Ob der Leser zum Erstling „Schau heimwärts, Engel“ oder dem posthumen „Es führt kein Weg zurück“ greift, er wird sich bald fragen, in welchem Umfang der ausgebreitete Stoff autobiographisch ist. Dass authentisches Material verarbeitet wurde, kann man aus Vielem schließen: der Überfülle geradezu fotografisch anmutender Details, dem Umkreisen einzelner Figuren, an deren Seelenzergliederung der Autor sich förmlich abarbeitet, und, nach Kenntnis auch nur eines bescheidenen Lexikonartikels über Wolfe, an den offensichtlichen Parallelen im Lebenslauf der beiden Helden Eugene Gant und George Webber zur Vita ihres Schöpfers: Südstaatenherkunft, Schriftstellerexistenz, Europareisen, Wohnung in Brooklyn, Bruch mit dem bisherigen Verlag usw. Man würde gern einen Blick auf die übrigen Vorbilder und ihre Wege werfen, gerade auch aus Interesse am Autor selbst und seiner Arbeitsweise. Vielleicht erfährt man dann etwas darüber, warum der frühe Roman verdientermaßen ein so großer Erfolg wurde und der nachgelassene so viel schwächer wirkt. Gab es einen Wechsel in der Methode?
Beginnt man einen Auswahlband seiner Briefe zu lesen, etwa „Eine nicht gefundne Tür“, verdichtet sich bald der frühere Eindruck. Man stößt auf die familiäre Konstellation, die einem aus dem ersten Roman bereits vertraut ist. Die Vorbilder der Figuren sind kenntlich, zumal die Mutter, die Geschwister. Zwei schon tote Brüder tragen als Romanfiguren sogar ihre wahren Namen: Ben und Grover. Jahre vor Niederschrift des Werks beschreibt er seiner Mutter eine Szene, die sich nach Bens Tod beim Leichenbestatter abgespielt hat und die er für erinnerungs- und gestaltenswert hält. Er hat die Episode später eins zu eins in den Romantext übernommen.
„Look Homeward, Angel“, 1929 erschienen, war sogleich eine literarische Sensation und verkaufte sich, selbst im Ausland, hervorragend. Man las das Buch natürlich auch in Asheville, North Carolina, und erkannte sich und die Kleinstadtgesellschaft wieder. Wolfe hatte dem vergeblich mit klug ausweichender Vorrede vorzubeugen versucht, der Kritiker einer örtlichen Zeitung sah darin nur „geschickte Phraseologie“. Verstimmt reagierten auch langjährige Freunde wie etwa Margaret Roberts, deren Gatte die von Wolfe besuchte Privatschule betrieb. Von nun an begleiten ihn bis zu seinem frühen Tod 1938 der Argwohn, der Vorwurf, sich beim Schreiben seiner Romane allzu eng ans reale Leben angelehnt zu haben. Wolfe wird in Prozesse verwickelt, eine frühere Zimmerwirtin erstreitet sich in einem Vergleich eine kleine Summe.
Wolfe verteidigt sich immer wieder, streitet ab, stellt – aus seiner Sicht – richtig, widerspricht sich gelegentlich und erkennt den Sachverhalt in Briefen an seine Lektoren doch bis zu einem gewissen Grad an. Im Kern handelt es sich um zwei verschiedene Perspektiven, auf der einen Seite die des einzelnen Lesers, der sich ohne sein Einverständnis dargestellt findet, und zwar nicht genügend wohlwollend, und der sich an Abweichungen und Übertreibungen reibt – und auf der anderen die des Autors, für den alles Erlebte und Gesehene nur Rohstoff ist, den er formen kann. Das ist der Grundkonflikt zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Er ist nicht aufzulösen, nur zu begrenzen. Wolfe jedoch versucht in seinen weiteren Büchern einen Ausweg ins große Ganze, ins Allgemeingültige. Nicht mehr Asheville oder New York allein, nein, das große, weite Amerika oder gleich die ganze Welt, alles will er in Zukunft in seinem Werk widerspiegeln und erklären. Der universale Kunstanspruch soll also den lokalen kleinkarierten, persönlich gemeinten Einspruch verstummen lassen.
