Vor Monaten bekam ich von einem mir Unbekannten als Anhang zu einer E-Mail die folgenden Aufzeichnungen. Der Absender benutzte eine nichtssagende Buchstaben- und Ziffernkombination - ich weiß nicht, wer sich dahinter verbergen könnte. Der Unbekannte bot mir an, den Text für eine Geschichte zu verwenden. Ich sah hinein, las mich fest – es war das Tagebuch einer Fickreise in den Siebzigern, nach Stonewall und vor Aids, irgendwann dazwischen. Mir schien bald, dem Ablauf dort sei nichts mehr hinzuzufügen und ich dürfe auch nichts Wesentliches weglassen. Die Zeitumstände waren wie abfotografiert, und ihre innere Verarbeitung durch den Reisenden wollte ich weder beurteilen noch verfälschen. Ich veröffentliche das Dokument allerdings stark redigiert, so sehr, dass der Text auch als mein Werk gelten kann. Nur noch das: Der Unbekannte will schon alle Namen geändert haben. Um sicher zu gehen, habe ich das noch einmal getan und hoffe, nicht durch Zufall einmal an den wahren Namen geraten zu sein …
Gestern bin ich von New York kommend wieder in Berlin eingetroffen. Ich hatte mich drüben als sehr europäisch empfunden und an vielem Anstoß genommen. Ich hatte mich keineswegs immer wohl gefühlt und das Land oft verwünscht. Nun aber empfinde ich Deutschland in seiner Wohlgeordnetheit als langweilig, Berlin kommt mir kleinstädtisch und das Leben hier allzu besinnlich vor. Ich hatte mich doch an die Amerikaner und das Chaos New Yorks gewöhnt, seine Hypertrophie, seine Vitalität … Ich vermisse nun Amerika. Es geht mir wie in vielem: Ich bin gespalten. Ein Teil von mir gehört auf diesen Kontinent mit seiner Kultur, seinen Menschen, seinem sozialen Verantwortungsbewusstsein. Der andere Teil gehört in jenes Amerika, wo alles so groß ist, geschäftsmäßig und kalt.
Es ist unmöglich, mehr als eine Skizze zu liefern. Es war die ereignisreichste Zeit für mich bisher überhaupt. Das Material ist nicht wirklich zu bewältigen. Ich sage mir, eine vernünftige Stoffsammlung ist besser als ein misslungenes Elaborat. Deshalb die Reise zum Teil nur in Stichworten.
2. Mai: Mittags mit Thomas zum Flughafen gefahren. Auf Rhein-Main dann die anderen - große Begrüßung. Von Orpheus die übliche Umarmung mit Wangenkuss. Stundenlanges Warten nach dem Check-in. Abflug zwischen drei und halb vier. Wir hatten gute Plätze vorn im Jumbo, und der Flug war kurzweiliger als ich dachte. Einige betranken sich, Thomas diesmal nicht. Das schien mir ein gutes Vorzeichen.
Von Nordamerika sah ich als Erstes Neufundland unter mir, mit noch viel Eis. Wir landeten am frühen Abend in New York. Spätes, kaltes Frühjahr und lange Wartezeit bei der Passkontrolle. Wir wurden vom Cycle-Club abgeholt und in Privatwagen nach Manhattan gebracht: Fahrt über die Expressways, durch den Queens-Midtown-Tunnel zum Theater-District. Zunächst war ich nur benommen - alles so laut und schmutzig, auch die Luft. Der Verkehr sehr dicht, doch reibungslos funktionierend, wie ein einziger gut geölter Automat mit abertausend Rädchen. Das Hotel lag nahe am Times Square, mehr als tausend Zimmer, gut ausgestattet, nur etwas abgewetzt. Da war jede Freiheit möglich, ein ideales Hotel für uns Sextouristen.
Abends fuhren uns Männer vom Club zum Eagle’s Nest, der Mutterkirche aller Lederbars. Ein Edelschuppen, groß und raffiniert. Das Publikum: jung, attraktiv und blasiert. Ich brauchte zwei, drei Tage, bis ich mich der Blasiertheit angepasst hatte. Viele scheinen nur eine bestimmte Art von Sex suchen, wie Sex-Automaten: Fist fucking (nur aktiv / nur passiv), nur M, nur S. Die Hälfte der Boys trägt äußere Kennzeichen, die genau die gewünschte Art von Sex bezeichnen (Schlüssel, Tücher, Ketten). Faustficken ist überhaupt stark verbreitet, leider. Ich sprach nacheinander mit drei hübschen Männern, darunter ein reizender kleiner Texaner. Alles sprach dafür, dass sie sexuell an mir interessiert waren, ihre Blicke, die Körpersprache ... Ich verstand nicht, warum sie nach zehn Minuten das Gespräch mit leeren Floskeln beendeten. Amerika, das Land der Redensarten: „See you later … Take it easy … Have a good time in … Enjoy it …“ Oberflächliche Freundlichkeit, die nichts bedeutet.
Auf der Reise habe ich mehr als hundert Männer flüchtig kennengelernt. Bei den meisten blieb mir das Seelische verborgen. Als ob das Gefühlsleben weitgehend abgeschafft wäre, durch gesellschaftliches Wohlverhalten ersetzt. Streng beachtetet wird ihr Ehrenkodex – was sich in welcher Situation gehört. Die Kontaktaufnahme folgt fast immer demselben Muster. Rasch aufeinander zugehen – vorher kaum Werben umeinander -, den Namen nennen, äußere Daten erfragen und nennen: Herkunft, Beruf (manchmal sogar das Gehalt!), Dauer und Art der Reise, mit wem, mit einem Lover? Alle wollen unbedingt hören, dass es dir sehr gut gefällt in Amerika. Worüber nicht gesprochen wird: Politik. Auch das persönliche Alter ist tabu. Eine Kontaktaufnahme bedeutet wenig. Sie ist unkomplizierter und viel häufiger als in Europa. Genormt, unpersönlich, deshalb kein Wagnis. – Die Nr. 4 am ersten Abend war anders: Frank, ein Sozialarbeiter aus Philadelphia. Kein Leder. Tolerant, liberal, katholisch, religiös, wirklich freundlich, dennoch amerikanisch in seiner Spontaneität. Ich wollte ihn nachts nicht aufs Doppelzimmer mitnehmen. Er versprach, am andern Tag mittags im Hotel zu sein.
