Der Hongkong-Chinese Simon Chung war schon 2009 mit seinem Film „End of Love“ auf dem Panorama der Berlinale zu sehen. „Speechless“ (chin. Wu yan), sein dritter Streifen, kam 2012 auf den internationalen Filmmarkt. Aus dem Abspann erfahren wir, dass ihn die Hongkonger Filmförderung mitfinanziert hat und wie sie sich absichert: Ja zur künstlerischen Freiheit, Distanz zu den Aussagen des Films wie zu seiner Darstellung. Eine öffentliche Vorführung in der Volksrepublik ist undenkbar, Simon Chung setzt dort auf Verbreitung über DVD.
Beträchtliche Teile des Films wurden jenseits von Hongkong in Südchina gedreht, und zwar ohne staatliche Drehgenehmigung. Er erlaubt uns seltene Einblicke in das provinzielle China von heute und ist schon deshalb sehr lohnend anzusehen. Die Handlung spielt abwechselnd in einer Kleinstadt, in einem abgelegenen Dorf und in der erst 1988 in Hongkongs Nachbarprovinz Guangdong gegründeten Stadt Meizhou (heute über 300.000 Einwohner, Metropolregion fast fünf Millionen). Nacheinander betreten wir ein Polizeirevier, ein Kreiskrankenhaus, einen Imbiss, eine Dorfschule, eine christliche Kirche, einen Universitätscampus, eine große Klinik, ein Gefängnis … Die subtropische Berglandschaft ist zuweilen so schön, dass sie den Atem stocken lässt – und zugleich sind die Verwüstungen durch emsiges Wirtschaftsleben unübersehbar.
Die Handlung lehnt sich zu Beginn an einen authentischen Fall aus Europa an, den des Piano-Manns. 2005 lag er hilflos an einem südenglischen Strand und seine Identität war monatelang nicht zu klären, da er nicht sprach. Der nackte westliche Ausländer im Film stellt Polizei und Krankenhauspersonal in China vor dasselbe unlösbare Problem. Er soll daher in die Psychiatrie, wird jedoch zuvor von seinem Krankenpfleger aufs Land entführt. Damit setzt eine spannende Handlung ein, deren Verlauf hier nicht im Einzelnen aufgedeckt werden soll.
Die Struktur des Films kann dem nichtchinesischen Zuschauer einige Schwierigkeiten bereiten. Rückblenden sind häufig, zum Teil nur auf akustischer Ebene. Wir hören bruchstückhaft chinesisch reden und lesen dazu die Untertitel, abgelenkt durch die oft betörenden Bilder. Ein mehrmaliges Ansehen des Films wird ausdrücklich empfohlen – dann erst erschließen sich einem das ganze Drama und seine kunstvolle Darstellung. Die Leistungen der Schauspieler überzeugen dagegen schon auf den ersten Blick, und rasch entfaltet sich der spezielle Zauber des Films, seine Mischung aus Rätselhaftem und tief Berührendem, von fast Possierlichem bis hin zur Lust an Skandal und Grausamkeit.
Der homosexuelle Luke (Pierre-Matthieu Vital) – das ist der nackte junge Franzose – ist in China, um Mandarin zu studieren. Er verkörpert den Typ des unschuldigen Verführers: attraktiv, mit sonnigem Gemüt und gänzlich unaggressiv. Wie dieser unkompliziert freundliche, mediterran heitere Mensch auf die ernsten, arbeitsamen, pflichtbewussten Neokonfuzianer von heute wirkt und welche Verwüstungen er ungewollt anrichtet – das ist der Hauptinhalt des Films. Die Studentin Ning (Yu Yung Yung) auf Distanz zu halten, fällt ihm nicht schwer – aber dann bindet er deren Freund und Kommilitonen Han (Jiang Jian) an sich und treibt ihn mit seiner Anziehungskraft und mit Hilfe einer fatalen Intrige Nings in den Untergang. Han hat nicht umsonst den allerchinesischsten Namen, er verkörpert das China von heute, erfolgreich auf der Basis traditioneller Werte, intelligent, tüchtig, arbeitsam – und allzu sehr auf Harmonie bedacht. Seine Tragödie ist es, die Luke zum Verstummen bringt und einen Reifeprozess in ihm auslöst. Dabei unterstützt ihn der Krankenpfleger Jiang (Gao Qilun). Auch ihn könnte Luke aus der Bahn werfen, menschlich wie beruflich. Aber Jiang erweist sich bei weniger glänzenden Voraussetzungen im Vergleich zu Han als die viel stabilere Persönlichkeit. So endet der Film nach vorangegangener Katastrophe mit einer freundlichen Perspektive.
Eine zusätzliche Komplikation in der Thematik des Films besteht darin, dass Ning und Han aktive Mitglieder einer protestantischen christlichen Gemeinde sind und der öffentliche Skandal während eines Gottesdienstes seinen Lauf nimmt. Der Film bringt so, wie andere asiatische vor ihm schon (z.B. „The Love of Siam“), die Theorie des Imports rigider Sexualmoral aus dem Westen ins Spiel. Damit stellt er ein Gleichgewicht her: China kann in der Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Einflüssen gewinnen und verlieren, Selbstbestimmung wie Fremdbestimmung. Und der Westler, wie entwickelt er sich unter östlichem Einfluss? Jiang bezeichnet Luke einmal scherzhaft als „Buddhisten“ - Luke hat gerade die von Jiangs Onkel gefangenen Fische mitleidig ins Wasser zurückgeworfen. Jiang zu ihm: Sie sterben trotzdem … Und Luke macht insoweit später in Meizhou einen für Han tödlichen Lernprozess durch und sagt schließlich zu Ning: „Let him go!“ Er sagt es nicht auf Mandarin, sondern auf Englisch. Wie fein akzentuiert an diesem klugen Film fast alles ist …
Schließen wir mit einem Detail, das den westöstlichen Zusammenhang auf etwas putzige Weise aufzeigt. Jiang fällt in der Dorfschule ein altes Lese-Übungslied ein, das sie damals im Chor gesungen haben. Als er es anstimmt, hören Luke und der abendländische Filmzuschauer, dass es nach der Weise von Frère Jacques geht … Wikipedia zählt einige Sprachen auf, in denen das alte französische Kinderlied heute gesungen wird: Afrikaans, Spanisch-Argentinisch, Berberisch, Chinesisch, Haitianisch-Kreolisch, Tamil, Hebräisch, Vietnamesisch, Türkisch, Thailändisch, Swahili, Latein, Japanisch, Indonesisch, Esperanto und noch viele mehr. Weltkultur heute: in allen Zungen singen – und filmen auch.
Der US-amerikanische Film von 2008 verbindet zwei traditionelle Muster, das des Wiedersehens von Highschoolfreunden nach Jahren mit dem des erotischen Trios aus zwei Männern und einer Frau, genauer: mit dem Spezialfall, in dem einer der Männer, nicht die Frau, im Zentrum steht. Der Streifen dauert nur 74 Minuten und spielt doch auf drei Erzählebenen, der laufenden Filmgegenwart, darin eingeschobenen Sequenzen vom Ende der Highschoolzeit und dem Abfassen einer langen Email, die Jasper (Ian Scott McGregor) seiner Verlobten schickt und in der er die Verbindung zwischen den beiden erstgenannten Ebenen herstellt.
Jasper besucht nach Jahren Mark (Lucas Alifano) und Lily (Lindsay Benner) in San Francisco, und zwar am Halloween-Abend. Am Ende der Schulzeit waren Mark und Lily ein Paar, jetzt wohnen sie noch zusammen. Mark ist nun offen schwul. Das Trio mischt sich unter das kostümierte, allerlei Unfug treibende Halloween-Volk auf der Castro Street. Zu ihnen stößt Caleb (Chris Yule), Marks derzeitiger Freund. Mark und Jasper verstehen sich noch immer gut, auch wenn sie wieder raufen, dann vielleicht sogar am besten. Lily verrät Caleb, dass Mark und Jasper früher ein sexuelles Verhältnis hatten, zeitgleich mit Marks Beziehung zu ihr. Caleb spricht Jasper in herabsetzender Weise darauf an, er will wissen, wer von ihnen damals the bitch gewesen ist. Jasper, der sich als heterosexuell betrachtet und demnächst Wendy (Sarah Nealis) heiraten will, zieht sich daraufhin verletzt in sich selbst zurück. Das Quartett lässt sich durch die Stadt treiben, eine unbefriedigende Nacht beginnt. Die Erinnerung an gemeinsame Tage der drei Schulfreunde in der Naturlandschaft der Lost Coast (Nordkalifornien) kehrt immer wieder. Gegen Morgen wiederholen Mark und Jasper am Strand, was sie früher oft taten. Dann rennt Jasper weg, Mark weint in Lilys Armen. Jasper weint auch, im Bus Richtung Flughafen, und schreibt Wendy, was damals war und jetzt geschehen ist und dass er sie weiterhin liebt. Schlussbild oder Vision: Wendy, so wie Jasper sie mag: sie allein auf einem Sofa, ein Buch lesend, lächelnd.
