. Ich habe es nie dadurch gefährdet, dass ich irgendeinem zu nahe gekommen wäre.

     Vielleicht klingt es dumm und anmaßend, wenn ich sage, das Beste an der Polizei ist, man wird klüger durch sie, vorausgesetzt man ist Teil von ihr. Das konnte ich vor meinem Eintritt nicht wissen. Inzwischen habe ich mich selbst noch besser kennengelernt. Ich weiß jetzt, nichts befriedigt mich so sehr, als die Zusammenhänge zu begreifen. Dazu gehört, sie aus erster Hand zu erfahren, genauer: selbst die Hand zu sein, die die Fakten aufdeckt und prüfend in die Hand nimmt.

     Ich vergegenwärtige mir einen wiederholt vorgekommenen Fall. Wir griffen gelegentlich entlaufene Minderjährige auf und brachten sie zurück in ihre Familien. Nie hätte ich allein aus der Zeitung einen Eindruck von diesen Verhältnissen bekommen. Seelische Verwahrlosung, genau das war es, und sie war mir vor meinem Dienst in der Hauptstadt tatsächlich vollkommen unbekannt. Ohne solche Transporte oder Überstellungen hätte ich nie einen Begriff vom Zuchthauscharakter dieser Nester bekommen, die sich Familien nennen, ich hoffe es wenigstens.

     Ein anderes Beispiel: Viele haben damals von den nächtlichen Attacken des Reifenstechers gehört oder gelesen, der monatelang die Wagenhalter des x – ten Bezirkes nicht ruhig schlafen ließ. (Ich darf den genauen Bezirk nicht angeben, aus meiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit.). Doch wer, außer mir und Rindfleisch, hat den endlich Gefassten zu sehen bekommen, und zwar im Moment, da er auf frischer Tat ertappt wurde? Dieser Anblick eines Wahnsinnigen, den Blaha damals bot …

     Die Erinnerung täuscht mich, ich bringe die Daten von damals durcheinander, hefte die falschen Namen an die richtigen Ereignisse. Blaha erwies sich doch als vollkommen unbeteiligt. Auch Rindfleisch musste das einsehen. Rehabilitiert, selbst in den Augen eines Rindfleisch. Aber vielleicht haben wir ihn auch nur laufen lassen. Es ist schon so lange her.

     Auch der Kollege Rindfleisch war schwarzhaarig. Merkwürdig, wie viele Schwarzhaarige meine Geschichte bevölkern. Er trug sein Haar fast ebenso kurz wie ich damals. Sonst meistens frei von Ehrgeiz, schien ich doch so etwas zu entwickeln, wenn es darum ging, derjenige Polizist mit dem kürzesten Haarschnitt in der gesamten Hauptstadt zu sein. Das ist übrigens nicht mein voller Ernst. Nur Rindfleisch wollte mir vielleicht etwas in dieser Art vorwerfen, wenn er mich gelegentlich mit deutlich spürbarer Distanz musterte. Er übte Kritik an mir, ohne sie auszusprechen. Er sah mich dann durchdringend an, und das irritierte mich jedes Mal. Seine Einstellung mir gegenüber hing nicht mit dem Dienst zusammen, nehme ich an, er war mir grundsätzlich feind, und zwar vor jeder Erfahrung.

     Diese spezielle Art von väterlicher Strenge … Ich habe sie zu Hause nicht kennengelernt. Rindfleisch war nur wenige Jahre älter als ich. Er war einer der bestaussehenden Männer, die ich jemals gesehen habe. Meine Einstellung zu ihm hätte positiv sein müssen, aller Erfahrung nach. Doch die Kälte, die von ihm ausging, ließ das nicht zu. Aus dem Fernsehen kenne ich einen deutschen Schauspieler, der ihm stark ähnelt. Seinen Namen habe ich mir nicht gemerkt. Er spielt Kommissare, Offiziere, und einmal habe ich ihn als SS-Mann gesehen. Ich halte mich nicht für masochistisch, und das sage ich auch nur, um es ein für alle Mal klarzustellen.

     Rindfleisch war mir auch an Dienstjahren etwas voraus. Wenn wir zusammen Dienst taten, führte er selbstredend das Kommando. Er fand nicht oft etwas an mir auszusetzen. Vielleicht stand ich als Person zu tief unter jeder Kritik. Dieser Gedanke kam mir nur allmählich. Von Anfang an war jedoch die Verachtung zu spüren. Nicht dass ich ihn fürchtete. Man muss nur die Verhältnisse so sehen, wie sie sind. Sein Verhalten danach ausrichten.

     Gewöhnlich vermied Rindfleisch es, mich anzusehen. Lieber sah er mit diesem Schmutz abweisenden Blick geradeaus. Es gab in unserer Hauptstadt so viel, das man besser nicht an sich herankommen ließ. Er senkte dann auch oft den Blick. Seine Lippen waren nur in der Mitte einen ovalen Spalt geöffnet, wie um gelegentlich einen Seufzer zu entlassen, der dabei unhörbar blieb. Seine Wangen vibrierten leicht. Er war empfindsam, vermute ich.

     Wir durchquerten unseren ziemlich bürgerlichen Bezirk im Streifenwagen. Es war gegen Mitternacht. In einer dieser ruhigen Gassen hatte vorhin ein Bürger seine vier platten Reifen entdeckt und die Wache alarmiert. Es waren insgesamt elf Fahrzeuge betroffen. Die Gasse lag still und verlassen da. Morgen früh würde sie sich beleben. Wir fuhren im Viertel langsam auf und ab, auf dem Grund dieser hoch ummauerten, schmalen Straßen, wie in den Korallenriffs einer nur hier und da punktuell erleuchteten Tiefsee, Rindfleisch als Sägefisch.

     „Da ist einer. Da rechts.“ Es war der erste Mensch, den wir in der Nähe des Tatortes entdeckten und also überprüfen konnten.

     „Check ihn. Hoffentlich ist er’s, unser Ripper. Bin diesen Zirkus allmählich satt.“

     Der Wagen rollte aus, während ich die Tür schon öffnete. Ich glitt auf den Gehsteig hinaus und sah, wie die Gestalt vor der Auslage eines Fotografen stehen blieb. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, und die verdächtige Person zog sich diskret in den Schatten der Markise zurück. Ich ging zu ihm und bat ihn, mit mir die drei Schritte zum Wagen zurückzulegen.

     Er machte keine Schwierigkeiten und kam mit. Er war nicht mehr jung und für sein Aussehen – Kaiser-Franz-Joseph-Bart und Bierbauch bei sonst schmaler Figur - seltsam jugendlich gekleidet: verwaschener Jeansanzug mit weißem T-Shirt unter der Jacke. Er schaukelte beim Gehen, roch aber nicht nach Alkohol.

     „Ja, was ist denn, darf man um diese Zeit keine Fotografien mehr anschauen?“

     Er nannte mir seine Adresse. Es war in der Nähe. Er hieß Blaha und konnte sich nicht ausweisen. Rindfleisch durchsuchte ihn, fand indessen kein geeignetes Tatwerkzeug, dafür Kondome und eine Tube mit einer Creme. Angewidert gab er ihm das Zeug zurück.

     Der Sägefisch gab der Wache die Personalien durch. „Wir haben da einen Verdächtigen. Er macht einen verwirrten Eindruck.“ Blaha hob erst die Schultern und ließ sie dann theatralisch sinken, wobei er schnaufte. Die Adresse stimmte.

     Rindfleisch stellte ihm die üblichen Fragen nach Woher und Wohin. Blaha war angeblich nicht am Tatort vorbeigekommen. Er hatte das Durchhaus neben uns passiert. Das hier sei sein nächster Heimweg.

     „Woher sind Sie denn um diese Zeit gekommen?“

     „Vom Esterhazy-Park!“ Das wurde so energisch herausgesprudelt, wie ich es ihm bis dahin nicht zugetraut hätte. Schaut her, signalisierte er uns, ich lasse alle Minen springen.

   „Ah so, vom Esterhazy-Park … Es ist gut, Sie können dann nach Hause gehen.“ Blaha schlurfte davon. Sein Gang erzählte von siegreicher Heimkehr nach zwischenzeitlicher Resignation: Triffst du nur das Zauberwort. Der Park war mir ein Begriff, doch hatte ich ihn nie betreten, nicht einmal dienstlich. Er lag schon im Nachbarbezirk.

     „Ja, so … so Sauereien“, sagte Rindfleisch. „Wie reagierst denn du auf so etwas?“

     Ich fand seine Frage unpräzise formuliert und antwortete: „Ich? Auf so etwas? Ich bin einfach nur entsetzt.“

     Er sah mich befriedigt wie noch nie an und sagte: „Bei den alten Germanen haben sie das Problem auf spezielle Art gelöst … Hast du einmal von den Moorleichen gehört?“ Eine Antwort war wohl nicht nötig, er sah schon wieder geradeaus. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass mir diese Sitte bis dahin nicht zu Ohren gekommen war. Und so war es auch. Im Übrigen gab es da nichts weiter zu erörtern. Ich jedenfalls verspürte keine Lust auf eine Karriere als Moorleiche.

     Als ich von der Südgrenze heimkam, versuchte ich, mein Zuhause so zu sehen, wie es Doris erscheinen müsste. Meine kleine Wohnung ist typisch für diese großen alten Häuser, wie sie überall in den inneren Bezirken stehen. Das breite helle Treppenhaus weckt wie so oft falsche, da zu hohe Erwartungen, obschon es in ihm manchmal von einer Wohnung im Erdgeschoss her säuerlich riecht. Hinter der hohen und schön getäfelten Eingangstür im obersten Stock links gerät man wie aus Versehen in meinen kleinen Wohnungsflur dahinter. Er dient mir auch als Kochstelle. Die Geräte an den Längsseiten – Gasherd, Anrichte und so weiter – engen ihn stark ein. Links gelangt man durch eine schmale Tür in die Kochküche von früher, schon lange nur noch eine überfüllte Abstellkammer, die ich selten betrete. Rechts seit jeher das Klosett, ich habe es mit einem billigen Kredit der Gemeinde zu einem Sanitärraum umbauen lassen, der zu Recht Zelle heißt: Wenn man duscht, klappt man am besten den WC-Deckel vorher hoch. Geradeaus das relativ große Zimmer. Es ist im Winter nicht immer ausreichend warm. Um das Feuer im Ofen dauernd zu unterhalten, müsste ich weniger oft und lange abwesend sein. Hier stehen noch die billigen Möbel mit den abgestoßenen Ecken, die ich alle für wenig Geld vom Vormieter übernommen habe. Sie bieten vor allem Stauraum und bemühen sich darüber hinaus mit Erfolg, unauffällig zu wirken. An das Zimmer stößt links, von einer Schiebetür abgetrennt, das Kabinett. Ich habe es bald nach meinem Einzug vollständig neu möbliert, ebenfalls unauffällig. Ich habe Solides, Dauerhaftes und nicht zu Kostspieliges ausgesucht. Das war ungefähr vier Jahre, bevor ich Doris kennenlernte. Dort, im Kabinett, schlafe ich, lese ich oder schreibe, wie jetzt. Ich kann es elektrisch beheizen.

     Die Fenster von Wohnzimmer und Kabinett gehen auf zwei enge Höfe mit dem Blick auf die Mauern anderer Zinshäuser gegenüber: graubraune, abgenutzte Fassaden. Ihr abblätternder Putz legt das Mauerwerk an vielen Stellen frei. Bis zu jenem Frühjahr hat außer mir kaum einer dort hinausgesehen – ich bekam so selten Besuch. Und nun Doris? Vielleicht würde ich die Wohnung schnell aufgeben müssen, dachte ich. Mir schien, ich würde etwas von mir preisgeben, wenn sie noch Gelegenheit bekäme, sich hier umzusehen. Sicher, es gab da nichts zu erforschen, das war es ja, es lag alles offen zutage, das Dürftige, alles nur einfachen Zwecken Dienende, es war mir bewusst. Wie, wenn sie auf den Gedanken käme, all das sei am Ende auch Verstellung? Wo sind deine Grenzen und worin bist du kompetent? Solche Fragen stellte sie mir jetzt.

     Da ich ohnehin fortgehen werde, kann ich mir das Schwarze Beisl doch einmal ansehen. Ich habe es mir lange versagt.

     Strobl hat mich darauf gebracht, ich habe nicht selbst danach gefragt. Es war im Jahr davor. Vielleicht sollte ich noch einiges über Strobl sagen. Ich wusste von ihm kaum mehr als von Rindfleisch. Er kam aus dem Süden und hatte bis dahin noch immer seine Wohnung da unten behalten. Wie ich regelmäßig zu meinen Leuten nach Norden, so fuhr er ebenso oft zu seinen nach Süden. Von seinen Bergen, das wusste ich, konnte man tatsächlich nach Italien hineinsehen. Er war durchaus freundlich zu mir, er war es zu jedermann. Ich spürte, mit seiner Freundlichkeit hatte es eine besondere Bewandtnis. Weit entfernt davon, aufgesetzt zu sein und dazu zu dienen, sich die Leute rasch geneigt zu machen, erschien sie mir wie eine Art dichter Bewölkung, die den Kern seines Wesens verhüllte. Er wirkte weich in seinem Auftreten und war gerade daher nicht leicht auf etwas festzulegen. Dieser Polizist mit dem blonden Strubbelhaar und den schon etwas feisten Wangen konnte lächeln wie Mona Lisa, das war dann kein schöner Anblick. Ich kam nie dahinter, ob man bei ihm Güte vermuten durfte. Es fiel mir allerdings auf, dass er im Vergleich mit Rindfleisch in allem Dienstlichem konsequenter vorging. Blaha wäre von ihm noch gründlicher gefilzt worden, nehme ich an.

     Wir hatten damals spätabends einen Burschen am Westbahnhof aufgegriffen und beförderten ihn gratis heim. Er war in einem Arbeiterbezirk zu Hause. Strobl kurvte auf der Rückfahrt etwas unsystematisch herum.

     „Wo ist jetzt der Gürtel? Diese langen Kästen sehen alle gleich aus. Und gleich traurig noch dazu … Ah, an der Ecke sind wir. Die da gehn gerade ins Schwarze Beisl.“

     Mir wäre das große, stark abgedunkelte Ecklokal nicht weiter aufgefallen, auch nicht die drei Gestalten, die mit gewisser Eile dem Eingang zustrebten.

     „Was ist damit?“

     Strobl lachte leise und wand sich auf seinem Sitz wie eine Boa unmittelbar nach der Fütterung. Er war lustig wie aus innerem Zwang.

     „Das weißt du nicht? Solltest du aber, wenn auch nur aus dienstlichem Interesse. Jeder Polizist kann einmal vor der Frage stehen, wo in seiner Stadt die Lokale sind, in denen nur Männer verkehren.“ Nun wusste ich es. Man muss nur die Ohren offen halten.

     Als ich ein halbes Jahr später hineinging, war ich ausgeruht – ich hatte mich gleich nach der Rückkehr aus dem Süden für einige Stunden hingelegt – und in Maßen neugierig. Ich musste immerhin wissen, worauf ich verzichten würde. Diese Verpflichtung empfand ich mir selbst gegenüber.

     Für ein Beisl war es entschieden zu groß, es war überhaupt alles andere als ein Beisl. Es war eine Art ehemaliges Arbeiterversammlungslokal, nur dass die Tische fortgeschafft waren und das Publikum von heute – nein, von damals, es existiert nicht mehr, das Lokal nicht und das Publikum großenteils auch nicht, dass also das ausschließlich männliche Publikum von damals herumstand und den großen rechteckigen Raum dabei gut füllte. Auch der Tresen dieser Stehbierhalle war gewaltig. Ich ging quer durch die Menge, sie teilte sich, um mich durchzulassen. Dabei stand ich für kurze Zeit im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Ich hatte klingeln müssen, um eingelassen zu werden. Als ich eintrat, war es, wie mir sogleich bewusst wurde, mein Auftritt. Sie sahen mich fast alle an, fünfzig Augenpaare oder noch mehr. Nun, als Polizist bin ich Menschenansammlungen gewohnt. Ich bestellte ein Seidel.

     Dann stand ich in der Nähe der Tür und trank langsam und beobachtete. Sie sahen jetzt nur noch zeitweise verstohlen herüber. Ich war noch immer eine Sensation, aber nicht wie eine Sternschnuppe, deren Anblick man sich schnell einprägen muss, bevor sie für immer verschwindet. Wir werden schon noch sehen. So gewöhnten wir uns allmählich visuell aneinander.

     Ich begann sie zu unterscheiden und zwar sortierte ich sie erst einmal grob, je nachdem ob sie mehr dem Typ Rindfleisch oder dem Typ Strobl entsprachen. Das frappierte mich nämlich sogleich: ihre – natürlich nur äußerliche - Ähnlichkeit mit Polizisten im Dienst. Fast alle waren uniformiert wie bei einer Freiwilligenarmee, die etwas auf sich hält. Leder und Jeansstoff waren die vorherrschenden Materialien. Der Zuschnitt war im Allgemeinen knapp. Übrigens trug ich selbst blaue Jeans, Jacke wie Hose. Mein Aufzug war der von Blaha. Hatte ich es mir zu Hause klar gemacht – doch wohl nicht.

     Sie redeten viel miteinander, sie tranken nicht wenig und ließen nebenbei die Blicke schweifen. Sie verbrachten einen anregenden Abend oder den Abend angeregt, man kann es aktiv oder passiv ausdrücken, wie man will. Die Musik war ansprechend und laut.

     Einer aus der Gruppe neben mir sprach mich an. „Bist du auf Besuch hier?“

     Ich empfand seine Frage als suggestiv und nickte, und als er mehr wissen wollte, sagte ich, ich käme aus Salzburg. Er nannte mir seinen Vornamen, er ist mir nicht mehr präsent. Er war ein Strobl, das heißt, ich interessierte mich nicht sehr für ihn. Es wurde mir plötzlich bewusst, dass ich dem echten Rindfleisch an diesem Ort gern begegnet wäre. Von Moorleichen hätte dann keine Rede mehr sein können, ich meine: angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der in Frage Kommenden. Ja, gerade seine brutale Anspielung hatte mich auch hierhergeführt. Hierherzukommen, das war auch eine Frage des Rückgrats gewesen.

     Inzwischen stand ich mitten in einem kleinen Kreis. Sie sagten Harald zu mir. Ich hatte spontan einen falschen Vornamen genannt. Passte er nicht besser zu mir? Es war ohne Überlegung geschehen, aber es tat mir nachher nicht leid. Mein Instinkt hatte für mich geantwortet.

     Der Strobl wollte wissen, ob ich sonst eher in München zu sehen sei. Ich sagte: „Kann sein.“ Die anderen fanden mich nicht aufgeschlossen genug und drehten sich allmählich von mir weg. Nur der Strobl hielt noch einige Zeit bei mir aus. Dabei wirkte er wie ein Hausierer, der schon weiß, er wird seine Ware doch nicht los. Er fuhr Motorrad und zwar eine dreißig Jahre alte Maschine. Damit könne man nicht auf der Autobahn fahren, sagte er, nur auf Landstraßen. Sie bräuchten zwei Tage bis München, aber es sei ein herrliches Gefühl. Mir fiel dazu nichts ein, und er war zunehmend irritiert. Ich wollte mir auch nichts ausgeben lassen. Der Kellner, der es mitbekam, schien leicht verärgert.

     Ich stand noch einige Zeit wieder allein neben der Tür, bevor ich ging. Ja, ich war doch nicht der Harald aus Salzburg und hatte wenig mit ihnen gemeinsam, fast nichts.

     Es fuhr keine U-Bahn mehr, auch kein Bus. Ich musste den weiten Weg zu Fuß gehen. Dabei ließ sich die Enttäuschung schon einmal verarbeiten.

     Was hatte ich denn erwartet? Wie konnte ich enttäuscht sein, da ich mir doch tatsächlich nichts oder nichts Konkretes von diesem Ausflug versprochen hatte? Ich sah allmählich klarer: Ich war da gewesen und doch nicht in dieses Milieu vorgedrungen. Ich war isoliert geblieben, stecken geblieben. Ich war nicht wie sie, das glaubte ich schon zu wissen, aber wie waren sie denn nun? Ich konnte mich nicht selbst belügen: Ich war kaum klüger als zuvor. Sie bildeten eine Gruppe, meinetwegen auch eine Menge, aus der für mich bis jetzt kaum Einzelne hervortraten. Bei meinen früheren Exkursionen in diese spezielle Welt hatte ich immer nur mit jeweils einem allein zu tun gehabt. Ich verstand mich darauf, ein Gegenüber zu beurteilen und mein Verhalten dann zweckentsprechend einzurichten. Bei einer Vielzahl von Individuen versagte mein Urteilsvermögen weitgehend. Sie hatten untereinander ihre eigene Sprache, ihre besonderen Zeichen, ein für sie allgemein verständliches Signalement. Dafür fehlte mir bis jetzt das Verständnis. So werden sie über mich mehr erfahren haben als ich über sie, sagte ich mir, und selbst wenn sie einen Harald aus Salzburg in mir sehen, so verbinden sie wenigstens eine zwar irrige, doch feste Vorstellung mit mir. Demgegenüber hatte ich nur flüchtige und oberflächliche Eindrücke gewonnen. Das Ergebnis des Abends war für mich sehr unbefriedigend.

     Ich war zu früh weggegangen. Ich hätte länger beobachten und zuhören sollen. Aber ich verspürte keine Lust, den Versuch zu wiederholen. Es sollte ja nur ein Blick über den Zaun sein. Die folgenden freien Tage konnte ich besser nutzen. Meine Wohnung musste gründlich renoviert werden. Und dann würde ich bald schon woanders leben.

 

Der folgende Tag war ein Sonntag. Ich konnte nicht mit dem Ausmalen beginnen, da ich noch keine Farbe gekauft hatte. Ich überschlug die Mengen, die ich benötigen würde. Dabei kam ich am offen stehenden Fenster vorbei. Da hingen zum Auslüften Jacke und Hose vom Vorabend. Der Zigarettenqualm war dort sehr dicht gewesen. Die meisten inhalierten bedenkenlos, als ob das Rauchen erwiesenermaßen vollkommen unschädlich wäre. Ich rauche selbst nicht. Mir kam der Gedanke, dass ich gestern Abend passiv mitrauchend zwangsweise eine Verbindung mit ihnen eingegangen war. Man konnte es noch immer riechen.

     Angezogen wie ein Blaha. Sollte mir das nicht zu denken geben? Und es schien ihnen zu gefallen. Es begann mich zu interessieren, woraus sich meine Attraktivität zusammensetzte. Man müsste es im Einzelnen untersuchen. Es konnten nicht nur meine schwarzen Haarstoppeln sein. Nichts befriedigt mich so sehr, als die Zusammenhänge zu begreifen. Ich sagte es schon. Ich würde mich besser kennenlernen. Vielleicht die Zukunft klarer sehen.

     Ich fuhr also am Sonntagabend ein weiteres Mal zum Schwarzen Beisl. Und von da an fast jeden Abend, solange ich noch in der Stadt war. Nur montags blieb ich zu Hause, zwangsläufig, da dies der Ruhetag war. Matz sagte mir, der Wirt fahre dann für zwei Tage aufs Land. Er war gerade in der Gegend zu Hause, die ich mit Doris als äußersten Punkt im Süden erreicht hatte. Matz sagte: „Dann füttert der Jörgl dort die Hühner für die ganze Woche.“

     Tagsüber kniete ich mich zu Hause in meine Arbeit hinein. Ja, das fand ich sehr befriedigend: jede Nacht bis zwei Uhr in der Frühe unterwegs zu sein, um gegen zehn am Morgen mit dem Weißen der Wände fortzufahren. Als Polizist bin ich an Schichtdienst gewöhnt. Das Renovieren an sich fand ich stupide und anstrengend, und ich musste mich zur Sorgfalt zwingen. Ich glaube, da arbeite ich lieber im Wald. Und doch hat es mir damals Spaß gemacht. Ich war nie wirklich ausgeschlafen. Und immer Zigarettenrauch in der Kleidung, die zum Lüften irgendwo hing. Ich sah mir selber beim Malen zu, ich sah, wie Bahn um Bahn das Grau auf den Wänden dahinschwand, um frischem Weiß Platz zu machen. Ich fühlte mich innerlich eins mit diesem Prozess. Ich werde fortgehen. Ich hole jetzt rasch einiges nach. Und dann werde ich fortgehen. Das war meine Vorstellung von der weiteren Entwicklung damals. Wenn ich malte, fiel das zusammen: das Aufhellen, das Übertünchen und das andere, das ich nicht so genau bezeichnen kann. Vielleicht spürte ich, wie es auch in mir heller wurde. Ich wurde nicht so schnell mit der Arbeit fertig.

     Ich kaufte einen großen, kreisrunden Spiegel ohne Rahmen und hängte ihn im Kabinett auf, das zuerst fertig geworden war. Merkwürdig, dort, im Kabinett, hatte es bis dahin keinen Spiegel gegeben. Da ich aber noch immer in der Wohnung malte, verhängte ich ihn vorerst mit einem weißen Tuch, um ihn vor Verschmutzung zu bewahren.

     An den genauen Ablauf dieser Nächte kann ich mich nicht mehr erinnern. Es geschah eigentlich wenig. Ich schaute und ich redete oder hörte zu. Das war vom zweiten Abend an viel leichter, es war jetzt viel intimer. Nur an den Samstagen war das Beisl jeweils voll, in den anderen Nächten kamen nie mehr als vielleicht zwei Dutzend Gäste. Von ihnen blieben die meisten über Stunden. Ich glaube, der Betrieb hielt sich gerade so über Wasser.

     Matz sagte: „Am Samstag gibt es immer dieses Schaulaufen. Dabei kommt nicht sehr viel heraus.“ Er sagte auch: „Der Jörgl investiert hier unglaublich viel, vor allem Idealismus. Es geht nur weiter, weil er absolut bedürfnislos ist.“ Der Jörgl sah auch aus wie ein Asket reinsten Wassers, wie ein halb verhungerter Wurzelsepp - oder wie ein ausgemergelter Grobian mit Russenbart. Er ähnelte tatsächlich Dostojewski, wie man ihn von Fotografien her kennt. Er fuhr einen schon einmal an, wenn es im Ablauf der Geschäfte nicht recht voranging. Erst allmählich erfasste ich, wie höflich, wie rücksichtsvoll er tatsächlich war, wie sehr er fast jeden seiner Gäste persönlich schätzte, mich eingeschlossen. Jetzt sah ich unter seinem Müllkutschergehabe überall Ehrerbietung durchschimmern und dazu diesen Stolz auf seine Bar, als wäre es die Hofkonditorei.

     Er diente Matz auch zur Illustration gewisser Ideen. Matz war vor nicht langer Zeit in Amerika und für die Verhältnisse dort sehr aufgeschlossen gewesen. Von Reagan war bei ihm zwar nicht die Rede, nur von den unglaublich freien Lebensverhältnissen drüben. Unglaublich war eines seiner Lieblingswörter. Es hieß bei ihm so viel wie: Damit erübrigt sich für mich jede weitere Diskussion. Ja, unser Wohlfahrtsstaat war ein großes Übel. Die New Yorker waren zufriedener als die Leute bei uns. Sie hatten nicht dieses übertriebene Sozialsystem und waren daher in allem viel freier. Und der Jörgl war ein Beispiel für den freien Unternehmer, für eigene Initiative und so weiter. Ich hörte mir das an und schwieg dazu. Ich hatte bis dahin nicht viel über diese Dinge nachgedacht. Ich fand das alles kurios. Und der Jörgl betrieb sein Lokal ja hier bei uns.

     Kurios war es auch, wie unser Proporz sich selbst in einer Bar wie dieser zu Wort meldete. Ich war nicht da, um mir gerade so etwas anzuhören. Ich versuchte immer, das Gespräch auf andere Themen zu lenken. Meine eigene Meinung war in diesen Dingen zu unsicher. Der Matz hätte sich mit dem Leopold darüber auseinander setzen sollen. Aber mich fragte der Leopold sehr bald, ob ich Sozialist sei. Was ich wahrheitsgemäß verneinte, ohne es begründen zu wollen. Auch für ihn war ich der Harald aus Salzburg, wie für jeden dort damals. Es war nun einmal so festgelegt worden, man soll dann nicht mehr daran rühren. Er wollte auch wissen, was ich beruflich täte. Ich sagte nur: „Kaufmännisch.“ Ich war nur vorübergehend beruflich in der Hauptstadt und in einer Pension untergebracht. Es störte ihn nicht, dass ich so oft bis tief in die Nacht im Beisl war. Übrigens war er selbst ein kleiner und also doch wohl auch ein freier Unternehmer, nämlich Inhaber eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, ein Greisler, wie das hier heißt. Ich glaube, Matz und Leopold mochten sich gegenseitig nicht sehr.