Hier eine kleine Auswahl von Wolfes Äußerungen über seine späteren Absichten:
„Ich nehme an, Du verstehst jetzt, dass mein Streben, stets nur über das zu schreiben, was ich kenne, seine Wurzeln darin hat, dass niemand über etwas Besseres als hierüber zu schreiben vermag; und: dass man, wenn man die Hintergründe des eigenen Lebens sorgfältig genug erforscht und mit allem, was man erlebt, verglichen hat, eines Tages vielleicht herausfindet, wie es um die ganze Welt steht.“ ( An die Mutter, 31.8.1934)
„ … es ist bei weitem das objektivste Buch, das ich je geschrieben habe, dabei aber natürlich wie alle Bücher, die etwas taugen, aus meinem Erleben heraus geschrieben, aus den Erfahrungen und Entdeckungen, die ich im Lauf meines Lebens gemacht habe.“ (Über ein weiteres Romanprojekt an den deutschen Verleger Ledig-Rowohlt, 10.6.1936)
„Ich beabsichtige, meine Erfahrungen restlos auszunützen – sie in dieses Buch zu verströmen, sie bis aufs letzte auszupressen und herauszuholen, was des Herausholens wert ist. Es soll mein objektivstes und zugleich – gerade deswegen – mein autobiographischstes Buch werden.“ (An seinen letzten Lektor Edward C. Aswell über „You can’t go home again“, 14.2.1938. Am Ende dieses Briefes formuliert er sein großes Ziel klar: „Sichtbarmachung des allgemein und ewig Gültigen“.)
Im diesem – übrigens nicht abgeschickten - Brief an Aswell ist ferner die Rede von einer Fabel, die er konstruiert habe. Wie er im Einzelnen vorging, erläutert er an folgendem Beispiel: Aus seiner eigenen Erfahrung eines überlangen Menschen, der auf andere zunächst erschreckend wirke, habe er seinen Helden stattdessen mit anderen Merkwürdigkeiten ausgestattet, die ihn körperlich einem Affen ähnlich machten und ihn zugleich die von Wolfe erlebte Distanz zu den Normalgestalten fühlen ließen. Er wollte unbedingt vermeiden, dass Kritiker mit einem riesenwüchsigen George Webber den tatsächlich 1,95 m langen Autor Thomas Wolfe identifizierten. So ausgestattet mag Webber also in Brooklyn wohnen, in den heimatlichen Südstaat reisen oder, wie Wolfe selbst 1936 zur Olympiade, nach Hitlerdeutschland – eine fast schon naiv anmutende Maskerade.
Kommen wir zurück auf „Sichtbarmachung des allgemein und ewig Gültigen“. In seinem außerordentlich lebendig geschriebenen Erstling ist das noch längst nicht das Ziel. Hier wird sehr prägnant eine konfliktreiche Kleinstadtgesellschaft des amerikanischen Südens während jahrzehntelanger stürmischer Entwicklung beschrieben, mitten darin eine Familie, die es in sich hat, die geradezu explodiert vor Vitalität, und an ihrem Rand dieser heranwachsende scharfe Beobachter, der sich aus ihr erst herausarbeiten muss. Das Ganze ist, dem Lebensgefühl eines jungen Menschen angepasst, gefühlvoll romantisch, sogar weltschmerzlich – doch Anspruch auf „allgemein und ewig Gültiges“ kann es im Wesentlichen nicht erheben. Nach seinem großen Anfangserfolg und verfolgt von den Anwürfen bezüglich des Autobiographischen, besorgt um ein mindestens ebenso großes zweites Werk, versucht sich Wolfe nun ins Große, Weite, Universale zu retten. Er will wiederholen, was ihm mit Asheville und der eigenen Familie so gut gelungen ist, indem er viel reist, viel sieht, vielen Menschen begegnet, alles festhält und dann gestalten will. Das funktioniert nur sehr bedingt.