Die Filmhandlung, eingebettet in großartige Landschaftsbilder und bedrückende Nachtszenen aus San Francisco, ist ein Seelenroman eigener Art, mit sparsamen Dialogen und Figuren, deren Charaktere sich erst bei intensivem Hinschauen und Hinhören wirklich enthüllen. Bei der Entschlüsselung bietet ein häufig ins Blickfeld geratendes Requisit Hilfe an – ein Mantel. Der hochgewachsene Mark trägt fast durchgehend, in San Francisco jetzt wie früher an der Lost Coast, einen langen Mantel, den er gern offen lässt. Der Ur-Mantel ist indessen kein Mantel, sondern eine Jacke. Mit ihr verbindet sich ein Schlüsselerlebnis, das nicht dargestellt wird, das Jasper indessen Wendy eindrucksvoll beschreibt: wie Mark sie beide nach einem Fußballtraining unter seiner Jacke vor dem Regen schützte und wie er, Jasper, ihm dabei sehr nahe kam, körperlich wie seelisch. Mark sei, schreibt Jasper, beim Fußball wie überall der Star gewesen, und er selbst habe sich mit ihm unter der Jacke so privilegiert gefühlt. Bald darauf an der Lost Coast lehnt Mark, nun in langem, offenem Mantel, in der für ihn typischen Pose an einem Baumstamm, auf Jaspers Annäherung nicht vergeblich wartend.
Der Mantel als Symbol wie als Garant von Kraft, Schutz, Milde hat eine sehr lange Tradition. Gogols „Der Mantel“ ist ein relativ spätes Beispiel dafür. Die Schutzmantelmadonnen der spätmittelalterlichen religiösen Kunst stehen bereits in ihr und beziehen sich auf ein schon damals altes Rechtsinstitut, den Mantelschutz. Unter dem Mantel Hochgestellter fanden Verfolgte Schutz und Asyl. Das bis in unsere Tage praktizierte Kirchenasyl hängt damit zusammen. Mit Gerald von Mayo (um 642 - 732), übrigens auch Schutzpatron gegen die Pest, hat die katholische Kirche neben Martin von Tours (um 316 – 397) einen zweiten Mantelheiligen. Der Mantelträger scheint einen Archetypus darzustellen, den auch fremde Kulturen kennen. So sehen wir z. B. in der buddhistischen Kunst Thailands, wie Buddha der Barmherzigkeit die Robe öffnet.
Es gibt den Sternenmantel – und im Film, nahe angesiedelt am beglückenden Jackenerlebnis, eine Entsprechung an der Lost Coast: den Blick hinauf zu einem sehr hohen Baumwipfeldach. Schutz bietet auch das Zelt, gewissermaßen ein erweiterter Mantel, in dem die drei Freunde in der Natur übernachten. Aber am Morgen sehen wir Jasper draußen allein, missmutig hört er mit an, wie sich drinnen Mark und Lily gut verstehen. Ist es die Ur-Trennung für ihn? Jetzt ist Jasper wieder da und Mark lädt ihn ein, seinem Ankleiden beizuwohnen. Mark, mit einem Kopf, wie von Caravaggio gemalt, und einem spätrömisch-hellenistischen Körper, nicht üppig, doch von überfließender Kraft, konfrontiert ihn mit den verheißungsvollen nackten Partien von Brust und Bauch, rät vom Heiraten ab und zieht wieder den langen Mantel an.
Mark hat sich verändert. Er fürchtet sich vor dem Älterwerden, er weiß, dass Lily enttäuscht ist, und er kann den tumben Caleb nicht achten. Parallel dazu hat sich die Funktion des Mantels verändert. Mark nutzt ihn für alles Mögliche – Selbstzitat, Selbstpersiflage, Provokation. Er trägt zu Halloween außer einem schmalen Slip nichts unter dem Mantel und aus dem Slip ragt ein Riesendildo. Auf der Castro Street schlägt Mark den Mantel immer wieder exhibitionistisch auseinander, ein Jux ohne Hintergrund, für Touristinnen wie für schwule Männer. Das Quartett landet fehlgeleitet auf einer fremden Party. Mark verführt sogleich den Gastgeber, doch unter dem erneut vorgeführten Kunstpenis ist wenig. Unfähig zur Erektion verlässt Mark beschämt die Wohnung. Das passiere ihm manchmal, räumt er ein.
Jasper hat als Schüler bei Mark Schutz und Geborgenheit gesucht. An Halloween ist er erst reserviert und gerät dann bald ins alte Fahrwasser. Es gibt wieder die Spiele von früher: Er stellt sich auf der Straße blind, lässt sich von Mark führen. Dann die „Vertrauensfallübung“ – er lässt sich nach hinten fallen und wird von Mark aufgefangen. Erst Calebs Sticheleien erinnern ihn daran, dass er eine heterosexuelle Identität hat. Gegen Morgen wird er Mark dadurch, dass er ihm noch einmal körperlich nahe kommt, zeigen, dass die Vergangenheit nicht zurückgeholt werden kann, nicht darf. Die Lost Coast – das ist die Jugendzeit, in der noch alles möglich war. Von dieser Küste sind sie aufgebrochen und haben sich von ihr entfernt hinaus auf die schwierige offene See. Selbst nach dieser Nacht wird Jasper seiner Verlobten über Mark schreiben: Manchmal kann er großartig sein …
Wendy soll die Rolle von Mark übernehmen, sie ist nun das Objekt der Anlehnung und Adoration. Jasper ist der Typ des Mannes, der bei beiden Geschlechtern vor allem Harmonie sucht, Ruhe und Frieden. Wie belastbar ist diese kontemplative Brücke der Bisexualität? Vielleicht wird Wendy im weiteren Verlauf das, was Lily schon ist, eine Fag Hag, Schutzmantelmadonna für Schwule. Aber jetzt bitte keine Fanfiction …
Dieser Film aus Vietnam, gedreht 2011, hat es 2012 sogar auf die Berlinale geschafft (Panorama). Er war in Vietnam selbst ein großer Erfolg, auch geschäftlich. Den westlichen Zuschauer stellt er vor einige Probleme, deren Natur ihm bewusst werden sollte, damit er dem Film gerecht werden kann. So enthält der Streifen die für ost- und südostasiatische Filme nicht untypische Mischung aus viel Gefühl einerseits und ebenso viel Grausamkeit andererseits – Blut und Tränen also. Zu melodramatischen Höhepunkten erklingt gewöhnlich etwas, das wir leicht als schmalzige Popmusik empfinden. Dabei vertritt das Werk einen entschieden moralischen Standpunkt. Mit solchen Elementen entspricht er nicht den ästhetischen Normen eines Kunstfilms, der international anerkannt werden möchte. Dennoch ist er auch nicht das, was nach unseren Maßstäben den trivialen Kommerzfilm ausmacht. „Lost in Paradise“ bezieht sich auf reale soziale Verwerfungen im heutigen Vietnam, gewährt Einblicke in die Schattenseiten der boomenden Metropole Saigon und erörtert die psychischen Folgen sozialen Elends. Man mag sich also mit der Formel behelfen, das Werk sei ein Problemfilm, der dem Entwicklungsstand und den ästhetischen Maßstäben Vietnams angemessen sei.
„Lost in Paradise“ hat ein Hauptthema: Was macht Prostitution mit Menschen, die sie ausüben, und was mit jenen, die mit Prostituierten umgehen? Es gibt zwei Handlungsstränge, die nicht inhaltlich, nur thematisch miteinander verbunden sind – alles vor der Kulisse Saigons („Ho-Chi-Minh-Stadt“), das die Kamera in immer neuen Perspektiven einfängt, von der Kathedrale Notre Dame bis zur Mekongbrücke, von den neuen Wolkenkratzern bis zu den abbruchreifen Holzbauten früherer Zeiten. Fast alles dreht sich um den Gelderwerb, beinahe wie bei Balzac. Auffallend oft werden exakte Geldsummen genannt: Wie viel kannst du bezahlen? Ist das genug? Behalten Sie die Kaution …
Die Haupthandlung bevölkern Strichjungen, die, wie es scheint, in Saigon massenhaft auftreten. Das Landei Khoi (Ho Vinh Khoa), eben erst in Saigon angekommen, wird rasch Opfer von Dong (Linh Son) und Lam (Luong Manh Hai), einem Paar aus der Szene. Sie scheinen freundlich und rauben ihn dann aus; woraufhin Dong seinerseits Lam verrät und mit der 37-Millionen-Dong-Beute (etwa 1.500 Euro) entschwindet – er heißt bezeichnenderweise wie sein Geld. Lam schafft weiter an, begegnet Khoi wieder, empfindet Reue, geht eine Beziehung zu ihm ein. Aber Khoi kann es nicht akzeptieren, dass Lam sich Tag für Tag in einen professionellen Sexhändler und einen fürsorglichen Freund aufspaltet. Lam treibt seinem Untergang entgegen und Khoi, wieder daheim, so verrät uns der Abspanntext, „lernt momentan für sein Examen“. Ein wahrhaft konfuzianischer Schluss, der nicht allzu glaubwürdig wirkt – der schwule Khoi war nicht ohne Not ins Paradies Saigon aufgebrochen. („Da war kein Platz mehr für mich …“) Ist dieses Detail der Rücksicht auf staatliche Drehgenehmigung geschuldet? Der 1974 geborene Regisseur war schon vor diesem Film recht erfolgreich im Film wie im Fernsehen seines Neunzig-Millionen-Landes.