     Um dem Leopold ein für alle Mal diesbezüglich den Wind aus den Segeln zu nehmen, sagte ich: „Was den Sozialisten die Menschen wert sind, das hat man ja am 1. Mai sehen können. Sie hätten die Maidemonstration absagen müssen, wegen der Verseuchung.“ Da wurde mir klar, dass ich fast schon zu viel gesagt hatte. Das war damals noch nicht allgemein bekannt. Er fragte aber nicht, woher ich das wüsste, sondern sah mich nur überrascht an und sagte dann seufzend: „Das ist eine andere Geschichte.“

     Sprechen wir lieber vom Körperlichen und von der Ausstrahlung. Matz wirkte überaus lebendig und sehr kraftvoll, dabei war er eigentlich eher klein und zierlich. Das Haar blond und etwas dünn. Aber er war schlechthin fesch. Dieser längst abgewirtschaftete Begriff erwachte bei ihm zu neuem Leben. War er wirklich hübsch? Man redete es sich vielleicht auch ein, denn einer wie er musste es sein. Dabei war an ihm alles Haltung, Ausdruck, Willen, von den Stiefeln mit den etwas erhöhten Absätzen bis zu dieser merkwürdigen Stelle auf der Wange, die man mit etwas Phantasie für eine Art Schmiss halten konnte. Er war auf seine Art Aristokrat, man sah es ihm sogleich an, wenn er in schwarzer Lederhose und kurz geschnittener Jacke aus gleichem Material hereinkam und auf einen losging wie früher einer auf seinen Gegner bei einem Duell. Immer war dieses Drängende, Fordernde an ihm. Würde ich Genugtuung leisten können?

     Er küsste mich, gleich nachdem er mich das erste Mal angesprochen hatte und ohne wissen zu können, dass dies für mich eine neue Erfahrung war. Doch es fühlte sich an, als wüsste er es. Es war mir rein physisch noch immer nicht angenehm, nur dass der körperliche Vorgang jetzt vollkommen zurücktrat gegenüber diesem Ausdruck des Willens, eines starken Willens zur Lust. Man darf ihn sich dabei nicht allzu dominierend vorstellen. Er wollte einen nicht überwinden, wollte überhaupt nicht beherrschen, er wollte eher aufstacheln. Gemeinsam etwas Unerhörtes begehen, das war es – Adelsrevolte gegen die absolute Herrschaft. Ja, gewiss, das lege ich mir jetzt so zurecht. Es ist seitdem angelesen. Ich interpretiere ihn nach einem Muster. Aber er entsprach diesem Muster perfekt.

     Übrigens war er in der Hotelbranche zu Hause und kehrte später auch zu ihr zurück.

     Seine Hose war etwas weniger eng geschnitten, als das sonst im Beisl an den Gästen zu sehen war. Ungefragt gab er mir den Grund dafür an: „Das ist besser so für die Potenz.“ Ich war in solchen Themen nicht zu Hause und konnte und wollte nicht mitreden. Er spürte das sofort und behandelte mich von da an wie einen förderungsbedürftigen Schüler, meinetwegen auch wie einen Mitschüler. Ich war ohne Schuld etwas zurückgeblieben, vielleicht infolge einer Erkrankung. Diesen rücksichtsvollen Ton schlug er gegenüber anderen nicht an. Er war damals bereits in den Dreißigern.

     „Willst du nachher mitkommen?“ fragte er schon beim ersten Gespräch.

     Ich sagte, ich müsse am nächsten Morgen arbeiten, es gehe nicht. In Wirklichkeit wollte ich Zeit gewinnen.

     „Verschieben wir es also. Du bleibst ja noch eine Weile in der Stadt.“ Er sagte auch einmal: „Wir können einander nicht mehr ausweichen. Wir rasen schon aufeinander zu wie zwei Lokomotiven, merkst du es nicht?“ Er redete weiter lange mit mir, wenn wir uns im Beisl trafen. Er drängte mich nicht.

     Ich war also entwicklungsfähig. Aber ich wollte mich hier nicht entwickeln und auch nicht von ihm entwickeln lassen.

     Mit Leopold war es etwas ganz anderes. Faszination ist die eine Sache und Sympathie die andere. Mit Leopold war ich von Anfang an vollkommen einverstanden, körperlich wie seelisch.

     Wie Milch und Blut sah er nicht mehr aus, mit Ende zwanzig war er kein Milchbub mehr. Und doch war so etwas an ihm, etwas elementar Gesundes. Er sah noch immer nach Land aus: Gesundheit, Stabilität, Kraftüberschuss, das waren seine allgemeinen Merkmale. Kam er aus einem Landesteil, wo Milch und Honig fließen? Nun, in seinem Fall waren es Wein und Korn, die gab es dort von jeher im Überfluss. Diese Lösslehmterrassen strotzen vor Fruchtbarkeit. Ich habe da meine Theorie: Er war das Ergebnis jahrhundertelanger erfolgreicher Anpassung. Schwere Arbeit und kräftige Nahrung bedingen sich gegenseitig und haben so diesen Kaltblütertyp hervorgebracht. Er war brünett, groß, breit, hübsch, gelassen, und über seinem verhaltenen Charme lag ein Hauch von Ironie. Er wirkte jünger als er tatsächlich war.

     Leopold war das Endprodukt einer langen Auslese. Er stand oben am Ende einer Generationentreppe, als Erster von schwerer körperlicher Arbeit befreit. Ich weiß, auch ein Greisler muss tüchtig zupacken, aber ein Weinbauer arbeitet unvergleichlich härter. Die meiste Zeit gebückt arbeiten, und selbst beim Gang in den Weinberg spürt man die geschulterte Hacke. Nur unbelastet hält man den aufrechten Gang über längere Zeit durch. So erkläre ich mir auch seine Sympathie für die Roten. Er war nicht aufdringlich, er verband Freimut mit Gelassenheit.

     Er zog mich stark an. Ich war es, der ihn ansprach. Und er freute sich einfach. Wir gerieten in ein einfaches Gespräch, das sich langsam entwickelte.

     Einige Abende später erzählte er von den Weinkellern daheim. Er wisse, es komme schon einmal vor, dass ein Winzer einen anderen einlade, mit ihm seinen Wein im Keller zu probieren. Da seien sie allein für sich, und einer stelle den anderen dann auf die Probe. Das Ergebnis werde nicht öffentlich bekannt gemacht.

     „Neue Erfahrungen, unter Schweigen gekeltert.“ Das sagte der Deutsche neben uns. Er kannte Leopold vermutlich schon länger als ich.

     „… und berauschend, so wie das Unterirdische nun einmal ist.“ Leopold ging auf ihn ein und lächelte befriedigt. Ich bekam Lust, mit ihm zu ringen. Lösslehm ist weich. Ich komme aus einer anderen Gegend. Granit oder Gneis schauen bei uns überall aus der dünnen Krume hervor.

     Matz begann einen Sprechgesang, absichtlich leiernd und wimmernd: „Es wird ein Wein sein, und wir wern nimmer sein … Oder?“

     „Gerade so nicht“, sagte Leopold. „Die sind nur bei der Sache, die haben keine Zeit für Weltschmerz, das kannst du glauben.“

     „Ja, merkwürdig“, sagte der Deutsche, „diese Heurigenlieder sind oft so materialistisch. Tot sein heißt: Aufs Wein trinken verzichten müssen. Ist eigentlich nicht sehr katholisch.“ Aber das hätte er besser nicht gesagt. Die beiden anderen hatten dann keine Lust mehr, das Thema zu vertiefen. Und ich hatte ohnehin nur zugehört. Um an solchen Gesprächen teilzunehmen, fehlte es mir noch an allem.

     Als Matz und der Deutsche etwas abseits standen und über anderes redeten, fragte mich Leopold leise, ob ich mit hineingehen wolle. Ich wusste, was er meinte. Das Beisl hatte ein sehr geräumiges Hinterzimmer, das gewöhnlich unbeleuchtet war. Man musste es auf dem Weg zur Toilette durchqueren. Es stand zur Verfügung, wenn man sich absondern wollte. Davon wurde übrigens nur sparsam Gebrauch gemacht.

    Ich lehnte ab. Es sei nicht ganz mein Geschmack. Ob er es mir geglaubt hat? In Wahrheit hoffte ich, er werde mich nach Hause einladen, wie Matz es schon getan hatte.

     „Ich kann dich leider nicht mitnehmen. Ich wohne nicht allein. Und mein Freund ist zu Hause.“ Er sagte es sanft, rücksichtsvoll. Da ich mit der Existenz eines solchen Wesens nicht gerechnet hatte, fühlte ich mich dennoch auf brutale Weise aufgeklärt, auch über meine eigene Ahnungslosigkeit. Ich war nur an seltene anonyme Kontakte gewöhnt und hatte neuerdings allein Doris als komplizierendes Faktum im Hinterkopf. Tatsächlich: Männer konnten Freunde haben, deren Existenz meine Möglichkeiten einschränkte, was für eine Entdeckung!

     „Und in deine Pension werden wir wohl auch nicht gehen können …“

     „Nein“, sagte ich tonlos.

     „Vielleicht lässt sich doch einmal etwas arrangieren …“

     Ich begriff den Sinn einer Verlobungszeit. Es soll eine Zeit der Selbstprüfung sein. Meine Prüfsteine hießen Matz und Leopold. Dieser verspätete Aristokrat – wovon lebte er eigentlich? Und dieser Landmann in der Stadt. So kam es, dass ich nicht so rasch vom Schwarzen Beisl loskam.

     Damals war immer der eine oder andere Ungar oder Tscheche in der Bar. Viele redeten gern mit ihnen. Aber ich hörte auch das Geraune hinter ihren Rücken: „Wo der die Devisen für die Reise bloß her hat?“ – „… ein Spion aus Budapest …“ – „Jetzt ist er in Traiskirchen.“

     Kurze Zeit gab es sogar einen Serben. Er hatte in Belgrad Weib und Kind, das wusste ich von ihm selbst. Er amüsierte sich hier nach Kräften und war so mittellos wie ein Waisenkind, dem man das Mündelgeld veruntreut hat. Wenn er einen mochte, nahm er ihn in die Arme und walzte leise singend mit ihm durch das Hinterzimmer. Ja, auch er kam von der Donau. Wie altmodisch, man genierte sich seinetwegen etwas.

     Der Deutsche, den ich schon erwähnt habe, kannte Matz seit langem, ihn vielleicht noch länger als Leopold. Er irritierte mich immer etwas. Mir war nämlich, als wäre ich ihm schon einmal begegnet. Aber das war so gut wie ausgeschlossen. Ich hörte eines Abends, wie er im Gespräch mit Leopold auf einen gewissen Svoboda zurückkam. Dieser Svoboda war schon zwei Jahre vor meinem Erscheinen hier an Aids gestorben. Leopold sagte: „Er war bestimmt einer der Ersten hierzulande.“

     Dann war noch von einem Milan aus Usti nad Labem die Rede. „Er war um die zwanzig und Koch“, sagte der Deutsche. Milan war mit einem Visum gekommen und hatte sich einige Tage später als Flüchtling bei den Behörden gemeldet. „Wirklich noch ein halbes Kind. Lang, sehr dünn, aber ein hübsches Gesicht, träumerische Augen … Die Eltern durften aus Usti kommen, um ihn zurückzuholen. Aber sie redeten ihm sogar noch zu, hier zu bleiben. Und er, er wollte eigentlich in die USA.“

     Ich hörte noch genauer auf das, was unser Deutscher dem Leopold erzählte. Er und Svoboda hatten ihn hier im Schwarzen Beisl zuerst gesehen. „Er hat dann nur noch Augen für uns gehabt, so erwartungsvoll. Mein Gott, es waren doch genug andere da! Er hat sein Unglück gesucht.“ Unser deutscher Freund gab zu verstehen, Milan sei primär an ihm interessiert gewesen. Aber ihm war der Tscheche zu jung, zu unerfahren, zu viel erwartend … „Also hat der Svoboda ran müssen. Es ist ihm erst auch nicht recht gewesen. Aber dann sind sie den ganzen Winter zusammen gewesen, bis der Svoboda im März gestorben ist.“

     „Ja“, sagte Leopold, „ich habe auch gehört, dass es bei ihm sehr schnell gegangen sein soll.“

     „Und war vorher vollkommen unauffällig. Den Test gab es ja damals noch nicht. Und der Verfall war rasend schnell. Die Medizin war noch so hilflos.“

     „Und dieser Milan?“ fragte ich.

     „Keiner sieht ihn mehr. Er soll noch versucht haben, in die USA zu kommen.“

     Das war eine bedenkliche Geschichte. Aber ich fühlte mich relativ sicher.

     Unser Deutscher machte sich noch immer ein Gewissen daraus, wie die Vorsehung sich seiner damals bedient und ihn hatte verzichten lassen, zugunsten Svobodas. Der Tod war unerkannt mit ihnen ins Beisl gekommen, und er hatte dem Tod den Vortritt gelassen. Was konnte ich daraus lernen: Dass man keinen zurückweisen soll, der sich einem nähern will? Und immer in Rechnung zu stellen hat, die Vorsehung sei vielleicht auch mal schwankend in ihren Entschlüssen und es komme daher auf uns in jeder Minute an? Was ist Zufall, was Schuld? Ich glaube auch, es untergräbt die Selbstachtung, sich bloß als Werkzeug des Zufalls zu betrachten – doch Schuld ist nie wirklich abzutragen. Wurde ich etwa religiös?

     An einem anderen Abend zeigten sie mir auch einen Kranken, einen jungen Mann, der am Tresen saß und sich ruhig mit Nachbarn unterhielt. Er wäre mir sonst nicht aufgefallen. Die Krankheit war ihm nicht anzumerken.

     „Er war auch schon im Fernsehen“, sagte Matz.

     Da sah ich ihn mir genauer an. Er schien vielleicht auch jetzt so etwas wie Interviews zu geben: Unterwegs zum Tod. Er war auf einmal interessant geworden. Dies und das absehbare und nicht wirklich aufzuhaltende Sterben verliehen ihm natürlich Würde, und sie war ihm unübersehbar bewusst. Ich dachte: Wir haben etwas gemeinsam, beide sind wir nur noch kurze Zeit hier.

     Alle hatten ihre Vorgeschichten, ich konnte nicht mithalten und nicht mitreden. Ich kam mir unbelastet vor, ein Nachgeborener. Aber dann stellte Matz mir Klemens vor. Es war wieder ein Samstag, eine Woche nach meiner Rückkehr aus dem Süden.

     Er wurde mir nur mit dem Namen vorgestellt, nicht nach seiner Stellung oder Funktion, sondern nur als der Klemens. Und anhand seines Namens habe ich ihn dann sehr bald identifiziert. Die Namen hatte ich bei meinen bisherigen Kontakten nur ausnahmsweise erfahren.

     Es war eines meiner ersten Bahnabenteuer gewesen. Nun, so abenteuerlich nicht … Damals ging ich noch auf die Polizeischule. Manchmal fuhr ich mit dem Zug bis nach K. und nahm dort den Bus nach Hause, ich meine, auf unser Hochland hinauf. Einmal kam ich gerade die Treppe von den hinteren Gleisen herauf und wollte die Halle durchqueren. Ich hielt die Schwingtür für den Mann hinter mir auf, und er sagte freundlich: „Dank dir“, auf eine Weise, die ich als einladend empfand. Ich fand ihn sogleich über alle Maßen hübsch und begehrenswert. Und wie sanft er sein musste. Ich wollte ihn sanft. Ich glaube, ich sah damals so etwas wie einen besonders exquisiten Kunstgegenstand in ihm, zweifellos ein Objekt also, und noch dazu eines mit dem unschätzbaren Vorteil, dass es atmete und sich vielleicht streicheln ließ, ein Mittelding oder –wesen zwischen Porzellanfigur und Katze. Ich war ja selber noch ein halbes Kind, dem Alter kaum entwachsen, in dem man für den Besuch im Streichelzoo in Frage kommt. Warum gibt es in einem Streichelzoo keine Menschenkinder, zu denen man sehr lieb sein darf? Klemens wäre damals unbedingt dafür in Frage gekommen.

     Wir drückten uns in zwei Ecken des Wartesaals, und ich war fassungslos vor Glück, dass es so etwas wie ihn gab. Und mehr als ihn beseligt anzuschauen, war da nicht möglich. Obwohl ich nurmehr ihn sah, war mir die Gegenwart der anderen wartenden Fahrgäste noch bewusst. Das war eine unnatürliche Hemmung, und natürlich war es, dass ich ihm spontan folgte, als er zum nächsten Zug ging, der in die Hauptstadt fuhr. Ich fragte nach seinem Namen und erfuhr dabei auch, dass er in der entgegengesetzten Richtung unterwegs war. Er antwortete sehr bereitwillig, als verstünde sich ein solches Gespräch von selbst. Ich spürte unter seiner Gelassenheit auch Erleichterung und ein klein wenig Befriedigung.

     „Kommst du heute in vierzehn Tagen wieder hier durch, um dieselbe Zeit?“ Auch ich hatte es eilig. In wenigen Minuten ging der letzte Bus nach Grafung für diesen Tag.

     „Kann sein. Wenn sie mich herauslassen.“ Er war, wie ich zwei Jahre vor ihm, in Rosenberg beim Heer.

     Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hätte mir sein Gesicht nicht ins Gedächtnis zurückrufen können und erkannte ihn jetzt doch sehr bald wieder. Seine Schönheit allerdings begann sich in etwas Überständiges zu verwandeln, ich sah es mit Trauer. Der Blick unter dem jetzt allzu dichten und üppigen dunklen Haar hatte etwas Zugezogenes wie bei Eulen. Am anderen Morgen kam mir der Uhu Puck in den Sinn. Dieser Puck lebte auf einer Burg, die man besichtigen kann, vielleicht lebt er noch immer dort und wird wie früher einmal in der Stunde in den Burghof gebracht, damit ihn die Kinder streicheln können, nur für wenige Minuten, mehr erträgt ein Uhu nicht. War Klemens zu oft gestreichelt worden?

     Später erkannte ich sein Bemühen deutlicher. Er war hier unangepasst, schon in der Kleidung. Er trug eine braune Cordjacke, einen Pulli mit Schillerkragen und eine zerbeulte Stoffhose, beide in Grautönen. Er war demonstrativ zivil, nicht uniformiert wie fast alle anderen Gäste der Bar. Er sagte am diesem ersten Abend fast nichts. Sein Gesicht blieb freundlich verschlossen. Es gibt Kinder, die nicht sprechen, im Übrigen jedoch durchaus folgsam sind. Er protestierte auf seine Weise gegen das Beisl, gegen dessen Publikum und nicht zuletzt gegen die Lebensführung seines Freundes. Dass er mit Matz seit langem eng verbunden war, war unausgesprochen klar.

     Es blieb dagegen offen, ob er mich ebenfalls wieder erkannt hatte. Falls ich ihm damals meinen richtigen Vornamen genannt hatte, so würde er sich jetzt hoffentlich seiner nicht mehr entsinnen.

     Matz lud mich für den Tag darauf zu einem Ausflug mit ihnen ein. Wir könnten eine Ausstellung auf dem Land besuchen. Sie fand damals den ganzen Sommer über in zwei verschiedenen Schlössern statt, die nahe beieinander liegen. Sie wollten mich um elf Uhr vormittags von meiner Pension abholen. Ich sagte ja, wollte mich aber lieber am Westbahnhof mit ihnen treffen. Ich hätte vorher noch etwas Dringendes im Bahnhofspostamt zu erledigen.

     Zimmer und Kabinett waren jetzt fertig renoviert. Ich entdeckte am Sonntagmorgen an den Wänden zwei, drei Stellen ohne frische Farbe. Ich besserte sie rasch aus. Der Spiegel blieb besser noch verhängt. Die übrigen kleinen Räume instand zu setzen, das würde mich eine weitere Woche kosten. Ich konnte zunächst nicht aufs Land fahren.

     Von Doris hatte ich seit unserer Verlobung noch nichts gehört. Sie schien vielleicht auf meinen Anruf zu warten. Ja, es war an der Zeit, mich bei ihr zu melden. Aber ich war zu spät aufgestanden und hatte durch das Ausbessern weiter Zeit verloren. Ich schob daher den Gedanken an sie beiseite. Es will mir auch heute nur unerheblich erscheinen, dass wir oft längere Zeit nichts voneinander hörten. Wir haben immer nur wenig telefoniert. Was wir beim Abschied jeweils vereinbarten, das galt dann, für mich ebenso wie für Doris. Ja, ich vermute sogar, häufiger aus der Ferne miteinander zu reden, hätte uns unsicher werden lassen können. Dabei war die Entscheidung ja schon gefallen, ich würde mich verheiraten. Gerade an diesem Sonntagmorgen zweifelte ich nicht mehr daran.

     Es war tatsächlich höchste Zeit aufzubrechen, wenn ich nicht zu spät am Westbahnhof sein wollte. Ich nahm sogar die Straßenbahn.

     Ich ging nicht nur in den Bahnhof hinein, sondern tatsächlich auch ins Postamt. Und um bestimmt keinen Fehler zu machen, stellte ich mich sogar vor einem Schalter an und ließ mir dann einen größeren Geldschein wechseln. Wer auch immer mich hier zufällig bemerken sollte, er würde meinen kurzen Aufenthalt im Bahnhof unverdächtig finden. Dieses Manöver kostete mich noch einmal fünf Minuten. Ich verließ den Bahnhof im Laufschritt.

     Sie warteten schon an der vereinbarten Ecke. Matz streckte seinen Kopf aus dem Seitenfenster ihres Kleinwagens heraus, den Ausgang des Bahnhofs im Blick. Sie waren nicht auch drinnen gewesen, es enttäuschte mich beinahe etwas. Nun, so war es für mich eine Übung gewesen – wofür eigentlich? Das kann man vorher meistens nicht wissen. Ich versuche nur immer, konsequent zu sein.

     Klemens lenkte den Wagen. Er fuhr vorschriftsmäßig, beinahe wie ein Fahrschüler, der schon alles beherrscht und noch alles beachten will. Matz sagte: „Ich fahre nur selten Auto. Der Klemens kann es einfach besser.“ Aber Matz war es, der vom Beifahrersitz Klemens fortlaufend Ratschläge gab. Ich hätte nicht am Steuer sitzen wollen.

     Matz versuchte, auch mich ins Gespräch zu ziehen. Er wusste ungefähr, wo meine Pension lag. Auf dem Weg stadtauswärts kamen wir in der Nähe vorbei. Matz fragte, ob ich in diesem oder jenem Café oder Beisl schon gewesen sei. Das musste ich in allen Fällen verneinen. Umgekehrt durfte ich nicht zugeben, wie gut ich das Straßennetz tatsächlich kannte: wie einer, der schon Jahre hier lebte. Es war also bei Tag in der Stadt viel schwieriger, die Harald-aus-Salzburg-Rolle weiterzuspielen. Ich fühlte mich jetzt gehemmter als an den Abenden im Schwarzen Beisl. Ich sagte mir, ich würde ihnen ja doch bald aus den Augen kommen. Ich durfte nur Spuren legen, die sich ohne Mühe verwischen lassen würden.

     Mir wurde leichter, als wir die Stadt hinter uns ließen. Wir fuhren jetzt in die Ebene hinein, immer weiter nach Osten.

     Wir langten am ersten der beiden Schlösser an und stiegen aus. Die beiden Freunde waren sommerlich leicht gekleidet und wirkten schon dadurch sehr viel anders als in der Nacht davor. Klemens erschien mir weniger düster, obwohl er noch immer kaum sprach. Matz kam mir zunächst gedämpfter als nachts vor, weniger forciert im Auftreten.

     Der Parkplatz war groß wie ein Fußballfeld. Die Massen strömten schon zum Eingang der Ausstellung. Es gab Führungen in kurzen Abständen. Wir standen an der Kasse nach Karten an. Ein besonderes Angebot richtete sich an die Kinder der Besucher, ich habe vergessen, worin es bestand.

     „Ja, ihr zwei, wo sind denn jetzt die Kinder“, sagte Matz und sah uns an, wie wir gerade in der Schlange standen: „Ich weiß schon: Hinuntergewichst!“ Er grinste befriedigt. Klemens reagierte nicht. Oder genauer: Er gab mit Schulterzucken und gelangweiltem Blick zu erkennen, er sei vollkommen abgestumpft gegen diese Art von Provokation. Also war ich die Adresse gewesen. Tatsächlich, es war mir peinlich. Aber ich zeigte es nicht und dachte: Das steht noch dahin.

     Eingekeilt in einen Tross nur mäßig interessierter Besucher schlurften wir mit durch die Säle. Die Pracht war enorm. Alles penibel restauriert, es konnte damals im Barock unmöglich so prächtig ausgesehen haben. Was ist original, dachte ich, ein beliebiges Schloss von damals, das nur benutzt wird, oder ein restauriertes Schloss zum Vorzeigen wie dieses hier, das einem mit all den frischen Farben originalgetreuer vorkommt als sämtliche anderen Bauten jener Zeit mit ihrer immer gleichen Patina? Vielleicht konnte man das Wort original doch steigern, gerade so wie originell: originaler, am originalsten …

     Man sah den meisten der Mitgehenden an, sie hörten der Führerin nicht oder kaum zu. Und diese gescheite junge Frau tat so, als bemerke sie Unverständnis, Überforderung und Langeweile durchaus nicht. Tatsächlich konnte es irgendwo einen in der Menge geben, der an ihren Lippen hing und alles aufnahm und behielt. Ich war es nicht. Mythologie hat auch mich immer nur gelangweilt.

     Klemens empfand diesen Widerspruch zwischen Informationsangebot und –nachfrage offenbar auch. Er sagte: „Man sollte so etwas niemals an einem Sonntag besuchen.“

     „Während der Woche kommen noch mehr Busse“, erwiderte Matz. Ich fühlte mich ihnen auf einmal verbunden. Wir standen gemeinsam allem kritisch gegenüber: dem Massenbetrieb hier, der Masse selbst und dem Anspruch hinter dem Betrieb.

     Wir gingen jetzt am Rand mit. Matz zischelte uns zu: „Fragen wir sie: Stimmt es, dass der Prinz eine Tunte war?“ Jetzt kräuselte ein Lächeln, auf das es Matz vielleicht doch abgesehen hatte, die Lippen von Klemens. Mir war das mit dem Prinzen, dem großen Feldherrn unserer Schulbücher, noch neu, so aufregend neu, dass ich wahrscheinlich sogar stehen blieb und vielleicht wirklich mit offenem Mund dastand, so grün wie ich damals noch war. Matz war indessen nicht der Typ für einen Skandal, das begriff ich schnell. Die Vorstellung eines Skandals erregte ihn, der Skandal selbst hätte ihn auch nicht mehr befriedigen können. Ich fand das beruhigend.

     Nachher standen wir kurze Zeit auf der Terrasse hinter dem Schloss. Von dort hat man einen Blick weiter in die Tiefebene hinein, weit nach Osten. Dort unten am Fluss, sagte ich mir, ist unsere Ostgrenze. Ich komme aus dem Norden, im Süden habe ich mich verlobt, was der Osten für mich bedeuten kann, ist noch unklar. Und dann der Westen, werde ich vielleicht im Westen sterben … Habe ich wirklich so gedacht, damals? Allenfalls habe ich so etwas vage empfunden und dann im Rückblick für mich erst ausformuliert. So gesehen ist das Leben, das man führt, nur wie eine Skizze, und das Bild malt man dann später.

     Es gelang Matz, Klemens zu einigen sachkundigen Bemerkungen über das Schloss, den Park und den Architekten zu bewegen. Matz war stolz auf ihn: Der Klemens verstand davon mehr als er selbst. Was den Garten betraf, so war von ihm wenig übrig geblieben, keine Balustraden, keine Skulpturen, keine Gartentore mehr. Klemens erzählte, unter Franz Joseph habe hier das Heer gehaust. Dabei sah er wie der eingefleischte Zivilist aus, der er ja ohne Zweifel auch war. Wenn sie mich wieder herauslassen, hatte er gesagt. Es lag mir daran, dass er das Thema Militär bald wieder verließ. Er könnte sonst vielleicht noch Gedankenverbindungen zu seiner eigenen Dienstzeit und zu einer gewissen Begegnung im Bahnhof von K. herstellen.

     Wir gingen zum Parkplatz, um zum anderen Schloss zu fahren. Bevor wir einstiegen, hörte ich Matz fragen: „Sag mal, sind bei euch in der Pension die Maler? Du hast da einen weißen Streifen hinten auf deiner Jacke.“

     Ich besah mir den Fleck. Offenbar war ich kurz vor meinem Aufbruch von daheim einer frisch gestrichenen Stelle zu nahe gekommen. Ich sagte, es könne im Westbahnhof passiert sein. „Vielleicht im Postamt. Oder in der Straßenbahn.“

     Matz lachte: „Ausgerechnet in der Straßenbahn, sehr unwahrscheinlich. Am Ende bist du noch ein Schwarzarbeiter …“ Ich war froh, als wir wegfuhren.