3. Mai: Früh mit Thomas und Willi über den Times Square und zur 42. Straße. Wir frühstückten bei Howard Johnson’s. Dann ging ich allein durch die Midtown: Fifth Avenue, Park Avenue, Grand Central – repräsentativ und kalt. Die 42. mit ihrem Menschengewimmel war mir lieber. Frank kam pünktlich. Er wurde mein Führer durchs Village. Das ist der sympathischste Teil von New York. Wir lunchten im One Potato, dann zeigte er mir den berühmten Pier am Hudsonufer von weitem. Am Spätnachmittag waren wir auf meinem Hotelzimmer zusammen; war schön. Ich brachte ihn nachher zur Penn Station, und er bat mich, ihn in Philadelphia anzurufen. Er war aber nicht zu Hause, als ich dort war. – Abends im Eagle's Nest und im Spike. Keine besonderen Erinnerungen.
4. Mai: Zum Sonntagsbrunch im Eagle's Nest. Anschließend einen Jungen kennengelernt, der ganz in der Nähe wohnte und mich mitnahm - sympathisch. Von ihm zu Fuß ins Ramrod. Mit Orpheus im Choo-Choo und bei Kellers. Viele maskuline Typen, zu viele gut aussehende Männer. Es war irritierend. Abends wieder im Eagle.
5. Mai: Streifzug durch Süd-Manhattan. Battery Park, Financial District, Chinatown, Bowery. Abends einen großen, hübschen Lederboy im Eagle's Nest kennengelernt. Er nahm mich mit nach Queens. Zwar trug er seine Schlüssel rechts und redete in der Bar viel über SM, war aber recht harmlos.
6. Mai: Zum ersten Mal in der Tinderbox, einem speziellen Klamottenladen. Ein Jeanshemd gekauft. Nachmittags mit der Gruppe die Schiffstour Rund um Manhattan gemacht. Kühl, gute Sicht, sehr lohnend. Was mich am meisten beeindruckte: das massige Hauptquartier der Zeugen Jehovas in Brooklyn, die Brücken über East River und Hudson, das imponierend hässliche Bronx-Ufer. Abends im Eagle's Nest. Keine Erinnerungen mehr. Ach ja, vorher Party für uns bei einem Millionär am Sutton Place. Langweilig.
7. Mai: Schon wieder in der Tinderbox und eine Lederjacke und einen mit Nieten bepflasterten Gürtel gekauft. Nachmittags das erste Mal im Old Warehouse am Pier 48 gewesen. Es steht schon lange leer, ist halb verfallen und tagsüber ein sehr guter Treffpunkt. Nachts könnte man da leicht in die Tiefe stürzen. Ich ließ mir von einem hübschen Jungen einen blasen. Darauf sind dort viele spezialisiert. Abends nicht weggegangen.
8. Mai: Mittags das Gepäck in eine Kirche in Yorkville gebracht. Orpheus wohnte bei dem Pfarrer und dessen Freund, einem Küchenhelfer. Am frühen Abend – bis dahin wieder im Village - ging unser Zug von der Penn Station nach Long Island. Um acht Ankunft in Amityville, die Spuds holten uns ab. Sie gaben gleich eine Party mit Essen im Haus des Präsidenten, der Holländer war. Alle waren liebenswürdig und persönlich, eine Atmosphäre fast wie in Europa. Später besuchten wir ihr Clublokal in Bellmore - viel angenehmer als die Bars in New York. Zwar lernte ich einen sympathischen Burschen kennen, ich war aber schon zum Schlafen woanders eingeteilt. Um drei Uhr nachts gab es noch eine Party, ich weiß nicht mehr wo, und wir Europäer so müde … Endlich Aufbruch nach Massapequa und Übernachtung mit Thomas, Hartmut, Horst und einigen Amerikanern in Jimmys Haus. Es gab Schwierigkeiten mit Jimmy, dem ich sexuell nichts abgewinnen konnte. Trotz der Zurückweisung blieb er gastfreundlich.
9. Mai: Wir wurden um die Mittagszeit nach Sayville gebracht. Von da mit der Fähre nach Fire Island, dem wirklichen Ziel unserer Gruppe. Cherry Grove ist ein Badeort nur für Homosexuelle. Das Hotel war primitiv, die Landschaft karg, aber reizvoll. Am Nachmittag bummelte ich durch die Dünenwälder und fand im Nu einen hübschen New Yorker, den ich ficken durfte. Ich sollte ihn auch anpissen – es klappte nicht, ich hatte zu wenig getrunken. Später Essen mit den Berlinern im Sea Shack, dann mit Orpheus an der Bar: Manöverkritik. In der Tanzhalle bekam ich den ersten Überblick: fast fünfhundert Männer, die am Treffen teilnahmen! Ich stieß auf Tom von den Spuds, den ich schon von Bellmore kannte. Er ist Ende dreißig, hat lange Haare, wirkt europäisch. Er ist Präsident einer Klebstofffirma. Ich fickte ihn auf seinem Zimmer, spielte den Sadisten. Er sagte aber nachher zu mir, meine Küsse hätten ihm am besten gefallen. Wir blieben lange zusammen und gingen noch zu einer Spätparty, dann jeder für sich schlafen.
10. Mai: Ich weiß nicht mehr, wie der Vormittag ablief. Am Nachmittag langer Strandspaziergang mit Tom, dem Präsidenten – kultivierter, sehr freundlicher Mensch. Er schien mich zu mögen und bot eine größere Wanderung für den nächsten Tag an. – Um fünf begann eine Party, veranstaltet von einer Bar aus Washington D.C. Es gab nur kalten Punsch, vermutlich mit einer Droge versetzt. Das Publikum war schnell enthemmt. Ich lernte zu Beginn einen kleinen Frankokanadier kennen: Patrick aus Montreal, dunkel, ein wenig zart und doch männlich, mit kurzem Militärhaarschnitt, einer braunen Motorradjacke und einer olivgrünen Fliegerhose, erst auf Fire Island gekauft, sagte er. Er trug einen Ehering und kam mir gleich untypisch vor. Er war von Beruf Bauingenieur und mit dem Motorrad von Montreal gekommen. Merkwürdige Mischung: mediterran starke Gefühlsempfindung unter einer amerikanisch glatten Oberfläche. Wir beide betranken uns am Punsch und ich verliebte mich in ihn. Tom sah von weitem, was geschah. Er muss dann bald abgereist sein, ich traf ihn nicht mehr.