Die Methode bleibt dieselbe, und gerade das ist das Problematische. Wolfe sammelt unaufhörlich in der Außenwelt Eindrücke, die er literarisch verwertet. Es ist jedoch ein grundlegender Unterschied, ob Familienleben und langsames Aufwachsen in einer kleinen Stadt sich einem tief einprägen, gründlich verarbeitet werden und zur literarischen Gestaltung zur Verfügung stehen – oder ob man rastlos auf zwei Kontinenten unterwegs ist und sich sehr vielen neuen, oft oberflächlichen Eindrücken meist zufälliger Art aussetzt. Von seiner letzten – todbringenden - Reise in den amerikanischen Westen berichtet er seiner Agentin Elizabeth Nowell am 3.7.1938:
„ Die Nationalparks sind natürlich phantastisch, aber für mich waren Städte, Dinge und Menschen, die ich gesehen habe, viel wertvoller – der ganze Westen mit seiner Geschichte entrollte sich in kaleidoskopartig schnellem Wechsel. Und ich habe es ebenso schnell niedergeschrieben, wenn wir sechs- bis achthundert Kilometer gefahren waren und ich eigentlich vor Müdigkeit umfiel.“
Einige Beispiele für hastiges Aufnehmen und Verarbeiten äußerer Eindrücke, wie sie sich in den Briefen finden. In Europa will Wolfe zweimal James Joyce zufällig begegnet sein, in Belgien und dann wieder in Frankfurt. Bei der ersten Begebenheit ist ihm die Identität des Iren durch einen von Joyce’ Begleitern versichert worden, bei der Schilderung der zweiten bleiben für den Leser erhebliche Zweifel daran. In München soll das Oktoberfestbier unglaubliche dreizehn Prozent Alkohol enthalten, schreibt Wolfe nach New York. (Vielleicht Verwechslung mit der Stammwürze?) Dementsprechend will er, bevor es zu der berühmt gewordenen Schlägerei kommt, bei sieben oder acht Maß „fast einen Liter Alkohol“ konsumiert haben, kaum vorstellbar. Wolfe zieht aus einer relativ banalen Kneipenszene in Paris tiefreichende Schlüsse auf den französischen Nationalcharakter in Abgrenzung zum amerikanischen – der Leser könnte sich die Szene ebenso gut im damaligen Berlin oder New York vorstellen. Um wie vieles aussagekräftiger ist dagegen jener Auftritt beim Leichenbestatter in Altamont alias Asheville … Da wird konkret ein Detail der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit, das übertriebene kosmetische Herrichten von Leichen, aufgespießt, und da stützen sich im Buch autobiographische Herkunft und ästhetische Wirkung des Textes gegenseitig.
Um es überspitzt zu formulieren: Wolfes erster Roman ähnelt einem Vulkanausbruch, sein letzter einem mäßig interessanten Tischfeuerwerk, das sich zu lang hinzieht. Das ist eine Tour d’Horizon durch weite Teile der hochproblematischen Welt um 1930. Darunter findet sich viel Anschauliches, das jeweils für eine Kurzgeschichte oder eine mittellange Erzählung geeignet gewesen wäre. Tatsächlich hat Wolfe, um Geld zu verdienen und den Markt mit Neuem zu versorgen, immer wieder Teile seiner in Entstehung begriffenen Romane im Voraus veröffentlicht, in Zeitschriften oder in kleinen Erzählsammelbänden. Nachdem er in „You can’t go home again“ derart viel Stoff aufgehäuft hat, soll der letzte „Credo“ betitelte Abschnitt die Essenz des Ganzen enthalten. (Bezeichnenderweise bilden diese gut zwei Seiten, die doch eine Art Testament sein wollen, formal nur den Schluss des Scheidungsbriefes, den Webber seinem Lektor schickt, um den Verlag zu wechseln – wie Wolfe es um diese Zeit selbst getan hat.) Er enthält eine bestenfalls blasse, wenn nicht verblasene Vision. Das schlechte Alte soll man fahren lassen, und: „Ich glaube, dass wir hier in Amerika verloren sind, aber ich glaube auch, dass wir eines Tages neu entdeckt werden …“ Dann tritt er in die Fußstapfen Walt Whitmans ( „… mächtiges unsterbliches Land … wahre Entdeckung unserer Demokratie …“), mischt etwas Antikapitalismus hinein und schließt im moralisierendem Ton evangelikaler Prediger. Auch dieser Schluss türmt nur Material auf, jetzt ideologisches, bleibt unfähig zur Synthese.
Die Briefe Wolfes lassen die ganze Tragödie eines hochbegabten Autors erkennen, der noch mehr erreichen wollte, als ihm vergönnt war. Wolfe denkt häufig an Tolstoj oder an Goethes „Wilhelm Meister“, will selbst etwas in dieser Richtung schreiben. Er entwirft immer neue riesenhafte Romankonzeptionen, an denen er sich berauscht, und überarbeitet sich beim Schreiben permanent, bleibt unzufrieden, stürzt sich in noch mehr Arbeit. Sein Tod war so gesehen kein unglücklicher Zufall, eher ein unvermeidlicher Zusammenbruch. Sein Fragment gebliebenes Gesamtwerk, ein monumentaler Torso, ist im Grunde nur ein einziger langer zusammenhängender Text – man spricht von 4000 Buchseiten -, eine gewaltige Schutthalde autobiographischen Materials in unterschiedlichem Zustand der Bearbeitung, wie ein frühzeitig zum Erliegen gekommener Turmbau zu Babel.