     Wenn ich mich recht entsinne, gab es im anderen Schloss keine Führung. Oder wir nahmen nicht daran teil. Ich erinnere mich jedoch deutlich, wie wir nachher im Schlosshof standen und Klemens sich an einem Kiosk ein Eis kaufte. Er aß es im Auf- und Abgehen, während ich mit Matz herumstand.

     Matz sagte: „Ich finde, es sieht abscheulich aus, wenn Erwachsene noch Eis schlecken, wie Kinder.“

     „Isst du nie Eis?“

     „Nur heimlich, wenn überhaupt, und dann immer nur eine Kugel.“

     Etwas später war Klemens verschwunden. Er hatte kein Wort zu uns gesagt.

     Matz schien mir ein wenig beunruhigt. Er sagte: „Er muss noch hier am Schloss sein. Nein, das würde er nicht tun: einfach weglaufen, ohne vorher ein Wort zu sagen.“ Es kam mir vor, als laute die tiefere Bedeutung: Er ist zwar sonst unzurechnungsfähig, aber er läuft wenigstens nicht weg.

     Nach ungefähr zehn Minuten war Klemens wieder bei uns. Er lächelte geistesabwesend. Wir erfuhren nicht, wo er sich aufgehalten hatte.

     Wir beschlossen dann, langsam nach Hause zu fahren. Es war bereits spät am Nachmittag. Matz schlug vor, schon unterwegs zu nachtmahlen, irgendwo am Strom. Ich begriff, dass er den Ausflug verlängern wollte. Klemens nickte zum Zeichen, dass es ihm recht sei.

     Während wir fuhren, sah ich sie vor mir sitzen und fragte mich, wie ihr Verhältnis wohl konkret beschaffen sei. Schliefen sie noch miteinander? Und wenn nicht, was mir angesichts meiner Anwesenheit im Auto wahrscheinlich vorkam, bedeutete das dann noch irgendetwas? Sie stellten etwas dar, ohne Zweifel, nur was genau? Eine lange gemeinsame Vorgeschichte, sicher, einer kennt den anderen fast wie sich selbst oder sogar noch besser, dann ist da Vertrauen, Gewöhnung, Routine, Besorgnis eines um den anderen …Sie sprachen nicht mit mir darüber, sie führten mir, ob mit oder ohne Absicht und ohne es zu erklären, ein Modell vor, wie eine männliche Partnerschaft über lange Zeit funktionieren kann. Ich wollte es nicht bewerten, doch ich wusste: Für mich kommt es nicht in Frage.

     Matz ließ Klemens halten. Da war dicht am Strom ein Ausflugslokal. Klemens ließ uns erst aussteigen und sagte dann, wir sollten ohne ihn essen, er sei noch nicht hungrig. „Ich setz mich ans Ufer und schau auf den Strom. Doch, das hab ich wirklich gern …“ Matz drang nicht in ihn, also konnte ich es auch bleiben lassen.

     „Eines ist nun mal sicher“, sagte Matz, als wir uns im Saal drinnen einen Tisch ausgesucht hatten, „er ist der geborene Melancholiker.“

     „Und du – der Kontrast?“

     „Ich tu, was ich kann. Die Geschichte auflockern, das kann ich ganz gut. Und manchmal geht das schon unbewusst. Als er neulich promoviert hat – ja, er ist wirklich nicht so ein Depp, er schreibt sogar an einem Buch über Nestroy – ich wollt sagen, als er Doktor worden ist, da sind alle seine Verwandten vom Land hereingekommen. Wir machen also etwas Besonderes für sie, eine Dampferfahrt. Alle sind fein angezogen und lassen sich sehr gern von mir fotografieren, während sie an Bord gehen. Nur, es ist wirklich zu komisch, sie werden nie ein Bild von sich bekommen. Es ist gar kein Film in der Kamera gewesen.“ Er lachte, ich sage mal: herzhaft.

     „Absicht oder Versehen?“

     „Natürlich nur vergessen. Oder vielleicht doch mit Absicht vergessen, wer weiß. Sie werden noch etwas lästig werden. Sollen sie … Dann ist es ein Jux gewesen.“ Er lachte amüsiert.

     Während wir aßen, unterhielt er mich so mit einer Reihe von Geschichten, die mir leider bis auf diese eine alle entfallen sind. Auch ich amüsierte mich, das weiß ich noch, und seine gute Laune wuchs mit meiner. Nur einmal wurde er ärgerlich. Der Ausgang der Präsidentenwahl war nun bekannt, er sagte zornig und verächtlich: „Jetzt haben sie ihren alten Nazi. Eine schöne Geschichte ist das.“

     Ich war perplex. Obwohl bürgerlich, stand er hierin also nicht an der Seite von Althammer senior. Seine Bürgerlichkeit hatte Streifen. Ich äußerte mich dazu nicht. Heute scheint mir, seit diesem Essen war es, was die Politik anging, mit meiner eigenen Naivität vorbei. Der Proporz bekam für mich die ersten Risse. Und mein eigener Vater hatte, wenn er vom vorigen Kanzler sprach, sich gern so ausgedrückt: Der Jud am Ballhausplatz. Damit durfte man Matz, der gern in New York war, in keinem Fall kommen. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich ja doch aus Salzburg war und Harald hieß.

     Matz lud mich gegen das Ende der Mahlzeit erneut zu sich ein. „Nächsten Samstag wär sehr gut. Der Klemens ist nämlich übers Wochenende fort. Willst du?“

     Ich sagte gleich ja. Er tat mir nun einmal gut. Dieser Ausflug und unser Essen jetzt bewiesen es. Und ohne Klemens waren wir beide viel lockerer. Ich war erstaunt, als ich dann von ihm hörte, nein, er wohne nicht mit Klemens zusammen. Er selbst habe kein rechtes Verhältnis zum Wohnen oder nur ein sehr distanziertes. Ich würde nur ein kleines Appartement zu sehen bekommen, er sei ja eigentlich in der ganzen Stadt zu Hause, in den Straßen, in den Cafés und Bars … „Und wie wohnst du, in Salzburg?“

     „Auch sehr einfach. In einem Gemeindebau.“ Ich brauchte keine Einzelheiten zu erfinden, denn wir standen jetzt vom Tisch auf und gingen hinaus. Klemens fanden wir nicht weit vom Parkplatz am Ufer. Er schien die Stunde ohne uns genossen zu haben. Er wirkte zum ersten Mal an diesem Tag ziemlich gelassen auf mich, beinahe sonntäglich heiter jetzt, und entspannt fuhr er uns in die Stadt zurück.

     Ich ließ mich vor der Pension absetzen, in der ich angeblich wohnte. Zum Schein blieb ich zwei Minuten im Tordurchgang stehen und ging dann langsam durch Nebengassen zu meiner Wohnung zurück.

 

Matz hatte mir bis dahin nur seine Geschäftsadresse gegeben. Wo er wohnte, wusste ich damals noch nicht. Wenn ich Zeit hätte, könne ich ihn ja mal im Laden besuchen. Am Mittwoch darauf fuhr ich nachmittags mit der Trambahn hin. Ich fand ihn allein in einem kleinen Einrichtungsgeschäft zwischen Kissen, Stoffbahnen und Mustermappen von Gardinen und Bodenbelägen. Ja, hier sei er der Geschäftsführer, sagte er, noch ganz der Businessman, und fuhr dann grinsend fort, wie um sich von dieser offenbar nicht standesgemäßen Beschäftigung zu distanzieren, er sei in Personalunion auch der einzige Angestellte, im Allgemeinen sei nicht viel zu tun. Kunden ließen sich auch weiterhin nicht blicken. Da es ohnehin gegen Geschäftsschluss ging, schloss er bald ab und nahm mich mit in sein Stammcafé in der Nähe. Unterwegs nörgelte er an meiner Aufmachung herum. Obwohl es an diesem Tag schon ziemlich heiß war, war ich nicht ohne Jacke weggegangen. Es war wieder die Blaha-Jacke, ich trug sie über die eine Schulter geworfen.

     „Man sieht dich nie ohne deine komplette Uniform“, sagte er im Tonfall milden Tadels. Er selbst war dezent sportlich gekleidet, passend zu seiner Tätigkeit im Laden.

     „Die Jackentaschen sind so bequem, um etwas unterzubringen: Geld, Schlüssel, Papiere.“

     „Ah ja, deine Papiere, deine Schlüssel …“

     Das kleine Café war eines, wie es Hunderte in unserer Stadt gibt. Es stellte sich heraus, dass Matz jetzt dort verabredet war. Aus der hintersten Ecke winkte uns ein langer, dünner Blonder zu sich heran. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er war auffallend knochig und sehnig, er war tief in unseren Bergen zu Hause. Er sprach auch so und gab sich wenig Mühe, sich mir immer verständlich zu machen. Mir fiel wieder ein, dass auch Matz Tiroler war. Der Sehnige fragte bei der Begrüßung: „Ist er das?“ Kaum dass wir saßen, begann er auf Matz einzureden, und mich musterte er gleichzeitig fortwährend. Ich erfasste noch nicht, worum es ihm ging.

    Dieser Knochige sagte mir von Anfang an nicht recht zu. Er vertrat einen Typ, den ich noch nicht einzuordnen verstand, er war weder ein Strobl noch ein Rindfleisch. Ich hielt ihn zunächst für einen Sportler. Er sprach von Vorlauf, Ziel, Aufholen und Nachholen und dergleichen. Ging es um Marathon oder um Skilanglauf? Jedenfalls um Training und eine Art von Meisterschaft. Da begriff ich auf einmal, dass sein Ziel hier in der Stadt lag, an der Ringstraße – er wollte ins Parlament gewählt werden. Und wenn er erst drin wäre, dann würde sich auch sein Traum erfüllen. Er sprach mich endlich doch einmal an und sogleich mit großem Nachdruck: „Meine erste Rede halte ich natürlich nur in Frauenkleidern“, sagte der Inneralpine. Ich fand diese Vorstellung grotesk und fragte mich, wie mein künftiger Schwiegervater dann auf ihn reagieren würde, säßen eines Tages beide im Nationalrat. Als Schwiegersohn würde ich am Ende in der Familie Partei ergreifen müssen, beim Tafelspitz oder den Marilleneisknödeln.

     Der Sehnige, an dem mir alles so maskulin vorkam, begründete sein Vorhaben mit gesellschaftlichen Erfordernissen. Während er mich weiterhin fixierte wie der Hund den Knochen, den er schon zwischen den Pfoten hält, voller Vorfreude auf das Benagen, hielt er seinen Vortrag immer noch, wie es schien, allein für Matz. Er brachte es fertig, die Augen einerseits und die Stimme andererseits in zwei verschiedene Richtungen zu lenken. Matz schien seinem Gesichtsausdruck nach diese Argumente längst zu kennen, er sah gelangweilt drein. Der Monolog war also schon öfter gehalten worden. Ich verstand den Inneralpinen jetzt besser. Er rasselte seine Stichworte herunter: Reformstau, Veränderungsprozess, Feminisierung, Gewaltabbau … Zum Schluss versicherte er noch, im Fummel ans Rednerpult zu treten, sei ihm darüber hinaus ein tiefes persönliches Bedürfnis.

     Wir ließen ihn im Café zurück. Draußen lachte Matz, umhalste mich und küsste mich dabei auf die Wange.

     „Wie fandest du ihn? Wirst du ihn wählen, unseren Alpenguru? Glaub doch nicht alles, was er sagt. Ich kenn ihn schon länger. Glaub mir, seine persönlichen Bedürfnisse sind ganz andere.“

     Matz wollte noch einmal in den Laden gehen, und ich sei auf dem Weg ins Kino, sagte ich. Wir verabredeten uns auf den Samstagabend im Beisl. Warum hatte er mich in dieses Café geführt und mir den sonderbaren Politiker präsentiert? Ich weiß bis heute nicht, ob er tatsächlich später einen Sitz ergattert hat.

     Drei Abende später sah ich mich im Beisl vergeblich nach Matz um. Es war kurz nach elf Uhr, er hatte um diese Zeit schon da sein wollen. Dafür konnte ich Leopold begrüßen, und ich blieb bei ihm hängen. Zwischen uns entstand sogleich eine Stimmung besonderer Art, so als ob wir bereits miteinander geschlafen hätten und es gern erneut tun würden. Darüber wurde nicht gesprochen, wir sprachen überhaupt fast nicht. Mag sein, dass wir uns darüber nur mit Blicken verständigten, ohne es uns auch sogleich bewusst zu machen. Ich weiß nicht, wie ich damals auf ihn wirkte. Was ihn betrifft, so schienen mir bei ihm die einfachsten Vorgänge – Atmen, Schauen, Trinken – intensiver, freudiger abzulaufen als gewöhnlich. Es war nicht einmal Körpersprache, er nahm keine besonderen Positionen ein. Es war allein seine Ausstrahlung.

     Ich kam nicht von ihm los, und er vermied in dieser Stunde wie mit Absicht das sonst übliche Gespräch mit seinen Freunden. Wir blieben da stehen, wo wir uns getroffen hatten, es war kurz vor dem Durchgang in das abgedunkelte Hinterzimmer. Wir sahen nicht ins Dunkle, sondern auf das Samstagabendpublikum. Schaulaufen, das traf die Sache wieder einmal, und wir beide nahmen jetzt nicht daran teil.

     Es kamen ständig neue Gäste herein. Matz war nicht unter ihnen, und während ich mir einredete, ich sei verpflichtet, auf ihn zu warten, und ich täte es gern, glaubte ich es in Wahrheit bereits nicht mehr. Wir beide standen doch jetzt nicht zufällig an dieser Stelle. Es war mir inzwischen klar, Leopold wartete wieder einmal auf mich. Er war sehr anziehend, und er genoss sogar das Warten. Das Hinterzimmer kam für mich nach wie vor nicht in Betracht. Sollte ich ihn nicht doch zu mir nach Hause nehmen? Ich könnte sagen, es sei die Wohnung eines Freundes, der verreist sei …

     „Man denkt nach.“ Leopold sagte es leichthin, nicht wie eine Frage. Ja, ich könnte auch alles einräumen. Dass ich hier ansässig bin, den falschen Namen und … nicht gerade, dass ich bei der Polizei bin.

     Gerade jetzt sah ich das Lichtsignal an der Tür aufleuchten. Jemand wollte herein. Es war Matz am Arm eines Fremden. Oder umgekehrt? Ich konnte von hier hinten nicht recht sehen, wer wen führte. Er entdeckte mich nicht sofort, auch schien er mich nicht zu suchen. Sie kamen nur allmählich näher. Ich hatte Zeit, ihn sehr verändert zu finden. Er steckte in seiner üblichen Montur - es war seine Haltung, die ich nicht wiedererkannte. Er besaß nämlich keine mehr, es war fast so, als bewegte sich eine Uniform aus dem Armeemuseum allein und ohne Inhalt durch den Raum. Matz wirkte schlaff, ausgehöhlt. Ich sah jetzt, wie sein Begleiter ihn auf der Suche nach freien Stehplätzen weiterschob. Ich hatte so etwas wie eine Vision, wirklich, so war es, ich erfinde es nicht nachträglich: Ich sah den Fremden ein uniformiertes Skelett durch das Gedränge schieben. Jetzt hatten sie uns erreicht. Über den anderen kann ich heute fast nichts mehr sagen, sein Aussehen ist mir nicht mehr präsent. Er muss auf mich unscheinbar gewirkt haben.

     Matz sah mich überrascht an, er war es tatsächlich. Er war jetzt nicht imstande, etwas vorzutäuschen, das erkannte ich rasch. Leopold wollte noch zur Seite gehen, doch es gelang ihm in der überfüllten Bar nicht so schnell. Und dann blieb er wie ich schweigend stehen und hörte mit mir den leiernden Singsang an.

     „Ah, du bist … du bist doch noch gekommen … Harald oder wie du sonst heißt … Er sagt, er heißt Harald, warum? Manche lügen bloß aus Gewohnheit … Das ist John. Aus New York, nicht aus Salzburg. Aber jetzt wohnt er in Berlin … Entschuldige, du wirst entschuldigen, wir haben etwas genommen. Auf unser Wiedersehen hin einiges genommen. Manche stoßen erst noch an, bevor sie schlucken, wir schlucken gleich. John kommt immer so plötzlich … Ich hab dich anrufen wollen, in deiner Pension. Ja, die Pension gibt’s wirklich, mit einer schönen, anständigen Telefonnummer … Nur dich scheint es irgendwie nicht zu geben. Nicht in der Pension und vielleicht sonst auch nicht. Es gibt dich einfach gar nicht, das ist sehr einfach, Harald … Ach so, er redet nicht mit mir. Ist auch nicht mehr nötig, Henry! Versuchen wir es mal mit Henry oder nein, warte mal … John, sonntags lackiert Henry immer Straßenbahnen. Ha, ha, ausgerechnet Straßenbahnen. Oder Bananen, bananas …Am End bist nur ein Spitzel, ja, ja, ein mieser, kleiner Spion.“ Er hob die Stimme kein einziges Mal, auch jetzt nicht. Der, der von ihm John genannt wurde, zog ihn weg. Die Mauer aus Leibern schloss sich schon wieder.

     Leopold war noch neben mir. Er sagte nur: „Fürchterlich. Und es interessiert mich nicht einmal.“ Ich fühlte seine Hand in meinem Nacken. Er zog meinen Kopf zu sich heran. Wir waren etwa gleich groß – wir sind es noch immer -, so dass er mein Gesicht vor den Umstehenden verdeckte. Er hätte nichts Besseres tun können. Ich wollte gerade jetzt nicht mehr gesehen werden. Hatte ich nicht das Gesicht verloren? Nein, es war jetzt nicht Scham … Vielleicht hätte ich doch so etwas wie Beschämung empfinden können, denn mir war sogleich bewusst, auch ich und nicht allein die Drogen, ich zuallererst hatte Matz an diesem Abend so sehr verändert, ihn im Kern getroffen. Ins Mark getroffen, das sagt man so, und heute sage ich mir mit Trauer, so war es auch.

     Nein, es war, schon während es sich offenbarte, von etwas anderem überlagert worden. Während der zweiten Hälfte dieser unheimlichen, weil tonlosen Tirade hatte ich an Matz vorbei und zum Eingang gestarrt. Strobl war gerade hereingekommen, er war an seinem dienstfreien Samstagabend einfach wie andere auch ins Schwarze Beisl gegangen.

     Ich zog Leopold ins Hinterzimmer hinein, sicher auch um Zeit zu gewinnen und zu überlegen, doch nicht nur deshalb. Ich weiß es, ihm wollte ich jetzt nicht mehr ausweichen.

     Das Hinterzimmer war verhältnismäßig groß, dabei kaum möbliert, und wir waren jetzt dort allein. Es passte mir da von Anfang an nicht. Ich schob Leopold weiter, soweit das überhaupt nötig war. Wahrscheinlich war er denselben Weg schon gelegentlich einmal zu zweit gegangen. Er schloss von innen ab, als wir in einer der beiden Kabinen waren. Und dann …

     Ja, was dann? Da bin ich jetzt schreibend in eine Sackgasse geraten, scheint mir, denn wie kann ich zu meiner eigenen Befriedigung beschreiben, was damals für mich durchaus befriedigend verlief? (Und mehr als das!) Ich könnte so anfangen und mir ins Gedächtnis rufen, dass Leopold sich dort sehr viel anders gab als vorher zu vermuten. Er war eben doch kein Kaltblüter, ich hatte es mit einer spannungsreichen Persönlichkeit zu tun. Allgemeine Feststellungen sind das, konkreter, mein Herr Autobiograph! Nein, ich kann es nicht … Ist es Scham, und wenn Scham, ist sie dann unbegründet? Soll ich mich meiner Scham schämen?

     O, es ist zunächst ganz einfach. Ich fürchte, ihn und mich bloßzustellen, falls diese Aufzeichnungen, die nur für mich bestimmt sind, durch Zufall oder böse Absicht doch einmal in fremde Hände gelangen. Und ich will Rücksicht auf ihn nehmen, der so gut wie nie einen unfreundlichen Gedanken in mir erregt hat.

     Ich war nicht von Anfang an entschlossen, es nicht zu beschreiben. Zunächst sah ich nur die Schwierigkeiten. Ich misstraute den üblichen Begriffen. Würden sie dem konkreten Fall, der konkreten Aktion, diesem Zusammenspiel gerecht werden, sie nicht verfälschen, gerade das nicht unterdrücken, was daran persönlich und vielleicht ein klein wenig einmalig war? Ich ging das zur Verfügung stehende Vokabular durch, soweit es sich wie von selbst anbot: reif, unreif, dominant, unterwürfig, zärtlich, sadomasochistisch … Was gewinne ich, wenn ich diese Wörter verwende, sie wie Etiketten anbringe, so dass die Erfahrung klassifiziert und vergleichbar gemacht wird? Vorausgesetzt, es gibt das Einmalige – dann würde ich es damit verneinen, zumindest unkenntlich machen.

     Vor einiger Zeit kam mir dann ein Buch in die Hände, das mir vielleicht als Beispiel hätte dienen können – glaubte ich, als ich es bei einem ambulanten Händler für Restauflagen entdeckte. Das Inhaltsverzeichnis las sich viel versprechend. Wie hieß noch der Autor, Rodney oder Ripley oder noch anders? Er war, als er noch lebte, so etwas wie der Stolz Amerikas, ich meine seiner Literatur. Inzwischen ist er tot, und die nicht verkauften Werke in deutscher Übersetzung kann man alle für wenig Geld auf dem Naschmarkt bekommen. Ich habe den einen großen Roman von vorn bis hinten durchgelesen, weit mehr als tausend Seiten. Dann habe ich ihn für ein paar Schillinge bei einem anderen Händler gelassen. Man braucht immer mal Münzen zum Telefonieren.

     Mr. Rodney oder Ripley beschrieb sehr ausführlich Akte, die gewöhnlich dreißig, vierzig Minuten dauern. Um einen von ihnen lesend nachzuvollziehen, benötigte man nicht unter drei, vier Stunden. So viel Stoff bekommt man, das wette ich, auch mit noch so großer Liebe zum Detail nicht aus unmittelbarer Erfahrung zusammen. Da half nur Spekulation. Alles war auslegbar, jeder Seufzer, jeder leichte Druck. Selbst vollkommene Passivität der Partnerin oder des Partners war sehr ergiebig – später am Schreibtisch. Alles drückte sich beim Sex aus, die Vorgeschichte, die Grundeinstellung, die Zukunftspläne, Gemeinsamkeit und Gegensätze, das Leiden am Vater, an der Mutter, an der Gesellschaft, die Lust an der Geldverschwendung, die Lust am Nichtstun, die Lust an der Kreativität … Die Belege für so viele Theorien, angeblich im Bett entstanden: dürftig. Dafür unterfüttert mit deftigem Vokabular.

   Dieser Rodney oder Ripley widmete sich als Erzähler abwechselnd Frauen oder Männern, jenen häufiger als diesen und offenkundig auch mit mehr Lust. Ich gönnte sie ihm. Ob aber Männer oder Frauen, man musste nur konzentriert genug lesen, um zu bemerken, dass der Erzähler im Ergebnis seinen wechselnden Bezugspersonen immer den gleichen Sachverhalt vorwarf: Sie verkehrten nicht mit ihm, wie er war oder werden wollte oder konnte, sondern suchten in ihm stattdessen ihre eigene Vorstellung von ihm oder sonst einem. Oder von niemand. Oder etwas ganz und gar Abstraktes. Sie taten also all das, worin er ihnen später schreibend und ihr Verhalten ins Gigantische und Monströse aufblasend mit sehr viel Erfolg nacheiferte.

     Was mich am meisten an ihm amüsierte, war ein Verdacht, der mir beim Lesen kam: Insgeheim nahm er am Leser Rache dafür, dass Gott ihn nicht genügend homosexuell erschaffen hatte. Er schien vielleicht zu glauben, dann noch besser geschrieben zu haben. Darüber kann ich mir natürlich kein Urteil erlauben.

     Auch ich habe einmal geglaubt, je nackter man miteinander umgehe, umso näher komme man sich. Nacktheit sei aufschlussreich, setzte ich voraus, vergleichbar einem Steinkohlenflöz, das an die Erdoberfläche streicht. Vielleicht ist man in Wahrheit nur umso einsamer. Zeitweise habe ich auch geglaubt, man stelle beim Sex seine Geschichte dar, wobei die Zeit ausgeschlossen bleibe. Doch die sexuelle Sprache wird nur bruchstückhaft verstanden, sobald man ihr über die Lust hinausgehende Mitteilungen entnehmen möchte. Man soll das Unübersetzbare nicht übersetzen wollen.

     Ich sage also, Leopold war nicht zärtlich und auch nicht sadomasochistisch. Er schlug mich nicht und ließ sich auch nicht schlagen. Küsste nicht und ließ sich nicht küssen. Er ließ sich nicht analysieren und bot keine ausreichenden Aufschlüsse. Was aber tat er dann? – Er zwang mich, ihn wahrnehmen. Und eben darin bestand der Unterschied, ob ich mit ihm oder mit Doris verkehrte. Ich nahm ihn wahr, sehr deutlich, ihn, nicht seine Eigenschaften. Er war für mich kein Fallbeispiel.

     Bei ihm nur Lust. Und jetzt nur mehr Erinnerung daran. Wie lange noch andauernd? Wer das wüsste.

     „Bringst du mich noch nach Hause?“ fragte ich ihn.

     Wir zahlten rasch am Tresen. Ich suchte seine Deckung, während wir die Bar durchquerten. Er hat gewiss angenommen, ich wollte nicht noch einmal auf Matz stoßen. Ich habe Matz und John nicht einmal mehr von weitem gesehen, als wir hinausgingen. In Wahrheit wollte ich möglichst nicht auch noch von Strobl entdeckt werden. Ich ging dicht an ihm vorbei. Tatsächlich – das habe ich später von ihm erfahren – hat er uns nicht fortgehen sehen. Doch sagte er mir neulich, dafür habe er mich gleich bei seinem Eintreffen im Beisl schon vom Eingang her bemerkt. Auch dass ich mit Leopold sehr bald nach hinten verschwunden bin, ist ihm damals nicht entgangen. Nur habe er sich gewundert, dass wir nicht zurückgekommen seien. Er lachte: „Als ob ihr durch ein Fenster geflüchtet wäret.“

     „Du, ich fahr heut Nacht nicht gern hier am Kanal entlang. Da soll’s Kontrollen geben.“ Woher er das wusste?

     Er steuerte also den Gürtel an, um ihm bis auf die Höhe des Westbahnhofs zu folgen. Doch als wir Maria vom Siege, diesen Alptraum von einer Kirche, schräg über uns auftauchen sahen, überaus monumental, saß er doch in der Falle und ich mit ihm - Kollegen von mir! Er hat doch mindestens drei Seidel getrunken. Sie werden es riechen. Und seine schwarze Ledermontur wird sie erst recht aufstacheln … Noch hoffe ich, die Alkoholkonzentration wird in diesem stattlichen Körper nicht allzu hoch ausfallen, und schließe vorsichtshalber die Augen. Jetzt den Schlaf spielen! Ich habe von allem nichts bemerkt.

     „Sehr sympathisch, unsere alkoholisierten Autofahrer - bis es kracht.“ Wahrscheinlich habe ich das halluziniert, denn ich weiß, das war einmal der Text auf landesweit aufgestellten Warntafeln. Oder hat es wirklich einer zu ihm gesagt?

     Nein, eine höfliche Ansprache. Er antwortet. Dann klappt etwas, das Handschuhfach? Ich zwinge mich, die Lider geschlossen zu halten. Und dann höre ich: „Also, gute Weiterfahrt.“

     Er ordnet sich mit seinem Lieferwagen schon wieder in den fließenden Verkehr ein. Wie viele Wagen jetzt noch unterwegs sind … Ich sehe ihn von der Seite an und höre den Luftstrom seiner Erleichterung. Ich will nichts wissen. Ich blicke zur rechten Straßenseite. Das Theater da ist um diese Zeit längst geschlossen. Auch das Beisl ist für mich eine Bühne, und zwar eine, auf dem jedermann gleichzeitig Schauspieler wie Zuschauer sein kann. Ich bin froh, für diesen Abend und vielleicht überhaupt dort abgetreten zu sein. Ich habe mich für ihn entschieden und bin noch immer befriedigt, mag da eben was auch immer vorgefallen sein.

     „Maria hat geholfen.“ Ich höre es ihn sagen und höre dabei sein zynisches Behagen heraus. Und ich sehe ihn wieder vor mir, dicht vor mir in jener Kabine, nehme seine spezielle Art von Erregung wahr, die nicht frei war von Negation. War Blasphemie eines der Elemente, aus denen sein Innerstes sich zusammensetzte? War der Urgrund seines Wesens vor allem Blasphemie? Und ähnelten wir uns darin, war dies unser Gemeinsames? Ich wollte es damals nicht wissen und will es auch jetzt nicht ergründen. Ich bin nicht Mr. Ripley, ich will ihn nicht analysieren. Ein interpretiertes Mysterium ist keines mehr. Das fehlte noch: ihn jetzt nachträglich als eine Art Inkubus zu dämonisieren. Oder als modernen Gottseibeiuns zu stilisieren. Und wenn er doch einer wäre, so jedenfalls ein hübscher und glatter Gottseibeiuns, damals sehr verlockend, einer rein zum Verlieben.