Um sechs brachte ich Patrick auf mein Zimmer. Er schlief sofort ein – ich blieb wach, war aber stark betrunken. Später hatten wir Sex, zu wenig davon. Er sagte: „Suck, suck!“ – und verhinderte den Orgasmus bewusst. Immer wieder: „Easy! Take it easy. Easy, easy!“ Noch immer betrunken gingen wir gemeinsam zum Dinner und danach auf sein Zimmer. Jetzt hieß es: „Relaxe!“ Dabei hörten wir mit an, wie daneben einer aus Massapequa seinen Freund „verhörte“. Keine Schläge zu hören, aber anderntags sahen wir entstellende Wunden an dem, der Joe hieß.
Später die Cycle-Show. Zuerst viel Vereinsmeierei, dann erstklassige Parodien auf große Stars. Ich tanzte viel mit Patrick, bis wir um drei Uhr zu einer Spätparty gingen, total erschöpft. Wir landeten bei mir, schliefen zwei Stunden. Um sechs versuchte ich noch einmal, ihn zum Orgasmus zu bringen. Patrick erregte mich sehr, aber er kam nicht aus sich heraus. Das begriff ich nicht – er schien mich zu mögen, ging aber nie bis zum Letzten. Ich hatte den Eindruck, dass er selten mit Männern schläft.
11. Mai: Frühstück mit Patrick. Dann auf seinen Vorschlag Wanderung am Meer entlang nach Fire Island Pines, noch so ein spezieller Ort. Wir kehrten erst mittags zurück und lungerten später in Cherry Grove herum. Patrick versuchte jetzt, mich auf freundliche Art loszuwerden. Er hatte meinen Gefühlsaufwand festgestellt und wollte sich lösen, hatte nur Skrupel, es mit einer Redensart zu tun. Das war deutlich an ihm wahrzunehmen: dieser Widerspruch zwischen amerikanischer Konvention und individuellem Gefühl. Er wollte herzlos ficken wie alle, konnte es aber nicht. Ich liebte ihn immer stärker. Allein hätte ich zu einer Privatparty gehen können, für die er keine Einladung hatte. Er schlug zartfühlend einen Spaziergang vor, der zum Schluss an dem Partyhaus vorbeiführte. Ich ging nicht hinein und bot ihm vergeblich meine Karte an. Wir beschlossen, uns auf unseren Zimmern auszuruhen. Er bei der Trennung: „Hang on!“ Ich rätselte, was er wirklich meinte.
Abends sah ich ihn im Sea Shack wieder. Er hatte eine neue Bekanntschaft gemacht und ich konnte nicht mit ihm reden. Thomas war jetzt auch neu und heftig verliebt (Mike aus Philadelphia). Er weinte bei dessen Abreise – dabei würde er ihn bald wieder sehen - und fing wieder an zu trinken, zum ersten Mal seit seiner Entziehungskur. Sogar Orpheus weinte ein wenig. Die Stimmung der Europäer war allgemein gedrückt. Wir sagten uns, dieses seelenlose Ficken sei nichts für uns. Nach Stunden war Patrick einmal allein. Ich ging zu ihm, sprach einige Worte zu ihm. „I’m sorry, I like you – very much.“ Ging dann schnell weg, fest entschlossen, im Herbst nach Montreal zu fliegen. Todunglücklich vor dem Einschlafen.
12. Mai: Unsere Clique nahm die Fähre um 8.15 Uhr nach Sayville. Vorher schaute ich in Patricks Zimmer hinein. Aber er lag nicht in seinem Bett und ich sah ihn nicht mehr. Allgemein trübe Stimmung. Uralter Vorortzug. Umsteigen in Babylon, heiß in Manhattan. Es gab Probleme mit dem Gepäck in Yorkville. Wir sollten erst nach fünf wiederkommen. Der Pfarrer hatte Ärger mit seinem Bischof gehabt – Ledertypen in der Kirche unerwünscht! Dreißig Blocks nördlich vom Times Square schon tiefe amerikanische Provinz. Also erst mal mit der Subway nach Südmanhattan. Endlich wieder in der Christopher Street. Im Old Warehouse, im Ramrod, bei den sympathischen Puertoricanern, die ich auf Fire Island kennengelernt hatte, im Ty’s. Dann zurück nach Yorkville, das Gepäck heimlich herausholen. Wonach sich unsere Reisegruppe rasch auflöste. Mit Thomas allein in einer Taxe zur Penn Station und mit dem Metroliner nach Philadelphia. Sehr komfortabler Zug – aber verrotteter Unterbau. Gegen acht Uhr in Philadelphia. Schweres Gewitter bei unserer Ankunft. Mit der Taxe zu Mikes Wohnung in der Pine Street, nahe Downtown.
Mike führte uns abends in die 247 Bar (Hausnummer in der 17. Straße). Die Atmosphäre war nicht so kalt und hektisch wie in New York, genügend interessante Leute, recht aufgeschlossen und weniger kompliziert als in den anderen Städten. Ich wurde von einem Lehrer aus New Jersey abgeschleppt. Zunächst schien er sehr sympathisch. Im Wagen ging’s weit hinaus, durch die Slums von Camden zu seinem Landhaus in einem Gartenvorort. Zu Hause war er auf einmal anders: pedantisch und beinahe unfreundlich. Er sammelte alte Uhren, die alle tickten. Er weckte mich schon um halb sieben: „Is it to early for you? I have to work.“ Dabei hatte er arbeitsfrei. Er brachte mich im Wagen zurück.
13.Mai: Vormittags Stadtbummel mit Thomas. Es war schwül und relativ schmutzig. Hier und da standen kolossale Neubauten. Das Historische war für Europäer nicht sonderlich interessant. Man sah viele Arbeitslose in den Parks, meistens Schwarze. Mike führte uns in seiner Mittagspause zwei Stunden spazieren. Nachmittags ausgeruht und abends großes Essen bei Mike. Danach verschiedene Bars besucht. Ich war allein sehr spät noch in der 247 und lernte einen kennen, der Earl hieß und M-Typ war. Er nahm mich in den Cell Block mit und blies mir einen auf der Toilette. Da hörten wir plötzlich vom Tresen her: „Cops! Be careful!“ Passiert ist nichts.