Am Fall Thomas Wolfe lassen sich Chancen, Bedingungen und Grenzen des autobiographischen Verfahrens gut erkennen. Was wie ein Brennglas fürs Detail gut dienen kann, versagt bei der großen Welterklärung.
(Aus den Briefen wurde zitiert nach den Übersetzungen von Ina Seidel bzw. Susanna Rademacher, die auch „You can’t go home“ übertragen hat.)
Warum ein Buch rezensieren, das seit Jahrzehnten kaum noch gelesen wird, einen Roman von 1200 Seiten, der seit langem keine Neuauflage mehr erfahren hat und den der Rezensent als Ganzes sowohl wie in den meisten seiner Teile für misslungen hält? Darum: Selten befinden sich zwischen zwei Buchdeckeln so viele negative Details in so enger Nachbarschaft mit fast ebenso zahlreichen positiven Aspekten. Die Lektüre des Romans kann sich daher als Schule des Differenzierungsvermögens erweisen. Dann weil Wolfe als Person auch ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod noch immer Empathie zu wecken vermag. Der Frühverstorbene blieb eine Art Poverello der Literaturgeschichte, mit großen Anlagen, großen Leistungen, noch größeren Defiziten, ein Objekt für witzige, dabei zugleich ihn insgeheim bewundernde Verspottung. Noch immer wird von Kritikern anlässlich einer Neuübersetzung („Schau heimwärts, Engel!“) oder erstmaligem posthumem Erscheinen („Die Party bei den Jacks“) gern die Frage erörtert, unter welchen Bedingungen Wolfe noch einer der größten Autoren Amerikas hätte werden können … Schließlich aus Interesse für die Romanfiguren und ihre realen Vorbilder. Wolfe schuf nach Modellen eine amerikanische Comédie humaine der Zwischenkriegszeit, der das vom Autor beabsichtigte Überzeitliche fast ganz abgeht, die dafür jedoch von eminentem kulturhistorischem Interesse ist.
„Von Zeit und Strom“ ist die unmittelbare Fortsetzung von Wolfes erstem und so erfolgreichem Roman „Schau heimwärts, Engel!“ Thomas Wolfe ist wieder Eugene Gant und die Identität wird dem Leser bereits auf Seite 32 dadurch versichert, dass beide am gleichen Tag geboren sind: 3. Oktober 1900. Dies geschieht auf dem Bahnhof von Altamont (= Asheville, North Carolina). Eugene wird nach Harvard fahren. Um ihn zu verabschieden, hat sich ein Teil der Familie eingefunden. Bekannte Gesichter, die gemischte Gefühle im Leser auslösen - er hat sie früher plastischer beschrieben gefunden. Dann die lange Eisenbahnfahrt nach Nordosten, viel zu ausführlich der Blick aus dem Zugfenster wie die Beteuerung des Lebenshungers des Zwanzigjährigen. Die Mitreisenden sind aus der Heimatstadt und vertreten die dortige Gesellschaft: Politik, Wirtschaft, Presse. Die sie charakterisierenden Gespräche erreichen erst dann das Niveau des Vorgängerromans, als auf zwei von Eugenes Brüdern die Rede kommt. Eugene unterbricht die Reise in Baltimore, um seinen todkranken Vater zu sehen. Dieser Abschnitt könnte für sich bestehen, ginge er nicht unter in Massen mediokrer Beschreibung vorher und nachher.
Eugene und Boston … Das ist eine weitere Durststrecke für den Leser. Er erfährt wohl viele Details über das Studentenleben und das Leben in Neuengland damals überhaupt. Doch werden sie ihm zum Teil durch Wolfes krass satirische Darstellung ganzer Gruppen von Personen verleidet. Ob die Studenten in Professor Hatchers Literaturkurs oder die Iren, bei denen Eugene wohnt, oder die kleinbürgerliche Simpson-Familie, mit der er privat verkehrt – stets werden aus den Mitgliedern einer solchen Gruppe Karikaturen, die nach demselben Muster gefertigt sind: lächerliche Puppen, die er enttäuscht hinter sich lässt. Es drängt sich der fatale Eindruck auf, Wolfe habe sich mit dem Roman eigenen Frust von der Seele geschrieben. Einen Ausgleich soll wohl der phantastische Onkel Bascom bieten, bleibt aber trotz überbordender Details ein wirres Phantom ohne Bezug zur übrigen Romanwelt.