     Er hielt dann in meiner Gasse, genau vor meinem Haus.

     „Ich kann jetzt nicht mehr mit dir hinaufkommen. Es ist zu spät geworden.“ Seine Stimme klang tiefer als sonst, um Tröstung bemüht. Hatte ich gehofft, er würde bei mir übernachten? Zu diesem Zeitpunkt danach befragt, würde ich geantwortet haben: Ich weiß es nicht. Diese Nacht verläuft so aufregend, ich kann mir nicht fortwährend Rechenschaft ablegen.

     Ich sagte kein Wort mehr. Bevor ich ausstieg, fuhr ich mit der Hand über seinen Schädel. Seine dunkelbraunen Haare waren wie meine schwarzen sehr kurz geschnitten. Ich sah die weiße Kopfhaut überall durchschimmern. Diese Kappe aus Haarstoppeln und jugendlichem Fett, der Keimschicht seiner späteren Korpulenz … Ich liebte ihn noch nicht, doch ich liebte schon etwas an ihm, und zwar die Andeutung seines künftigen körperlichen Verfalls. So ist es mir später auch mit anderen ergangen. Zu wissen: Gerade jetzt erlebt man sich auf dem Höhepunkt, auf den man sich so lange vorbereitet hat – und von hier aus geht es schon wieder abwärts, der Grube entgegen. Ich streichelte ihn nicht, ich fasste ihn noch etwas härter an und spürte unter meiner Hand und unter dieser weichen, mit harten Borsten durchsetzten Schicht die Hirnschale. Sie wird länger überdauern, meine auch. Im gleichen Beinhaus mit ihm liegen … Was für ein Traum.

     Als ich oben im Kabinett war und mich auszog, zog ich mein Fazit: Du hast es also gesehen, du hast alles davon gehabt. Morgen schon wirst du aufs Land fahren.

     Und ich blieb auch dabei. Am Sonntagmorgen sagte ich mir, erst jetzt bist du tatsächlich allein, weil du dich auf einmal allein fühlst. Das einzig wichtige Ergebnis dieser aufregenden letzten Nacht sowie der letzten beiden Wochen insgesamt ist: Er ist nicht mit dir heraufgekommen. Später verstand ich ihn: Er kehrte immer von seinen nächtlichen Ausflügen in die gemeinsame Wohnung zurück, aus Rücksicht auf den anderen. Im Grunde habe ich es auch später nicht akzeptiert. Ich packte rasch das Nötigste zusammen und fuhr zum Franz-Josefs-Bahnhof.

     Ich liebte ihn noch nicht, ich sagte es schon. Ich glaube, ich fuhr an diesem Tag auch aufs Land, um damit anzufangen, ihn zu lieben. Aus der Ferne würde mir das besser gelingen.

    Ich habe es noch nicht erwähnt: Doris hatte mich einige Tage vorher angerufen. Vielleicht hatte ich auch damals zwischendurch kaum mehr daran gedacht. Ich hatte ihr gesagt, ja, ich gehe nach Riegersbach, ja, nächste Woche fahre ich heim, wahrscheinlich am Dienstag. Ja, ja.

     Ich kam also jetzt zwei Tage zu früh bei meinen Leuten an.

 

3. Pastorale mit Kompromiss

„Sie kommt nicht, deine Braut kommt nicht!“

     Es war am Dienstag nach meiner Ankunft daheim im Dorf, gegen Ende des Mittagessens. Fritz fischte ein großes Salatblatt aus unserer gemeinsamen Schüssel und ließ es als Ganzes geräuschvoll hinter den Zähnen verschwinden. Damals war es bei uns noch immer Sitte, aus einer Schüssel zu essen, doch nur was den Salat angeht - und der Kreis der Esser hatte sich ohnehin stark verkleinert. Edmund war seit Jahren in der Bezirksstadt verheiratet, unsere Mutter noch länger tot, und unser Vater aß kein Grünzeug. Mir machte es noch immer Vergnügen, mit Fritz aus einer Schüssel zu essen, wenn ich wieder einmal bei ihnen war. Er sah dann wieder so kindlich aus, so schutzbedürftig, und ich genoss die Erinnerung an eine Zeit, da wir zwangsweise viel enger miteinander verbunden gewesen waren als in der Gegenwart von damals. Es ist nicht die von heute, in der ich in meinem Kabinett in der Hauptstadt sitze und schreibe. Jene frühere Vergangenheit hatte wenige Vorzüge vor der späteren, doch immerhin den, dass ich einen Bruder hatte, zu dem ich uneingeschränkt und ohne Umstände offen sein konnte. Schon in der Zeit, die ich hier beschreibe, kam das nur noch ausnahmsweise vor.

     So sagte ich ihm natürlich nicht, ich fände ihn vor der Zeit alt geworden und mit Anfang zwanzig schon beinahe greisenhaft. Ich komme darauf noch zurück … Fritz ist vier volle Jahre jünger, Edmund ungefähr sieben Jahre älter als ich. Der Abstand unserer Geburtsjahrgänge und das Verhältnis der Abstände zueinander haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Proportionen des Goldenen Schnitts, ein kühner oder einfach nur unpassender Vergleich. Unsere Eltern werden sich nach Edmunds Erscheinen aufgrund materieller Sorgen zunächst vorgesehen haben – auch in streng christlichen Heimen funktioniert die Geburtenverhütung meistens recht gut. Dass Fritz mir dann rascher folgte als ich Edmund, ist kein Beleg für inzwischen erreichten Wohlstand: Die Frau stand kurz vor dem Ende ihrer fruchtbaren Jahre. Ein Landwirt sieht das ziemlich nüchtern.

     Mein Vater – ich nannte ihn nie Papa, wie Doris es bei ihrem meistens tat – mein Vater war schon mit Essen fertig und trank seinen Kaffee. Anna, die Frau seines Neffen, hatte ihm wie jeden Mittag auch die Thermoskanne herübergebracht. Nur enthielt sie heute ein bis zwei Tassen oder Becher mehr als sonst, für den Fall, dass Doris Kaffee trinken wollte. Und dann würde sie auch ein Stück Nusskuchen haben können, es war noch in Stanniol eingewickelt. Falls sie keine Lust auf Kuchen hat, muss er nicht austrocknen. Es war Doris’ Idee gewesen, an diesem Mittag einen ersten Besuch in der Familie ihres Verlobten (das war ich) zu machen. Wir hatten es am Vortag am Telefon so abgesprochen, als ich sie von meiner Ankunft daheim verständigte. Nein, da keine Frau im Hause sei, wolle sie keine Umstände machen, nicht zum Essen kommen, nur einfach vorbeischauen. Ja, wir mussten es bald einmal hinter uns bringen.

     Fritz kaute noch, langsam und gründlich. Auch die gefüllten Klöße waren aus Annas Küche. Sie belieferte die beiden Männer tagtäglich mit warmem Essen, und mein Vater gab dem Neffen monatlich eine gewisse Summe. Ich war schon gesättigt und besah mir die beiden. Sie trugen Arbeitskleidung, weite blaue Hosen aus grobem Baumwollstoff, natürlich keine Jeans, sondern echte Arbeitshosen. Man nennt das, glaube ich, Berufskleidung, als gäbe es keine andere, Polizeiuniformen zum Beispiel. Ebenso blau ihre Jacken, und sie hatten sie nicht einmal zum Essen abgelegt. Sie genossen es, sich während der Mahlzeit mit beiden Ellenbogen breit auf der Resopalplatte des Küchentisches abzustützen. Sie haben schließlich den ganzen Morgen auf dem Feld gearbeitet, Saatkartoffeln in die Erde gebracht. Ich habe mich von Fritz nach Haftlach, das fast an ihrem Weg lag, mitnehmen und von dort wieder abholen lassen. Mir meinen Wald gründlich angesehen und einzelne Bäume markiert.

     Ich sah recht deutlich, dass sie beide Bauern wie von früher waren und auch so aussahen. Ich betrachtete sie nüchtern und gerade jetzt ohne viel Sympathie. Wer will mir Kaltherzigkeit vorwerfen? So verschieden war ich nicht von ihnen, ich fühlte mich ihnen sogar verwandt. Auf meine Weise war auch ich ein Bauer, etwas eckig, verrichtete meine Sachen nur gerade eben, wie es sein musste, ließ mich ungern treten und zeigte das auch. Auch ich liebe mein bisschen Bequemlichkeit. Ich weiß ganz gut, dass bei uns daheim die meisten von Hörigen abstammen. Und ich weiß noch mehr, ich weiß ja für einen Bauernsohn ziemlich viel: zum Beispiel dass auch Adolf Hitler von solchen Bauern abstammt und dass sie dem Stift hörig waren.

     Mein Vater hielt mich für den gescheitesten seiner drei Söhne, er sprach es einige Male offen aus, einmal sogar in Gegenwart meiner Brüder. Doch kein Wort des Bedauerns, dass er mir nicht mehr Schulbildung verschafft hatte. Das war meine eigene Sache. So bin ich ein Autodidakt geworden und wie viele intelligente Autodidakten etwas eigen, um das Wort sonderbar lieber zu vermeiden. Wahrscheinlich lässt meine geistige Haltung auf ähnliche Weise zu wünschen übrig wie die von Vater und Fritz bei Tisch, auch ich lasse mich dabei auf meine Weise gehen. Nur als ich nach dem Militär nicht wieder vom Hof wollte, also noch vor der Polizeischule, da hat er eingegriffen, nur dieses eine Mal: „Du kannst doch nicht der Knecht deines Bruders werden.“ Womit Fritz gemeint war. Die Sitte verlangt es bei uns, dass der Jüngste den Hof übernimmt.

     „Deine Prinzessin kommt nicht!“ Fritz triumphierte jetzt doch ein wenig. Wieder diese Melange aus Tücke und Minderwertigkeitsgefühl! Dabei war er insgeheim nicht wenig stolz darauf, dass sein Lieblingsbruder eine Konditormeistertochter aus Rosenberg heimführte, das wusste ich. Aber an diesem Satz stimmt einiges nicht. Ich führte sie ja nicht heim, eher sie mich, und dann liebt Fritz mich wahrscheinlich gar nicht. Er ist mir bloß eng verbunden aus Kindheitstagen, ohne eigenes Zutun, er war auf mich angewiesen, um es in dieser Familie aushalten zu können. Ich muss etwas ausholen …

     Unser Vater war eine Art Krüppel. Schreckliches Wort, aber es war so. Auf dem Land beschönigt man nichts. Er kam bei einem Unfall im Wald unter den Traktor, und zwar auch mit seinem Bauernschädel, der danach weniger gut zu gebrauchen war als vorher. Unser Ernährer bezog seitdem eine Invalidenrente und war auch innerhalb der Familie auf Rücksicht und Unterstützung angewiesen. Fritz und ich, wir beide waren, als es passierte, kleine Buben, und Edmund stand im achtzehnten. Von nun an lag die Verantwortung für uns, praktisch gesehen, bei Edmund. Unser Vater behielt die Rolle eines nur nominellen Familienoberhaupts, und Edmund hatte das Sagen. Er schloss um diese Zeit seine Banklehre ab und organisierte daneben die Arbeit auf dem kleinen Hof. Er musste sich sagen, er verzichte unseretwegen auf eine lustige Jugendzeit. Mich hielten sie damals schon für einen Luftikus, und Fritz war der Hoferbe. Wir konnten uns Edmunds Regiment nicht gutwillig fügen. Unser Vater litt ständig unter Kopfschmerzen und verlangte Ruhe, die er dennoch nicht bekam. Unsere Mutter versuchte wenigstens so viel zu erreichen, dass wir uns nicht gerade jeden Tag an die Gurgel gingen, nämlich Fritz und ich dem Edmund und er uns beiden. Vielleicht fühlte sie sich schon zu schwach, auch nur zeitweise die Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen und den Familienfrieden durchzusetzen. Sie hatte im Übrigen eine Art zu intervenieren, die einem Öl-ins-Feuer-Gießen gleichkam. Statt ein mütterliches Machtwort zu sprechen, stachelte sie uns eher noch schwesterlich auf.

     Wir provozierten Edmund, und er schurigelte uns. Das ging so, bis die Mutter starb, ja noch etwas länger, bis er heiratete und wegzog. Fritz war jetzt selbst alt genug, den Vater zu stützen, unterstützen wäre doch zu wenig gesagt, wie die Sachen nun einmal lagen.

     „Schau, wie er sich an ihn presst“, hatte mich Edmund früher einmal hochnehmen wollen. Es war in der Küche, ich nahm den Feuerhaken und warf ihn in seine Richtung. Er hätte seinen Unterschenkel mit Wucht treffen sollen. Edmund bückte sich, fing das Eisen im Flug auf, trug es zur Holzkiste zurück und rannte mir nach auf den Hof. Ich war schon zu groß, um noch verprügelt zu werden. So rauften wir miteinander, bis wir an Köpfen und Unterarmen bluteten. Fritz blökte dazu aus dem Fenster, wie ein Kalb, uns anfeuernd, Beifall spendend.

     Übrigens war Edmund vollkommen im Irrtum, was Fritz und mich anging, falls es ihm mit seiner Bemerkung überhaupt ernst gewesen sein sollte. Mein kleiner Bruder war für mich nichts weniger als anziehend. Darüber war ich mir schon seit einiger Zeit im Klaren. Ja, gerade dieses Bewusstsein seiner mangelnden Attraktivität war ein erster Fingerzeig, auf welchen Weg ich selbst mich machen würde.

     Edmund nannte ihn gern: „Kleiner Idiot!“ Und wirklich starrte Fritz einen oft auf fatale Weise an. Er musste einem dann hässlich, böse und dumm vorkommen. Ich weiß recht gut, dass er zumindest nicht wirklich dumm ist. Und böse? Ich glaube, er fühlte sich vom Leben schlecht behandelt. Er hatte diesen schwachen, kranken Vater am Hals und musste den Hof übernehmen, der so wenig abwirft. Dagegen der Edmund und der Heinrich, sie werden in der Stadt leben und im Fett sitzen. Er hat keine Frau gefunden, nicht einmal eine Freundin für längere Zeit gehabt. Damals habe ich ihm ab und zu Pornohefte aus der Stadt mitgebracht.

     Wir hatten uns schon damals nicht mehr viel zu sagen. Auch jene Mahlzeit verlief zum großen Teil unter Schweigen. Man muss nicht viel reden, wenn man sich einander unwiderruflich verbunden fühlt.

     „Länger können wir jetzt nicht mehr auf sie warten“, sagte mein Vater. „Fritz, es ist Zeit.“ Mein Bruder war inzwischen mit Essen fertig und säuberte gerade seine Zahnzwischenräume mit der Zunge. Ich fand es nett von Fritz, dass er es bei Anlässen wie diesem dem Vater überließ, das Zeichen zum Aufbruch, zur Rückkehr an die Arbeit zu geben. Ganz so, als wäre er kein Invalide. Fritz drängte ihn so gut wie nie.

     Mein Vater sagte noch: „Zeig ihr den Hof. Der Garten wird sie interessieren. Führ sie im Dorf herum, bis wir zurück sind.“ Ich verstand ihn genau: Er wollte nicht, dass wir im Haus auf ihn und Fritz warteten. Der Trieb könnte sonst in der Zwischenzeit die Oberhand gewinnen. So wie für ihn das Tischgebet obligatorisch war, so hielt er Verkehr vor der Ehe für ein zu vermeidendes Übel. Es war für ihn gleichzeitig die natürlichste Sache auf der Welt und ein moralisch zu verurteilendes Herabsinken auf die Stufe der Tiere. Sie machen es wie die Tiere, sagte er manchmal. Dabei bezog er sich auf Eindrücke, die ihm damals nur noch das Fernsehen vermitteln konnte. Ja, nach Mutters Tod hatte Edmund es endlich gegen den Vater durchgesetzt, dass ein Fernsehgerät angeschafft wurde. Und nach seinem Weggang stellte sich Fritz seinerseits stur: Der Kasten bleibt im Haus!

     Ob mein Vater sich früher, in seinen eigenen jungen Jahren, selbst einem so strengen Begriff von Sitte und Moral unterworfen hat – ich weiß es nicht. Wenn ich jetzt über diese spezielle Kirchenmoral nachdenke, fällt mir eines auf: ihr Gegensatz zwischen Natur und Moral. In meinem besonderen Fall lagen die Dinge freilich anders, da wurde die Natur noch als Mitstreiterin der Moral dienstverpflichtet. Schon seit einiger Zeit beschleicht mich der Verdacht, den Begriffen von Sitte und Moral – und schlimmer noch: auch von der Natur - lägen keine objektiven Verhältnisse oder Zustände zugrunde, sondern nur willkürlich handhabbare Annahmen. Mache ich da etwa Fortschritte im selbständigen Denken? Und wohin kann das noch führen?

     Fritz griff nach seiner Feldmütze und verließ die Küche, ohne mir noch ein Wort zu sagen. Mein Vater stampfte in seinen schweren orthopädischen Stiefeln hinterher. Dann hörte ich im Hof den Traktor anspringen. Sein Tuckern wurde lauter, rasselnd und dröhnend fuhr er aus der Hofeinfahrt auf die Straße. Ich saß noch immer am Küchentisch. Gut, dass es erst Mai war, denn um diese Zeit gibt es auf unserem Hochland kaum Fliegen. Später im Jahr können sie um die Gehöfte herum zur Plage werden, und bei uns waren sie es dann auch im Haus. „Jesusmaria“, hörte ich Anna einmal sagen, „bei euch fressen einen ja die Fliegen auf. Ich kann mich nicht darum auch noch kümmern.“ Fritz kaufte in Grafung ein Insektizid zum Versprühen und nebelte damit alle Wohnräume ein. Worauf der Vater protestierte: im Haus wolle er das Gift nicht haben. Dann befestigten sie hier und da die gleichen gelben Fliegenfänger, die in den Ställen schon seit Jahrzehnten, gespickt mit Insektenkadavern, von den Decken baumelten. Und wie dort dachte kaum einer mal daran, sie abzunehmen. Meistens geschah das erst gegen Ostern, nicht vor der Fastenzeit, doch spätestens in der Karwoche, wenn Anna den einen großen Hausputz veranstaltete. An diesen Fliegenfängern konnte man in jenen Jahren bei uns daheim den Ablauf der Jahreszeiten ablesen. Wenn die alten abgenommen und noch keine neuen aufgehängt waren, dann war der Frühling auf seinem Höhepunkt angekommen, dann blühten hinter dem Haus die Obstbäume und im Stall brüllte das Großvieh, das endlich wieder auf die Weide wollte.

     Zum Glück für mich war Annas letztes Eintreten für etwas mehr Ordnung und Sauberkeit im Haus noch nicht sehr lange her. Dennoch lagen Gleichgültigkeit und Vernachlässigung bei uns überall offen zutage. Ich wäre jetzt gern in den Garten gegangen, doch hätte ich dann das Telefon womöglich nicht gehört, falls Doris sich melden sollte.

     Erneut war neben dem Haus ein Traktor zu hören. Kamen sie schon wieder zurück? Ich sah durch das Seitenfenster. Nein, es war Rudolf, mein Cousin. Er kam mit seinem eigenen Fahrzeug aus der Einfahrt des Nachbargehöftes heraus, Hasso, der Schäferhundmischling, wie immer bellend und mit der Rute um sich schlagend auf dem Beifahrersitz. Wenn ich die beiden so Traktor fahren sah, fühlte ich mich auf eine mir peinliche Weise an meine Dienstfahrten mit Rindfleisch erinnert. Rudolf fuhr rasant, wie es überhaupt seine Art ist und womit er Anna, vermute ich, für sich gewonnen hat. Er trägt keine Mütze, wenn er draußen zu tun hat, auch er hat schwarze Haare, schon wieder einer. Obwohl er für hübsch gelten kann, hat sich in mir nie ein Verlangen nach ihm eingestellt, wenn ich ihn ansah. Dabei hätte das doch nahe gelegen, man war sich so oft nahe, ich meine zu zweit allein, in den Ställen und Scheunen, auf den Feldern oder in einem der Wäldchen. Nein, keine Cousingeschichte, definitiv nicht. Er war mir dafür zu schlicht in seiner ganzen Art. Er trägt seine Beschränktheit noch heute wie eine Krone, und ich glaube, er ist wirklich glücklich, war es immer schon.

     Er fuhr quer über die Straße und bog drüben bei ihnen ein. Dann hielt der Traktor dicht am Straßengiebel des Vorderhauses. Ich erkannte jetzt auf der Ladefläche des Anhängers einen alten Ölzentralheizungsofen. Beim Essen war vorhin davon die Rede gewesen, Rudolf übernehme von seinem Schwiegervater den alten Ofen und baue ihn bei sich wieder ein. Ich weiß nicht mehr, worin der Sinn dieser Aktion bestand. Auf dem Dorf geschieht so vieles, ohne dass man einen vernünftigen Grund dafür erkennen kann. Seine Leute, also Anna, der Schwiegervater und die drei Kinder, wuselten vor dem Kellerfenster herum, in das der Ofen hinabgelassen werden sollte. Wie sie das nur schaffen wollten … Annas Vater hatte eine schiefe Ebene aus Dielenbrettern gebaut, und nun beratschlagten sie das weitere Vorgehen. Rudolf sprang vom Fahrersitz und ließ den Motor mit voller Kraft im Stand weiterlaufen. Sie brüllten sich jetzt an wie Schwerhörige, die sie doch keineswegs waren, abgesehen vielleicht von dem Alten. Und sie rangen die Hände oder fassten sich an den Kopf, lachten und schrieen gleichzeitig. Geradeso war es auch bei uns früher zugegangen. Immerzu wurde damals gestritten, gekeift, gebrüllt. Hasso stürzte sich von seinem Thron herab – unverantwortlich, dass Tier immer wieder bei laufendem Motor allein auf dem Traktor sitzen zu lassen – und mitten ins Familiengetümmel hinein. Ich hörte Anna laut schimpfen: „Und um drei muss er schon im Sägewerk sein!“

     Jetzt fuhr ein Wagen, der nach Geld aussah, langsam die Dorfstraße herauf und hielt in Höhe meiner Verwandten. Eine Person, wohl eine junge Frau, steckte den Kopf aus dem Seitenfenster und rief Anna zu sich heran, vermutlich um nach dem Weg zu fragen. Ich konnte sie nicht erkennen, die Autofensterscheiben auf meiner Seite spiegelten in der Mittagssonne. Der Automarke nach konnte es wohl Doris sein. Dann nahm sie also jetzt ersten Kontakt zur künftigen Verwandtschaft und Schwägerschaft auf. Anna wies mit der Hand zu uns herüber. Ich beeilte mich hinauszukommen. Doris war da, die Mutter meiner künftigen Kinder.

     Sie parkte gerade den Wagen auf unserem Hof ein, als ich hinauskam. Ich winkte meinen Verwandten auf der anderen Straßenseite zu. Als ich Doris begrüßte, deutete ich eine Umarmung nur an. Mir war dabei bewusst, dass wir Zuschauer hatten, ich war daher etwas gehemmt. Sollte ich jetzt mit ihr zu ihnen hinübergehen? Besser nicht.

     „Endlich bin ich hier, Hein.“ Sie schien mir etwas überreizt zu sein, den Grund dafür erfuhr ich sofort: „Ein und eine halbe Stunde habe ich gebraucht! Ein Rohrbruch unterwegs, die Straße überspült und die Ortsdurchfahrt gesperrt …“

     „Wo?“

     „Ausgerechnet in Riegersbach! Du, ich habe die Gendarmerie gesehen.“

     „In Riegersbach? War keine Umleitung eingerichtet?“

     „Nein, und ich kenne mich ja in der Umgebung auch nicht aus … Aber dafür weiß ich jetzt, wo die Gendarmerie ist.“

     „Komm erst herein. Sie haben nicht mehr auf dich warten können, mein Vater … und Fritz. Sie sind erst zehn Minuten fort, zurück aufs Feld.“

     „O, wie dumm … Hätte ich an einem andern Tag kommen sollen?“

     „Sie kommen ja zurück. Warten wir halt auf sie, falls du Zeit mitgebracht hast.“ Ich sagte ihr nicht, es könne Stunden dauern.

     Ich ließ sie vor mir durch die Haustür gehen und sah, sie trug statt des blauen Hosenanzugs, mit dem sie mit mir in den Süden gefahren war, heute ein grünes Sommerkleid, dessen Farbton wunderbar auf ihr Haar abgestimmt war. Sommerliche Fluren, dunkles Laub, überreife Kornfelder, ein Schnitter macht sich ans Werk … Da ist mir jetzt ein Bild aus einem Buch oder einem Museum dazwischengekommen, weiß ich, was ich damals tatsächlich empfunden habe? Ich war ja auch kein Schnitter, allenfalls ein Sämann.

     Ich führte sie als Erstes in die Küche. Ihre von der Fahrt herrührende Erregung hatte sich schon gelegt. Sie sah sich unbefangen um und willigte ein, mit mir Kaffee zu trinken. Ich goss jedem von uns eine Tasse aus der Thermoskanne ein und sagte: „Er ist nicht frisch gebrüht. Hier kommt nichts frisch auf den Tisch, Prinzip des Hauses. Alles wird fertig geliefert.“

     Sie lachte. „Auch eine Art Wirtschaft. Und wer liefert?“

     „Anna. Du hast eben mit ihr gesprochen, sie hat dir dein Ziel gezeigt. Sie ist die Frau meines Cousins.“

     „Sie gehört auch zur Familie?“ Doris zeigte sich auf angenehme Weise überrascht. Sie hatte noch keinen Begriff von den vielfältigen Verwandtschaftsbeziehungen in einem kleinen Dorf. Sollte ich ihr die gute Laune verderben, indem ich auf das Thema Inzucht anspielte? Annas Vater war nicht nur unser Nachbar auf dieser Seite der Straße, er war auch ein Vetter zweiten Grades, von meinem Vater aus gesehen. Ich war also mit Anna nicht nur verschwägert, sondern auch etwas entfernter verwandt.

     Doris verzichtete auf den Kuchen und verlangte dafür, dass ich sie umgehend mit Anna förmlich bekannt mache. Sie sah jedoch ein, dass jetzt der Ofentransport drüben alle Aufmerksamkeit absorbierte und der Zeitpunkt für eine nähere Bekanntschaft ungünstig war. Doris sah an diesem Nachmittag alles ein. Sie war mit dem Vorsatz hergekommen, an nichts Anstoß zu nehmen. Was für eine heitere und gutartige, gutwillige Frau ich da bekam. Sie würde es mir leicht machen. Ich durfte mich, nein, ich musste mich, wie heißt das noch: glücklich preisen.

     Wie viel anders war sie mir bisher oft vorgekommen: berechnend, ihre Sache energisch vorantreibend, auch vor Verstellung nicht immer zurückschreckend. Sie konnte sich in der Zwischenzeit nicht so sehr verändert haben. Es blieb ein Widerspruch zwischen ihrem damaligen und dem jetzigen Eindruck auf mich, den ich nicht aufzulösen imstande war. Erklärte er sich mit den Erfahrungen, die sie mit mir gemacht hatte? War sie sanfter geworden, da sie über mich nachgedacht hatte und mir inzwischen mehr vertraute? Dann verschob sich die Diskrepanz und bestand nun für mich zwischen ihrer Erfahrung und meiner Selbsterfahrung. Ich beschloss, auf der Hut zu sein und mein Innerstes nicht preiszugeben. Wann hätte ich es zuvor je getan?

     Sie fragte nach der Renovierung meiner eigenen Wohnung, wie weit ich gekommen sei. Ich sagte: „Alles fertig zur Übergabe. Jetzt fehlt nur noch der Nachmieter.“

     „Es bleibt also dabei, du gehst nach Riegersbach?“

     „Wenn man mich lässt.“

     „Und wie läuft so etwas ab?“

     „Ich werde mich gleich Anfang der Woche erkundigen, zunächst inoffiziell bei Kollegen, und mich danach an die richtige Stelle wenden.“

     Sie war sehr befriedigt, es war ihr anzusehen. Sie schlug dann vor, mich bald in meiner Wohnung zu besuchen: „Damit ich es wenigstens einmal gesehen habe.“

     Ich wollte das Thema jetzt nicht vertiefen und bot ihr einen Rundgang durch das Haus an. Im Erdgeschoss hätten wir noch das Wohnzimmer besichtigen können, obgleich es dort nicht solche schönen Möbel gab, wie sie sie von zu Hause kannte. Dennoch war es unser Pracht- und Staatszimmer, das an gewöhnlichen Tagen nicht betreten, geschweige denn benutzt wurde. Es war neuerdings abgeschlossen, und ich fand den Schlüssel nicht. Niemand hatte daran gedacht, dass der Antrittsbesuch von Doris ein Anlass dafür sein könnte, sich erstmals seit Weihnachten wieder einmal in diesem Raum zu versammeln.