In der Nebenhandlung, die etwa ein Drittel der Szenen umfasst, geht es um einen stummen geistig Behinderten, der vom Altmaterialsammeln lebt und es schafft, ein Entenei auszubrüten, und um seine Beziehungen zu einer Prostituierten sowie deren Zuhälterpaar, mit ordinär-grausamer Straßenstrichpuffmutter. Hier stehen am Ende sowohl Mord und Totschlag wie auch ein Happyend – man staunt.
Der Film enthält dezente Hinweise auf die Situation des Landes, vielleicht auch Ansätze versteckter Kritik an der Entwicklung. Einmal begegnet der mit seinem Entenei und dem Schrottsammeln beschäftigte Stumme, ohne einen Blick dafür zu haben, einem alten Eisenbahnzug, auf dessen Lok-Stirnseite die Losung DOI MOI („Erneuerung“) prangt – seit 1986 das Programm für die Umwandlung der Planwirtschaft in eine sozialistische Marktwirtschaft. Und am Ende wird ein Text eingeblendet, der uns mitteilt, der Fleischmarkt der Stricher, Ort so vieler Dramen, sei inzwischen abgerissen und einem Einkaufszentrum gewichen. Vietnam zu unseren Lebzeiten - ein Land der Entwicklungssprünge: Vu Ngoc Dang vermittelt uns in „Lost in Paradise“ einen kraftvollen Eindruck davon, was die Menschen dabei mitmachen.
(Notabene: Wundervolle Schauspieler, auch in den Nebenrollen, und eine perfekte Kameraarbeit, wenn auch vielleicht etwas zu konventionell schön, für unsere Begriffe.)
Der 2013 fertiggestellte Dokumentarspielfilm ist eine finnisch-dänisch-US-amerikanische Produktion mit der Finnin Susanna Helke als Regisseurin. Er hat bereits eine Reihe von Preisen in seinem Genre gewonnen und ist als DVD in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln auf dem Markt. Was heißt Dokumentarspielfilm? Es bedeutet, dass reale Personen ihre eigene Geschichte darstellen, teils bei unmittelbaren Aufnahmen in laufender Gegenwart, teils in von ihnen selbst nachgespielten Szenen. Helkes Plan war, das Leben junger obdachloser Schwuler in San Francisco zu dokumentieren. Bei der Vorbereitung traf sie auf James und Tyler, die eben jenes Schicksal als Paar erlitten. Sie flohen aus ihrer kleinen Stadt, als der Vater des siebzehnjährigen James den wenige Jahre älteren Tyler bei der Polizei anzuzeigen drohte.
Der Film will den Mythos von San Francisco als dem großen rettenden Hafen für sexuelle Minderheiten kritisch hinterfragen. James und Tyler kommen allerdings nicht von weit her. Chico liegt im oberen Sacramento-Tal, etwa 300 Kilometer nordöstlich von San Francisco. Für die beiden war es einfach die nächste Großstadt. Sie scheitern dort, da sie keine materielle Existenz aufbauen können - keine Arbeit, kein Einkommen, keine Wohnung, keine Freunde. Diese Situation leuchtet der Film einfühlsam und poetisch aus, ohne sie dabei zu verkitschen. Wir lernen die alltäglichen Stationen kennen, ihre Nachtlager im Golden Gate Park, die Armenspeisungen, den kostenlosen Friseurbesuch, erfolglose Jobsuche, Gespräche mit anderen Obdachlosen. Zwischendurch erzählt James seine bedrückende Vorgeschichte: religiös engstirnige Eltern, häusliche Gewalt, Suizidideen. James ist ein vitaler und zugleich labiler Junge. Der sanfte Tyler dagegen wirkt fast wie ein buddhistischer Mönchsnovize. Die beiden könnten in New York oder Chicago, selbst in Berlin oder Hamburg in ähnlich misslicher Lage sein. Das speziell Enttäuschende an San Francisco, die Diskrepanz zwischen lokalem Glücksversprechen und desillusionierender Realität dort, wird zwar wiederholt angesprochen, kommt aber nicht ins Bild. Die arrivierten Schwulen bleiben unsichtbar. Wer lässt sich schon filmen, wenn er andere schlecht behandelt, sie verachtungsvoll ignoriert?
Der Film wechselt im letzten Drittel die Bühne und erweitert sein Thema auf überraschende Weise. James und Tyler kehren nach Chico zurück, um wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Vorübergehend logieren sie bei James’ prachtvoller Oma, dann unter einer Brücke. Ist es auch in Chico? Es bleibt unklar. Susanna Helke scheint die beiden über Jahre begleitet zu haben. Gegen Ende ist James schon zwanzig und ein Fall für die Justiz geworden. Jetzt rückt ins Zentrum, wie sich das Verhältnis zu seinen Eltern weiterentwickelt, und zwar zum Guten hin. Das eben ist das Überraschende, zunächst Irritierende. Ist es der Gefängniskoller, der James sich nach dem Vaterhaus sehnen, ihn dem Vater schreiben lässt, er werde künftig gern mit ihm auf die Jagd gehen – die ihm von Kindheit an so verhasst war? Mit wahrem Drive stürzt sich die Mutter in die Sorge um den Sohn, das Opfer eines vermeintlichen oder tatsächlichen Justizirrtums. Selbst der Vater, über den so viel Übles berichtet wurde, kommt noch vor die Kamera, fast stumm, bedrückt, vielleicht schuldbewusst. Alle scheinen nun Rollen zu spielen, wie in mittelmäßigen Hollywoodfilmen. Treibt das Bewusstsein, die Verfilmung ihres Lebens zu gestalten, sie dazu, typische Klischees bedienen zu wollen? Der Film muss trotz James’ Verurteilung sein positives Ende haben: die wiederhergestellte Harmonie in der Familie als großer moralischer Sieg.
Sieht man den Film öfter an, versteht man diese Motivation besser. Sie ist weniger weltlich eitel als vielmehr vor allem vom religiösen Kontext geprägt. Religiöse Begriffe sind von Anfang an mit James’ Autobiographie verbunden. Für ihn ist San Francisco the gay promised land. Bei seiner Ankunft wähnt er schwule Götter – gay gods – die Stadt segnen. Entkommt er einer Gefahr, dankt er ihnen. Das ist mehr als ironische Anspielung, ist schon bewusstes Sakrileg als Auflehnung gegen den angestammten christlichen Glauben. Verheißenes Land – das bezieht sich andererseits auf die Juden des Alten Testaments. Dementsprechend identifiziert sich James auch mit Juden, wenn er in San Francisco von Polizisten verfolgt wird - wie Juden im Zweiten Weltkrieg, meint er. Später wird er sich im Gefängnis seine Heimkehr als die eines verlorenen Sohnes ausmalen. Entschieden alttestamentarisch ging es schon bei der Reaktion des Vaters auf James’ Outing zu: Er forderte den Sohn zum Beten auf, warf ihm eine Bibel ins Gesicht und sah ihn bereits in der Hölle. Dann das kaum Verzeihliche: James gestand dem Vater, an Selbstmord zu denken – und der ging zum Waffenschrank, lud ein Gewehr, gab es James: „Beweis es mir!“ Das ist die Geschichte von Abraham und Isaak in modernem Gewand. Und wo Abraham imitiert wird, ist der Gedanke an Sodom und Gomorrha nicht fern …
James’ Eltern befinden sich im Gewissenskonflikt zwischen religiösen Wertvorstellungen und den sich aus der Liebe zum Sohn ergebenden Verpflichtungen. Wie es scheint, finden sie einen Ausweg, indem der Akzent am Schluss auf neutestamentarisches Verhalten gelegt wird: verzeihen, bereuen. Und zugleich erhöhen sie ihr Kind in einem religiösen Kontext noch: Sie hätten erkannt, schreibt die Mutter, dass Gott ihnen einen wundervollen Sohn geschenkt hat. Für einen säkular geprägten Europäer ist dieser Blick in die Seele eines mittleren, traditionell christlichen Amerika so befremdlich wie faszinierend.
Schlussbemerkung: Susanna Helke beruft sich auf Untersuchungen, wonach bis zu vierzig Prozent der jungen Obdachlosen in den USA sexuellen Minoritäten angehören und aufgrund von Diskriminierung von zu Hause weggegangen sind. Die Geschichte von James und Tyler – mit exzellenter Kameraarbeit und eindrucksvoll stimmiger Filmmusik - ist also eine von vielen ähnlichen. Im Detail erinnert sie gelegentlich an in Portland spielende Szenen in Gus Van Sants „My Own Private Idaho“ von 1991. Auch dort wurde schon – in Nebenrollen – mit realen schwulen Obdachlosen gearbeitet.
Gewöhnlich rezensiere ich zwei Arten von Filmen nicht, die besonders erfolgreichen und die aus meiner Sicht weniger empfehlenswerten. Die einen haben meinen Einsatz nicht nötig, den anderen will ich keine zusätzliche Aufmerksamkeit verschaffen. Bei „Freier Fall“ mache ich einmal eine Ausnahme, obwohl der Streifen sowohl ein Publikumserfolg war wie auch, nach meiner Auffassung, ein nur untermittelmäßiges Werk. Die Aufnahme des Filmes hierzulande scheint mir symptomatisch für den Zustand der deutschen Filmkultur. Die inländische Produktion ist qualitativ nicht auf dem Stand anderer bedeutender Filmländer, und das Publikum gibt sich mit dem Dargebotenen allzu leicht zufrieden.