14. Mai: Mittags wieder Spaziergang mit Mike, dabei Society Hill kennengelernt. Nachmittags mit Thomas Subway gefahren. Sie ist nur für die Ärmsten, das Schäbigste, das ich in Amerika gesehen habe. Abends mit Mike sehr gut und teuer essen gewesen. Danach Ledertreffen der Clubs von Philadelphia im Old Port. Alle wollten mit mir reden, viele mich mitnehmen. Sehr anstrengend, an einem Abend mit dreißig bis vierzig Leuten Englisch zu sprechen. Ich flüchtete in die 247, ging den Männern dort aber aus dem Weg.
15. Mai: Mittags auf dem Bahnhof an der 30. Straße Abschied von Mike und von Philadelphia. Mit dem Zug über Baltimore nach Washington. Ankunft am frühen Nachmittag auf der Union Station. Wir bekamen ein Hotelzimmer in der E-Street, in der Nähe des FBI. Gesamteindruck: Regierungsviertel und Parks sehr ansehnlich, übrige Stadt hässlich, trostlos, ein großes Farbigenghetto. Weiße werden als Minderheit behandelt, z.B. in den Restaurants. – Abends in die dortige Eagle Bar gegangen. Kein zweites Lokal gefiel mir so gut: sehr groß, rustikale Einrichtung (von früher übernommen), gutes Essen, kulturell ambitioniert, auch in der Woche sehr gut besucht, viel Publikum aus den Südstaaten (Georgia, Florida). Die Leute blieben uns gegenüber zurückhaltend. Ich kehrte mit Thomas zurück ins Hotel.
16. Mai: Thomas vermisste Mike und war schlechter Laune. Er ging nur mit bis zum Weißen Haus. Ich unternahm allein meinen großen Rundgang: Lincoln Memorial (hübscher Blick zum Kapitol und hinüber nach Virginia), Potomac (antikisierende Flusslandschaft), Jefferson Memorial, wieder Kapitol – dann Bummel durch das Geschäftsviertel, es kam mir vor wie Ludwigshafen. Es war sehr schwül in der Stadt, daher den Nachmittag im Hotel verbracht. Abends wieder im Eagle. Dort Jeff kennengelernt: groß, dunkel, hübsch. Lederfetischist und Sadist. Bei ihm zu Hause in Alexandria, Virginia, hatte ich Mühe, den Masochisten zu mimen. Jeff aber blieb freundlich – und nicht nur an der Oberfläche. Eine der angenehmsten Bekanntschaften in Amerika. Ich trank ihm zu Gefallen zum ersten Mal Urin und war nicht begeistert. Ich übernachtete bei ihm. Er brachte mich am Samstag zurück ins Hotel. Wir fuhren am späten Nachmittag zum National Airport und flogen nach Boston …
Hier brach der Bericht ab. Ich schickte der Buchstaben- und Zahlenkombination eine Mail und sie antwortete rasch:
Ja, Sie haben Recht, das war noch nicht alles. Ich konnte das Weitere damals nicht mehr so ausführlich schildern. Die Reise hatte mich verändert, mein Lebensrhythmus und meine Gewohnheiten waren anders geworden, amerikanischer. In Berlin ging es dann für mich weiter wie zuletzt in New York. Diese Details aus den Staaten verblassten dagegen schon. Welchen Sinn hätte es noch gehabt, sie weiter genau nachzuzeichnen? Nennen Sie es eine Bildungsreise, was ich hinter mir hatte. Sie müssen wissen, ich war damals noch sehr jung …
Wir waren noch drei Tage in Boston, wo ich außer einem Exilkubaner und dem Wirt des Shed niemand näher kennenlernte. Wir mussten in dem scheußlichen YMCA-Kasten wohnen, da alle Hotels voll waren. Der Kubaner wohnte drüben in Cambridge, er schimpfte auf die Amis, die er alle für unterbelichtet erklärte, und plante gerade, nach Australien umzuziehen. Dick vom Shed gab sich viel Mühe mit uns auf einer mehrstündigen Führung durch Boston, das von allen Städten der Ostküste am europäischsten wirkte.
An einem Dienstag fuhren wir mit dem Zug nach New York, eine große Strapaze. Beim Durchfahren der Bronx wurden wir mit schweren Steinen bombardiert. Wir wohnten wieder im selben Hotel, hatten jetzt getrennte Zimmer. Mein Verhältnis zu Thomas war nach der Reise ein anderes, wir haben uns nur noch selten gesehen. Die letzten Tage in Manhattan: Ich war nun recht abgebrüht. Es machte mir Spaß, mich in den anonymen Massen treiben zu lassen, mich selbst ganz unpersönlich zu fühlen – oder in der Subway zu flirten. Ich hatte noch zweimal Sex im alten Lagerhaus am Pier 48, angenehme, flüchtige Episoden, noch am Nachmittag vor dem Abflug. Am letzten Morgen sah ich beim Frühstück in dem jüdischen Delikatessenladen gegenüber den Texaner vom ersten Abend wieder, der ein Lunchpaket für eine Reise – vielleicht nach Kanada, wo ein Treffen bevorstand – abholte. Er blinzelte zu mir herüber, wirkte sehr geil – aber es war ja nichts weiter mit uns … Zwei Sandkörner in einer Düne - in derselben Düne und zur selben Zeit, immerhin.
„Du findest allein hinunter? Dann muss ich nicht mitkommen … Auf der Straße gehst du nach links, zwei Blocks geradeaus und da hast du die Hochbahn vor dir … Du brauchst nicht umzusteigen, bis zum Times Square nicht. Und keine Angst: Niemand wird dich ermorden … Jetzt kommt der Lift.“
Wohnungstür und Lift schlossen sich gleichzeitig. Was sollte er drücken? Die Aufschriften auf den Tasten waren verblasst, vom Schweiß der vielen Finger weggeätzt. Er drückte die unterste. Taste, dachte er, das ist gut. Bin ich a man of taste? Er summte noch: All the queens live in Queens … Nein, so war es nicht, war schon in Ordnung eben. Die Tür ging gerade auf.
Er stolperte beim Verlassen der Kabine, die sich schon wieder schloss und aufwärtsschwebte. Diesen kleinen Gang hatte er vorhin nicht passiert. Es sah nach Souterrain aus – Mist. Eine Tür mit Glasfüllung führte auf einen ummauerten Hof hinaus – verschlossen. Und dann kam der Lift eine Ewigkeit nicht wieder herunter. Es gab eine Treppe, doch er fand die Beleuchtung nicht. Jetzt ging die Lifttür endlich auf.