     Wir gingen dann in den Oberstock hinauf, in dem unsere Schlafräume lagen. Doris fand mein Zimmer größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Tatsächlich war es unser gemeinsames Zimmer gewesen, das von Fritz und mir. Erst als Edmund wegging, wechselte Fritz in sein bisheriges hinüber.

     Wir standen am Fenster und sahen über den Garten auf die Landschaft, auf die ansteigenden Äcker mit den Wällen aus Feldsteinen zwischen ihnen und auf die gezackte Linie des Waldrandes auf der Höhe. Sie lehnte sich an mich und sagte:

     „Wir werden zu Hause umbauen. Dirk und Regina bekommen eine größere Wohnung auf der anderen Seite des Hofes. Wir bleiben auf unserer Seite, Dirks Studio kommt dazu und noch ein Zimmer daneben, das jetzt leer steht. Freust du dich, Hein?“

     Ich versicherte es ihr und drückte sie zur Bekräftigung kurz an mich. Ich sagte mir: Bei ihnen in Rosenberg hat alles Hand und Fuß. Ich spürte schon im Voraus den Komfort, der mich dort umgeben würde, ein angenehmes Gefühl, vielleicht vorwegnehmend noch angenehmer als später tatsächlich genossen.

     „Die Aussicht hier ist schön“, sagte Doris, „verlockt fast zu einem Spaziergang.“

     „Wenn du Lust darauf hast …“

     „Wir könnten aber deinen Vater verpassen. Seinetwegen bin ich ja hergefahren. Was gibt es auf dem Hof noch zu sehen?“

   „Nun, der Garten, die Ställe …“ Doch würde dies nach meiner Berechnung nicht genügend Zeit in Anspruch nehmen und war mir auch wegen des Zustandes, in dem sich beides befand, nicht gerade angenehm. Das sprach ich aber nicht aus. Wir verließen mein Zimmer.

     Die Zimmertüren standen damals dort oben tagsüber immer weit offen. Doris vermied es, in die anderen Schlafzimmer hineinzusehen, also auch in jenes, in dem mein Vater seit dem Tod der Mutter allein schlief. Als wir indessen die Treppe hinuntergingen, fragte sie: „Und woran ist deine Mutter so früh gestorben?“

     „Es war Gebärmutterkrebs.“ Das traf sie sichtlich und unvorbereitet. Sie griff nach dem Geländer.

     „O, wie schrecklich … Und man konnte nichts tun?“

     Ich sagte nein, es sei wie meistens viel zu spät entdeckt worden. Der Tod sei dann wirklich eine Erlösung. Sie ging jetzt die Treppe schneller hinunter. Sie fragte nichts mehr. Unten im Flur wies ich ihr stumm die Richtung zur Hintertür. Wir hätten die Scheune auch vom Hausflur aus über eine kleine Innentreppe unmittelbar erreichen können, doch fehlten dort Beleuchtung und Handlauf. Ohne es mir bewusst zu machen, fürchtete ich bereits, Doris könnte zu Fall kommen.

     Hinter dem Haus ging ich mit ihr die wenigen Schritte zum rückwärtigen Scheunentor. Man kann von dort die näher gelegenen Felder erreichen, ohne die Dorfstraße benützen zu müssen. Doris sah zaghaft in die Höhe, das Tor ist sicher seine sechs Meter hoch, wenn nicht mehr. Ich hob einen der beiden Flügel leicht an und ließ ihn zur Seite rollen, bis ein Spalt frei war, durch den wir ins Innere der Scheune gehen konnten. Dieses anscheinend so leichte Hantieren mit dem gewaltigen Torflügel erregte natürlich ihre Bewunderung. Sie fragte, ob die kleinen Rädchen da oben nicht aus der Schiene springen könnten. Keine Angst, sagte ich, es komme so gut wie nie vor.

     In der Scheune war es dämmerig. Wir sahen in die Höhe. Unterhalb vom First waren einige Glasziegel eingelassen, so dass Lichtbündel wie Scheinwerferstrahlen herabfuhren. Myriaden von Staubpartikeln tanzten darin, jetzt dem Auge sichtbar, jede Lichtbahn ein Universum für sich.

     „Da oben ist der Heuboden. Sie schaffen alles noch von Hand hinauf.“

     „Ich habe es so noch nie gesehen. Es hat etwas von einer Kirche.“

   „Ja, und wenn einer abstürzen sollte, ist er vielleicht gleich im Paradies.“ Für diese Art Scherze war sie nicht aufgeschlossen genug, sie schwieg stirnrunzelnd.

     Der Weiterweg hätte jetzt durch einen kleinen Raum neben der Scheune in die Ställe führen können. Doch gerade diese Futterküche wollte ich ihr nicht zeigen. Es war der schmutzigste Raum auf dem ganzen Hof. Die Ställe wurden täglich gereinigt, die Futterküche so gut wie nie. Bei geöffneten Türen sah man dort meterlange Spinnwebfahnen wie Trauerflor im Zugwind wehen. Das Fenster zur Straße war jahrzehntelang nicht gesäubert worden, und eine Analyse der schmierigen Schmutzschicht auf dem Fußboden hätte außer Stroh und Staub noch Kotspuren, Futtermittelreste und verschüttete Milch ergeben. Durch diese Sakristei transportierten sie ja auch die frisch gemolkene Milch in offenen Behältern. Mein Vater und Fritz waren für mich Bauern wie von früher, aber war es früher auf dem Land wirklich immer so schmutzig gewesen?

     Ich ließ Doris nur einen Blick von draußen in den Schweinestall werfen und einen durch die offen stehende Tür zu den Rindern. Dann legte ich den Arm um sie und führte sie durch den Garten. Da gab es nicht gerade viel zu sehen. Die Gemüsebeete waren vor Jahren aufgegeben und mit Beerenobst bepflanzt worden. Weiter hinten blühten die Ruinen unserer Apfelbäume.

     Wir standen schon am Ende des Gartens und am Anfang der Feldflur. Was sollte ich nun vorschlagen?

     „Ich will noch mehr sehen“, sagte Doris. „Zeig mir auch die Felder, die Wiesen.“ Ihr Benehmen an diesem Tag war wirklich tadellos. Das Ärgste hatten wir vermutlich schon überstanden.

     Wir verließen Hof und Dorf und schlugen den Weg zur Höhe ein. Sie bewunderte unterwegs die Steinriegel. Ich erklärte ihr, die Steine seien in generationenlanger Handarbeit aus den Äckern gelesen worden. „Jeder unserer Ahnen hat so sein Teil zur Verbesserung der Fruchtbarkeit beigetragen.“

     „Und wie schön eure Landschaft dadurch geworden ist, wie von einem Künstler modelliert.“

     „Ja, aber heute nicht mehr profitabel zu bewirtschaften. Der Besitz ist zersplittert, eine Flurbereinigung wäre dringend erforderlich.“

     „Dann muss man wohl die Wälle abtragen und die Steine fortschaffen.“

     „Sie zum Unterbau von Straßen verwenden? Für eine Autobahn nach Prag?“

     „Ja, zum Beispiel.“

     „Andererseits: die Bedeutung dieser Wälle für die Natur. Denk an die Vögel, an die Insekten, das Kleinklima …“

     „Ach, Hein, dann bleibt es gewiss am besten so, wie es ist.“

     Ihre Nachgiebigkeit wurde mir schon etwas lästig. Harmonie kann auch zur Plage werden. Sie nahm fortwährend den Standpunkt ein, von dem sie gerade voraussetzte, es sei meiner. Erforderlichenfalls wechselte sie ihre Ansicht mehrmals in der Minute. Doch dann fiel mir ein, im Gespräch mit Dirk, ja sogar mit Regina, verhielt sie sich ähnlich. Sie wiederholte gern mit Nachdruck, was man ihr zuvor nahegelegt hatte. Wenn sie mit mir nun ebenso umging, hieß das nicht, dass auch ich im Kreis der Familie aufgenommen war?

     Als wir auf der Höhe angelangt waren, blieben wir stehen und sahen auf Dorf und Umgebung zurück. Doris sagte: „Wie schön … Alles scheint in sich selbst zu ruhen. Und ich will dich trotzdem verpflanzen? Man könnte fast ein schlechtes Gewissen bekommen …“

     Ich ging nicht darauf ein, sondern wies auf den Wald, der da vor uns und unter uns lag. Er bedeckte einen Hang, der zum nächsten kleinen Bach steil abfiel. „Heimwärts zu dir, trutziger Nordwald!“ rief ich mit starker Betonung.

     „Von wem ist das?“

     „Du kennst es bestimmt. Es steht auf dem Sockel des Hamerling-Denkmals, bei euch im Rosental.“

     „Ja, genau, es kam mir gleich so bekannt vor. Wenn man auch sonst nichts von ihm kennt, das hat jeder schon mal gehört.“ Allerdings konnte die Inschrift dort durchaus nicht so lauten, denn ich hatte das angebliche Zitat soeben erst frei erfunden. Resigniert ging ich von der Literatur ohne Übergang auf mein Lauftraining über. Meistens käme ich vom Dorf diesen Weg langsam herauf und fiele hier, wo es steil abwärts gehe, in einen raschen Galopp, sagte ich. Wir folgten gerade dem Weg hinunter und gerieten selbst beim Reden unwillkürlich in eine raschere Gangart. Dabei wurde sie zunehmend schneller, ich konnte, ohne zu laufen, kaum noch mit ihr Schritt halten.

   „Hein, das geht ja wie von selbst. Herrlich, so hinunterzusausen. Lass uns zusammen Waldlauf machen, jetzt gleich.“ Sie lachte laut heraus und lief jetzt schnell vor mir her. Ich begann auch zu spurten.

     Sie war so etwas nicht gewohnt, drehte sich im rasenden Lauf mehrmals zu mir um, lachte und keuchte: „Du, ich kann mich nicht mehr bremsen. Du musst mich einfangen. Immer schneller, schneller … Ein Wahnsinn!“

     Ich war neben ihr und packte ihre Hand und zwang sie zum Gehen zurück. „Du bist verrückt. Ja, natürlich macht es Spaß, plötzlich so loszulaufen. Aber mit deinen Schuhen … Und doch nicht im Kleid! Im Nu fliegst du hin und wenn du …“ Ich stoppte mich selbst abrupt in meiner Rede.

     „Was: wenn ich? Meinst du wieder: gesegneten Leibes?“ Sie lachte erneut, jetzt mit hysterischer Färbung. „Das wäre in der Tat sehr unklug.“ Und sie lachte schon wieder. Ich ließ ihre Hand nicht los, und sie sagte, sich plötzlich beruhigend: „Das mit der Schwangerschaft scheint ja eine fixe Idee von dir zu sein.“

   Wir gingen nicht mehr bis zum Bach hinunter. An der nächsten Wegkreuzung ließ ich uns parallel zum Tal abbiegen. Wir gewannen so auf einem breiten Forstweg allmählich wieder die Höhe zurück. Ihre Hand behielt ich noch einige Zeit in meiner. Ich spürte manchmal einen Gegendruck. Sie wollte mir etwas zu verstehen geben, aber ich verstand nicht genau was. War sie vielleicht wirklich schon schwanger?

     Wir unterhielten uns dann über andere. Regina, hörte ich, stand kurz vor einem Examen. Und Dirk absolvierte einen kaufmännischen Lehrgang. „Er muss auch allein zurechtkommen, wenn ich einmal ausfallen sollte.“ War ich meinem Ziel tatsächlich so nahe?

     Es war bereits später Nachmittag, als wir ins Dorf zurückkehrten. Wir näherten uns dem Haus über die Dorfstraße. Der Hof lag anscheinend noch so verlassen da wie bei unserem Aufbruch. Doris sagte, sie könne nicht länger mit mir warten, sie müsse heimfahren. Vielleicht könne sie an einem der nächsten Tage erneut herkommen. Sie wollte sich noch frisch machen, und ich zeigte ihr das Bad.

     Dann fand ich meinem Vater auf dem Küchensofa liegend, wie immer um diese Zeit sehr erschöpft von der Arbeit. Vor dem Abendessen ruhte er hier jeweils eine Stunde, und um acht ging er schon zu Bett. Er blieb noch liegen, als er hörte, Doris sei gerade im Bad.

     „Fritz hat den Traktor eben in die Scheune gefahren.“

     Ich entdeckte meinen Bruder in der Futterküche. „Doris ist da. Kommst du hinüber?“

     „Ja, gleich.“

     Als ich in die Küche zurückkam, begrüßte meine Verlobte gerade den Vater des Bräutigams. Sie begann sich sofort mit ihm auf die natürlichste Weise zu unterhalten. Dabei bekam ich meinen vollen Taufnamen von ihr zurück: Heinrich habe ihr dies und jenes gezeigt. Mein Vater saß jetzt auf der Sofakante, gekrümmt wie ein sehr dünner Halbmond, und sank trotz seiner Magerkeit dennoch tief ins Polster ein. Doris war es, die die Unterhaltung im Wesentlichen allein bestritt. Er hörte ihr, wenn ich so sagen darf, lebhaft zu. Ich beobachtete sie beide.

     Dann stand mein Vater auf, sah unruhig durch das Seitenfenster auf den Hof hinaus und sagte: „Er wird doch nicht angefangen haben, erst noch die Schweine zu versorgen.“ Ich wollte nachsehen gehen, aber er kam mir zuvor. Ich hörte ihn vom Flur in die Scheune hineinrufen: „Fritz, das Fräulein ist da! Komm, sofort!“ Und wir hörten es bis in die Küche hinein, dass Fritz verstanden hatte.

     Aber er blieb weiter aus. Die Unterhaltung stockte allmählich. Doris sah mich ab und zu aufmunternd an. Was sollte ich ihrer Meinung nach sagen oder tun? Mein Vater stand zum zweiten Mal auf und verschwand wieder im Flur. Er ist wohl auch in die Scheune gegangen.

     Plötzlich sah ich nur noch rot. Dieser ganze Antrittsbesuch war eine Farce, genau wie meine Verlobung neulich. „Doris“, sagte ich, „das ist eine Affenschande: Meine Braut kommt zum ersten Mal zu uns, und mein Bruder verkriecht sich im Schweinestall! Wir werden es ihnen zeigen … Komm am Sonntag wieder zu uns. Sei schon um zwei hier, damit wir noch etwas Zeit für uns haben. Und um vier wird hier Kaffee getrunken, wie es sich gehört. Das garantiere ich dir. Und lass uns diesen Empfang hier heute vergessen.“

     Sie war gleich einverstanden, sie hatte es jetzt tatsächlich eilig. Im Weggehen traf sie meinen Vater im Hausflur - allein. Ich wusste: Fritz wird erst ins Haus kommen, wenn sie abgefahren ist. Das vergesse ich ihm nicht.

 

Du willst also wirklich heiraten?“ fragte mich Edmund am Tag darauf in der Bank in Grafung. Ich hatte ihm einmal die Beine wegschlagen wollen, und jetzt gab ich ihm die Hand und wollte seine Hilfe.

     Zu Edmund fällt mir nicht viel ein. Vom gleichen Ursprung herkommend haben wir uns von klein auf in entgegengesetzte Richtungen hin entwickelt. Ich habe dabei immer versucht, ihn möglichst zu ignorieren. Er wurde ein Bankmensch und ich Polizist - es gibt gewiss noch größere Gegensätze, aber auch dieser ist in meinen Augen gewaltig. Der eine bringt allein mit seinem rechnenden Kopf vieles in Bewegung, der andere hat von Berufs wegen ein Interesse daran, dass möglichst nicht viel passiert, und dabei setzt er auch seinen Körper und vor allem den Teil Macht ein, den ihm der Staat von seiner unermesslich großen verliehen hat. Gewiss, auch das Geld ist eine große Macht, aber der wahre Mann des Gesetzes verachtet es im Grunde.

     Vermutlich könnte Edmund unsere damalige Begegnung in seinem Büro besser schildern als ich. Er kennt mich besser als ich ihn, er hat mich jahrelang beobachtet und zu verstehen versucht. Zwar ist ihm das nicht gelungen, doch besitzt er immerhin Kenntnisse, die er in seine Überlegungen einfließen lässt. Ich bin nicht wie er in der Heimat geblieben, doch bin ich offenbar in der Welt draußen am Vorwärtskommen nicht sehr interessiert, das hält er für inkonsequent, vielleicht denkt er sogar: mein Bruder, diese Null. Dass Frauen meinen Weg bisher nicht gekreuzt haben, findet er verständlich, ohne es sich wirklich erklären zu können. Nun verwirre ich ihn mit der Nachricht von meiner baldigen Eheschließung. Da ist also eine Verlobte, sie ist bis auf weiteres ein befremdliches Detail mehr an meiner irritierenden Person. Von Riegersbach sage ich ihm vorerst nichts, das gäbe nur weitere ungläubige Nachfragen.

     Ordnung bedeutet ihm vor allem Sitte und Anstand, nicht um ihrer selbst willen, sondern als ein den Geschäften günstiges Umfeld. Er sah sogleich ein, dass die Sitte es erforderte, Doris gebührend zu empfangen. Schließlich bin ich bereits freundlich in Rosenberg aufgenommen worden. Sein Gefühl für ausgeglichene Konten ist hoch entwickelt. Er wird am Sonntag aufs Dorf kommen, und zwar so früh, dass er Fritz notfalls mit extremen Mitteln an den Kaffeetisch zwingen kann. Einer wie Edmund hat immer gewisse Mittel in der Hinterhand, für mich ist er Edmund der Abgesicherte. Meine Schwägerin und seine beiden Mädchen wird er noch nicht mitbringen, erst wenn Hochzeit gefeiert wird. Bei einem wie Edmund werden Geschäfte Zug um Zug abgewickelt.

     Er war gewiss schon damals auf seinem Weg nach oben. Dass er noch immer nicht Zweigstellenleiter ist, verschafft mir heute eine gewisse Befriedigung. Natürlich hasse ich ihn nicht oder hasste ihn damals bereits nicht mehr. Ich verachtete ihn nur gerade so viel, dass es mir einen leichten Genuss bereitete.

     Als ich es hinter mir hatte, fuhr ich nicht gleich heim ins Dorf. Ich verspürte ein mir sonst fremdes Bedürfnis nach Zerstreuung. Ich ging daher ins Café Optimal.

     Dieses Café wird vor allem an Sonntagnachmittagen besucht, und zwar von der Grafunger Mittelschicht, soweit sie unter dreißig ist. Das Publikum verschafft sich hier die Illusion, anders als die vorangegangene Generation zu sein, während es tatsächlich schon längst den alten Karren in den alten Geleisen zieht. Man sitzt eng beieinander, auf sehr weichen lilafarbenen Polsterbänken vor dreieckigen Tischchen aus Glas, und langweilt sich dabei fürchterlich. Das darf man indessen nicht zeigen, daher reden alle gesittet durcheinander, bis es Abend ist.

     Es war jetzt, mitten in der Woche, nur schwach besucht. Sie spielten Tango-Musik, und die einzige Bedienung unterhielt sich endlos lange mit einer Freundin an der Bar.

     Ich sah mich um und entdeckte am Nachbartisch rechts von mir den jungen Fremdenführer aus Rosenberg. Wir nickten uns zu wie alte Bekannte. War er öfter hier? Er las dann weiter in einer Zeitschrift. Ich bestellte und bekam meinen Kaffee. Dann zog die Freundin der Kellnerin an den Tisch zu meiner Linken um. Die Kellnerin setzte sich zu ihr.

     Sie spielten sich groß auf und übertönten noch die Tango-Musik. Der Fremdenführer ließ seine Zeitschrift sinken und sah über mich hinweg auf die zwei.

     „Das darfst du schon glauben“, erklärte die Freundin der Kellnerin, „wenn der die Kärntner Straße entlanggeht, dann erkennen ihn viele gleich wieder.“

     Ich sah den Führer an. Er grinste und zuckte die Schultern: „Einmal Adabei sein …“

     Zwischen uns war nur eine niedrige, weiß lackierte Schranke. „Machst du nicht manchmal die Stadtführung in Rosenberg?“ fragte ich ihn.

     „Warst du einmal dabei?“

     „Noch nicht. Ich habe dich nur einmal von weitem gesehen.“

     Er studierte noch und wollte im Herbst für zwei Semester nach Heidelberg wechseln. Er war wie damals im Blaha-Stil angezogen, nur war jetzt das gelbe Hemd durch ein weißes T-Shirt ersetzt worden. Ich konnte ihn mir sogleich sehr gut im Schwarzen Beisl vorstellen. Zwar wollte ich den Gedanken, bevor er mir voll bewusst wurde, noch zurückweisen, aber es war schon zu spät: Er sieht fast wie Leopold aus, dachte ich bereits, wie ein jüngerer Bruder. Ich hatte seit Sonntag immer wieder versucht, nicht ständig an Leopold zu denken, tat es dennoch immer aufs Neue, und je mehr ich mir deshalb Vorwürfe machte, umso häufiger suchte ich die Erinnerung an ihn. Auch so etwas kann man als Sucht deuten.

     Unser Gespräch kam in Gang. Wir stimmten in unseren Ansichten meistens überein, so etwa wenn wir das Leben in Grafung ganz allgemein mit dem in der Hauptstadt verglichen. Ich stand natürlich nicht kurz davor, ihn zu fragen, ob er denn auch ins Schwarze Beisl gehe – dennoch traf es mich unvorbereitet, ungefähr so wie am Vortag der Gebärmutterkrebs meiner Mutter Doris: als plötzlich seine Freundin ins Café kam, um ihn abzuholen. Sie wollten in ein Reisebüro gehen und brachen bald dahin auf. Ich war konsterniert, doch war mir gewiss nichts anzumerken, und meine Selbstbeherrschung war auch alles, woran ich mich halten konnte.

     In der Nacht darauf träumte ich, und zwar so eindrucksvoll, dass ich mich beim Erwachen sogleich an alles sehr deutlich erinnern konnte. Ich ging in Gesellschaft von Blaha die Kärntner Straße entlang. Es war an einem Sonntagnachmittag im Spätherbst, nein, es war doch kein Sonntag, es war vielmehr unser Nationalfeiertag. Viele gingen mit uns in Richtung Graben oder kamen uns entgegen. Wir beobachteten sie alle, und ich sagte zu Blaha: „Siehst du nicht, wie sehr sie sich langweilen?“ Das war für Blaha und mich natürlich ein Grund zur Zufriedenheit. Kurz vor dem Graben entdeckten wir im Fußgängerstrom zur Oper hin den Leopold. Er grüßte uns nicht oder nur leicht mit den Augen, denn er war nicht allein. Seinen Begleiter erkannte ich zuerst nicht, doch dann war es mir klar: Es ist dieser John, er ist immer so unauffällig, daher erkenne ich ihn am Anfang nicht. Blaha sah auf Leopold und sagte bewundernd: „Jö, das wird ja ein Bomber!“ Dann waren sie schon vorüber.

     Ich saß dann mit Blaha in einem bekannten großen Café, man sitzt dort im ersten Stock und kann auf das Dach des Domes schauen. Blaha sagte: „Ja, dieser Greisler … Ich wollte heuer im Frühjahr was von ihm, aber er hat mich verschmäht.“ Da erwachte ich mit dem freudigen Gedanken: Es kann noch alles gut werden. Ich lag dann einige Zeit wach in meinem Bett und fühlte mich wohl, ohne eigentlich über den Traum nachzudenken, bis ich wieder einschlief.

     Mir träumte noch einmal in dieser Nacht. Der verwünschte Blaha kam auch wieder darin vor. Genau genommen trat er nicht mehr persönlich auf, da war nur die Gewissheit, er sei tot. Und dann wusste ich noch etwas: Blaha und der an Aids verstorbene Svoboda sind ein und derselbe. Auf unklare Weise hatte ich mich nach seinem Tod in den Besitz von Blahas Wohnung gesetzt und befand mich just auf dem Weg vom Beisl dorthin. Ich durchquerte die drei Bezirke zu Fuß, erst kam der Abstieg ins Flusstal, dann der Wiederaufstieg auf die jenseitige Höhe. Tintenschwarze Nacht, menschenleere, oft krumme Gassen. Grotesk überladene, absurde Fassaden, wie sie in einen Alptraum passen. Hinter mir hallten seit längerem Stiefeltritte. Ja, er war schon im Beisl hinter mir her gewesen, und um ihm zu entkommen, war ich früher als sonst aufgebrochen. Ich schlug Haken, benutzte wenig bekannte Durchhäuser und steigerte mein Tempo allmählich immer mehr. Dennoch kam er mir auf je hundert Meter etwa zehn Meter näher. Alles kam darauf an, vor ihm durch das Haustor zu schlüpfen und das Tor in letzter Sekunde zu verschließen. Ich stand vor dem Haus, es war eigentlich mein Haus, in dem sich merkwürdigerweise Blahas Wohnung befand. Indem ich den ungewöhnlich schweren Schlüssel ins Schloss steckte und ihn sehr langsam und mühsam umzudrehen begann, sah ich mich gleichzeitig über die Schulter nach ihm um, wie schon einige Male zuvor. Er stand jetzt genau hinter mir, das Gesicht noch im Schatten. Und dann alles gleichzeitig: Das Tor geht auf, ich setze den einen Fuß in den Spalt, da liegt mir seine Hand auf der Schulter – es ist John, und John ist eigentlich der Tod: ZU SPÄT!

     Mein eigener Schrei weckte mich auf. Wann hat mich je ein derart tiefer Schrecken so ganz ausgefüllt? Ich stand so sehr unter dem furchtbaren Eindruck dieses Traumes, dass ich längere Zeit überhaupt nicht zu denken imstande war. Doch wollte ich es instinktiv und unbedingt vermeiden, noch einmal einzuschlafen. Als ich mich etwas beruhigt hatte, stand ich auf und ging zum Fenster. Der Tag graute eben. Ich setzte mich auf einen Stuhl und sah in die Landschaft hinaus. Mein Denken kam zurück: Der Berg. Doris. Vorgestern. Wir rennen bergab. Wir bremsen uns ab … Ob sie wirklich schwanger ist?

     Diese Frage beschäftigte mich auch an den folgenden Tagen. Gleichzeitig versuchte ich, mir die beiden Träume zu deuten. Ich unternahm zu diesem Zweck lange Streifzüge in der weiteren Umgebung, zuerst in einer so schwermütigen Stimmung, als wären es meine letzten dort überhaupt. Dann begann ich, den Dingen auf den Grund zu gehen. Man sollte es so oft wie möglich tun.

     Der Tod beschäftigte mich also? Ich wollte es nicht glauben. Ich fühlte mich vollkommen gesund. Hatte ich Angst vor dem Virus, vor einer Infektion? Dann war es mir bisher nicht bewusst gewesen. Ich dachte ruhig darüber nach und prüfte mich. Da gab es keinen Grund, mich schon als das Opfer dieser speziellen Epidemie zu sehen. Es war noch kein Unglück geschehen, davon war ich überzeugt. Und auch in der Zukunft konnte die Gefahrenlage jeweils eingeschätzt werden. Beherrschung und Selbstbeherrschung taten zwar Not, doch so etwas kann mich noch anspornen. Im Ganzen blieb ich kühl. Das also war es nicht.

     Warum dann im zweiten Traum die Angst davor, wie Svoboda zu enden, der eigentlich Blaha war und den die Polizei doch hatte laufen lassen müssen? Und dessen Wohnung mir im Traum so lieb war wie meine eigene? Die ich nicht mehr zu erreichen, also zu verlieren fürchtete? Ja eben, und das leuchtete mir sogleich ein: Mein Status war bedroht, das, was ich bisher erreicht hatte, Wohnung und Arbeit in der Hauptstadt. Der Tod war für mich – Riegersbach. Wie hatte ich das nur vorschlagen können! Eine Eselei, eine einzige Rieseneselei.

     Wie verfahren nun alles war … Erst meine halbe Zusage damals in Rosenberg beim Dessert, sie hatten mich ja einfach überrumpelt. Später war dann der konkrete Ortsname Riegersbach der Notanker für meine ansonsten geplatzte Verlobung gewesen. Doris wird natürlich darauf bestehen, dass ich nach Riegersbach gehe. Oder doch nicht? Sollte sie wirklich ein Kind von mir erwarten, würde sie dann nicht wohl oder übel auf den Wechsel verzichten? Und das erst recht in dem Fall, dass ich nicht der Erzeuger wäre – aber diese Möglichkeit schloss ich lieber gleich wieder aus. Schließlich gab es da noch dieses Testament, das Althammer senior so oder so abfassen wollte. Vielleicht war die Schwangerschaft ohnehin nur eine Zwangsvorstellung von mir, eine Scheinschwangerschaft in meinem eigenen Kopf. Ich sah ein, dass Keuschheit vor der Ehe gewisse praktische Vorzüge besitzt.