Lacants Film von 2013 schildert die Liebesbeziehung zweier Bereitschaftspolizisten in Baden-Württemberg, von denen der eine – Marc (Hanno Koffler) – verlobt ist, bald Vater wird und von seinen Eltern großzügig mit einer Haushälfte ausgestattet wurde. Nach einer Phase des Doppellebens ist Kay, sein Geliebter (Max Riemelt), geflüchtet, Marcs Beziehung zu Bettina (Katharina Schüttler) ruiniert und seine familiäre wie berufliche Situation insgesamt schwer erschüttert. Ein großer Stoff, doch wie wird dieses Drama erzählt? In vielen kleinen, meist uninspirierten Einzelszenen, die entweder seltsam kraftlos oder, im Gegensatz dazu, künstlich überdreht wirken. Die Machart des trotz geradlinig erzählter Handlung inkohärent wirkenden Filmes schwankt ständig zwischen diesen Polen, der blassen, substanzarmen Wiedergabe eines schablonenhaften Kleinbürgermilieus und unglaubwürdigen Ausbrüchen daraus. Selbst die eklektizistische Filmmusik kann sich nicht entscheiden zwischen Harmlosigkeit und Melodramatik.
Der Film leidet an einer Überfülle von Personen aus Marcs Verwandtschaft wie Kollegenkreis, die sich einem kaum einprägen wollen. Durchgestaltet ist allein die Figur des Marc, die jedoch diese Zentralität nur schwer verkraftet. Hanno Kofflers Hauptdarstellungsmittel ist der bedeutungsschwangere Blick, und allzu häufig steht für ihn im Drehbuch: „Es tut mir leid, es tut mir leid …“ Die Figur des Kay ist noch skizziert, alle anderen bleiben blasse Schemen. Erkennbar spielt die Handlung in Süddeutschland, doch die Personen reden Hochdeutsch wie in Hannover. Der Streifen zitiert wiederholt in sich anbiedernder Weise Szenen aus „Brokeback Mountain“. Doch nicht jeder Kinnhaken, der nach Wyoming passt, tut das auch in Ludwigsburg. Und überhaupt, diese Bereitschaftspolizisten! Sie sind wahre Filmhelden, in denen man die echten schwulen Polizisten, die man im Lauf der Zeit kennengelernt hat, durchaus nicht wiedererkennt.
Nur einige weitere Blüten aus dem üppigen Strauß von Unwahrscheinlichkeiten, den Lacant uns überreicht: Unwahrscheinlich diese mannmännliche Kopulation im strömenden Regen, gleich neben ihren parkenden Autos. Unwahrscheinlich Marcs versuchte Vergewaltigung der hochschwangeren Bettina von hinten. Unwahrscheinlich und peinlich, wie Bettina ihrerseits gegen Marc übergriffig zu werden versucht. Die Beinahe-Kollision der Pkws von Marc und Kay? Ein uraltes Muster und hier schlecht motiviert. Dann Marcs Aufbrechen der Tür zu Kays Wohnung, als dieser nicht öffnet - so gewalttätig sind wir (von der Polizei) eben alle Tage … Bezeichnend für die innere Schwäche des Drehbuchs wie sein eigenes Bewusstsein davon ist die Sache mit der Razzia in einer Schwulenbar, bei der ausgerechnet Kay von seinen Kollegen angetroffen wird. Diese Razzia – vielleicht in Stuttgart? - ist der große Wendepunkt in der Filmerzählung, sie wird aber nicht dargestellt, nur hinterher berichtet. Und wie wahrscheinlich ist eine solche Razzia bei uns heutzutage überhaupt noch? Man gebe mal die Stichworte „razzia schwulenbar“ bei Google ein: Stonewall 1969 und kein Ende, dann noch Nigeria und Weißrussland, nur nicht Deutschland anno 2013.
Fazit: „Freier Fall“ ist nicht einmal ein wirklich schlechter Film, dazu ist er zu wenig originell. Er bietet magere Fernsehspielästhetik mit Spurenelementen von Filmkunst. Ein lohnendes, problembeladenes Thema wird dabei zu Unterhaltungszwecken verhackstückt. Wem’s gefällt – nun ja … Doch dass ein derart mediokrer Film sechs Monate lang hintereinander in Berliner Kinos laufen kann, das ist deprimierend.
Eine Altbauwohnung, vermutlich in Amsterdam. Zwei kleine Räume, nur zum Teil im Blickfeld. Die weiß lackierte Tür zwischen ihnen hat einen geschwungenen Messinggriff und steht offen. Die weißen Wände sind kahl. Im hinteren Zimmer ist der Rand eines einfachen Bettes sichtbar.
Ein Mann Anfang dreißig kommt aus dem Schlafraum, steht im Durchgang. Er hat – sonderbar genug – eine Gasmaske in der Hand. O, das falsche Requisit für diese Aufnahme … Er lässt die Maske hinter der Wand verschwinden, man spürt Bedauern. Er trägt nur blaues Unterzeug und einen Motorradhelm auf dem Kopf. Durch dessen Visier erkennen wir undeutlich die Gesichtszüge eines hellhäutigen, blonden Mannes.
Er beginnt sich vor der Kamera anzukleiden, nacheinander kommen eine schwarze Motorradlederhose, eine Jacke aus gleichem Material und von gleicher Farbe, ein schwarzer Ledergürtel und schwarze Stiefel an die Reihe. Zuvor hat die Kamera einmal kurz eine Nahaufnahme der halbnackten Oberschenkel zustande gebracht. Sie sind, ohne fett zu sein, mehr fleischig als muskulös. Später werden wir, wenn er sich bückt, für Sekunden einen schmalen Streifen nackter Haut um die Leibesmitte sehen, vorn und hinten, mit den ersten Anzeichen etwas zu reichlicher Ernährung. Die Jacke endet über den Hüften, das kurze blaue Shirt wird nicht unter den Hosenbund gezogen.
Er zieht sich zügig an, wie einer, der es rasch hinter sich bringen will. Es ist ein routinierter Ablauf. Sein Bewusstsein von der laufenden Kamera äußert sich nur diskret. Er posiert nicht, geht scheinbar nur zweckbestimmt hin und her. So fragt einer sich: Sind die Fenster geschlossen, ist die Heizung abgedreht? Einmal streicht er kurz mit den Händen über die Gesäßtaschen: Sitzt die Hose ordentlich? Ohne Zweifel.
Der Kontrast zwischen alltäglichem Ankleiden und einer neugierigen, voyeuristischen, unersättlichen Kamera springt ins Auge, schafft erst die Dynamik des Streifens. Es geschieht nichts Ungewöhnliches, es geschieht hier nur Gewöhnliches, eben darin besteht der ungewöhnliche Reiz. Wie beobachten das Selbstverständliche, sonst nie Gezeigte – Magie des Alltags. Rein formal ist die Ankleideszene das Gegenteil eines exhibitionistischen Strips. Später wird er in einem Internet-Forum schreiben: Du wolltest mich nackt sehen?
Dann vielleicht doch eine Pose? Er lehnt mit der Hüfte gegen den Türrahmen, dreht sich in der Hüfte – er tut es nur, weil er einen Handschuh überstreifen und sich dabei abstützen möchte. Wir fühlen uns ein wenig ertappt. Er verhüllt sich und wir lauern auf – ja, auf was? Jetzt scheinen die Rollen vertauscht zu sein. Werden wir mit unseren Interessen entlarvt, während er sich immer mehr bedeckt?
Selbstverständlich ist alles inszeniert. Er ist gleichzeitig Darsteller, Kameramann und Regisseur und von ihm ist auch das Skript. Der Stoff: Einer gewährt Einblick in sein Privates, er ist gegenüber dem anonymen Zuschauer zuerst in der Defensive und gewinnt schließlich die Oberhand. Es ist ein kleines Lehrstück über Zurschaustellung und Ausgesetztsein, Entblößung und Verhüllung, Preisgabe und Rückgewinnung von Kontrolle. Das Interesse dafür ist beträchtlich. Als sein Video von nur zweieinhalb Minuten ein halbes Jahr im Netz steht, sind schon 50.000 Zugriffe erfolgt. Eine Kampfsportschule im Ausland hat es auf ihrer Seite verlinkt.
Hugo von Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen: „Mich dünkt, es ist nicht die Umarmung, sondern die Begegnung die eigentliche erotische Pantomime … Die Begegnung verspricht mehr, als die Umarmung halten kann.“ Der Unbekannte nimmt nun doch eine eindeutige Positur vor der Kamera ein – um sie auszuschalten.