Er wurde vom Strahl einer Taschenlampe geblendet. Eine Samtstimme sagte: „Dreh dich um. Geh nach rechts … Drück die Klinke, geh hinein … Du willst nicht? Willst du sterben? Da, fühl, das ist Miss fünfundvierzig … Los!“ Er tat, was die Gestalt hinter ihm verlangte. Noch hatte er nichts von ihr gesehen.
Drinnen zwang ihn die Person, sich an die Kellerückwand zu stellen, die Arme hoch zu nehmen. Noch immer geblendet, die Waffe an seinem Brustkorb, begriff er: Jetzt ist es eingeschnappt. Er hing mit dem rechten Handgelenk fest. Es war noch dunkel, die Gestalt entfernte sich.
Minuten später kam sie zurück. Neonlicht flammte über ihm auf. Die Person – wer war sie? Er wollte sie betrachten, doch sie hielt ihm etwas vors Gesicht, etwas Blitzendes. Es war eine Rasierklinge, die sie vor seinem Gesicht spazieren führte, eine Wange kitzeln, seine Unterlippe ritzen ließ. Dann näherte sich die Klinge seinen Augen. Er hörte die Person mit der Samtstimme sagen: „Ich will mich noch an deiner Angst weiden …“
„Ja, die übliche Dosis. Machen Sie es bereit? Danke …“ Der im weißen Kittel befühlte jetzt seine Pyjamajacke. „Klatschnass. Ziehen Sie ihm das bitte nachher gleich aus … Ja, ich bin spät dran. Stau auf der Stadtautobahn, Rückstau ab Dreieck Funkturm nach Norden. Und was dann auf dem Kaiserdamm los war, können Sie sich denken … So, ganz ruhig, niemand will Sie ermorden. Berlin ist nicht New York … Was denn, was denn? Ruhig, ganz ruhig …“
21.30 Uhr
Bodo legt Respighi auf. In diese Musik will er jetzt eintauchen, gewissermaßen die Seele ein Bad nehmen lassen. Dazu trinkt er Tee der Sorte Assam Goldspitzen, sehr starken Tee, es ist schon die vierte Tasse. Die Klangmassen gleiten an ihm vorüber, gehen durch ihn hindurch, ohne eine andere Wirkung zu erzeugen als nur dieses starke, dabei unbestimmte Gefühl von Vorfreude. Schräg abgewinkelt liegt er auf dem Polster, die Teetasse in Reichweite der Hand, den Nacken ans Rückenpolster gelehnt. Der Blick umfasst die gelben Lilien in der Kristallvase, die penible Ordnung der Bücher- und Plattenregale. Draußen vor dem Fenster, jenseits des kleinen Vorgartens, gehen junge Leute die Straße hinunter, unterwegs zu jenen Vergnügungen, die die anbrechende Nacht für sie bereithält - für sie, nicht für ihn. Er hat noch viel Zeit. Dieses ruhige Warten auf die Zeit nach Mitternacht gehört zu seinem Freitagabendritual. Nach den letzten Klangkaskaden von Pini di Roma steht er auf, jetzt genügend euphorisiert durch Tee und Musik, und geht duschen.
22.55 Uhr
Soll er zu den Ledersachen ein weißes oder ein schwarzes T-Shirt anziehen? Jahrelang hat er ausschließlich weiße Leibchen getragen. In jüngster Zeit sind andere Farben hinzugekommen: T-Shirts in Blau und Schwarz, Hemden in düsteren Farben, rotkarierte Hemden. Er entscheidet sich für Schwarz, vielleicht infolge der Musik, die er zuletzt gehört hat. So nachlässig er im Büro herumläuft, so sorgfältig kleidet er sich jetzt an: nach dem T-Shirt die Lederjeans, die schwarzen Stiefel, der breite Gürtel, die maßgeschneiderte Jacke. Dann einige prüfende Blicke im Garderobenspiegel, letzter Blick zur Uhr – er kann langsam zur U-Bahn gehen. Die Straßen sind fast leer.
23.25 Uhr
Bodo steht in der U-Bahn und liest, das kleine gelbe Heft nahe vor den Augen. Es ist Nietzsches Zur Genealogie der Moral. Er muss bald aussteigen, hat von anderen Fahrgästen kaum etwas wahrgenommen. Vermutlich wird er ab und zu gemustert, vielleicht auch angestarrt. Er hat eben die Stelle gelesen, an der Nietzsche so spöttisch von den Lämmern und den Raubvögeln spricht. Wohl wahr, die Raubvögel zeigen sich meist unbeeindruckt von den Ressentiments der Lämmer und der daraus destillierten Moral. Und wozu zählt er sich selbst, zu den Lämmern oder den Raubvögeln? Ach, er ist mal Raubvogel, mal Lamm. Schon deshalb neigt er nicht zu Ressentiments - der häufige Rollenwechsel zerstört den Ansatz jeder Moral. Er kommt auf noch einen Gedanken: Was bedeutet es, wenn die verschiedenen Gattungen im eigenen Inneren aneinandergeraten, der Raubvogel sich auf das Lamm stürzt und dieses sich in Zuckungen windet? Das ist Selbstzerfleischung! Und wie steht es dabei mit Ressentiments und Moral? Deutlich als Attrappen erkennbar, werden sie vom eigenen Geist nachgebildet und im Prozess der Selbstzerfleischung mit zerstört, alles nur, damit dieser Vorgang lustvoller ablaufe. – Am Hauptbahnhof verlässt er die Bahn.
23.35 Uhr
Ein langer, schmaler Straßenzug, von Hotels und hohen Miethäusern eingefasst; die Fassaden historistisch. Unten billige Nuttenbars oder Säuferkneipen; auch schwule Läden, die er nie betreten hat, nie betreten wird. Reger Autoverkehr – es ist mühsam, sich an den Kreuzungen heil hinüberzubringen: alles Hurenböcke am Steuer, die nur auf die Straßendirnen achten. Die Regeln des speziellen Verkehrs haben die des allgemeinen außer Kraft gesetzt. Er erreicht den großen, baumbestandenen Platz. Ein segnender Bischof schaut gleichmütig oder gleichgültig herab, tagsüber auf sehr junge rauschgiftsüchtige Nutten im schwarzen Lederminirock und mit kurzen schwarzen Lederstiefeln, nachts auf orientalische Nachwuchsgangs. Bodo geht nicht mitten über den Platz, lieber überquert er die verkehrsreiche Straße zweimal zusätzlich.