     Rosenberg, Riegersbach, Grafung – in diesem Dreieck wird sich mein weiteres Leben abspielen. Den Zug werde ich nicht mehr benutzen, auf Bahnhöfen habe ich nichts mehr verloren. Allenfalls sitze ich im Café Optimal, auf lilafarbenem Polster vor dreieckigem Glastischchen, und ich rede einige Worte mit einem Studenten der Kunstgeschichte, bis er von seiner Verlobten abgeholt wird. Die Geschichte sah jetzt für mich so aus: Zum zweiten Mal habe ich dem Schwarzen Beisl vorzeitig den Rücken gekehrt und habe definitiv nicht mehr dorthin zurückkehren wollen. Muss ich mich denn insoweit überhaupt festlegen? Ich kann doch jederzeit wieder hingehen, geradeso wie Strobl. Ich hätte ohnehin Matz einiges zu erklären. Und sehr bald würde ich dort Leopold wieder treffen …

     Wie sehr habe ich mir früher eine Frau wie Doris gewünscht. Nein, unwahr, ich habe mir gar keinen bestimmten Typ von Frau vorgestellt. Es war nur die Frau an sich, eine Abstraktion. Und selbst meine Nachkommen wollte ich mir ganz bewusst nicht ausmalen, so erwünscht sie mir in der Theorie auch waren. Konkret und sehr realistisch waren allein – meine Skrupel.

     Jetzt kann ich kaum noch zurück. Außerdem finde ich Inkonsequenz hässlich und meiner unwürdig. Würde Doris am Ende noch Alimente verlangen?

     In meinem überstrapazierten Gehirn ordneten sich dennoch allmählich zwei Reihen von Namen oder Begriffen. Die eine lautete: Leopold – Beisl – Strobl - Leben in der Hauptstadt. Und die andere: Doris – Riegersbach – Dirk - Ehe in Rosenberg. Waren diese beiden Lebensentwürfe denn so vollkommen unvereinbar? Langsam gewöhnte ich mich an die Vorstellung eines dritten Weges oder Kompromisses. Ich wollte es damals nicht Doppelleben nennen. Die Frage war indessen: Wie bringe ich es Doris bei? Und selbstredend muss sie nicht über alles Bescheid wissen, sagte ich mir, das ist sogar die Grundvoraussetzung.

 

Am Sonntag blieben Fritz und mein Vater nach Tisch im Haus. Fritz verschwand sehr bald wortlos im Oberstock. Ich saß noch bei meinem Vater in der Küche.

     „Edmund hat ihn angerufen“, sagte mein Vater. Dann schwieg er wieder. Es war offenkundig, Edmund verkörperte hier nach wie vor die Autorität. Also war er nicht in dem Grad ein Außenstehender geworden wie ich selbst durch meine Übersiedelung in die Hauptstadt. In Krisen kam es hier noch immer zuerst auf ihn an, und mein Vater verhielt sich jetzt beinahe wie ein jüngerer Bruder von Edmund. So hatte auch ich früher Fritz von Edmunds Verhalten oder Absichten verständigt: Unser großer Bruder hat dies oder das vor oder getan …

     Wenn ich jedoch für sie nurmehr ein ferner Verwandter war, welchen Sinn hatte dann diese Vorstellung der Braut in der Familie? Wir, meine Brüder, mein Vater und ich, wir befanden uns an diesem Nachmittag alle vier zusammen in einer absurden Situation, aber das brachte uns einander auch nicht mehr näher. Im Übrigen hoffte ich, der Nachmittag würde schnell vorübergehen. Mein Vater und meine Brüder hatten nur eine an sich wenig bedeutungsvolle verwandtschaftliche Pflicht zu erfüllen, doch ich – ich musste eine entscheidende Weiche stellen. Wie wird sie es aufnehmen? Es ging nicht nur darum, ob sie etwas akzeptiert - aus der Art, wie sie es dann vielleicht tut, kann ich weitere Schlüsse für mich ziehen. Da ich Nichtraucher bin, konnte ich meiner Nervosität nicht dadurch Herr werden, dass ich mir eine Zigarette anzündete. Irgendeine derartige Angewohnheit wäre mir jetzt sehr erwünscht gewesen, ich hatte indessen keine einzige.

   Als ich ein Motorengeräusch vom Hof her hörte, ging ich sofort hinaus, ohne mich erst noch durch einen Blick aus dem Fenster zu vergewissern. Mein Vater muss gleich vom Sofa aufgestanden und mir hinterhergekommen sein. Ich war schon draußen, als ich ihn im Flur wie neulich schon einmal laut rufen hörte: „Fritz, das Fräulein ist da. Komm!“

     Doris trug jetzt ein einfaches weißes Sommerkleid. Es missfiel mir auf Anhieb. Ich deutete es mir gleich so: Sie ist die Braut, die zu den armen Verwandten ihres Bräutigams kommt und nicht allzu sehr abstechen will. Ich umarmte sie mit dem Gedanken: Trotzdem kann es jeder sehen, ich heirate hinauf. Oder vielmehr: Ich werde hinaufgeheiratet.

     „Wie pünktlich du bist. Gut durchgekommen?“

     „Ja, heute keine Überschwemmung, Gott sei Dank … Ach, da ist ja dein Papa … Herr Mitterhofer, ich bin wieder da!“

     Er stand in der Haustür und wiegte den Kopf bedächtig hin und her. Dazu lächelte er und kam ihr dann etwas mühsam zwei Stufen entgegen. Es rührte mich, dass er sich freute. Gleichzeitig gab es mir einen Stich: Wenn er wüsste …

     Sie hatte ihn noch nicht erreicht und seine Hand noch nicht ergriffen, da schob sich schon Fritz am Vater vorbei. Nun stand er am Fuß der Treppe zwischen ihnen, in seinem dunklen Anzug, ausgerechnet er allein fein angezogen, und stach so unangenehm feierlich von uns Übrigen ab. Allenfalls zu Doris passte er in gewisser Weise.

     „Doris, das ist mein Bruder Fritz.“

     Er berichtigte mich sofort mit Leichenbittermiene: „Friedrich, bitte sehr. Ich heiße nämlich Friedrich.“

     Wieder erschien er mir vorzeitig gealtert. Dieser Eindruck von ihm war jetzt noch stärker als neulich. Er trug recht dick auf, doch es war ja etwas daran: Er war der zu kurz Gekommene, der sehr beladene arme Kleine, und arme kleine Beladene altern nun einmal früh. Seine demonstrative Freudlosigkeit und dieser Aufzug eines hoffnungslos zurückgebliebenen Bauerntölpels als Bräutigam, beides war grotesk. Dennoch hätte ich ihn am liebsten umarmt, jetzt endlich einmal, und ihm gesagt: Fritz, du müsstest an meiner Stelle sein.

     „Ich freue mich so“, sagte Doris, anscheinend ohne Sinn für das Lächerliche an seiner Erscheinung. „Ich werde immer Friedrich sagen, das klingt ja auch schöner.“ Sie drückte seine Hand und er ihre ausgiebig, und mein Vater sah so friedvoll und fast schon beseligt auf die beiden von seiner Treppenstufe herab, und ich stand spröde daneben und beobachtete die mir nur schwer begreifliche Rührung dieser drei Menschen. Kann es das doch geben: zur gleichen Zeit Feuer und Eis im Herzen verspüren? Ich hatte das sonst nur als billige Redensart aufgefasst.

     Es ging schon auf halb drei. Ich hatte noch einiges mit Doris vor.

     „Doris, Edmund ist noch nicht da. Anna bringt den Kaffee erst gegen vier. Ich schlage vor, wir beide machen bis dahin einen kleinen Spaziergang.“

     „Ach ja, du wolltest mir noch die andere Seite zeigen.“ Davon war fünf Tage davor nicht die Rede gewesen, Doris fand sich immer wieder rasch in eine neue Lage hinein. Es fehlte ihr dann auch selten das passende Wort dazu. Sie sagte meinem Vater und Fritz noch, sie sei heute gar nicht in Eile wie neulich, man werde sich später ausführlich unterhalten.

     Ich ging nicht erst noch mit ihr ins Haus hinein. So waren wir zwei Minuten später schon aus dem Dorf heraus und auf dem Weg zum benachbarten Gut.

     Dieser Weg war vergleichsweise eben, daher kein Losrennen und Straucheln zu befürchten. Ich wollte mit dem Thema Riegersbach erst anfangen, wenn unser Dorf außer Sichtweite sein würde. Zunächst sprachen wir über den Umbau in Rosenberg. Der Denkmalschutz erlaubte keine Änderung der Fassade, erfuhr ich, auch nicht im Innenhof. Das Tageslicht würde also auch in die künftigen größeren Wohnungen nur durch diese schmalen, hohen einflügligen Fenster einfallen können. Ich verglich sie im Stillen bei mir mit Zellenfenstern. Und die Weinranken waren dann die Gitter. Tatsächlich ließ sich der Bewuchs an den Loggien im Sommerhalbjahr nur noch mühsam bändigen.

     „Dein Urlaub geht heute zu Ende?“

     „Ja, morgen habe ich dann Spätdienst. Ich fahre erst mit dem letzten Zug zurück.“ Da kam mir eine Idee, wie ich jetzt zur Hauptsache übergehen könnte. „Ich habe vorgestern auf der Wache angerufen, ich muss es dir auch noch sagen …“

   Ich spürte etwas hinten am Hosenbein entlangstreichen und sah mich um. Eine kleine schwarze Katze lief hinter mir her und erwiderte sogleich meinen Blick. Sie war erst wenige Monate alt. Es ist eigentlich erstaunlich, dass so kleine Tiere einem für sie so großen Wesen, wie es ein erwachsener Mensch ist, in die Augen sehen können. Ich bin diesen kleinen Tieren gegenüber nicht so gefühllos, wie es damals Doris bald vorkommen musste. Im Gegenteil, ich wundere mich immer wieder, wenn ich feststelle, wie wenig körperliche Ausdehnung zur Ausbildung eines individuellen seelischen Apparates genügt. Ja, ich erkenne es an, dieses Kätzchen hatte schon seinen eigenen Willen und war somit fast so etwas wie eine kleine Persönlichkeit. Sie sollte mir rasch lästig werden.

     Doris ging in die Hocke und sprach auf diese verniedlichende Weise zu dem kleinen Tier: „Ja, wer bist du denn? Und woher kommst du denn?“ Dann, in ihrer ziemlich tiefen normalen Stimmlage zu mir: „Sie ist noch keine drei Monate. Was macht sie hier auf dem Feld?“

     Das Gut liegt etwa drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Davon hatten wir jetzt mindestens zwei schon zurückgelegt. Doris stand auf und strich sich das Kleid glatt. Sie sah mich an, als wäre sie ich und ich Edmund.

     „Sie wird vom Gut gekommen sein. Und jetzt findet sie den Weg nicht zurück.“ Wir gingen langsam weiter, und das Tier folgte uns mit flinken Trippelschrittchen. Es missfiel mir gleich, dass es dabei geradezu heiter und zuversichtlich wirkte. Alles wird gut, alles wird gut … Dieser Text schien seinem Hoppeln und Trippeln zugrunde zu liegen.

     „Soll sie halt mitlaufen.“ So war es beschlossen. Übrigens lief das Kätzchen immer nur hinter mir her, nicht hinter Doris. Meine Verlobte wandte sich häufig nach ihm um. Ich konnte jetzt nicht von Riegersbach anfangen. So hielt ich einen kleinen Vortrag über das Gut und über einen seiner früheren Besitzer. Das war eine ebenso eigenwillige wie unselige Persönlichkeit gewesen, sie versorgte mich mit Stoff, bis wir die ersten Gebäude erreichten. „Er ist schon so lange tot, aber sein Geist spukt noch immer bei uns herum.“

     Ich drehte mich jetzt auch um. „So, jetzt bist du wieder daheim. Du weißt doch hoffentlich, wo du hingehörst?“

     Die Katze schien durchaus noch nichts wiederzuerkennen. Wir gingen langsam die Reihe der Gutsgebäude entlang. Ich sah mir das Tier noch einmal an. Es wirkte jetzt weniger zuversichtlich, eher leicht irritiert. Es war wohl schon etwas überanstrengt.

     Hinter dem Gut führt der Weg in den nahen Wald. „Lass uns jetzt schneller gehen, so schnell, dass sie nicht mitkommt. Dann muss sie zurückbleiben.“

     „Du willst sie einfach zurücklassen? Wo soll sie denn hin?“

     „Einfach hier bleiben. Sie muss doch von hier sein.“

     Wir gingen sehr schnell, rannten fast schon wieder wie fünf Tage vorher. Doch der Versuch führte zu nichts. Die kleine Katze folgte mir geradezu hündisch. Obwohl es ihr sichtlich schwer fiel, ließ sie uns keinen Vorsprung gewinnen. Nach fünf Minuten waren wir bereits tief im Wald. Und das Tier miaute jetzt auch noch fortwährend mit dünnem Stimmchen. Ich wusste, man soll das Verhalten der Tiere nicht mit der menschlichen Psychologie erklären. Aber das half mir nichts, es klang nun einmal enttäuscht, wenn nicht anklagend.

     Doris protestierte, als ich weiter in den Wald vordringen wollte. Sie verlangte, dass wir den Versuch abbrächen und zum Gut zurückkehrten. Da das ohnehin unser Heimweg war, willigte ich ein. Unsere Prozession erreichte den Hof in der gleichen Formation wie bisher. Die Katze miaute lebhafter, seit wir den Wald verlassen hatten. Dennoch war nicht zu übersehen, wie erschöpft sie jetzt war. Wir blieben stehen.

     „Nie im Leben kommt sie vom Gut“, sagte Doris.

     „Dann hat sie einer auf den Feldern ausgesetzt, vielleicht einer aus Grafung. So etwas kommt vor.“

     „Und was soll nun werden? Können wir sie nicht mitnehmen? Sie meint ja offenbar, du bist jetzt ihr Mensch.“

     „Das geht absolut nicht. Im Dorf gibt’s mehr als genug Katzen. Die nimmt keiner. Außerdem kann sie bald nicht mehr.“

     „Dann musst du sie tragen.“ Ich hob sie hoch und trug sie einige Meter. Sie war so zappelig, dass ich sie bald wieder laufen lassen musste. „Geht ohnehin nicht“, sagte ich zu Doris. „Sie muss hier bleiben.“

     Doris sah mich schweigend an. Wir gingen weiter. Ich versuchte noch zweimal, das Tier loszuwerden, indem ich es wieder packte und über eine Einfriedung aus Buchsbaum warf. Es fand beide Male eine Lücke in der Hecke und klebte mir wieder am Hosenbein.

     Diese peinliche Geschichte, die mir schon viel zu lange dauerte, endete dann unversehens. Im Garten des letzten der Gesindehäuser stand eine junge Frau. Ich ergriff das Kätzchen noch einmal und brachte es ihr. Sie hörte sich an, was ich zu sagen hatte, und sagte dann ihrerseits: Ja, sie wolle das Tier annehmen. Ich segne sie noch heute dafür.

     Dann traten wir den Rückweg zum Dorf an. Auf diesen drei Kilometern musste ich mich erklären. Die Zeit war schon etwas knapp und die Atmosphäre infolge dieser rührenden Geschichte natürlich vorbelastet. Ich konnte es uns nicht ersparen. Doris hörte, ich hätte bei meinem Anruf auf der Wache erfahren, die Stelle in Riegersbach sei nicht mehr frei. Ich sagte noch: „Ich hätte nicht so lange damit warten dürfen, tut mir leid.“

     „Und das musst du mir gerade heute sagen?“

     „Ja, es gehört doch zur Geschäftsgrundlage, sozusagen.“    

     „Geschäft! So will ich es aber nicht sehen … Und selbst wenn, was könnte ich denn jetzt noch anders machen?“ Sie begann schon zu weinen und sah sich nach einem geeigneten Platz dafür um. Wir gingen gerade über eine steinige Wiese mit einzelnen Findlingen. Auf einen der niedrigeren dicht am Wegrand ließ sie sich sinken, ein Bild trostlos verlassener belebter Materie auf der kalten unbelebten. Ich stellte mich hinter sie, neben den Stein, der gewiss sehr unbequem für sie war. Ich legte einen Arm um ihre Schulter und empfand schon Mitleid. Das hatte dem Kätzchen vorhin auch wenig genützt.

   „Ich habe es von Anfang an gespürt“, sagte sie, „diese Kälte. Du erträgst Nähe nicht, jedenfalls nicht für längere Zeit.“ Offenbar glaubte sie nicht an die zwischenzeitliche Besetzung der Stelle in Riegersbach. Ich fand es klüger, mich nicht zu rechtfertigen.

    Sie schien sich auch selbst anzuklagen: „Werde ich jetzt dafür bestraft, dass ich so wenig experimentiert habe?“

     „Es ist ja noch nichts geschehen, nur eine Chance vergeben.“

     „Sag mir nicht, dass noch weitere kommen.“

     „Ich sage nichts davon, wenn du es jetzt nicht hören willst.“

   Und auf dieser schmalen Basis einigten wir uns dann. Ich zerstörte keine Hoffnungen, indem ich keine mehr erweckte. Die Möglichkeiten in der Zukunft blieben fortan unangesprochen und existierten daher in unbestimmter Form weiter. Konkretisiert wären sie sofort als Unwahrscheinlichkeiten zurückzuweisen gewesen.

     Sie sah noch längere Zeit brütend zu Boden, während ich in den Himmel schaute. Dann versuchte ich, auf das Zifferblatt meiner Armbanduhr zu blicken, möglichst ohne dass Doris es bemerkte. Ich trug die Uhr am Gelenk der Hand, die ihr Schultergelenk umfasste. Es schien so, als wollte ich sie fester umfassen, um sie noch weiter zu beruhigen. Das Manöver misslang mir.

     „Ja, wir müssen weiter. Sonst warten deine Brüder und kommen auf wer weiß welche Gedanken.“ Sie lächelte schon wieder ein wenig, vielleicht auch über mich, sie gewann ihre Fassung zusehends zurück. Es blieb mir daher der Eindruck eines zwar echten, jedoch nicht sehr tiefen Schmerzes. Ich sagte mir, ein flaches Meer wird leichter aufgewühlt und beruhigt sich dann auch wieder eher als ein tiefes.

     „Ich will nur eine ganz normale Familie haben“, sagte sie, während wir dem Dorf zugingen. Genau das bezweifelte ich jetzt. So viel sprach eigentlich gegen mich – alles, außer dem ersten Anschein. Ich war doch wirklich eine schlechte Partie. Die Familie unmöglich. Keine Erbschaft zu erwarten. Und nun auch noch die Aussicht auf eine Wochenendehe. Vermutlich erwartete sie also doch ein Kind, von wem auch immer. Oder die Überschreibung der Konditorei stand nahe bevor – oder beides traf sogar zusammen. Und ich fühlte noch mehr heraus. Sie hatte sich mir jetzt allzu schnell mit der neuesten Entwicklung abgefunden. Da schien es bei ihr eine merkwürdige Verbindung zwischen dem Zweckmäßigem einerseits, also dem materiell Triftigen, und dem seelisch Notwendigen andererseits zu geben, zuerst nur eine Verwandtschaft, eine Hinneigung, wie zwischen Elementen, die gern eine Verbindung eingehen möchten, dann eine rasche Amalgamation. Brauchte sie am Ende gerade einen wie mich, um sich unglücklich zu fühlen, während sie zugleich alle ihre übrigen Ziele mit erreichte? Und bedeutete dieses Zusammenfallen dann für sie die Balance, ihre persönliche Balance schlechthin?

     Mir kam noch ein Gedanke: Wenn sie so beschaffen ist, dass sie Enttäuschungen nicht bloß rasch verarbeitet, sondern sogar für ihr Gleichgewicht immer wieder benötigt – wie kann ich ihr dann in Zukunft weitere bereiten?

     Sie erzählte jetzt von ihrer bisherigen Familie. Ihre Großeltern mütterlicherseits lebten, als sie noch klein war, getrennt voneinander. „Das war schon fast komisch“, sagte sie, „beide wohnten dann nach der Scheidung weiter bei uns, und zwar jeder in einem Zimmer auf unserem Hof. Ich glaube, nur das Geld war daran schuld … Immerhin wohnten sie nicht im selben Flügel. Es war also in allem umgekehrt, als es bei uns sein wird. Und ich will auch nicht, dass irgendetwas zwischen uns so wird wie bei ihnen!“ Sie unterbrach sich, sie war wieder nahe am Weinen.

     „Erzähl doch weiter. Was war es mit ihnen?“

     „Sie verkehrten überhaupt nicht mehr miteinander, redeten nicht miteinander, hatten alles von früher aufgeteilt, ich glaube, sogar ihre Erinnerungen. Opa kam alle drei Tage zu uns nach vorn und wollte seine Palme sehen. Die Palme war der Rest seiner Pflanzensammlung, und für sie gab es hinten nicht genug Licht. Eva, ich will die Palme sehen, krächzte er, so mit richtiger Altmännerstimme, er war immer verschleimt … Und Mama führte ihn dann in den Salon und ließ sie ihn lang und breit bewundern: Oh! und Ach! Die Palme war sein Höchstes, übrigens nichts Besonderes. Wir haben sie nach seinem Tod beseitigt.“

     „Und Oma …“

     „ … beschäftigte sich meistens hinten auf ihre Weise. Sie schrieb den lieben langen Tag Briefe an ihre Verwandten, in denen sie sich über uns beklagte. Sie kopierte sie auch alle von Hand, bevor sie abgeschickt wurden. Ich habe die ganze Sammlung noch, du kannst sie einmal ansehen.“

     „Das wird mich aufheitern, wenn ich es mal brauche.“

     „Du musst nicht schon wieder zynisch werden. Mit Oma wurde es noch viel schlimmer. Sie wurde so misstrauisch, sogar Mama gegenüber, richtig feindselig. Sie sprach am Schluss nicht einmal mehr mit ihr.“

     „Und die anderen Großeltern?“

     „Ja, das waren eigentlich meine richtigen Großeltern, so habe ich es damals empfunden. Sie wohnten über uns im Dachgeschoss und beklagten sich nie über irgendetwas, nicht einmal übers Treppensteigen. Zwei liebe alte Leute, ich war viel bei ihnen. Das liegt ja nahe, wenn die Großeltern noch rüstig sind und die Eltern meistens im Geschäft …“ Sie unterbrach sich, das Wort Geschäft hatte jetzt offenbar einen unangenehmen Klang für sie. Sie fuhr dann hastig und etwas unlogisch fort: „Jedenfalls will ich nicht, dass meine Kinder Großelternkinder werden.“ Doch sogleich korrigierte sie sich selbst leicht resigniert: „Nun, ich weiß ja, was man will und was man bekommt, ist zweierlei. Und meine Mutter ist zum Glück ganz in Ordnung. Ja, die Mama …“

     So gefiel sie mir jetzt viel besser. Auch das war Doris, diese Neigung zu resoluter Tapferkeit, darin war mehr von ihr, als wenn sie weinte oder sonst ein flaches Gefühl vorzeigte. Sie war auch ein Kerl, und nicht einmal ein schlechter, so kam es mir vor. Alles wird weitergehen, bis zur nächsten Krise, und auch die wird irgendwie bewältigt werden und immer so weiter, ich kann mich wirklich nicht über sie beklagen. In dieser Stimmung erreichte ich mit ihr unser Haus, das so unscheinbar wie sonst auch an der Dorfstraße lag. Nur die beiden fremden Autos verbreiteten etwas Sonntagsglanz auf dem Hof. Edmund war also schon da. Noch ein Blick zur Uhr - bereits zehn nach vier.

     Sie warteten im Wohnzimmer auf uns, sie saßen um den großen ovalen Tisch mit der Nussbaumplatte. Als wir das Zimmer betraten, standen alle auf und umringten uns, um Doris willkommen zu heißen. Im gleichen Augenblick schob sich Anna an uns vorbei, ihre Sicht war durch die Torte behindert, die sie fast in Augenhöhe vor sich her trug. Wir mussten auf sie achtgeben und auf uns auch, und Edmund konnte Doris nicht gleich förmlich begrüßen. Über dieses Durcheinander mussten wir lachen, und Anna begriff nicht warum. Sie glaubte, wir wären schon länger hier beieinander, und schüttelte meiner Verlobten als Erste resolut die Hand.

     „Willkommen in der Verwandtschaft“, sagte Anna.

     „Ich kenne Sie ja schon von neulich her“, sagte Doris. „Ich hoffe, ich werde sie im Lauf der Zeit noch viel besser kennenlernen.“

     „Und das ist Edmund, Doris.“

     „Auch von mir ein Willkommen. Wirklich, eine Freude …“

     „Setzen wir uns doch“, sagte mein Vater und nahm als Erster wieder Platz. Sie hatten für Doris und mich zwei Plätze am oberen Ende, von der Tür her betrachtet, vorgesehen.

     Die Stimmung war von Anfang an gut. Doris machte Eindruck auf sie. Ich war also eitel genug, es festzustellen und mich drüber zu freuen. Auf Doris wirkte die Gegenwart meiner Verwandten jetzt auflockernd, erleichternd, das glaubte ich bemerken zu können. Die Anspannung während unseres gemeinsamen Spaziergangs, während unseres Alleinseins vorhin, sie war von ihr gewichen. Sie erzählte ihnen unser Erlebnis mit dem Kätzchen so, als wäre es eine lustige Geschichte und ihr gutes Ende von Anfang an absehbar.

     Ohne Edmund hätte das Beisammensein gleichwohl peinlich werden können. Mein Vater war vollauf mit Zuhören beschäftigt und konnte selbst nichts zur Unterhaltung beitragen. Er lächelte fortwährend freundlich und dabei doch angestrengt. Ja, es strengte ihn an, sich auf einen fremden Menschen einzustellen. Vermutlich bekam er bald wieder seine Kopfschmerzen. Fritz sagte auch nicht viel, er begnügte sich, ernst und respektabel zu erscheinen. Wer ihn sonst kannte, konnte sich über die Veränderung in seinem Verhalten nur wundern.

     Doch Edmund plauderte für uns alle. Er fragte Doris nach ihrer Familie und ließ sie von ihren Eltern und von Dirk und Regina erzählen. Sie wurden alle der Reihe nach von ihr kurz vorgestellt. Man sah sie fast vor sich. Eine höchst respektable, ziemlich erfolgreiche, im Allgemeinen mit sich zufriedene und dabei überaus normale Familie. Überaus normal, wiederholte ich mir, genau das sind sie. Aber wir anderen? Dann behandelten sie Rosenberg und Grafung, ihr Verhältnis zueinander, ihre Gemeinsamkeiten, ihre Unterschiede. Allmählich ging Edmund auf seine eigene Person und auf seine kleine Familie über. Es nahm breiten Raum ein, doch erschien es nicht aufdringlich. Edmund redet eher leise, bescheiden und einfühlsam. Und dann begriff ich die Absicht dahinter. Er schob sich in den Vordergrund, um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Sehen Sie mich zum Beispiel, sagte er mehrmals. Ja, du siehst ganz passabel aus, dachte ich bei mir, und du bist auch sonst beinahe musterhaft. Wer so einen Bruder hat, aus dem kann selbst noch etwas werden. So gesehen bin ich für Doris der ideale Gatte, ich errege schmerzliche Gefühle in ihr und bin doch kein von vornherein hoffnungsloser Fall.

     Edmund zog mich gelegentlich ins Gespräch. Er erinnerte mich an harmlose Vorfälle aus unserer Jugendzeit. Auf diese Weise wurden wir für Doris erst zum Bruderpaar. Doch Edmund verweilte nie lange bei solchen Episoden, er kehrte bald wieder nach Grafung und in die Gegenwart zurück. Doris wollte seine beiden Mädchen auch einmal sehen. Aber ja, sagte Edmund, das wird Sie interessieren … Man könne einmal so einen Sonntagnachmittag bei ihnen auf der Terrasse verbringen. Allerdings sei der Garten gerade erst angelegt, und so hatte er ein weiteres ergiebiges Thema, sein neues Haus mit dem eigenen Garten. Mit mir hatte es nichts zu tun. O, Edmund, dachte ich, du bist ein geschickter Verkäufer. Ich bin das Anlageobjekt und in Doris siehst du ein Risikokapital, das nicht scheu gemacht werden darf. So lenkst du von mir ab und baust dich und deine Welt als Kulisse auf. Danke, dass du dich zur Verfügung stellst, danke, dass du mich mit Blicken in dieses Verkaufsgespräch einbeziehst, gerade so, wie man es mit einem Objekt tun muss.

     Als wir schon über eine Stunde zusammensaßen, fragte Edmund plötzlich: „Und habt ihr schon einen Termin für die Hochzeit bestimmt?“ Ich erschrak. Es hätte nahe gelegen, auch das vorhin mit Doris zu besprechen.

     Meine Braut zögerte nicht mit der Antwort: „Ganz genau noch nicht. Aber auf jeden Fall noch vor Ablauf des Jahres.“ Da wusste ich nun, woran ich war.

     Allmählich versickerte die Unterhaltung. Mein Vater und Fritz sahen schon etwas unbefriedigt drein, als hätten sie mit mehr an Aufschlüssen gerechnet. Edmund erfasste klug, was zu tun war. Er fragte, ob er mich nachher nach Grafung mitnehmen solle.