1. Speechless (Simon Chung)
2. The Lost Coast (Gabriel Fleming)
3. Lost in Paradise (Vu Ngoc Dang)
4. American Vagabond (Susanna Helke)
5. Freier Fall (Stephan Lacant)
6. Kamera und Objekt (Erotisches Video)
7. Gay Sex in the 70s (Joseph Lovett)
8. The Delta (Ira Sachs)
9. Im Namen des ... (Malgorzata Szumowska)
10. Zoologisches im Film - Ein Beispiel
11. Sleepless Knights (St. Butzmühlen, C. Diz)
12. Mixed Kebab (Guy Lee Thys)
13. Peyote (Omar Flores Sarabia)
14. Dekonstruktion von Mythos im Film
15. La Partida (Antonio Hens)
16. Oben ist es still (Nanouk Leopold)
17. Sag nicht, wer du bist (Xavier Dolan)
18. Begehren und Versagung, Analyse eines Films
19. Der Fremde am See (Alain Guiraudie)
20. Transient, Kurzfilm von Craig Boreham
21. André Téchiné und die Kunst des Selbstzitats
22. Schwule Bauernsöhne im Film
23. Sturmland (Ádám Császi)
24. God's Own Country (Francis Lee)
25. Tiefe Wasser (Tomasz Wasilewski)
26. Heimliche Küsse (Didier Bivel)
27. Jess & James (Santiago Giralt)
28. Beach Rats (Eliza Hittman)
29. Mein Bruder, der Held (Josh Kim)
30. Departure (Andrew Steggall)
31. Der Ornithologe (João Pedro Rodrigues)
32. Closet Monster (Stephen Dunn)
33. Sócrates (Alexandre Moratto)
34. Adonis (Scud)
35. Amphetamin (Scud)
36. Young Hunter (Marco Berger)
37. Vier Tage in Frankreich (Jérôme Reybaud)
Dass ein Dokumentarfilm zugleich informativ und unterhaltsam sein kann, der Streifen von Joseph Lovett, 2005 produziert, beweist es. Er lässt nach und nach etwa ein Dutzend Zeitzeugen zu Wort kommen, die meisten davon wiederholt. Unter ihnen sind Schriftsteller wie Larry Kramer, Fotografen, ein Bildender Künstler und ein Architekt. Sie reden über die alten Zeiten, da sie selbst junge Männer waren. Wir sehen dazu immer wieder Ausschnitte aus alten Filmen und Fotos, bunt oder schwarzweiß, und es erklingt Musik von damals. Mal geht es humorig zu, mal eher bedenklich - oder bloß sachlich. Da wird eine Welt beschworen, die es so nur wenige Jahre gab …
Zuerst ein Streiflicht über die damalige Freizügigkeit, sprich: Promiskuität in New York. (Es geht fast nur ums schwule Leben in dieser Stadt.) Dann geht es ins Detail: zu den aufgegebenen Piers am Hudson als Tag-und-Nacht-Revier und vor allem zum alten Lagerhaus am Pier 48. Und gleich daneben die Trucks, in deren Anhängern sie es damals auch toll trieben. Der Film unterbricht die Präsentation der Orte und schildert relativ breit den kulturhistorischen Hintergrund: freie Liebe und Protest gegen den Vietnamkrieg, Stonewall 1969 … Anschließend wird unverblümt über Sexpraktiken geredet, bevor die drei wichtigsten Kategorien von Treffpunkten zum Cruisen usw. abgehandelt werden: a) die Bars, b) die Saunen und c) die Discos.
Nun der Ernst des Lebens – die Drogen und die Krankheiten! Zur Erholung dann ab nach Fire Island, speziell nach Fire Island Pines und Cherry Grove. Solche Sommer gab es nie wieder …Und schließlich Aids, die Epidemie, das Sterben und der Kampf dagegen. Am Schluss versucht der Film, jene Zeitzeugen eine Bilanz ziehen zu lassen – sie fällt angemessen differenziert aus. Zugleich melden sich die Jungen von heute zu Wort: Was sie über jene Zeit denken. Wer seinerzeit selbst am sündigen Hudsonufer stand und … Nun, wenn er seitdem nicht mehr da war und es jetzt im Film wieder sieht, dann erschrickt er vielleicht – sie haben da heute einen Park wie am Rheinufer von Köln oder Düsseldorf, mit Blumen und mit Joggern, nachts geschlossen.
Der Film beschönigt nichts und ist dennoch problematisch. Die alten Männer, die zum Teil in stabilen Beziehungen leben, sind gereift, klug, sie haben schwierige Zeiten überlebt, sind an ihnen gewachsen. Man muss sich klar machen, dass sie eine Elite darstellen, dass die Harmonie, die ihr Rückblick schafft, keinem realistischen Abbild jener Zeit entspricht. US-Autoren wie etwa Larry Kramer oder Andrew Holleran haben das krasse Hell-Dunkel und die Nachtseiten von damals in ihren Romanen authentischer vermittelt. Oder man lese, was der Deutsche Barry Graves damals im Spiegel über die New Yorker Homosexuellen schrieb, etwa in der Nummer 51/1975: Letzte Chance einer Liebe auf Erden. Das ist scharf beobachtet, klar analysiert und pointiert formuliert – und letztlich auch einseitig gesehen aus der Perspektive eines typisch europäischen schwulen Intellektuellen seiner Zeit.
Die Vergangenheit ist wie ein Schacht, über den wir uns beugen und in dem es von Figuren wimmelt, voller Leben, doch das wir so, wie es tatsächlich einmal war, nicht rekonstruieren können – aber es bleibt faszinierend, so dass wir es trotzdem immer wieder versuchen.
Die Geschichte dieses Filmes ist die von Anerkennung, Vergessen und Wiederentdeckung. 1996 auf den Markt gekommen, bekam der erste Streifen des US-Amerikaners Ira Sachs zunächst manches Lob und sogar Preise, dann schien er dem Vergessen anheimgefallen, um schließlich ein zweites Leben als Klassiker des Queer Cinema zu beginnen. Seit 2013 gibt es endlich eine DVD mit deutschen Untertiteln.
Der Film hat viel von ungestümem, dabei genialem Jugendwerk. Man bemerkt wohl im Hintergrund die Vorbilder: der frühe Pasolini, der früher Fassbinder. Doch ist die Atmosphäre so dicht, sind die Hauptdarsteller derart präsent und ist der Schauplatz so sehr noch fast Neuland, dass kein Eindruck von Déjà-vu aufkommt. Memphis, Tennessee ist hier eine seltsam düstere Provinzmetropole von erhabener Banalität, gelegen in einer bei aller Großartigkeit durchaus nicht einladenden Natur. Das Delta, gebildet aus den Mündungstrichtern der Nebenflüsse des Mississippi, ist eine Schwemmlandschaft, und so instabil wie die Topographie sind auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Ihre Umgangsformen sind rau, ohne eine Spur Herzlichkeit, und wenn diese sich doch einmal einschleicht, gerät die Lage bald ins Rutschen.
In den beiden jungen Männern Lincoln (Shayne Gray) und Minh (Thang Chan) konzentriert sich das Problematische des Ortes. Minh ist ein schwuler Halbvietnamese mit schwarzem US-Amerikaner als Vater – den er hasst – und einer Frau in Vietnam. So einer wird nirgendwo akzeptiert, nicht in der asiatischen Heimat, nicht in der vietnamesischen Community von Memphis. Sachs ist mit Minh die perfekte Verkörperung eines Typs gelungen, des intelligenten Schwulen von zwar einnehmendem Wesen, doch aufgrund seiner Biographie so zerrissen, dass Verhängnis ihm zwangsläufig wie Pech anhaftet. Der noch sehr junge Lincoln pendelt zwischen drei Welten. Im wohlhabenden, gefühlskalten Elternhaus ist er der gut aussehende, immerzu schweigende Sohn. Er hält sich auch in seiner Clique normaler junger Leute zurück, bei ihren billigen Vergnügungen, beim Drogenkonsum. Halt sucht er bei einer ernsthaften jungen Frau unter ihnen, die ihrerseits unter seiner Instabilität, seiner noch kaum ausgeprägten Identität leidet. Lincoln lässt sich treiben, ein unbeschriebenes Blatt. Die Orte, wo man Homosexuelle kennenlernen kann, ziehen ihn schon stark an. Er trifft dort auf Minh, dem er nicht gewachsen ist, so wie dieser der Situation insgesamt nicht. Im Ergebnis schrammen sie aneinander vorbei – und die fatale Konsequenz aus ihrer missglückten Begegnung muss ein unbeteiligter Dritter tragen.
Formal reiht der Film eine Reihe starker Einzelszenen aneinander, deren suggestive Kraft bewundernswert ist. Einige von ihnen könnten auch als sehr gelungene Kurzfilme bestehen, etwa eine Hotelzimmerszene, in der fast nichts geschieht, aber gerade im Verfehlen von Handlung zwei Charaktere extrem ausgeleuchtet werden - der Gefühlstod eines Handlungsreisenden in mittleren Jahren und ein vielversprechend-anmutiger Simplicius Simplicissimus, der sich blöde entzieht, dabei Verzweiflung hervorrufend.
„The Delta“ war, wie spät erst erkannt wurde, die erste große Talentprobe eines Regisseurs, dem danach noch viel mehr gelang.