23.50 Uhr
Noch ist die Bar ziemlich leer, in der Bodo die erste Hälfte einer Nacht wie dieser verbringt. Etwa zwei Dutzend Männer verteilen sich auf dem großen Rechteck des Saales. Die Bar hat die Ausmaße einer mittleren Disco, doch getanzt wird hier nur ausnahmsweise. Er macht seinen ersten Rundgang und lässt die Nebenräume, die über Treppen erreichbar sind, noch aus. Hier und da grüßt er, durch Kopfnicken oder mit einem Hallo, öfter tut er es nicht – wo käme man hin, wenn man alle grüßen müsste, mit denen man schon geschlafen hat! Freunde, mit denen er reden möchte, sind noch nicht da.
Von den für ihn Neuen reizt ihn nur einer. Er sitzt auf einem Hocker und ist nicht leicht zu beäugen: An seinem Platz herrscht fahles Zwielicht, das die Konturen auflöst. Er scheint Ende zwanzig und recht hübsch zu sein; ist in schwarzem Leder, trägt unter der Jacke ein rotkariertes Hemd; lässig lehnt er sich zurück und betrachtet die Vorübergehenden. Als Bodo zum zweiten Mal vorbeikommt, ändert der andere die Körperhaltung, vielleicht um auch Bodos Rückseite betrachten zu können. Der denkt, indem er weitergeht, hinten wären Augen sehr nützlich. Der Neue kommt ihm bekannt vor, er weiß nur nicht, ob es am Typ liegt, der ihn schon so oft gereizt hat, oder ob er den jungen Mann tatsächlich kennt. Nun, die Nacht ist noch lang.
0.50 Uhr
Inzwischen sind viele neue Gäste gekommen. Das Auf- und Abgehen ist nicht mehr so leicht. Der Raum hat sich mit Männern gefüllt, die allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen herumstehen, beobachten, miteinander reden. Bodo bezieht in der Nähe des Eingangs Posten, um besser sehen zu können, wer noch eintrifft. Da – zwei Gesichter, die er nie gesehen hat. Die beiden schieben sich leutselig durch die Menge, dahin wo sie am dichtesten ist. Von vielen werden sie unter Lachen begrüßt, und sie reden dann freundlich mit jedem ein paar Worte. Man spürt, sie reden und lächeln nicht, um angenehm aufzufallen, wie so viele im Lokal, sondern aus reinem Vergnügen. Sie fühlen sich einfach wohl.
Merkwürdig, wie viele die beiden hier schon kennen … Und nur für ihn sind sie noch Fremde? Bodo hat sich an ihren Anblick, ihre Ausstrahlung im Nu gewöhnt und will nicht mehr darauf verzichten - er folgt ihnen im Gedränge. Der Größere von beiden – er ist ziemlich lang – trägt eine Ledermütze. Der Schirm verdeckt jedoch nichts vom Gesicht, nicht die Augen, nicht die Stirn. Er sendet freie Blicke nach allen Richtungen und mustert Bodo ziemlich wohlwollend. Der Kleinere, mittelgroß, wirkt nicht ganz so unbefangen. Seine Lederhose hat weiße Längsstreifen an den Seiten, das steht ihm sehr gut. Was fällt Bodo noch an ihm auf: das schwarze T-Shirt mit dem weißen Adler auf der Brust. Dennoch zweifelt Bodo keinen Augenblick, wer von beiden das Lämmchen ist, wie es für ihn auch feststeht, dass sie ein Paar sind. Das wird noch deutlicher, als sie sich vorübergehend trennen. Der Mützenträger bleibt am Tresen, das Lämmchen schiebt sich durch die Menge. Ein unsichtbares und sehr elastisches Band hält die Verbindung zwischen ihnen aufrecht und trennt sie für den Beobachter von allen Übrigen. Sie müssen gut zusammenpassen, denkt Bodo. Und was einer in ihrer Beziehung nicht zu seiner Befriedigung findet, kann er woanders suchen. Vielleicht wenden sie sich dann gemeinsam Dritten zu? Bodo sehnt sich danach, dieser Dritte zu sein.
1.25 Uhr
Da kommt Johannes, ein verständiger Mensch. Bodo kann sich mit ihm auch über Nietzsche unterhalten. Und er hat noch einen Vorzug - er ist unfähig, in Bodo aggressive Gefühle zu wecken. Wer wie er gewöhnlich ambivalent reagiert, wird dann Erleichterung verspüren und sich dafür dankbar und anhänglich erweisen. Johannes sagt ihm, er habe Zarathustras Nachtlied auf seinem PC gespeichert. Sie tauschen ihre Meinungen über in der Nähe Stehende aus. Bodo will ihn fragen, ob er das erfreuliche Paar kennt, in dessen Bann er seit einer halben Stunde steht. Doch die beiden sind inzwischen verschwunden. Johannes, der später als gewöhnlich gekommen ist, fährt bald nach Hause.
Es ist schon ziemlich leer in der Bar. Ehe er das Lokal wechselt, will Bodo noch alle Winkel nach den Verschwundenen absuchen. Er beginnt mit dem Videoraum und hört mit den Toiletten auf, die, anders als zur Stoßzeit, jetzt verlassen daliegen. Nur ein dicklicher Junge begegnet ihm im Durchgang zur Damentoilette – die mangels Damen anderen Zwecken zugeführt ist. Damit hat Bodo durchaus nicht gerechnet: Der Junge fasst nach seinem Schwanz! Bodo drückt ihn sanft weg: jetzt nur nicht aggressiv werden. Da schlägt der Junge nach der Hand, die sich so sehr beherrscht hat. Und wie tückisch das Biest aussieht! Das Biest macht sich davon. Bodo rennt hinterher und erwischt ihn noch am oberen Ende der Treppe. Der Junge ist schon zwei Stufen hinuntergegangen, und Bodo kann ihm bequem mit dem Stiefel in den Hintern treten. Was ihm überhaupt einfalle! Dann fragt er sich, ob er dem Kleinen jetzt nicht erst recht einen Gefallen getan hat. In bestimmten Situationen ist jede Reaktion falsch, Nichtstun aber auch. Bodo verlässt die Bar rasch.
2.05 Uhr
Ein paar Ecken weiter ist die andere Bar, die Bodo aufsucht, wenn er nachts unterwegs ist. Es ist ein verwinkeltes Kellerlokal, es besteht schon seit fünfzehn Jahren. Im letzten Winter haben sie es umgebaut, seitdem ist alles anders geworden, neu und unübersichtlich. Um diese Zeit geht der Betrieb erst richtig los. Eine Zeitlang kann Bodo sich mit einem Psychologen über neue Kinofilme unterhalten.