Eugene muss heim, als sein Vater stirbt. Dessen Exitus im Familienkreis ist ein schwächerer Aufguss von Bens Tod in „Schau heimwärts, Engel!“ Dann bleibt der Held längere Zeit in Altamont. Wir lesen uns durch triviales Familienleben und ein banales Abenteuer, bis Eugene endlich nach New York übersiedeln kann. Die nachvollziehbare Ambivalenz des provinziellen Südstaatlers gegenüber der Weltmetropole Nr. 1 nimmt viel Raum ein. Die starken Eindrücke erscheinen kaum verarbeitet, eher zu übertriebener Fundamentalkritik geronnen. Dabei gewinnt man nebenbei lohnende Einblicke, z.B. in ein Hotel für Dauergäste oder ein College für die ehrgeizigen Kinder der armen Eastside. Wolfe behandelt alle Darzustellenden nach dem Bostoner Muster. Obwohl er scharf beobachtet und genau hinhört, entstehen wieder nur Gruppenbilder voller Verachtung. Der Autor war selbst jahrelang Dozent an jenem Institut gewesen, dessen Studenten er uns jetzt mit mehr als nur einem Hauch von Antisemitismus - und Rassismus allgemein - vorführt. Er versucht es mit der Figur des jungen Juden Abe gutzumachen, doch auch diese positiv gemeinte Gestalt bleibt durch die Brille des Vorurteils gesehen.
Unser Held darf auch die Superreichen Amerikas kennenlernen. Wir begleiten ihn auf einem Wochenendausflug zu ihren Landsitzen im Hudsontal. Die Darstellung bleibt unentschieden zwischen Bewunderung und Verachtung, gibt statt einer Analyse dieser Welt eine Reflektion ambivalenter Gefühle in Eugene selbst.
Und dann Europa: England und Frankreich 1924/25. London spielt kaum eine Rolle. In Oxford, dessen Atmosphäre an sich gut getroffen ist, verfährt Wolfe wieder nach dem Bostoner Bausch-und-Bogen-Muster, etwa wenn er eine Gruppe amerikanischer Studenten darstellt. In Paris überfallen Eugene, wie schon in New York, Einsamkeit und Weltschmerz. Es folgen zwei längere Passagen, die den Leser mit ihrer zweifellos hohen Qualität überraschen. Zuerst fügt er ein - wohl redigiertes - Tagebuch aus jenen Monaten in Paris ein. Es zeichnet gerade das aus, was dem Roman sonst meist abgeht: die Verbindung von Kraft und Authentizität mit dem Blick fürs Wesentliche. Unmittelbar anschließend dann der Höhepunkt des Buches, die 150 Seiten lange Starwick-Episode. (Für Francis Starwick diente Wolfe der relativ erfolglose Dramatiker Kenneth Raisbeck als Modell, den er von Harvard kannte und dem er in Paris wieder begegnet war. Wolfe spielt im Roman auf dessen Ermordung 1931 an.) Das ist eine Novelle für sich, mit pikanter Konstellation: Für den Ästheten Starwick hatte eine Frau aus der Bostoner Oberschicht, Elinor, Mann und Kind verlassen und zu ihrer Gesellschaft die junge Ann, der gleichen Schicht zugehörig, mitgenommen. In Paris schließt sich Eugene ihnen an. Elinor ist die Anführerin der kleinen Truppe bei ihren Nächten zwischen Montmartre und Montparnasse. Beide Frauen vergöttern Starwick, der seinerseits nur hinter Männern her ist. Als Eugene sich für Ann erwärmt, diese aber immer noch Starwick den Vorzug gibt, eskaliert die Situation – die, wie fast alles bei Wolfe, einem real stattgefundenen Ablauf folgt. Hier erreicht er eine Dichte und Glaubwürdigkeit der Darstellung wie sonst nur bei den Familienszenen im Erstling.
Eugene reist in die Provinz, nimmt wider Willen die Rolle des Pseudografen in Kellers „Kleider machen Leute“ ein, er als falscher New York Times-Korrespondent, mit echter Gräfin und echter Marquise. Das könnte Stoff für ein Stück von Labiche sein, es ist amüsant, gut geschrieben, doch bleibt der innere Zusammenhang mit dem Roman fraglich. Marseille und Dijon sind weitere, wenig ergiebige Stationen. Wolfe versucht sich noch à la Proust, doch kaum überzeugend, in Theorien über die Zeit an sich und wird Europas endlich überdrüssig. Bei der Einschiffung der Passagiere gewahrt er wie ein magisches Bild die Gestalt seiner künftigen großen Liebe – Esther. Jetzt also zum Schluss noch ein Deus ex Machina, und der Leser klappt auf Seite 1197 das Buch zu: ein Monstrum von Roman! Er soll einem Programm folgen, das etwas so lautet: Begründung eines modernen Mythos à la Faust und seine Ausgestaltung in Form des Reifeprozesses eines jungen umherwandernden Amerikaners. Doch tatsächlich ist das Buch ein Dokument des Zufälligen, Unzusammenhängenden geworden.