Dieser polnische Spielfilm überrascht dadurch, dass er sich auf sein Thema und sein Milieu wirklich einlässt. Er präsentiert lebenswahre Figuren und Erzählstränge und vermeidet das allzu Naheliegende: Thesen, Schuldzuweisungen. Da ist ein Realismus der Tiefenschärfe am Werk, jede kleine Sequenz in diesem Bilderbogen aus der polnischen Provinz ermöglicht Entdeckungen. Dabei weisen Dorf und Landschaft noch über sich hinaus, ähneln Gegenden z.B. in Brandenburg. Es ist tiefes Hinterland mit Zeichen des Stillstands, des Niedergangs und zugleich ausgerichtet auf ferne Metropolen. Illinois oder Vancouver ist auf Textilien aufgedruckt, der Dorfladen nennt sich großspurig nach den Niagara-Fällen - die Baracke wird später abgefackelt. Das Leben verläuft zwischen den beiden Polen heimische Tradition und fremdbestimmte Modernität: Kleinbauerntum und Internet, harte Steinbruchsarbeit und Drogen …
Auch Adam, der neue Pfarrer, ein Jesuit in den Vierzigern, ist einer zwischen den Zeiten und Welten. Anfangs scheint er nur Vorzüge zu haben, kann sich auf sanfte Art durchsetzen, seine intellektuell geprägte Religiosität vermitteln. Er hat ein Heim für schwierige junge Männer und Burschen aufgebaut, das er zusammen mit einem Lehrer leitet, erfolgreich, wie es scheint. Seine inneren Konflikte, seine problematische Vorgeschichte werden nur langsam enthüllt. Adam ist homosexuell, ohne es auszuleben, streng zölibatär, unter seiner Einsamkeit leidend. Er wird hier im Dorf scheitern, wie er schon in Warschau gescheitert ist, er wird wieder versetzt werden müssen. Seine Tragik liegt darin, dass ihm durchaus nichts vorzuwerfen ist, nie strafrechtlich und lange auch nicht kirchenrechtlich – es ist seine von Verzicht und geheimer Sehnsucht geprägte Aura, die die Dorfbewohner rätseln, ihn zunehmend misstrauisch beobachten lässt. Aus Rauchzeichen in der Umgebung schließen sie auf geheimes Feuer. Während der Pfarrer asexuell lebt, ist Homosexualität im Heim Praxis. Einer der jungen Männer bringt sich in diesem Zusammenhang um …
Und dann ist da der junge Dorfaußenseiter Lukasz, aus einfachsten Verhältnissen, sein Bruder das, was früher Dorftrottel hieß, und er selbst als Brandstifter und Ausreißer bekannt. Lukasz nimmt als Externer am Leben, Arbeiten und Feiern des Heimes teil, versucht sich zu integrieren. Adam unterstützt das. Lukasz erweist sich als weich, anlehnungsbedürftig, sucht die Nähe des Pfarrers. Zusammengeschlagen rettet er sich nachts einmal ins Pfarrhaus. Es „passiert“ nichts, nur die Geburt der Liebe aus einem Akt karitativer Fürsorge. Später wird Lukasz dem versetzten Pfarrer hinterherfahren und das Versäumte in einer weiteren Nacht nachholen – und am Ende den Zuschauer damit verblüffen, dass er Karriere macht in einer Kirche, wie sie David Berger in „Der heilige Schein“ beschrieben hat.
Der Film hat Höhepunkte, die sich tief einprägen, so originell und kraftvoll sind sie. So wie Lukasz unter Anspannung zum Zündeln neigt, greift Adam dann zum Schnaps. Großartig die Szene, in der er nachts allein im Pfarrhaus zu extrem lauter Rockmusik betrunken tanzt, ein Bild von Papa Ratzinger in den Händen. Noch besser sein alkoholisiertes Selbstouting per Skype gegenüber der Schwester im fernen Toronto. Und ein weiterer Höhepunkt, wenn Lukasz und Adam sich in einem Maisfeld verstecken, einander suchen, nur mit imitierten Affenlauten kommunizierend. Zwischen ihnen wird sonst fast nie gesprochen. So bleiben die Fassaden erhalten, wozu auch gehört, dass der Priester nach den beiden Nächten mit Lukasz (der sittsamen wie der sündigen) sich morgens allein auf seinem Nachtlager findet. Der Film teilt vieles zwischen den Zeilen mit, noch in der Schlussszene im Garten des Priesterseminars: All die jungen Männer sind in geistlichem Schwarz, nur einer trägt Zivil, näher bei Lukasz als alle anderen, fast in Tuchfühlung.
Für Adam und Lukasz sind Andrzej Chyra und Mateusz Kościukiewicz die ideale Besetzung. Was ist noch zu rühmen? Die exzellente Kameraarbeit, der kühne und kontrastreiche Einsatz der Filmmusik. Und, noch einmal, dass das Werk weder plädiert noch anklagt, auch nicht die Amtskirche, deren Problembewusstsein wie Hilflosigkeit einfühlsam herausgearbeitet werden. Der Film setzt allein auf die positive Kraft bedeutender Kunst. Dass der europäische Film noch zu solcher Leistung fähig ist, stimmt einen froh.
„Im Namen des …“ nahm 2013 am Wettbewerb der Berlinale teil. Es erhielt damals den Teddy Award. Seit 2014 ist es als DVD erhältlich, sowohl in polnischer Originalfassung mit deutschen Untertiteln wie auch synchronisiert.
Die Berlinale 2015 brachte der polnischen Filmemacherin Malgorzata Szumowska einen Silbernen Bären in der Kategorie Beste Regie ein, und zwar für ihren neuesten Film „Body“. Hervorragende Regiearbeit war schon an ihrem Film davor zu bewundern: „Im Namen des …“, vorgestellt auf der Berlinale 2013. Szumowska wusste darin nicht nur ihre Darsteller optimal einzusetzen, sie verstand sich auch darauf, Tiere – sowohl Haustiere wie wilde – geschickt in die Handlung einzubeziehen. Das reicht vom bloß Atmosphärischen bis hin zur Tiersymbolik. Zum einen wird dadurch das ländliche Milieu, in dem der Film spielt, stärker betont, zum anderen erfolgen so diskrete Hinweise auf sozialen oder religiösen Kontext. Einige Beispiele dafür.
In einer der ersten Szenen bringt Lehrer Michal bei Tisch einen mit dem Essen unzufriedenen Zögling durch ein Sprichwort zur Raison: „Wenn ein Hund frisst, dann bellt er nicht.“ Der Gescholtene grimassiert daraufhin wie ein Hund. Ihm ist seine untergeordnete Rolle klargemacht worden, er akzeptiert sie widerwillig. Echtes Hundegebell ertönt im weiteren Verlauf dann oft wie dissonante Filmmusik, z. B. wenn die Insassen des Jugendheimes sich mit der Ortsjugend prügeln. Vergegenwärtigen wir uns, dass die Erziehungsanstalt kirchlich ist und Hunde im Alten wie Neuen Testament eine schlechte Presse haben.
Lukasz, der spätere Geliebte des Pfarrers, tritt zuerst mit einer Kuhherde auf. Er treibt sie dicht an den Heimbewohnern vorbei, die gerade Fußball spielen. Er ist der Hirt, der aus seiner archaisch engen Welt ausbrechen, sich einer problematischen Moderne anschließen will. Wenig später darf er mit den anderen Fußball spielen, das ist der Anfang seiner Einbindung. Doch das Muhen und Brüllen von Kühen begleitet ihn noch und erklingt wie zum Abschied - ähnlich dem Herdenglockenklang in Mahlers Sechster, dritter Satz -, als er Mutter und Brüder verlässt und in die Welt aufbricht. Er scheint das friedvolle Geräusch mitzunehmen, man hört auch Kühe, als Adam, der erneut versetzte Pfarrer, nach seiner ersten und vielleicht einzigen Liebesnacht mit Lukasz wieder allein daliegt. Lukasz ist schon fort, aber der Frieden, den er gebracht, geblieben.
Die symbolische Bedeutung einer schwarzen Katze kennt man. Hier im Film kreuzt sie die Straße, wenn Michals Auto sich rasch dem am Straßenrand parkenden Adams nähert. Michal fährt langsamer, schaut hinüber und sieht, wie sich im Wagen drüben die Köpfe des Pfarrers und Lukasz’ berühren. Er schöpft Verdacht, wendet sich an den Bischof. Die Katze kam übrigens von rechts, zum Glück nicht von links, von Adam aus gesehen. Sein Unglück hält sich tatsächlich in Grenzen. So viel von den Haustieren.
Die Ameisen haben ihren ersten Auftritt gleich zu Beginn. Die Dorfkinder zwingen Lucasz` geistig behinderten Bruder Marcin, Ameisen zu essen, dann beschimpfen und schlagen sie ihn. Die Szene spielt auf einem verwahrlosten Friedhof. Ist er nicht jüdisch? Dazu gibt es antisemitische und weitere herabsetzende Sprüche. Der jüngste der drei Brüder, selbst noch Kind, tötet später Ameisen vor ihrer Haustür durch gezielte Tritte. Lukasz sitzt auf einem Stuhl daneben, die Mütze über die Augen herabgezogen. Wohl vergeblich hat er dem Kleinen vorher Achtung vor der Kreatur beizubringen versucht. Das ist eine der poetischsten Stellen des Filmes: wie sie bewundernd die Schnecken betrachten, die sich auf einer Fensterglasscheibe angesiedelt haben. Die Ameise steht schon in der Bibel für Fleiß und Klugheit (Sprüche Salomos 6,6). Und die Schnecken? Ihr Bedeutungsradius ist weiter gezogen. Er reicht von Langsamkeit und Sensibilität über Wollust bis hin zur Verkörperung von Wiedergeburt und Erneuerung – und gerade von Letzterem spricht der Pfarrer in einer seiner autobiographisch inspirierten Predigten. Und noch ein christlicher Schlüssel: die Schnecke, im Frühjahr ihr Gehäuse sprengend, als Auferstehungssymbol. Dieses Motiv wird aufgenommen, wenn Lukasz und Adam sich endlich nahekommen und in betont langer Einstellung ihre Kleidung mühsam ablegen.