2.50 Uhr
Das Publikum sagt ihm heute Nacht nicht zu. Das soll ein Lederlokal sein? Vor lauter Langeweile geht er in den Kontaktraum. Es ist nicht mehr so dunkel wie früher, und die Musik dröhnt nicht so laut wie vorn am Tresen. Da stehen sie herum und belauern einander. Es ist keiner darunter, der Bodo besonders reizen könnte. Dennoch bleibt er stehen und beobachtet, wer noch hereinkommt.
Da löst sich einer aus der Gruppe von Ölgötzen ihm gegenüber und tritt hinter ihn. Er ist nicht ganz nach Bodos Geschmack: etwas zu jung und zu schlank, allerdings ganz in Leder, und das ist für Bodo ein großer Reiz. Der Junge fängt an, mit zwei Fingern an der Mittelnaht von Bodos Hosenboden entlangzufahren. Dabei wirkt er versiert und weckt Bodos Vertrauen - Bodo ist im Nu stark erregt. Ja, er könnte sich wieder einmal ficken lassen, das vorige Mal ist schon ziemlich lange her. Dennoch, er fühlt sich überrumpelt, und vielleicht will er auch das Vorspiel noch eine Weile genießen. Und dann müssten sie über das Wohin reden und über einiges andere außerdem … Der Junge beginnt jetzt, ihm mit seinen Innenhandflächen die Backen zu massieren. Bodo fragt sich, ob er vielleicht mit der Faust gefickt werden soll. Davor hat er Angst und spielt weiter toter Mann. Nach einigen Minuten geht der andere weg. Bodo kehrt ins Helle zurück.
3.15 Uhr
Bodo steht nicht weit vom Eingang und sieht den jungen Mann mit dem rotkarierten Hemd hereinkommen. Seit drei Stunden hat er ihn nicht mehr gesehen. Erst jetzt, im hellen Licht hier, kann er ihn genau betrachten. Nein, er kennt ihn nicht, und er sieht noch viel besser als vermutet aus. Vollkommen verkörpert er diesen Typ, der den stärksten Reiz auf ihn ausübt - er ist der Prototyp. Das trifft schon für die Kopfform zu. Wie deutlich sich die starken Schädelknochen abzeichnen: ein Eindruck von Härte. Dabei ist die Form des Schädels im Ganzen eher rundlich und die Haut sehr glatt. Glätte und Härte, eine gewisse Perfektion, Verlockung und zugleich die Ahnung einer abschließenden und endgültigen Zurückweisung – es ist alles vorhanden. Das schwarze Haar ist sehr kurz, scharf gestutzt auch der Schnurrbart. Die Augen funkeln begehrlich und spiegeln zugleich die Objekte der Begierde mit leichter Verachtung. Man müsste ihm unter die Schädeldecke sehen, unter die Schädelknochen fassen können … Der Prototyp zeigt, dass er Bodo wiedererkennt, sich an die gegenseitige Musterung vorhin erinnert. Er geht zum Tresen und bestellt ein Bier. Bodo sieht erst jetzt das rote Tuch in der rechten Gesäßtasche: Er will also die Faust spüren.
Um Zeit zu gewinnen, geht Bodo in den benachbarten Raum. Zum Wesen der Faszination gehört es, zur gleichen Zeit stark angezogen und fast ebenso stark abgestoßen zu werden. Die Farbe Rot also … Erst spät ist Bodo auf den Geschmack gekommen. Im letzten Winter ist es gewesen. Er hat einige Male mit S. geschlafen, ist bei ihm sozusagen hineingerutscht. Er grinst jetzt wegen des Wortspiels, das ihm da gelungen. Im Verkehr mit S. ist eben alles intensiver gewesen; ein Gefühl, als sei da eine Wand aus ihm herausgebrochen und die eigene Substanz entweiche rapide, lagere sich an S. an – er hat es mit seinen Händen spüren können … Und dann hat er angefangen, in S. einzudringen, ohne rechtes Bewusstsein davon. S. hat bloß gesagt: „Soll ich die Cremedose holen?“ – Handschuhe hat Bodo sich dann später selbst besorgt.
Der Prototyp kommt mit der Bierflasche um die Ecke, stellt sich schräg gegenüber auf. Sie mustern sich eine Zeitlang. S. lässt sich seit Monaten nicht mehr blicken, und mit irgendeinem anderen hat Bodo nicht weitermachen wollen - bei dem da würde es stimmen … Ob er ihm allerdings versiert genug ist? Der andere geht nach ein paar Minuten hinaus, Bodo folgt ihm wenig später. Er findet ihn auf einem Hocker neben dem Eingang. Bodo stellt sich im Durchgang auf und beobachtet ihn ununterbrochen: Wie sich das Fleisch im schwarzen Leder gegen die Kante des Hockers presst ... Von den Schenkeln gleitet der Blick wieder hinauf zum Gesicht. Er könnte einmal lächeln … Aber ein Prototyp lächelt nicht. Bodo bemerkt jetzt die vorquellenden, bläulich schimmernden Adern an den Schläfen, ungewöhnlich für sein Alter und seltsam auf diesem glatten Gesicht. Vielleicht wird er einmal am Gehirnschlag sterben? Die Adern suggerieren Ideen von Verfall und Zerstörung. Bodo ist plötzlich stark erregt und spricht ihn an: Er könne sich gar nicht satt sehen. Der andere will sofort wissen, ob er Erwartungen habe. Bodo sagt, zunächst nicht, er wolle nur mit ihm reden, und glaubt das beinahe selbst. Das Gespräch kommt indessen nicht richtig in Gang, sein Gegenüber bleibt einsilbig. Und nach zwei Minuten schiebt sich ein anderer zwischen sie, einer, der die ganze Zeit in der Nähe gestanden hat. Der Prototyp muss ihm ein Zeichen gegeben haben. Sie sind gleich sehr vertraut miteinander und verstehen sich gut. Bodo geht einige Meter weiter und behält sie unter Kontrolle. Allmählich verwandeln sich in ihm Wut und Ärger zu schmerzlicher Befriedigung. Und wie der Konkurrent schon aussieht: wie ein Dinosaurier, lang und dürr und obendrauf ein Kinderköpfchen. Allerdings schmückt den Echsenhals das rote Tuch. Gott sei Dank sind sie bald einig und verschwinden zusammen. Jetzt kann er auch heimfahren.