Nachbemerkung: Inzwischen liegt eine Neuübertragung ins Deutsche vor. Titel: "Von Zeit und Fluss", Übersetzerin: Irma Wehrli. Das Buch wurde von der deutschsprachigen Kritik enthusiastisch gefeiert - ganz so als gäbe es nicht seit Jahrzehnten in den USA selbst eine überwiegend negative Einschätzung von Wolfes Gesamtwerk.
In Wolfes erstem Roman „Schau heimwärts, Engel!“ kommen Schwarze häufig vor. Aber wie treten sie auf? Es erinnert ein wenig an Richard Wagners „Rheingold“, genauer an Nibelheim, wo die Nibelungen unter Alberichs Knute in feucht-warmer, schmuddlig-schwefliger Tiefe schuften. Bei Wolfe ist Eugene Gant ein moderner Loge, der in die unerfreulichen Gründe vordringt, indirekt auch um des Goldes willen, denn als flinker Zeitungsjunge will er dort Kohle machen. Die soziale Situation der schwarzen Bevölkerung ist für den Helden kein wichtiges Thema, umso ausführlicher beschäftigt er sich immer wieder mit dem sinnlich Wahrnehmbaren in den Ghettos. „ May Corpening … reckte ihre kupferfarbenen Beine in der fötiden Bettwärme …“ ist nur eine von vielen ähnlichen Stellen. In summa: Da unten stinkt es und die Geräusche hören sich nach Urwald an. Die Viertel der Schwarzen gehören untrennbar zum Bild dieses aufstrebenden Altamont, aber die Schwarzen selbst sind nicht Teil der amerikanischen Zivilisation. Der junge Wolfe ist noch ganz der herrschenden weißen Südstaatenmentalität verhaftet, Apartheid ist etwas Selbstverständliches. Später wird er seiner Mutter in einem Brief zwar vorhalten, die „Southerners“ verweigerten den Schwarzen das Wahlrecht, doch er schreibt ihr auch mit Befriedigung über eines seiner Stücke: „ … ich schonte Boston mit seinen Sentimentalitäten für die Neger nicht mehr als den Süden …“
Nach dem Studium will er Lehrer an einem New Yorker College werden. Es wird vor allem von den Söhnen und Töchtern armer Leute von der Eastside besucht. Wolfe schreibt dazu seiner früheren Lehrerin Margaret Roberts in einem Brief vom 10.2.1924: „Außerdem stammen die Studenten – hauptsächlich Juden und Italiener – aus dem Osten New Yorks und müssen ihre Ausbildung zum Teil mit erheblichen Opfern bezahlen. Also keineswegs der übliche Studententyp. Ich hoffe, mit ihnen in Fühlung zu kommen und in diesen sieben Monaten Material zu sammeln, das für mich von unschätzbarem Wert sein kann.“ Seine wahre Einstellung verrät indessen eine Stelle in seinem Brief an die Mutter vom 31.8.1923: „Gleichwohl lassen wir jährlich Hunderttausende von minderwertigen Menschen lateinischer Rassen, körperlich unentwickelt, geistig verkümmert, ins Land. Von ihnen werden die Amerikaner von morgen abstammen … Es ist unmöglich, sie anzusehen, ohne dass einem der Mut sinkt. Wie kann hieraus Gutes kommen? Ich bin kein Pessimist, aber warum den Tatsachen aus dem Weg gehen! Wir wimmeln wie wahre Ameisen …“
Das Material, das Wolfe am College gesammelt hat, breitet er in seinem zweiten Roman „Von Zeit und Strom“, 1935 erschienen, dann aus. Das ist vielleicht das Erschreckendste in seinem umfangreichen Werk. Eugene Gant als Dozent ist von tiefer Abneigung gegen seine Schüler erfüllt, eine Antipathie, die vor allem körperlich und beinahe instinktiv ist. Das Zitieren fällt nicht leicht. Eugenes Hölle sieht so aus: „ … die gellenden, hässlichen Korridore der Universität, wo man mit Leib und Seele ertrank in den schwärmenden, schweifenden, keifenden Fluten bernsteindunklen Judenfleischs, von dort in das Klassenzimmer, das mit den Korridoren verglichen ein Sanktuarium war, weil sich in ihm nur eine kleinere Horde aufhielt, dreißig oder vierzig lachende, schreiende, kreischende Juden und Jüdinnen im dicken Dunst ihrer heißen, schwärzlichen Körpergerüche, ihrem starken Weibergeruch von Brunst, Schoß, Achselhöhle und billigem Parfüm, ihrem harten Männergeruch, der ranzig, schal und sauer war …“ Als der Unterricht selbst dargestellt wird, findet sich ausführlich das antisemitische Stereotyp der „Judenschule“: lautes, unwissendes, bildungsfeindliches Durcheinanderschwatzen.