Frau Szumowska setzt sogar mit Erfolg eine Stubenfliege ein, um die Handlung symbolisch aufzuladen. Dies geschieht genau viermal (- und darüber hinaus hören wir Fliegengesumm wiederholt nur als Hintergrundgeräusch, wenn tabuisierte Sexualität in der Luft liegt.) Beim ersten Mal belästigt eine Fliege den nachts wach liegenden Adam, er verscheucht sie und plötzlich steht Lukasz erstmals vor seiner Tür, nach einer Schlägerei blutend, und muss versorgt werden. Die Fliege ist wieder zur Stelle, als Lukasz später im Auto einen schüchternen Annäherungsversuch unternimmt. Und sie spaziert über Monitor und Tastatur, als Adam sich per Skype seiner Schwester in Toronto offenbart. Beim vierten Mal – es ist am Morgen nach ihrer ersten Vereinigung – lässt sich die Fliege erstmals auf Lukasz nieder, der sie mit einer Handbewegung verjagt, wozu die beiden Männer amüsiert lächeln. Sie scheinen zu wissen, dass die Fliege in der christlichen Dämonologie traditionell als Begleiterin des Teufels angesehen wird: Beelzebub als Herr der Fliegen. Und sie setzen sich jetzt darüber hinweg: Fliegengesumm in ihren Ohren die Reste überlebter Moral. Die Reaktionen konservativ-kirchlicher Kreise in Polen auf den Film fielen dennoch oder gerade deshalb ungnädig aus.
(Hinweis: Zum Film „Im Namen des …“ allgemein gibt es gesondert eine Rezension von Arno Abendschön, ebenfalls hier veröffentlicht.)
Wer sich vorab nicht für die Filmemacher interessiert und das Werk aus 2012 insoweit ohne Vorkenntnis ansieht, kann es leicht für ein rein spanisches Produkt halten. Doch nur die Co-Regisseurin und Co-Autorin Cristina Diz kommt ursprünglich aus Spanien, Stefan Butzmühlen und der Kameramann Stefan Neuberger sind Deutsche. Dafür ist die Besetzung im Wesentlichen rein spanisch, darunter viele Laiendarsteller aus der ländlichen Extremadura. Diese sommerlich ausgedörrte Binnenregion an der Grenze zu Portugal sowie ein größeres Dorf in ihr sind jedoch die eigentlichen Hauptfiguren des Films. Die Bühne selbst ist hier bedeutender als das Geschehen auf ihr. Wem das Narrative an einem Film das Wichtigste ist, kann enttäuscht werden. Wer aber Sinn für Atmosphäre hat, wer poetischen Realismus im Film liebt, wird hier voll auf seine Kosten kommen. Die Bildsprache ist von außerordentlicher Kraft und Schönheit.
Wie die Filmemacher an ihre Arbeit herangingen, erläutern sie selbst im Presseheft des Verleihers und Produzenten (Salzgeber und Co. Medien GmbH) so: „In den Vorbereitungen hat unser Kameramann uns gefragt, ob wir uns die Szenen, die wir ihm per Skype beschrieben haben, wie Gemälde vorstellen. Wir dachten an Bilder, die für sich existieren. Wir wollten experimentieren: Sehen, was passiert, wenn wir sie nacheinander reihen, wenn wir beim Schreiben eher über konkrete Bilder als über eine Geschichte nachdenken und später diese Bilder montieren. Erst im Montageprozess haben wir uns mit der dramaturgischen Aufgabe jeder Szene innerhalb des Films auseinandergesetzt. Wir haben das Material beobachtet und uns langsam der Vorstellung angenähert, was unser Film eigentlich sein kann.“ Das Ergebnis dieses Verfahrens kann sich sehen lassen. Mit diesen Bildern kann man sich eins fühlen, so suggestiv und zugleich kontemplativ wirken sie auf den dafür aufgeschlossenen Zuschauer. Oft fühlte sich der Rezensent an Weerasethakuls „Tropical Malady“ erinnert.
Die beiden jungen Hauptdarsteller wurden in Madrid engagiert. Raúl Godoy ist Carlos, er kommt 2011 für einen Sommermonat heim ins Dorf, scheint seine Arbeit in Madrid infolge der Wirtschaftskrise verloren zu haben. Denkt er ans Auswandern nach Deutschland? Sein dementer Vater und der ihm sehr fremde Bruder sind Schafzüchter. Carlos hilft ihnen ein wenig und arbeitet abends hinter dem Tresen einer Bar im Dorf. Dort begegnet er Juan (Jaime Pedruelo), einem Polizisten, der eben aus Madrid hierher versetzt wurde. Die beiden kommen sich rasch nahe, werden ein Paar. Das wird nur beiläufig erzählt, in scheinbar zufällig aneinandergereihten Szenen von großer Innigkeit.
Die zweite, davon strikt losgelöste Handlung besteht im Nachspielen einer mittelalterlichen Legende durch ein gutes halbes Dutzend alter Männer aus dem Dorf. So sonderbare und zugleich lebensechte Rentner sah man lange nicht im Film. Wie sie zusammensitzen, Fische braten, Lieder singen, Gedichte vortragen – und wunderschöne, poetische! Dann binden sie Schafen Taschenlampen auf den Rücken und treiben die Herde in beginnender Nacht zur Ruine einer Burg hinauf …
Eingebettet sind diese beiden im Film nur skizzierten Handlungen in Alltagsszenen aus dem Dorf. Das ist ein Mikrokosmos vom Rand Europas, seltsam fremd in unserer Zeit. Ist er ein Relikt der Vergangenheit? Oder sich abzeichnende Zukunft? Vielleicht ist er nur ein Fluchtort.
2012 drehte der Belgier Guy Lee Thys diesen Film, der angesichts der jüngsten Entwicklung in seinem Land nun verstärktes Interesse auf sich ziehen kann.
Die Handlung: Ibrahim – oder flämisch: Bram – (Cem Akkanat) ist ein junger Mann aus Antwerpen mit türkischen Eltern. Er bringt sich als Halbtagskellner und Gelegenheitsdealer so eben durch. Seine Homosexualität ist sowohl der Mutter wie auch den Geschwistern bekannt, vor dem Vater wird sie geheim gehalten. Ibrahim wird genötigt, nach Anatolien zu fliegen, um eine von der Familie arrangierte Hochzeit mit einer Kusine vorzubereiten. Auf die Reise nimmt er seinen neuen flämischen Freund Kevin (Simon Van Buyten) mit. Zwangsläufig endet das Heiratsprojekt mit einem Fiasko. Parallel dazu hat sich der jüngere Sohn Furkan (Lukas De Wolf) einer religiös-fundamentalistischen Gruppe angeschlossen. Die Spannungen innerhalb wie außerhalb der Familie nehmen immer mehr zu, bis es zu einer Gewalttat mit beinahe tödlichem Ausgang kommt. Die Familie rückt in der Krise zusammen – ob in Zukunft an Ibrahims Seite Platz für Kevin sein wird, bleibt fraglich.
Wie wird dieser Stoff umgesetzt? Man kann dem Werk gute Fernsehspielqualität zuerkennen, mehr nicht. Die Handlung ist überladen mit Details, die Spannung erzeugen oder sie aufrechterhalten sollen. Dabei wirkt nicht Weniges davon wie aus dem Musterbaukasten der Fernsehspielästhetik, ist im Ablauf vorhersehbar. Personen wie Situationen neigen zum Plakativen, sind oft überzeichnet. Besonders gilt dies für den in der Türkei spielenden Mittelteil. Ibrahims anatolische Verwandtschaft wie die weiteren Akteure dort sind durchweg unsympathisch. Dagegen erscheinen die flämischen Protagonisten – Kevin und seine Mutter – allzu bieder. Die Kameraführung vermittelt die Atmosphäre der diversen Schauplätze gut, doch cineastisch Aufregendes hat sie nicht zu bieten. Was den Film dennoch rettet, ist Cem Akkanats hervorragendes Spiel. Leider mutet ihm das Drehbuch kurz vor Filmende noch eine unglaubwürdige innere Krise zu.
Jenseits des Künstlerischen hat der Film aktuell beträchtlichen dokumentarischen Wert. Er dringt trotz seiner Neigung zu Schablonen tief in die Struktur und die Widersprüche einer türkischen Großfamilie in Westeuropa ein. Und: Er thematisiert bereits die religiös-fundamentalistische Parallelwelt in Belgiens Großstädten, ihre Strategien und Taktiken, ihre Attraktivität für junge muslimische Männer. Vor allem unter diesem Aspekt stellt der Rezensent den Film jetzt hier vor.
(Geschrieben im November 2015)
Wie viel Handlung von Gewicht kann man in einen Film von bloß siebzig Minuten Länge packen, zumal wenn es nur ein Zwei-Personen-Drama ist? Sehr viel, der 1986 geborene Mexikaner Omar Flores Sarabia beweist es mit seinem ersten Spielfilm, gedreht 2013. Zwischen den zwei Figuren findet all das statt: erste Begegnung, Entwicklung, Umschwünge, Trennung, Erinnerung - zusammengedrängt in maximal sechsunddreißig Stunden Handlung.