     „Ich glaube, Doris wollte mich zum Zug bringen.“ Sie nickte. Ich stand dann bald auf, um meine Sachen zusammenzupacken. Die Übrigen blieben noch am Tisch sitzen. Edmund führte das Gespräch mit Doris fort, er wird dabei seine Taktik weiterverfolgt haben. Er blieb so lange bei uns, bis ich zur Abfahrt bereit war.

     Mein Vater winkte uns von der Haustür aus nach, als wir wegfuhren. Fritz verschwand soeben hinter ihm im Flur. Gleich wird er sich umziehen, um das Vieh zu versorgen. Alles war gut gegangen, auch hier.

     „Nun komme ich schon zwei Stunden eher daheim an“, sagte ich, als wir das Dorf hinter uns hatten. Ich wollte den Lapsus gleich wieder gut machen und setzte hinzu: „Ursprünglich sollte Fritz mich zum letzten Zug bringen, aber so ist es mir noch lieber.“

     „Du sagst: daheim? Da unten, meinst du?“ Sie blickte kurz zweifelnd zu mir herüber, dann sah sie wieder geradeaus auf die Fahrbahn, jetzt mehr als angespannt, schon verkrampft.

     „Doris, also, bitte … Keine Wortklaubereien, bitte. Lass uns einfach bald heiraten und dann weitersehen. Warum nicht schon diesen Sommer?“

   „Gut, wenn du es auch so willst. Also noch im Sommer.“ Sie sah erneut kurz herüber, und dabei verzog sich die Wolke über ihr wieder. Ihre Züge entspannten sich, wenn sie auch noch nicht lächelte. Aber vielleicht habe ich mich auch darin getäuscht, vielleicht nahm sie sich nur noch mehr zusammen.

     Wir blieben für den Rest der Fahrt bei diesem Thema. Ich erfuhr, ihr schwebte eine Doppelhochzeit vor. Wir würden also den Termin und alles Einzelne mit Dirk und Regina abstimmen müssen. Wie seltsam, dachte ich, da haben wir unsere Verlobung allein und in aller Stille begangen, aber geheiratet wird nun gemeinsam mit dem Bruder und der Schwägerin und in großem Stil. Wie es sich für das Haus Althammer gehört. Ich sagte zu allem ja.

     Vor dem Bahnhof küsste ich sie und versprach aus eigenem Antrieb, beim nächsten Mal gleich nach Rosenberg zu kommen. „Wir können das ganze Wochenende zusammen verbringen, willst du?“

     Sie sah mich überrascht an. „Du gibst dir ja Mühe, aus dir kann noch ein Ehemann werden.“ Und sie lächelte endlich wieder.

 

 

Warum verspürt man eigentlich Mitleid und in welchem Augenblick regt es sich in einem? Gibt es das: ein zeitversetztes Mitleid? Kann Mitleid von einer Person auf eine andere transferiert werden? Ich werde auch den Verdacht nicht los, man identifiziert sich nur zu gern mit einer erbarmungswürdigen Person, man genießt es sogar. Beinahe ist es, als ob man sich selbst einen Trost verschaffte. Und ist man nicht, zumindest von einem gewissen Alter an, selbst allezeit trostbedürftig? Und auch wenn man es nicht ist, das Bemitleiden kann uns noch auf andere Weise bestärken. Ich muss nur an Fritz denken, an mein Verhältnis zu ihm. Hängt Mitleid nicht auch mit Macht zusammen? Ich sehe, das ist ein unsauberes Thema.

     Jener rührte mich sofort. Es war am Ende meiner Rückreise von Grafung. Um diese Zeit war die Stadtbahn überfüllt. Wir mussten beide stehen und standen zufällig einander gegenüber. Ich habe seine Nähe nicht gesucht, nicht am Anfang. Nachher erfuhr ich von ihm, auch er kam vom Land zurück. Es war nicht sein Heimweg, er wohnte in einem Hochhaus auf der anderen Seite des Stromes, da, wo die meisten Hauptstädter nie hinkommen. Nach zwei Tagen daheim wollte er zuerst noch dem Westbahnhof einen Besuch abstatten.

     Zuerst erregte der Kontrast zwischen Gesicht und Frisur mein Interesse. Das Gesicht war allein schon eine Melange, die eine Geschichte erzählte. Er guckte wie einer vom Land. Doch die Haut sprach von Mangel an Bewegung in frischer Luft, auch von Mangel an Sonnenlicht. Dafür die Spuren von Nikotin und Alkohol und einer Vorliebe für Mehlspeisen, wenn ich mich nicht täuschte. All das sollte nun verwischt oder vielmehr durchgestrichen werden durch eine markante Frisur. Zu diesem Zweck hatte er sich selbst mit einer Haarschneidemaschine zugerichtet und dabei sein fast schwarzes Haar ungleichmäßig und stümperhaft kurz geschnitten. Dann gab es da über beiden Schläfen noch jeweils eine fast kahl rasierte Stelle, so unsauber wie von einer Ratte benagt. Wenn er beabsichtigt hatte, sich zu entstellen, so war es ihm dennoch misslungen: Er sah noch immer harmlos aus, beinahe lieblich, nur etwas verkommen.

     An einer Station im Verlauf des Gürtels musste ich aus- und einsteigende Fahrgäste vorbeilassen. Ich kam ihm dabei sehr nahe und zog mich dann nicht mehr von ihm zurück. Es kam, wie ich gehofft hatte: Sein Oberarm blieb an meiner Flanke kleben und übte leichten Druck aus. Er war etwas kleiner als ich. Dann stand er neben mir auf dem unterirdischen Bahnsteig im Westbahnhof und sah mich fragend an.

     „Wohin soll’s denn gehen, Watussi?“ Vielleicht habe ich ihn auch mit einem Massai verwechselt. „Haben wir die gleiche Richtung?“

     „Kann sein.“ Es kam absichtlich gequetscht heraus. Von da an lief er brav nebenher. Wir sprachen fast nichts, bis wir bei mir ankamen. Er wird nicht einmal geahnt haben, dass er hier der Erste war. Umgekehrt war ich mir sicher: Solche Wege ist er schon oft mitgegangen. Dennoch war er nicht abgebrüht. Als ich die Wohnungstür hinter uns zudrückte, kam er mir auf einmal schüchtern vor. Ich küsste ihn schnell und streichelte ihn einige Zeit. Er war höchstens zwanzig. Ich führte ihn ins Kabinett.

     Bald wollte ich uns beide zusammen sehen. Der neue Spiegel war noch verhängt. Ich nahm das Laken ab und ließ das Bild auf uns beide wirken. Ich war damit zufrieden, und mehr als das. Er sah nur kurz hin und mir dann gleich wieder ins Gesicht.

     Nachher musste er rauchen. Er ließ sich dazu einen Kaffee von mir brühen. Als ich aus der Küche zurückkam, sah er gerade von der Bettkante aus neugierig in den offen stehenden Schrank hinein. Ich hatte vorhin beim Kramen seine Tür offen gelassen. Auf diesen Besuch war ich kaum vorbereitet gewesen.

     Er wies auf meine Dienstjacke: „Du bist bei der Polizei?“

   Ich lächelte, wahrscheinlich mehr verlegen als geschmeichelt. Dann fiel mir etwas Gutes ein: „Nein … Du, hast du nie gehört, dass es Typen gibt, die sich Uniformen zulegen?“

     Er wurde noch interessierter: „Für den Sex?“ Ich zuckte die Achseln.

     Es war mir recht, dass er bald ging. Ich mochte ihn noch immer, aber ich wollte jetzt mit mir allein sein. Bevor er ging, erhielt er meine Telefonnummer. Es hat lange gedauert, bis sein erster Anruf kam.

     Ich stand vor dem Spiegel, ich war allein. Ich sah mich prüfend an.

     Wozu diese jahrelangen Umwege? Der Zickzackkurs der letzten Wochen? Für ein Erlebnis wie dieses? Hätte ich es nicht einfacher haben können? Wahrscheinlich nicht, bedenkt man, wo ich herkam. Und ich konnte mich noch immer nicht isoliert denken, nur mir verantwortlich, nicht auch meinem Vater, meinen Brüdern und Doris vor allem. Nun würde ich auf unabsehbare Zeit auf zwei Bühnen spielen müssen. Das erschien mir jetzt keineswegs mehr verlockend. Abgesehen von dem damit verbundenen Aufwand und dem Risiko, doch einmal durchschaut zu werden – es war auch Betrug.

     Dafür werde ich allerdings mein wesentliches Ziel vermutlich erreichen: Weitergabe meiner Anlagen. Mag sie einer der Kommenden besser nutzen, mir ist es versagt. Ich phantasierte weiter und sah mich später einmal neben meinem eigenen Sohn hier im Kabinett stehen. Er wird kurz in den Spiegel sehen und nicht einmal ahnen, wer sich vor ihm darin schon betrachtet hat. Gut, dass Spiegel so verschwiegen sind.

     Vorübergehend kam ich mir wie ein hochmoralisches Monster vor. Lügen und betrügen müssen, alles nur aus Pflichtgefühl, und wer sagt denn, dass ich nicht auch mich betrüge? Wenn alles nur fixe Idee wäre, wie Doris es schon vermutet? Dann beruhigte ich mich damit, am schwersten sei es nun einmal, sich selbst zu ertragen, jeden Tag, jede Stunde.

     Ich schlief danach ebenso gut wie sonst auch. Aber am anderen Morgen fühlte ich mich wie ausgeglühte Schlacke. Die Form fest, veränderbar nur um den Preis des Zerspringens, doch die Substanz – einfach verflüchtigt.

 

4. Alles geglückt

Die Verlobungszeit zog sich noch länger hin. Regina musste eine Prüfung wiederholen, und dadurch verschob sich der Termin unserer Doppelhochzeit nach hinten. Im August hieß es, realistisch sei nun Anfang November. Der Zustand von Doris verlangte allmählich Rücksichtnahme, und natürlich bekam sie von mir jede Schonung. Dirk arbeitete sich unterdessen immer mehr in die Geschäftsführung ein. Wenn ich ihn in Rosenberg sah, kam er oft gerade aus dem Büro seines Vaters oder war dorthin unterwegs. Er wirkte dabei auf mich wie ein Nachhilfeschüler ohne viel Hoffnung. Mich ließen nun alle mehr oder weniger in Ruhe, es war mir recht so. Einmal angestoßen, auch von mir angestoßen, entwickelten sich die Dinge, die Zustände nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Wie Kugeln eine glatte, leicht geneigte Bahn entlangrollen … Ich genoss damals diese ruhige Entwicklung. Relativ glücklicher war ich nie.

     Vor meiner Hochzeit besuchte ich das Schwarze Beisl nur noch ein einziges Mal. Leopold schien mit mir gerechnet zu haben. Er sah mich von seinem Stammplatz aus hereinkommen, und bald darauf fuhren wir zu mir. Von da an verbrachte er jede Woche ein oder zwei Abende in meiner Wohnung. Er nannte mich weiter Harald, auch als er über meine Verhältnisse allmählich Bescheid wusste. Sie schienen ihn merkwürdig wenig zu interessieren. Mein Name, mein Beruf, meine Herkunft, sogar meine Rolle als Verlobter, all das betrachtete er anscheinend als nur zufällige Attribute, die über mich als Person nicht viel aussagten. Er sah einfach darüber hinweg oder davon ab. Ich will es so ausdrücken: Er konzentrierte sich auf mich als eine ausschließlich gegenwärtige Erscheinung. Wenn er mich so auf seine Weise lange eindringlich ansah, schweigend, doch nicht grüblerisch, eher wie eine Witterung aufnehmend und etwas mir Anhaftendes und von mir Untrennbares durch Versenkung, reine Anschauung im Kern erfassend – dann erschien ich mir als der Fremde, der wahrscheinlich ein jeder für sich selbst ist und bleibt. Nicht der Blick in einen Spiegel, auch nicht die Selbstbefragung und -erforschung liefern das getreueste Abbild unseres Wesens – es findet sich vermutlich unter der Schädeldecke dessen, der uns so nahekommt. Ja, er kam mir so nahe wie ich ihm. Nur kam ich mir selbst dadurch nicht näher. Was er aufnahm und für sich entschlüsselte, blieb unübersetzbar. Ich schloss damals aus diskreten Anzeichen der Resignation, dass auch er dieses sehr intime gemeinsame Sich-selber-Fremdsein und –bleiben empfand. Wir versuchten nicht einmal, uns diese Erfahrung mitzuteilen.

   Abgesehen von diesen meditativen Phasen gingen wir wie die zwei Männer miteinander um, die wir nun einmal waren. Der Verkehr mit ihm erzeugte bei mir ein zunehmendes Hochgefühl. Was war ich für ein schöner Bräutigam! Dann flog Leopold mit seinem Freund in den Urlaub, wir sollten uns erst nach meiner Hochzeit wiedersehen. Diesen Freund hatte ich noch nicht kennengelernt. Ich wusste bis dahin nur, dass er Grieche war. Leopold sprach so gut wie nie über ihn.

     Die Vorbereitungen für das große Fest liefen an. In meiner Erinnerung liegt eine Staubdecke über dieser unruhigen Zeit. Das ist auch wörtlich zu nehmen, denn in Rosenberg rissen sie damals Wände ein, um größere Wohnungen für die zwei jungen Paare zu bekommen. Doris und Dirk mussten vorübergehend zu ihren Eltern ins Vorderhaus ziehen, und ich konnte einige Wochen lang nicht in Rosenberg übernachten. Mir kam der Gedanke, Doris zu mir in die Hauptstadt einzuladen, aber ich schlug es ihr dann doch nicht vor. Sie ist niemals hier gewesen.

     Bei meinen weiteren Besuchen im Sgraffito-Haus waren die Handwerker noch immer nicht mit den Arbeiten fertig. Wir bewegten uns tagsüber zwischen den Bottichen und Zementsäcken der Maurer und schliefen nachts in den Ausdünstungen der frisch angemalten Wände.

     Alle, außer mir, hatten ständig Termine. Wie zu erwarten trieben sie großen Aufwand bei der Ausstattung dieser Wohnungen. Und dann noch ihre Garderobe für den großen Tag … Mit dem Testament und der Überschreibung der Konditorei beschäftigten sich Anwälte und Notare. Der Senior betrieb außerdem seine politische Karriere jetzt mit mehr Nachdruck als bislang. Im Tordurchgang begegnete ich oft unbekannten Männern und manchmal auch Frauen, die ich für die Honoratioren von Stadt, Bezirk und Partei hielt. Dann grüßte ich so freundlich wie möglich. Es war eine Zeit des Aufbaus.

     Die Hochzeit entsprach in allem dem vorgegebenen Muster. Ich kann daher rasch darüber hinweggehen. Sicher war sie prächtiger als sonst bei uns auf dem Land üblich. Mich beeindruckte das wenig, ich kannte die Vermögensumstände der Althammers schon annähernd. Nur an eines will ich mich jetzt erinnern: Regina und ich, wir beide wurden von der Stunde der Eheschließung an in Rosenberg als dazugehörig behandelt. Es geschah von einem Augenblick auf den anderen, sozusagen als unmittelbare und in meinem Fall wahrscheinlich auch einzige Wirkung des Sakramentes der Ehe. So wurde mir beispielsweise jene Alexandra nachträglich doch noch vorgestellt, und nicht nur sie. Von meinen Angehörigen waren zum Glück nur Edmund und meine Schwägerin zur Hochzeit gekommen. Mein Vater konnte sich so etwas nicht mehr zumuten. Und Fritz? Dass er freiwillig zu Hause blieb, angeblich, um das Vieh zu versorgen, das werde ich ihm nie vergessen, ihm immer anrechnen.

     Der Schnitt des Brautkleides verbarg wie üblich die Schwangerschaft recht gut. Doch eine Hochzeitsreise schied für Doris von vornherein aus. Dirk und Regina fuhren nach Meran ab und wir zum Schein im zweiten Wagen ein Stück hinterher. Wir zwei übernachteten dann an der Westautobahn, um anderntags heimzufahren. Und das hieß jetzt auch für mich: heim nach Rosenberg.

     Auf dem Hotelzimmer zog Doris sich um, damit wir zum Abendessen hinunterfahren konnten. Wie sie ihr Brautkleid zusammenlegte und auch bereits in den Koffer tat, wusste ich: Meine Ehe ist in ihre erste Krise geraten.

     „Wahrscheinlich bist du genau so froh wie ich, dass die ganzen Prozeduren vorbei sind“, sagte ich.

     „Sie sind ja noch nicht vollständig vorbei.“ Das kam etwas frostig heraus. Sie saß jetzt in einem Sessel am Fenster, dessen Vorhänge noch nicht zugezogen waren. Von der Autobahn her huschten Lichtreflexe in wirrer Folge über ihren Leib. Ich überzeugte mich selbst, dass ich seine Form schön und viel versprechend fand. Ich will auf jeden Fall das Kind noch sehen, sagte ich mir. Allerdings meinte ich damals mit Kind immer Sohn.

     „Ich bin auch fertig. Gehen wir?“

     Es war einer von diesen neuen großen Hotelkästen. Zum Glück kamen wir auf dem Weg vom Lift zum Restaurant nicht wieder an der Rezeption vorbei. Wir betraten als rätselhaftes Paar den Saal: ein aufgeputzter Hochzeiter mit einer jungen Dame im braunen Reisekostüm an seiner Seite.

     Unser Gespräch drehte sich fast nur um das Essen. So bewegten wir uns risikolos auf neutralem Terrain und vermieden zugleich den Anschein von Entfremdung. Nachher auf dem Zimmer begann Doris zu lesen, ich glaube, es war Der Name der Rose. Da holte ich das kleine spanische Wörterbuch heraus, das ich damals meistens dabei hatte, und fing an, Vokabeln zu lernen.

     Dann war das Licht aus, wir hatten uns Gute Nacht gesagt und lagen noch wach und wussten es einer vom andern. Das fehlte noch, dachte ich, wieder eine ganze Nacht nicht einschlafen zu können, wie damals … Deine eigene Lage hat sich doch seit der Verlobung um Vieles verbessert. Aber sie ist anhaltend verstimmt, seit dem Sommer schon. Schwangere sind manchmal so, sagt man … Wird sich zeigen, ob es nach der Geburt besser wird. Weint sie jetzt? (Ich glaubte so ein Geräusch gehört zu haben.) Nein, sie weint nicht.

     Dann dachte ich an Leopold und seinen Griechen. Sie sind jetzt auf einer Insel in der Ägäis. Man nennt es ja auch die griechische Liebe. Leopold … Ich vergegenwärtigte ihn mir, das geschah nun schon wie von selbst. Und dann muss ich sehr bald eingeschlafen sein.

 

Nico kam mitten in der Faschingssaison auf die Welt. Doris wählte den Namen aus. Sie ließ ihn mich wissen, als ich am Freitag nach der Entbindung an ihr Bett trat. „Wir nennen ihn Nico, was meinst du?“ Aber sie hob dabei nicht einmal die Stimme.

     Der Senior war auch im Zimmer. Er billigte die Namenswahl ausdrücklich. Die besten Namen seien die kurzen und dabei gut klingenden. Ich sah, mein Schwiegervater trat jetzt ein wenig anders als bisher auf, weniger agil, fast schon gravitätisch. Die Geburt seines ersten Enkels hatte ihm mehr Gewicht im Sinn von Bedeutung verliehen. Diesen Zuwachs bemühte er sich auch in seinen Bewegungen auszudrücken.

     „Hein, wir lassen ihn später studieren, ja? Natürlich nur, wenn er das Zeug dazu hat. Aber warum sollte er nicht?“ Ja, an ihnen würde es dann nicht liegen. Seit der Hochzeit war ich mit dem Alten per Du.

     Der neue Großvater fand den Säugling der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie konnte man das jetzt bereits sagen? Nur wenn man nichts anderes gelten lassen wollte.

     Als der Senior fort war, sagte Doris: „Er hat schon einen Sparvertrag für ihn abgeschlossen, nobel, mein Herr Papa. Jeden Monat zweitausend Schilling, bis er fünfundzwanzig ist.“

   „Und wenn dein Vater vorher stirbt …“

     „Das wird er hoffentlich nicht! Wie kannst du so etwas gerade heute andeuten … Aber sei beruhigt: Dafür ist im Testament auch vorgesorgt.“

     „Ich habe gar nichts angedeutet.“

     Sie sah mich kritisch an.

     „Entschuldige“, murmelte ich.

     Doris war seit Nicos Geburt nicht mehr depressiv, ich stellte es bald erleichtert fest. Und sie wurde nur selten mal aggressiv. Im Allgemeinen behandelte sie mich korrekt. Wir schliefen hin und wieder miteinander. Ich glaube, sie hat damals verhütet.

 

 

     Bin ich jemals allein mit Nico gewesen? Dann kann ich mich daran nicht erinnern. Wenn ich ihn betrachtete, so geschah das regelmäßig im Beisein von Doris oder von ihren Leuten. Konnte ich mir in ihrer Gegenwart überhaupt eine derart kühne Frage wie die nach der Vaterschaft stellen? Ich konnte es nicht. Der Anschein von Normalität war zu groß. Selbstverständlich war er mein Sohn.

     Nico Vorausgesetzt Mitterhofer – kein Standesbeamter hätte das so eingetragen. Und ich sah bald ein, wie wenig Bedeutung diese Voraussetzung besaß, die Voraussetzung, dass ich tatsächlich sein Vater war. Er würde zwar meinen Namen tragen, doch in allem leben wie ein Althammer. Dafür war gesorgt: die Macht des Faktischen. Besaß er Anlagen, die mit seiner Umgebung in Widerstreit geraten konnten? Ich zweifelte schon stark daran, dass man mich eine solche Entwicklung noch miterleben lassen würde – sollte sie überhaupt eintreten.

     Die Macht der Gene? Die gibt es natürlich. Aber meine eigenen Anlagen – das Einzige, was ich ihm hatte vererben können - lagen bei Nico Vorausgesetzt sozusagen nur in verdünnter Konzentration vor. Viel lieber wäre es mir gewesen, ich hätte allein, ohne Althammers, für diese Art Ausstattung sorgen können. Doch auch dann wäre er womöglich nicht nach meinem Geschmack geraten … Ich habe es schon einmal festgestellt: Meine Gene und ich, wir sind nicht identisch, wenn ich mich als mein individuelles Sein in der Zeit und mein Bewusstsein davon auffasse. Manche Gene trage ich bloß mit mir herum, ohne sie zu bemerken, stumme Eigenschaften wie die Anlagen für Krankheiten, die bei mir nicht ausbrechen. Oder für Höchstleistungen auf irgendeinem Gebiet – Kunst, Wissenschaft oder Verbrechen - , die mir versagt sind. Wollte ich das alles in ihm offenhalten? Kann sein.

     Ich habe all das vorher gewusst. Ich habe nicht erwartet, Glück zu empfinden. Dennoch war ich enttäuscht. Wie konnte ich enttäuscht sein, da ich nur an meine Pflicht gedacht und sie im Kern auch erfüllt hatte? Heute will mir scheinen, ich wollte doch mich und nur mich fortsetzen, indem ich ihn zeugte. Vorausgesetzt, ich hatte ihn gezeugt. Verblendung!

     Wie auch immer – vordergründig betrachtet hatten wir alle unsere Ziele erreicht, Elternschaft und Erbregelung und was noch damit zusammenhing. Ich begann mich zu fragen, wann und auf welche Weise wir auseinander gehen würden.

 

 

Nach meiner Hochzeit kam Leopold seltener und blieb schließlich ganz aus. Nico war schon geboren. Ich fand mich an einem Samstagabend im Schwarzen Beisl ein, um nachzusehen. Er kam kurz nach mir und zwar in Begleitung seines Griechen. Ich sah ihn zum ersten Mal, ein wahrer Levantiner, doch hier bei uns in der Fremde etwas verfroren wirkend, wie ein Oleander im Winterquartier. Leopold stellte ihn mir nicht vor. Daraus konnte ich meine Schlüsse ziehen.

     „Am Dienstag wieder bei dir?“ fragte Leopold im Vorbeigehen. Ich nickte unauffällig.

     Sie gingen frühzeitig fort. Der Grieche war einige Jahre älter als sein Freund, und das Schwarze Beisl war sein Kalthaus. Man überwintert Oleander bei zwei bis acht Grad, im äußersten Fall kann man sie mit etwas Glück auch im dunklen Keller durchbringen.

     Am Dienstag begann die Wand zwischen Leopold und mir porös zu werden.

     „Unser Bräutigam, du …“

     „Das ist doch vorbei.“

     „Schade, was für eine wunderbare Rolle für dich. Bräutigam, du falscher Bräutigam …“ Ich empfand ihn schwerer als sonst auf mir. „Und was für ein schöner Bräutigam. Und Hochstapler dazu. Ein Polizist als Heiratsschwindler – wie ist das nur möglich?“

     Ich musste lachen: „Du fasst es ganz falsch auf …“ Er brachte mich zum Schweigen.

     „Was fangen wir mit dir an? So viel Schande, so viel schöne Schande! Ans Kreuz mit dir? Ist es das, was du willst? Ja, an dein Kreuz …Sag, dass du auf sie pfeifst.“

     „Wie heißt der Grieche?“ fragte ich nachher.

     „Konstantin.“ Langer prüfender Blick. „Übermorgen geht er auf Geschäftsreise. Ich habe am Wochenende viel Zeit, die ganze Nacht, wenn du willst.“

     „An sich sehr gern. Aber ich fahre nach Rosenberg.“

     „Verschieb es.“

     Da sagte ich ihm, was er noch nicht wusste: dass schon ein Kind da war. Die Schwangerschaft hatte ich ihm verschwiegen. Man soll seinen Mitmenschen nicht jederzeit alles zumuten.

     „Ah, dann steckst du ja tiefer drin, als ich gedacht hab. Ein Bub? Gratuliere.“ Er war ohnehin schon im Aufbruch. Er hat mich dann nie mehr besucht.

     Alles andere konnte er beiseiteschieben oder seiner Lust dienstbar machen. Nicht, dass ich einen Sohn hatte. Hier war ich einen Schritt zu weit gegangen – falls ich überhaupt der Erzeuger war.

 

 

Zu beschreiben, was dann noch kam, fällt mir nicht leicht. Mitte März bekam ich im Dienst einen Anruf privater und gleichzeitig amtlicher Natur …

     Die Polizei tut sich immer schwer damit, diesen besonderen Typ von Verkehrsunfall aufzuklären. Worin liegt die Ursache für etwas, womit niemand rechnen kann? Bekanntlich gibt es so gut wie nie einen Mord ohne Motiv. Einen Unfall ohne Ursache kann es noch weniger geben. Doch gerade so sieht das Muster hier aus. Wie kann ein gesunder Fahrer am helllichten Tag und auf schnurgerader Strecke – das Wetter ist ideal und der Verkehr dicht - sein Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn lenken, wo er bei seiner Geschwindigkeit zwangsläufig eine Kollision mit meist tödlichem Ausgang auf mindestens einer Seite provoziert? Provoziert? Das ist eben die Frage, auf die von der Polizei eine Antwort erwartet wird. Die Obduktion ergibt keinen Anhaltspunkt. Von da an interessieren sich die Beamten für die gesamten Lebensumstände des toten Fahrers. Sie befragen seine Angehörigen: War er vollkommen gesund? Hat er zuletzt über irgendwelche Beschwerden geklagt? War auch nicht übermüdet? Zufrieden mit seinen Lebensumständen? Und sogar: War er glücklich? Was für Fragen!

     Auf diese Weise, durch die amtliche Nachfrage von Kollegen, bekam ich erst zu wissen, was sechsunddreißig Stunden vorher auf der breiten und viel befahrenen Landstraße von Rosenberg nach Süden passiert war. Die Familie überließ es also der Polizei, dem Kollegen in der Hauptstadt den Tod seiner Frau so schonend wie möglich beizubringen … Und ich habe ihnen Nico überlassen!

     Die Kollegen interessierten sich für alles – und ich unterschlug ihnen alles von Bedeutung. Das war …

     Nein, falsch, alles unwahr. Nur eines stimmt: Nico ist in Rosenberg geblieben. Das Übrige wäre die tragische Version gewesen, aber die gab es nicht. Und wie soll ich das bezeichnen, was tatsächlich abgelaufen ist und was genau zu beschreiben mir womöglich peinlicher ist als … als es wäre, den Tod von Doris zu erklären?

     Ich werde diese Absätze hier stehen lassen. Vielleicht habe ich am Schluss wirklich ihr vollkommenes und endgültiges Verschwinden gewünscht. Und sie sollte es allein bewerkstelligen, auf ihre Weise. Natürlich wäre es nicht wie in meiner Phantasie abgelaufen. Frauen nehmen niemals diesen Ausweg.

     Zu einer Farce passt kein tragisches Ende. Kommen wir also zu der wahren, der schmählichen Version.

 

 

Doris warf mich unter einem Vorwand aus unserer – ihrer Wohnung. Es war in einer Nacht von Freitag auf Samstag.