Fünfzig Seiten weiter kommt es noch dicker. Nach der Unterrichtsstunde fühlt Eugen sich völlig ausgelaugt und hat eine Vision. Darin identifiziert er sich mit einem von ihm im Bostoner Hafen gefangenen Fisch, der von einem „Tiefseeschmarotzer“ befallen war. Das „Scheusal“ saugt dem Fisch das Hirn aus und führt einen grässlichen Todeskampf herbei, von Wolfe kunstvoll und sehr abstoßend beschrieben. Dann synchronisiert er das Monster mit den realen, körperlich anwesenden Schülern: „Ihr dunkles Fleisch war wie eine Prallwoge, die nicht nur niederschmettert und hereinbricht, sondern auch beim Zurückrollen mit mächtiger Saugkraft die Schätze der Erde mit fortzieht. Diese Menschen hatten die Absorptionsfähigkeit des Schwamms …“ Das ist nichts anderes als die stark literarisierte Version des antisemitischen Bildes vom Juden als Schmarotzer und Blutsauger!
Man wende nicht ein, das Erleben des Romanhelden dürfe nicht mit dem des Autors verwechselt oder gleichgesetzt werden. Eugene Gants Geschichte ist die von Thomas Wolfe. Nur wenige autobiographische Romanhelden sind ihrem Verfasser derart nah. Hier sind es siamesische Zwillinge. Wolfe hat es schon dadurch bezeugt, dass er Eugene sein eigenes Geburtsdatum gegeben hat.
Wolfe hat nicht naiv geschrieben, er war sich der zu erwartenden Einwände bewusst. Er wollte ihnen vorbeugen, sie abschwächen. So findet sich unmittelbar nach der Schilderung der „Judenschule“ die gelungen boshafte der Belegschaft des Hotels „Leopold“. Hier residiert auch eine Mrs. Buckles, die nicht mehr nach St. Petersburg, Florida will: „Ich will Ihnen sagen, was es ist. Die Juden sind es. Sie drängen sich überall herein … Als ich vergangenen Winter dort runterkam, war der ganze Ort von Juden überlaufen. Sie hatten den Ort ruiniert …“ Nun ist diese Mrs. Buckles eine durchaus unsympathisch gezeichnete Gestalt, und damit erfüllt sie eine doppelte Mission: Sie nimmt Eugenes antisemitisches Ressentiment auf, wie ein Echo, und lenkt zugleich die Spitze möglicher Anklage vom Autor weg.
Auch die Figur des jüdischen Schülers Abe Jones, mit dem Eugene sich anfreundet, hat eine ähnlich entlastende Funktion. Wolfe kann damit nachweisen, dass er kein Antisemit ist, und zugleich Abe im Detail mit zahlreichen angeblich typisch jüdischen Eigenheiten ausstatten, z.B. einem Wolfe selbst durchaus verhassten Intellektualismus. Abe muss sogar zum Beweis dafür herhalten, wie übel Eugene im Moloch New York dran ist: ausgerechnet ein Jude wird „in all der Verlassenheit der millionenfüßigen Metropole … Eugenes treuer Freund.“ Abes Familie weist im Verlauf der Erzählung auch positive Züge auf. Soll das heißen, dass der Judenhasser Eugene zu klügerer Einsicht gekommen ist? Das Wenige in dieser Art kann nicht einmal ein Gleichgewicht herstellen. Mag sein, dass es nur aus Rücksicht auf die öffentliche Wirkung hinzugefügt wurde. Als das Buch 1935 erschien, hatte die Judenverfolgung in Nazideutschland bereits begonnen, viele Emigranten waren schon in den USA. Andererseits war jenes Deutschland Wolfes wichtigster ausländischer Buchabsatzmarkt. Er war zeitweise in Deutschland mehr anerkannt als in Amerika. Die Fassung des Romans, schwankend zwischen offenem Antisemitismus und der Darstellung einzelner „guter“ Juden, spricht für einen bewussten Spagat. Interessant ist hierzu auch ein Hinweis des Wolfe-Biographen David Herbert Donald. Danach hat Wolfe Teile des entstehenden Romanmanuskripts dem Urbild von Abe Jones zur Maschinenabschrift überlassen, die antisemitischen Passagen jedoch vorher aussortiert.