4.05 Uhr
Bodo hat ein Taxi genommen. Sie fahren gerade am Dammtorbahnhof vorbei. Er ist sehr erschöpft und froh, dass er allein nach Hause fährt. Andererseits ist es natürlich nicht der Zweck eines solchen Ausgangs, allein erschöpft zu Hause anzukommen. Oder doch? Wie so oft hat er sich durch Zaudern alles verdorben. Er hat sich wieder einmal verhalten, als ob er sich selbst bestrafen wolle. Will er das? Was er nicht will, ist ihm klarer als das, was er sucht. Flüchtige, unbefriedigende Akte mit gänzlich banalen Leuten möchte er sich ersparen – also den Normalfall! Andererseits dürfen intensive Kontakte ihm nicht gefährlich werden. Es gibt bei ihm die fatale Tendenz, sich in gefährliche Liebschaften zu verwickeln. Eigentlich sucht er maximale Ergebnisse bei minimalen Risiken, und da er diese Kombination für kaum erreichbar hält, hat er eine subtile Strategie des Ausweichens entwickelt. Er hält sich alles offen, indem er es stets in die Zukunft verschiebt. Zu oft hat er erfahren, dass der reale Kontakt fast immer eine rasche Verminderung, wenn nicht Zerstörung der Faszination bedeutet. So sucht er eher Objekte zum Träumen als zum Anfassen. Es schmerzt ihn nur, wenn das Objekt es damit nicht bewenden lässt und sich seinerseits anderen zuwendet …
Und doch hat das starke, unbestimmte Gefühl der Vorfreude nicht getrogen! Ein neues Bild bringt er unbeschädigt mit nach Hause. Dieses Paar da gegen eins, dieses strahlende Doppelwesen, es hat ihm wirklich gut gefallen. Und hier scheint ihm die Zukunft noch völlig offen. Vielversprechende Aussichten, das zumindest kann er feststellen. Er lässt den Fahrer halten und geht beschwingt auf seine Wohnung zu, wie ein Sieger künftigen Siegen entgegen.
Frank sagte er ich bring dich jetzt besser heim schon Mitternacht vorbei du musst morgen früh raus ich weiß der Umweg macht ihm nichts aus aber was hat er davon also zahlten wir bald und dann standen wir in der Passage hinter uns die Bar links das Parkhaus und rechts die Ausfahrt zur Straße heute geht’s andersrum sagte Horst mein Auto steht doch an der Straße diesmal ach so der da wirklich der da ich wundere mich schon nicht mehr also tschüs wir telefonieren und der andere stand immer noch neben dem Stützpfeiler ein Wagen fuhr eben an ihm vorbei ins Parkhaus und er drehte sich zur Seite um nicht geblendet zu werden so sah ich ihn auch im Profil da war er weniger hübsch sogar ein Doppelkinnansatz noch klitzeklein aber von vorn sehr ansehnlich der Typ jetzt wieder frontal Mitte zwanzig höchstens ein bisschen untersetzt schwarze Haare kurz geschnitten und ein Gesicht wie gemalt sehr friedvoll man müsste ihn streicheln vielleicht küssen auf jeden Fall den Arm um ihn legen er sah intensiv herüber und ich machte mich auf zu ihm er lächelte nicht ich war mir sicher er war neu hier ich war schon bei ihm und er zog mich sofort an sich ich spürte sein Fleisch unter dem T-Shirt weiß natürlich die blauen Jeans eng sehr eng in schwarzen Stiefeln unten festgezurrt meine Hand an seinem Hals dann am Nacken willst du mitkommen es ist nicht weit fünf Minuten zu Fuß höchstens ich spürte viel Zärtlichkeit für ihn zärtlich wird es werden
Willst du ficken willst du mich ficken ich mag auch Fistfucking und hast du Ledersachen zu Hause und Poppers vielleicht auch ein Wagen schießt an uns vorbei auf die Ausfahrt zu es ist nicht genug Platz für zwei wir lassen uns los und gehen zur Seite da steht ein Bauwagen der Komplex wird wieder mal umgebaut und jetzt nimmt er mich bei der Hand und zieht mich neben den Bauwagen und ich fange an zu reden und sage nein ich muss dich enttäuschen kein Poppers zu Hause das Zeug nehm ich nicht und Fisten ist mir zu gefährlich Leder na klar das schon nur Ficken ist nicht so mein Ding und dabei zieht er mich wieder an sich und ich spüre ihn nur noch ihn und Licht gleitet über uns die Scheinwerfer eines einfahrenden Autos und wir die Silhouette in dem Spalt zwischen Wand und Bauwagen und wie ich ihm das alles erkläre fummelt er an meinem Gürtel kriegt ihn schnell auf und so weiter und ich mache es bei ihm geradeso er ist ziemlich weich und dann bin ich hinter ihm wieder ein Scheinwerferlicht aber wenn wir so stehen sieht man es nicht genau ich dringe schon in ihn ein wie leicht das geht sehr angenehm dabei habe ich im Kopf er ist passiv verwöhnt er ist so weich dass er das Feste braucht den Halt die Grenze schon wieder das verdammte Licht wenn nun einer aussteigt und herüberkommt ich ziehe ihn schnell raus und stehe nun schräg hinter ihm fasse ihn an einer Backe an mollig der Knabe sie haben ihn gern großgezogen er hat alles bekommen lässt sich zum Dank jetzt von einem Kerl ficken wenn Mutti das wüsste und er weiß dass sie ihn dann hassen würde ein bisschen wenigstens und ich weiß dass er weiß dass ich es weiß ich schlage ihn also und fange an ihn zu fisten nur ansatzweise und befriedige mich dabei selbst Licht an Licht aus
Wollte dann mitkommen das Kind aber ich sagte lieber doch nicht ist eigentlich zu spät heute weißt du wir sehen uns bestimmt mal wieder und dann geht es besser ist doch blöd hier das viele Licht und er nickte und schaute auf mich gleichmütig so einen bringt nichts aus der Ruhe ich nahm mit seinen Geruch das Weiche an ihm seine Haut zu Hause habe ich ihn dann für mich mache ihn ganz und zärtlich wird es werden zärtlich
1. Die Reise nach Fire Island
2. Die falsche Taste
3. Nachts unterwegs
4. Andersrum
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2014
Alle Rechte vorbehalten