     „Hein, du kannst hier ja doch nicht richtig schlafen. Alle paar Stunden wecke ich dich auf.“ Sie war aufgestanden, um Nico zu säugen, das erste Mal, seit wir uns niedergelegt hatten. Ich hatte schon sehr tief geschlafen. Hätte sie mich nicht angesprochen, ich hätte weitergedämmert. Ich gähnte und stöhnte bloß etwas.

     „Ich meine es ernst. Letztes Mal bist du am Sonntag in wirklich schlechter Verfassung weggefahren.“

     „So? Nein, kann mich nicht erinnern.“

     „Du, mach mich nicht böse. Weißt du, ich liege hier überhaupt nur noch wach, wenn du da bist, und überlege die ganze Zeit, wie das Problem gelöst werden könnte.“ Da wurde ich auch wach.

     „Ich habe schon mit Dirk darüber gesprochen. Du kannst bei ihm im Wohnzimmer schlafen, solange Regina nicht da ist. Du musst nur die Decke mitnehmen.“

     Vielleicht war ich gar nicht wach und träumte. Ich setzte mich auf. Mir war etwas schwindlig, wie bei zu niedrigem Blutdruck. Was sollte ich tun? Zu ihm hinübergehen oder jetzt etwas dagegen sagen?

     „Also, Hein, geh jetzt bitte. Ich geb es Dirk durch. Deine Decke …“ Sie ging in unser Wohnzimmer hinüber und begann schon Dirks Nummer zu wählen. Ich wollte nichts mithören. Nur deshalb bin ich sofort mit der Decke auf die Loggia hinausgegangen.

     Ich muss noch immer benommen gewesen sein. So ging ich aus Versehen zuerst nach rechts, dorthin wo der Laubengang vor der Backstube endet. Man kann aber den Innenhof nicht ganz umrunden, das wusste ich doch. Ich musste umkehren, um an Doris vorbei auf die gegenüberliegende Seite zu gelangen. Aus den Fenstern meiner Schwiegereltern drang kein Licht mehr.

     Dirks Tür stand einen Spalt offen. Als er mich kommen hörte, rief er: „Komm schon herein, du bist angemeldet.“ Der weiße Bademantel ließ ihn viel jünger als sonst bei Tag erscheinen. Er war noch nicht schlafen gegangen. Aus dem Zimmer hinter ihm hörte ich Musik von Pink Floyd. Ich sah drinnen weder Flasche noch Glas, aber er musste wieder getrunken haben, ich konnte es riechen. Er sagte: „Dann ist es jetzt so weit?“

     Er schloss die Tür hinter mir und sagte als Nächstes: „Tut mir leid, diese Geschichte … einfach alles, was passiert ist. Kann ich etwas gutmachen?“ Er umarmte mich, gerade so wie ein Bruder. Dabei glitt meine Decke zu Boden. Ich ließ sie dort liegen. Er nahm seinen Arm nicht von meiner Schulter, zunächst nicht. Und ich ließ alles zu, in diesem Schwebezustand zwischen Traum und Wachsein. Er führte mich, er schob mich durch die Tür in den Raum daneben, wo er schlief. Er schloss auch die Zimmertür und zog mich mit sich in Richtung auf das Bett. Ich ließ alles geschehen. Ich kann mich an Einzelnes so gut wie nicht erinnern.

     Etwas Nebensächliches blieb bei mir hängen. Wir waren kaum in diesem Zimmer, als er „Moment“ sagte, mich losließ und ins Wohnzimmer zurückging. Dort ging jetzt das Licht aus, und er kam zu mir zurück. Die Schallplatte lief noch.

     Ich glaube, er kam mir sehr einfach vor, ich meine in seinem speziellen Verhalten. Er nahm mich an und gab sich dafür selbst. Jedenfalls hat es mir damals gutgetan. Ich erinnerte mich, dass ich ihn früher manchmal abstoßend gefunden hatte. Ich verstand es nicht mehr, aber als eine vergangene Tatsache war es mir noch gegenwärtig, und das Bewusstsein davon erhöhte jetzt seinen Reiz für mich und meine Freude an ihm. Ich würde es gutmachen.

     Viel später sagte er: „Wahrscheinlich willst du jetzt reden … Ich auch, aber ich muss um vier in die Backstube. Lass mich schnell noch etwas schlafen. Reden können wir später.“ Dann erst löschte er auch in diesem Zimmer das Licht.

     Er verschwand irgendwann aus dem Zimmer. Ich schlief abwechselnd weiter oder dämmerte vor mich hin. Ich genoss es, über nichts nachzudenken. Mir kam es so vor, als hätte ich lange Zeit zu viel nachgedacht.

     Er kam zurück, als es schon hell war, aber nicht, um jetzt mit mir zu reden. Er sagte nur: „Du kannst noch zu ihr zurück, jetzt noch, wenn du willst.“

     „Jetzt nicht mehr.“

     Er zog die Bäckerkluft aus und kam zu mir. Nein, wir redeten noch immer nicht über das, was noch laufend geschah. Und später schliefen wir beide noch einmal ein.

     Es war elf Uhr vormittags. Dirk hatte es eilig mit dem Anziehen. „Ich muss Büroarbeit machen, und Papa hilft mir dabei, soll heißen: Er passt auf, dass ich nicht so viel Quatsch mache.“

     Ich wollte auch aufstehen und in die andere Wohnung zurückkehren. Aber Dirk sagte: „Jetzt auf einmal doch wieder? Bleib lieber hier. Bloß keinen Skandal. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Du bist heute Nacht krank geworden … Ich weiß - du hast die ganze Nacht gekotzt. Und deshalb musst du liegen bleiben.“ Ich sah es ein: Mit Krankheit ließ sich vielleicht noch etwas bemänteln.

     Als er fort war, nahm ich mir etwas aus seinem Kühlschrank zum Essen. Obwohl ich krank war, kam niemand, um nach mir zu sehen. Das zumindest konnte nicht fehlinterpretiert werden. War ich Dirks Gefangener geworden? Am Nachmittag kam er kurz herein und brachte mir Kuchen aus ihrem Geschäft. Er sagte, er habe noch im Büro zu tun, ich solle weiter da bleiben. Abends könnten wir dann bei ihm essen und endlich miteinander reden. Ich döste also noch einige Stunden. Ich wollte immer noch nicht nachdenken, ich weigerte mich vor mir selbst. Welchen Sinn hätte es auch gehabt, mitten in einem freien Fall über ihn nachzudenken?

     Am Vormittag hatte es eine Abwechslung gegeben: die wöchentliche Stadtführung. Volksgemurmel wie damals, viele scharrende Füße auf unserem gepflasterten Hof – nur die Stimme, die zu mir heraufschallte, war jetzt weiblich. Ich ging diesmal nicht ans Fenster.

 

 

Dirk ließ Kalbsnierenbraten für uns zwei aus der Küche des Restaurants kommen - so etwas Leichtes vertrug ich schon wieder – und zu meiner, unserer Stärkung einen guten Weißwein, ich glaube Frascati. Ihr junger Koch übertrieb es etwas mit der Diskretion, blickte weder in die Ecken noch mich an, nur seinem Juniorchef ins Gesicht. Tuschelten sie in der Küche bereits über meine Erkrankung?

     „Bist froh, dass für heut Schluss ist?“ fragte ihn Dirk.

     „Ja.“ Was hätte er sonst sagen sollen.

     „Ich auch, Hannes.“ Das kam bei Dirk jetzt so erleichtert heraus, dass Hannes doch noch die Augen aufriss und mich kurz anstarrte, während er schon kehrtmachte.

     Dirk aß nur nebenbei. Vor allem sah er mir beim Essen zu, mit eben der Freude, mit der ich im Jahr davor von seiner Schwester gefüttert worden war. Es sah aus, als ob er mir am liebsten mein Fleisch vorgeschnitten hätte. Er lächelte viel und sah unwahrscheinlich gutartig aus. Ich hatte nicht gewusst, dass er so freundlich sein konnte. Dirk kam mir jetzt überhaupt nicht mehr verschlagen vor, im Gegensatz zu seiner Schwester. Heute weiß ich, auch sie war es nicht. Wir tun alle, was wir tun müssen.

     Später trank er Kognak. Sein Konsum in dieser Nacht war beträchtlich, meiner maßvoll, aber seiner, ich kann nur sagen: exorbitant. Er vertrug diese Sachen und sein Quantum davon jetzt besser als im Vorjahr, zunächst mit anscheinender Leichtigkeit, und er blieb an schwierigen Wörtern nicht mehr mit der Zunge hängen. Er redete viel, bedeutend mehr als ich, der meistens zuhörte. Selbstverständlich kann ich unser langes Gespräch nicht mehr vollständig rekonstruieren. Ich erinnere mich an vieles, aber für die Reihenfolge kann ich mich nicht verbürgen.

     „Dass es doch noch so gekommen ist … Du staunst ja auch, vielleicht noch mehr als ich. Ich glaub, du hast nichts geahnt. Bin ich dir jetzt so etwas wie Aufklärung schuldig?“

     Da fragte ich ihn: „Ist das Kind von mir? Nico?“ War das nun eine sehr dumme Frage oder doch eine geschickte Eröffnung, ich weiß es nicht.

     Er schien mir ehrlich verdutzt. „Wenn du es nicht weißt … Die Sache mit Hubert war doch schon in Ischgl vorbei. Er ist noch mit uns hingefahren, aber sie haben sich dort getrennt. Sie hat ihm den Laufpass gegeben, ich weiß nicht mal genau warum.“

     Es stellte sich heraus, dass Regina sich nur ein unvollständiges Bild verschafft hatte. Oder hatte sie mir Hubert unterschlagen, um etwas bei mir zu erreichen? Dirk legte es jetzt so dar oder für mich zurecht: „Ja, schau einmal, das war doch ein Manöver von uns. Nur für Regina spielten wir die unzertrennlichen Zwillinge. Und wer hätte sie aufklären können? Sie kannte doch hier niemand …“

     „Ihr habt das gespielt? Und wozu?“

     Jetzt begriff er. „Du hast es also auch für möglich gehalten? Du, ich bin weder so noch so, trotz allem, was letzte Nacht gewesen ist. Mit der eigenen Schwester? Kommt vielleicht irgendwo vor – aber hier, bei uns? Ja, ich schlafe auch mit Frauen, hauptsächlich sogar – aber stehe ich deshalb schon unter Verdacht? Wenn du mit dem Schwesterlein von klein auf das Badezimmer geteilt hast, dann bist du einfach nicht mehr neugierig. Ihr kennt euch schon viel zu gut.“

     Ich sagte ihm, dass Regina sich dann vermutlich hatte täuschen lassen. Das sei ihm ganz recht, meinte er, bei seiner gelegentlichen Schlagseite – genau so drückte er sich aus. „Du verstehst schon, es geht dir ja geradeso.“ Er bestand darauf, wir seien beide nicht so. Er entwickelte auch eine Theorie, die mir bekannt vorkam: Männer seien überhaupt nicht so oder so, sie täten nur dies oder das, abwechselnd, wie es sich gerade ergebe. Deshalb blieben sie doch dieselben.

     Eigentlich hätte ich ihm jetzt freudig zustimmen müssen. Ich sagte aber nichts dazu.

     „Du bleibst am besten heute Nacht auch noch hier“, sagte er unmittelbar darauf. „Regina kommt erst morgen aus Italien zurück.“

     Erst als sein Pegel hoch genug war, rückte er mit dem heraus, was er mir unbedingt noch sagen musste. „Am Anfang, damals im Alabama, da haben wir gewettet, bei wem du schließlich am Ende landest, bei ihr oder bei mir … Für mich gilt die Wette noch, und der Preis, das bist du selbst. Wie es scheint, hat Doris aufgegeben. Sie hat dich einfach abgetreten. Nimm’s nicht schwer. Such is life …“ Ich starrte ihn an, und das befeuerte ihn zu weiteren Enthüllungen. „Ich hab dich damals zum ersten Mal gesehen. Vorher ist sie ja immer mit Hubert hingefahren. Doris, hab ich gesagt, wie der hin und her guckt, und sein Blick bleibt immer zwei Sekunden länger an mir hängen …“

     „Sie weiß so gut über dich Bescheid?“

     „Unvermeidlich, wenn du von klein auf mit dem Schwesterlein das Badezimmer teilst. Was wollte ich sagen – Fadenriss. Vielleicht das: Ich weiß, insgeheim hält auch sie mich für einen Versager, wie alle bei uns. Auch deswegen hier …“ Er ließ eine Hand über seinem Schoß baumeln. „Bruderherz, ich kann dir sagen, eine ältere und klügere Schwester ist eine eklige Sache. Und sie ist zu tüchtig … Ich bin mir nicht ganz sicher gewesen, was dich betrifft. Nun, sie hat also den ersten Versuch gehabt, und als Ergebnis sitzt du nun hier. Ich hab die ganze Zeit gehofft, ich könnte einmal so wie jetzt mit dir reden … Und nun bist du schon vierundzwanzig Stunden bei mir!“ Er nahm energisch einen großen Schluck und schenkte sich gleich nach.

     „Du nicht? Ist auch besser so für dich … Du wirst es gehört haben, sie sagen, ich trinke zu viel. Bedaure, liegt nicht an mir. Ich ackere jetzt für zwei, also trinke ich auch für zwei, wenn’s mir so passt. Was ich mache, ist schlimmer als Schichtdienst, das ist der Mist! – Bruderherz, zuerst hast du dich ganz gut gehalten. Mein Alter hat sich gleich in dich verliebt. Wie du das gemacht hast: so jung, so ehrlich und dabei auch noch stramm konservativ. Ich glaub, am liebsten hätte er dich gleich mit Karriere machen lassen. Wie meinst du, Mama? Die spielt keine Rolle bei uns …“

     Er machte eine Pause. Seine Bekenntnisse und sein Selbstmitleid und der viele Alkohol hatten ihn etwas erschöpft. Ich musste mit ihm auf das Sofa umziehen. Da lagen wir dann eher verquer als lässig, halb übereinander, mein Kopf auf seinem Bauch, und er nebelte mich von oben mit seinem Kognakatem ein und war noch nicht fertig.

     „Und von einem Punkt an hast du alles falsch gemacht. Ich glaub, es hat in Steiermark angefangen. Dieser Zirkus mit Riegersbach hat Doris fertiggemacht. Erst so und dann wieder nicht so. Ich hab mal gehört, In-kon-se-quenz (er stolperte nicht, artikulierte nur langsam und vorsichtig) ist das Einzige, was dir die Weiber nie verzeihen. Du, ich versteh das nicht, warum du dir das kaputtgemacht hast … So eine Position wie hier bei uns, nie wieder kriegst du die Chance. Nie wieder, hörst du, und wo du schon herkommst! Ich versteh es nicht … Oder ich versteh’s doch …“ Er sprach mit einemmal viel leiser und auch keuchend und dann wieder anschwellend lauter: „Du bist doch so einer! Oh, Scheiße!“ Er stieß mich plötzlich von sich und drückte sich in die andere Sofaecke. Er weinte.

     Im Vergleich zu ihm war ich sehr nüchtern. Alles absurd. Ich hielt es nicht mehr aus und ging ins Bad.

     Dann kam er mir nach, ich stand vor dem Spiegel und sah ihn hereinstolpern. Er umfasste mich von hinten und legte den Kopf so auf meine Schulter, dass ich sein Gesicht nicht mehr im Spiegel sehen konnte. Er sagte ziemlich trocken: „Geh nicht weg. Du glaubst nicht, wie schlimm das ist, mit niemand reden zu können.“ Er fing wieder an zu schluchzen – in dieser Familie wurde mir zu viel geweint, das war ich von uns nicht gewohnt. Aber da war es zum Glück auch schon vorbei: Er sackte plötzlich zusammen. Ich konnte ihn gerade noch unter den Achseln auffangen. Er war kleiner und leichter als ich, ich trug ihn ohne viel Mühe ins Schlafzimmer. Auf dem Bett schlief er sofort ein. Armer Kerl, wer kann dir da helfen? Ich legte mich neben ihn.

 

 

Am anderen Morgen hatte er trotz allem keinen Fadenriss. Er war wach und konnte klar denken.

     „Regina kommt erst zum Mittagessen. Bis dahin müssen wir alles arrangieren. Mit Doris, meine ich … Regina war jetzt das letzte Mal in Turin. Sie hat die Wohnung aufgelöst und die Sachen zu ihren Eltern gebracht, ich glaube, gestern schon. Die Wohnung hier ist zu klein für alles. Wir hätten neu bauen sollen. Irgendwo neu anfangen.“ Er seufzte. „Idiotisch, einfach alles.“

     Wir blieben noch liegen, mein Arm um ihn und er wie gelähmt.

     Dann klingelte das Telefon. „Sie ist schon hier? Frühstücken? Jetzt gleich?“

     Wir beeilten uns sehr. Die Frauen deckten noch den Tisch, als wir in der anderen Wohnung ankamen. Ihre Gesichter verrieten, dass dieses Frühstück für sie in erster Linie ein Tribunal war. Doris als Staatsanwalt. Regina die Richterin. Dirk Belastungszeuge. Ich angeklagt und zwar ohne Anspruch auf Unschuldsvermutung. Wir zwei muffelten einen Gruß und hockten uns nebeneinander an den Tisch. Doris nahm mir gegenüber Platz, vorerst ohne mich anzusehen. Regina blieb an der Anrichte stehen und lehnte sich nur zeitweise an, das Kreuz immer durchgedrückt.

   „Sechsunddreißig Stunden war er drüben“, begann der Staatsanwalt. „In Worten: Sechs-und-drei-ßig!“

     „Doris, mach kein Theater!“

     „Darf ich zunächst mal erfahren, was diese Blockade meines Schlafzimmers bedeutet?“

     „Du hast sie in Stinkenbrunn angerufen! Wie konntest du so etwas machen!“

     „Sag mir, was ich sonst noch hätte machen können …“

     „Du hast ihn doch selbst zu mir geschickt. Und dann ist er krank geworden … DORIS, ICH FINDE DICH ZUM KOTZEN!“

     „Ihr habt mir sogar noch signalisiert, was vorging. Ja, Lichtzeichen gegeben, ganz schön dreist. Regina, dass du es weißt: Im Wohnzimmer drüben ging das Licht schon nach einer halben Minute aus – und im Schlafzimmer war es hell bis halb drei morgens!“

     „Das beweist nichts …“

   „Tut es doch. Wie soll er da krank gewesen sein. Und ich hab auch Schatten gesehen.“

     „Ich hab noch länger getrunken.“

     „Du musst total besoffen gewesen sein, wie so oft.“

     „Und das hat er sich zunutze gemacht.“ Schlussfolgerte der Richter.

   Der Staatsanwalt trägt uns sodann die wesentlichen Ermittlungsergebnisse vor. Ich muss hören, dass die Stelle in Riegersbach erst im August wieder besetzt worden ist. Ich bin unzuverlässig, unaufrichtig, grundlos misstrauisch. Gemeinschaftsunfähig, es sei denn es handelt sich um flüchtige Männerbekanntschaften. Da ist auf der Verlobungsreise ein Lkw-Lenker gewesen – seinetwegen ist sie vorzeitig von mir aufs Zimmer geschickt worden. Er und ich, wir haben uns dann auf dem Parkplatz verabredet … Nichts ist ihr entgangen, die Vergangenheit grauenhaft und sehr gegenwärtig, auf jeden Fall unabgeschlossen.

     „Rechtfertige dich, wenn du es kannst.“

     „Und jetzt deinen Bruder verführt …“

     „ … der jünger ist als er und krank. Nicht Hein ist krank, Dirk ist es, alkoholkrank.“

     „Rechtfertige dich doch, versuch es wenigstens. Sagt kein Wort!“

     Ich sagte: „Lasst mich noch frühstücken. Dann kann ich ja fortgehen.“ Ich war tatsächlich hungrig.

     Regina ist nicht einverstanden. Sie wird sich mit so einem nicht mehr an einen Tisch setzen. Sie besteht darauf, dass ich das Haus sofort verlasse. Es ist ein gutes Haus. Man muss auf sich halten. An die Kundschaft denken, an die Kandidatur bei den Wahlen. Es ist ein Kind im Haus … Sie droht damit, sogleich zum Senior zu gehen.

     Da stand ich wortlos vom Tisch auf und begann, meine wenigen Sachen in der Wohnung zusammenzusuchen. Und wo war Nico? Sie hatten ihn schon vor dem Sturm zu den Großeltern gebracht, nehme ich an.

     Ich war nur äußerlich ruhig. In mir kochte es. Und wie bei einem Wasserkessel gab es da plötzlich einen Pfiff. Als ich aufbrach und alle schwiegen, auch dieses Jammerbild von einem Mann – ging ich auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und küsste ihn auf die Wange. Die beiden Frauen hatten jede mehrere Schrecksekunden. Dirk ließ es ruhig geschehen, auf eine Weise, dass ich spürte, es war kein Stein, den ich da küsste. Er sah zuerst fast freundlich drein, doch dann begann sich das Gesicht stark zu verzerren, wie bei einer Operation ohne Narkose. Ich hatte ihn gebrandmarkt.

     Regina zischte mir noch hinterher: „Du hast deine Ehe ruiniert, mit meiner wird dir das nicht gelingen.“ Aber da war ich schon auf der Loggia.

     Dieser Bruderkuss hat anscheinend auch nichts bewirkt. Von Edmund hörte ich neulich, Dirk ist noch immer mit Regina verheiratet. Und Kinder sind keine gekommen. Edmund stellt solche Nachforschungen aus eigenem Antrieb an, ich ermuntere ihn dazu nicht. Er kann das Faktensammeln nicht lassen und versucht wie früher schon, seine Schlüsse aus ihnen zu ziehen.

     „Dein Nico wird vielleicht noch mal Universalerbe.“ Ihn beschäftigen solche Aussichten.

     Meine Scheidung ließ jahrelang auf sich warten. Wie Doris einmal richtig bemerkt hat: Meistens ist man fremdbestimmt. Erst musste eine so rasche Eheauflösung noch vor den Wahlen unbedingt vermieden werden, danach war sie zurzeit nicht opportun, wie sie mir mitteilen ließ. Schließlich wollte Althammer senior erneut nominiert werden. Erst als es mit der Wiederwahl nach einer Periode nicht klappte, bekam ich die Scheidung und damit meine Freiheit zurück. Aber war ich denn jemals wirklich unfrei gewesen?

 

 

Als ich nicht mehr nach Rosenberg fuhr, hörte ich auch mit Spanisch auf. Ich bin nie nach Argentinien gekommen.

   Lange Zeit ging ich wenig unter Menschen, wenn ich dienstfrei hatte. Ich las nun wieder mehr oder saß stundenlang im Kabinett und betrachtete die Sprünge in den Rückfassaden der Häuser gegenüber. Ich dachte über die Natur nach, über die Naturgeschichte und über Männer wie uns, Dirk oder mich zum Beispiel. Mich beeindruckte die Konsequenz, mit der die Natur in jeder Generation Individuen wie uns in so großer Zahl hervorbringt, Millionen und Abermillionen von Menschen im Lauf der Zeit. Das hat entschieden etwas Verschwenderisches, noch nicht einmal berücksichtigt und eingerechnet die höheren Tiere, die sich auch hierin nicht von uns unterscheiden. Oder – viel treffender - wir nicht von ihnen.

     Diese ununterbrochene Wiederholung der gleichen Abweichung erschien mir zunehmend als eines der großen Rätsel. Ich konnte es ebenso wenig lösen wie irgendein anderer, ich verfolgte jedoch das Phänomen immer tiefer in die verflossenen Zeitalter hinein. Es gab da keinen Grund, keinen Halt rückwärts in der Zeit. Auf diese Weise kann man leicht bis zu jenen Epochen gelangen, in denen es noch keine geschlechtliche Vermehrung gegeben hat. Allmählich kam ich mir selber sehr alt vor. Wir waren unserer Natur nach vor allem Relikte, so schien es mir, und die belebte Welt war insgesamt voll altertümlicher Erscheinungen. Die höheren Tiere haben zwar ihre Fortpflanzung spezialisiert und modernisiert, doch gleichzeitig existieren alle übrigen Formen weiter. Im Pflanzenreich ist die Entwicklung sogar gegenteilig verlaufen, und ein Teil der Tierwelt wechselt von Generation zu Generation die Art der Fortpflanzung. Nehmen wir nur einmal die Gallwespe, die ihrerseits die Wissenschaft befruchtet hat …

     Uraltes besteht also neben spät Entwickeltem fort. Kein Grund, auf das Alter stolz zu sein. Ist Stolz nicht immer auch zugleich dumm, also dummstolz? Das Phänomen bekam infolge dieser Betrachtungsweise allerdings etwas Selbstverständliches. Damit hätte ich mich zufriedengeben können. Aber ich war nun einmal ins Spintisieren geraten und machte immer so weiter. So sah ich bald keinen Grund mehr, von Mutter Natur zu reden, warum nicht Vater Natur? Zugegeben, das klang etwas sonderbar. So ließ ich von da an wenigstens den Artikel weg.

     Ich glaubte auch zu verstehen, warum unsere Spezies immer auf Neue Befremden hervorruft, wenn nicht sogar Abscheu, in jeder neuen Generation, so uralt die Erscheinung auch ist. Es ist gerade das unvorstellbar hohe Alter des Phänomens, das unwillkürlich zurückschrecken lässt. So ähnlich reagieren wir Menschen insgesamt auf die vorzeitliche Tierwelt, die sich auf abgelegenen Inseln über die Erdzeitalter gerettet hat. Und ähnlich beschaffen ist selbst unsere instinktive Abneigung gegen Schlangen, Reptilien überhaupt … Wir versuchen, sie nicht zu töten, manchmal stellen wir sie sogar unter Naturschutz. Ähnliches setzt sich vielleicht langsam auch im Umgang mit uns Menschen besonderer Art durch. Ich meine, die moderne Zivilisation kann hier und da ja auch einmal zu Befriedung und Koexistenz führen, nicht immer nur zu Massenmord und Ausrottung.

     Bleibt noch die Frage, ob Natur mit meiner an sich überholten Variante etwas bezweckt. Ich kenne diese Auffassung, Natur arbeite allezeit flüchtig und leiste sich permanent Fehler und Pannen. Aber ist das nicht eine allein auf die Menschenwelt bezogene, eine sozusagen rein technologische Betrachtungsweise? Natur wie eine Fabrik mit Bauplänen und Blaupausen? Meine Auffassung von Natur ist umfassender, so umfassend, dass ich von vornherein darauf verzichte, ihr nur gerade die Absichten zu unterstellen, die ich noch nachvollziehen kann. Wie kann ein unendlich kleiner Bestandteil das Ganze erkennen? Mag sein, Natur will gerade Wesen wie mich, die auf den abblätternden Putz alter Häuser blicken.

 

 

     Watussi rief eines Abends an und erlöste mich von meinen Spekulationen. Er wollte mich wiedersehen, nach so vielen Monaten. Wir verabredeten uns für den Abend des folgenden Tages und zwar auf seinen Wunsch im Westbahnhof. Er wollte mich also im öffentlichen Raum treffen, das erregte gleich mein Misstrauen.

     Es war ein dienstfreier Tag, ich kam vom Land in die Stadt zurück. Ich war gut zwanzig Minuten zu früh und ging langsam die Treppe von den Bahnsteigen in die Halle hinunter. Schon vom oberen Drittel aus sah ich ihn unten in der Nähe des Ausgangs stehen. Er rechnete noch nicht mit mir und sah sich teilnahmslos in der Halle um. Nur gelegentlich blickte er zu dem Eingang, durch den ich seiner Vermutung nach kommen musste.

     Mein Erschrecken war gewaltig. Ich hatte ihn nicht so im Gedächtnis behalten, nicht so mickrig. Es war nicht sein Körper, das stellte ich bald erleichtert fest, ich fand ihn noch immer verlockend. Es war seine Haltung und der Ausdruck seines Gesichtes. Sie drückten für mich eben jetzt nicht bloß Teilnahmslosigkeit aus, sondern viel mehr: Ausgeschlossensein, Trauer darüber, die Hässlichkeit und das Unglück des wider seine Bedürfnisse Isolierten. Ich blieb auf der Treppe stehen und dachte sogar kurz daran umzukehren. Dann fielen mir als Erstes mögliche Verbesserungen an seinem Äußeren ein. Ein Schnurrbart würde ihm hervorragend stehen … Und mit einemmal wusste ich es: Mir gegenüber, von mir deutlich wahrgenommen, würde er sich beleben und auch ohne solche Veränderungen schön sein. An ihm wollte ich jetzt gutmachen, was ich in Rosenberg und anderswo versäumt und verbockt hatte. Das war wieder so eine närrische Idee von mir.

     Später sah ich es so: Indem er nicht gleich zu mir nach Hause kam, sondern sich mir erst in der Bahnhofshalle zeigte, überließ er mir die Entscheidung.

     Ich ließ ihn nicht länger warten.

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.04.2016

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