Diskreter als der Antisemitismus äußert sich die Abneigung gegen die lateinischen Völker. Gleichwohl finden sich in „Von Zeit und Strom“ zahlreiche Belege dafür. Sobald Eugene französischen Boden betritt, taucht der Begriff Rasse häufig auf, fast immer im negativen Kontext. Es sind die „fremden, dunklen Franzosengesichter“, die ihn wiederholt schaudern lassen. „Dunkel“ ist jetzt wieder ein oft verwendetes Adjektiv, zumal im Zusammenhang mit Haut und Antlitz von Menschen. Man ahnt das Sehnsuchtsbild dahinter, es ist der nordische Typ. (Tatsächlich hat sich Wolfe nur wenig im mediterranen Frankreich aufgehalten, ausgesprochen brünette Typen dürften bei seinen Begegnungen in der Minderheit gewesen sein.) Das Vorurteil erstreckt sich auch aufs Kulturelle: „Langeweile ist die Bettgenossin der lateinischen Völker … Die neo-lateinischen Völker sind düster und leidenschaftlich …“ Aber auch, dazu etwas im Widerspruch: „ … diese schauderhafte, nervöse Kleinlichkeit der Franzosen …“ Und wenn ihm in der Provinz ein Franzose mal imponiert, umgibt er ihn, wie zur Kompensation, gleich mit einer Blut-und-Boden-Gloriole: „ … das glänzende und unzerstörbare Gewebe der französischen Art und der französischen Seinskraft … von seinen Ursprüngen an in den üppigen, blutvollen Energien … das ganze Lebensgewebe aus Erde und Blut …“
Wir erleben zzt. eine kleine Wolfe-Renaissance, angeschoben von Verlagen und Übersetzern. Es soll auch einen Kinofilm über ihn geben. In den Rezensionen wird regelmäßig darauf hingewiesen, wie Wolfe sich nach seinem letzten Deutschlandbesuch vom Naziregime distanziert habe. Man hört geradezu das erleichterte Aufatmen: Da hat einer noch mal die Kurve gekriegt. Denn er war doch unser … Wirklich? Richtig ist, dass Wolfe Sympathien für F.D. Roosevelt und den New Deal gehabt hat. Und dass ihn die Praxis der Diktatur in Deutschland abgestoßen hat. Er hat gegen Ende seines weiteren Romans „Es führt kein Weg zurück“ eindrucksvoll dargestellt, wie ein Jude auf der Flucht von deutschen Polizisten aus dem Zug geholt wird. Aber reicht das, um über all das andere hinwegsehen zu dürfen? Man präsentiert uns jetzt, in der heutigen Weltfinanzkrise, Wolfe gern als einen Autor, der ab 1930 die Auswüchse des Kapitalismus angeprangert hat – gut und schön. Aber Wolfes Werk war in Teilen auch irrational, rassistisch und antisemitisch. Das muss im Blickfeld bleiben.
(Zitate nach den Übersetzungen von Hans Schiebelhuth, Ina Seidel und Susanna Rademacher)
Nachtrag: Anlässlich der Neuübertragung von Wolfes zweitem Roman (jetzt "Von Zeit und Fluss") spielt für die überwältigend positive deutschsprachige Kritik das Thema Rassismus so gut wie keine Rolle. Die Schweizer NZZ quält sich immerhin folgende intellektuell gedrechselte Verharmlosung ab: "Ein kurzes Kapitel über den Konflikt des Protagonisten mit einem jüdischen Studenten gehört zu einer Reihe von Passagen, in denen Wolfe eine Gratwanderung riskiert zwischen grotesker literarischer Zuspitzung einer existenziellen Erfahrung und der archetypisierenden Überhöhung diskriminierender Stereoype." (Renate Wiggershaus am 9.1.15 in NZZ)
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2015
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