Pablo (Joe Diazzi) ist siebzehn, geht noch zur Schule. Er ist in der prosperierenden Provinzmetropole San Luis Potosí zu Hause und stößt dort auf Marco (Carlos Luque), der wenige Jahre älter ist und gegenwärtig gar nichts tut. Pablo filmt den Herumlungernden heimlich, Marco sieht die Chance für einen Roman zwischen ihnen. Er überredet den Jüngeren zu einer Autofahrt in das ca. zweihundert Kilometer entfernte museale, halb verfallene Städtchen Real de Catorce, früher ein Ort mit ergiebigen Silberminen. Bei Real könne man Peyote-Pflanzen finden, sagt er. Ohne dass das Wort Meskalin fällt, ist klar, Marco hat ein Ziel: Pablo zu einer Art Initiation zu verhelfen.
Die beiden jungen Männer gehören deutlich voneinander geschiedenen sozialen Schichten an. Pablo, ein noch relativ unbeschriebenes Blatt, ist ein Kind der oberen Mittelklasse, wenn nicht gar aus der Oberschicht. Marcos Herkunft ist eher plebejisch, allenfalls unterer Mittelstand, ökonomisch gescheitert. Seine leichte Verschlagenheit und kumpelhafte Aggressivität sind zum Teil nur Fassade, hinter der immer wieder spontan menschliche Wärme aufscheint. Er verfügt gegenüber Pablo über zwei Erziehungsmethoden. Zunächst geniert er ihn, indem er ihn als unselbständigen, allzu behüteten Sprössling aus reichem Haus charakterisiert und zunehmend auch lächerlich macht. In einer zweiten Phase schockiert er den Jüngeren zusätzlich dadurch, dass er dessen bislang diskrete homosexuelle Neigung thematisiert und sie gleichzeitig verbal herabsetzt. Allerdings schlafen sie in Real auch miteinander. Nur das Vorspiel wird gezeigt, voll von Begehren, Neckerei, Machtspiel, Entblößung der Seele, das gehört zu den Höhepunkten des Films.
Nach dieser Nacht dreht die Story. Pablo entdeckt die Schwächen seines neuen Freundes, seine Instabilität, seine deprimierende Familiengeschichte, seine Perspektivlosigkeit. Sie verlassen die Stadt und je weiter sie in die sie umgebende Halbwüste vordringen, umso mehr verschärft sich die Krise zwischen ihnen und die für jeden von beiden allein. Der Jüngere erweist sich als der fürs Leben besser Vorbereitete, Pablo gewinnt in ihrer Beziehung die Oberhand. Ob sie den Peyote finden, wird hier nicht verraten. Jedenfalls kehren sie stark verändert nach Real zurück, von wo aus einer heimfährt, während der andere zunächst bleibt.
Für die beiden jungen Schauspieler ist es jeweils die erste Hauptrolle in einem Spielfilm. Sie füllen sie aus, als ginge es tatsächlich um ihre Existenz, mit so viel Kraft, Frische und Präsenz, dass es eine Lust ist, sie dabei zu erleben. Sie entwerfen so zwei Charakterbilder, sie zeigen, wie Identität beschaffen ist und wie sie, indem sie scheinbar verlorengeht, erst recht gewonnen, verstärkt wird – so gesehen auch eine traurige Geschichte. Die soziale Rolle und die individuelle Psyche verweisen wechselseitig aufeinander, ohne die Magie der Persönlichkeit vollständig zu enträtseln. Das alles zeigt uns die Kamera vor einer wahrhaft heroischen Berg- und Wüstenlandschaft, beeindruckend eingefangen. Das klug mit Leitmotiven arbeitende Drehbuch scheint mir übrigens Themen aus Francisco Francos „Quemar las naves – Burn the bridges“ aufzunehmen, noch so ein wunderbarer mexikanischer Film.
Dem jungen Regisseur Omar Flores Sarabia ist nach diesem überzeugenden Debüt eben so viel zuzutrauen wie auch Erfolg zu wünschen.
In Omar Flores Sarabias Film „Peyote“ unternehmen zwei junge Männer spontan einen Trip von San Luis Potosí nach Real de Catorce. Dort angekommen streifen sie durch die museale Kleinstadt. Marco, der Ältere der beiden, fragt Pablo nach dem Plan von San Luis Potosí – für die meisten Mexikaner Bestandteil ihres Wissens über die jüngere Landesgeschichte. Diesen Plan hat der spätere Präsident Madero (1873 – 1913) mit anderen im US-Exil verfasst, 1910 in San Luis Potosí veröffentlichen lassen und damit den Startschuss für die im Verlauf erfolgreiche mexikanische Revolution gegeben. Das Dokument spielt hagiographisch eine ähnliche Rolle wie die Erstürmung des Winterpalais für die russische Oktoberrevolution von 1917. Als bloßes Papier ist es angenehm unblutig wie jenes Ereignis in St. Petersburg und damit hervorragend zur Begründung eines Mythos geeignet, der vom in beiden Fällen später reichlich geflossenen Blut ablenkt. Die fortlaufende Erinnerung daran dient heute vor allem der Legitimation der seitdem die Macht innehabenden politischen Klasse. Dass Madero als gemäßigter Präsident schon 1913 gestürzt und bald darauf ermordet wurde und sich die Revolution erst danach voll realisieren konnte, verschafft dem Plan von San Luis Potosí eine zusätzliche tragische Note.
An einer solchen nationalen Reliquie vergreift man sich nicht. Doch eben das tut Marco, der mit Pablo einiges vorhat. Der erst Siebzehnjährige spult zögernd ab, was er in der Schule gelernt. Darauf Marco: Das erfindest du jetzt oder man hat es dir falsch beigebracht … Und dann macht er ihm weis, der Plan sei tatsächlich in Real entworfen worden, und zwar beim Ficken! Madero habe da einen Schatz gehabt und um ihn zu retten usw. usf. Es ist alles erfunden, doch Pablo leiht willig sein Ohr. Erst als das Geschlecht des „Schatzes“ sich als maskulin herausstellt, wird er bockig: Madero ein „maricón“?! Sie beginnen die Frage zu erörtern, ob Helden schwul sein können. Dann ein Schnitt und Marco lehnt an einer hohen Steinmauer, blickt zärtlich auf Pablo herunter, sagt: Und das Beste an der Geschichte ist, dass du sie geglaubt hast. – Pablo fühlt sich zum Widerspruch verpflichtet und er setzt an zu sagen, Madero sei kein „maricón“ gewesen. Da ihm aber das Thema in der Öffentlichkeit peinlich ist, sagt er’s ihm ins Ohr und muss sich dabei recken und zu ihm hinstrecken. Es sieht ganz so aus, als ob er ihn gleich umarmen und küssen würde. Der tote Präsident ist schon nicht mehr das Thema, und am Abend hat Marco seinen eigenen Plan von San Luis Potosí in die Tat umgesetzt.
Die kleine Szene ist nicht nur hübsch anzusehen, sie scheint mir wie manches schon bei dem etwas älteren Julián Hernández („Mil Nubes“) für eine Tendenz im lateinamerikanischen Film zu stehen. Es ist da eine Art von Entmythologisierung am Werk, bei der Mythen zum Zitatensteinbruch werden, aus dessen Trümmern rein private Welten neu entstehen.
Der Regisseur Antonio Hens ist Spanier. Er hat sich, erfahren wir, seit den 1990er Jahren häufig auf Kuba aufgehalten, um Verwandte zu besuchen. Sein zweiter Spielfilm „La Partida“ spielt ausschließlich in Havanna, gedreht mit kubanischen Schauspielern und kubanischer Crew. Nach seiner Fertigstellung 2013 wurde er rasch hintereinander auf Filmfestivals in Sevilla, San Francisco und dann auch Havanna vorgestellt. Anlässlich dieser ersten Präsentation in Kuba interviewte ihn die linke, regierungskritische Internet-Zeitung „Havana Times“ (englisch- und spanischsprachig). Der Blog wird von Nicaragua aus betrieben, mit Autoren zumeist in Kuba. Die Aufführung des Problemfilms in Havanna ist ein Gradmesser der Liberalisierung Kubas - und Hens’ vorsichtige Antworten im Interview einer für deren Grenzen.
Hens weist in diesem Gespräch ausdrücklich die Auffassung zurück, er habe mit dem Film spezifisch kubanische Probleme darstellen wollen. Es sei ihm vielmehr um ein universales Thema gegangen, um unterprivilegierte Menschen und ihre Suche nach persönlicher Freiheit – man könne solche Gestalten in der kubanischen wie in jeder anderen Gesellschaft finden. Es scheint, Hens hat hier vielleicht Rücksicht auf seine Interessen in Kuba genommen, im Hinblick auf die Vermarktung des Filmes dort und auf die Situation der Mitwirkenden. Denn zumindest der europäische Zuschauer wird in seinem Film ein recht genaues Bild der kubanischen Gesellschaft wie des Alltags in Havanna von heute erkennen. Die Szenen spielen überwiegend im heruntergekommenen Teil des Zentrums der Hauptstadt, sie zeigen die erbärmlichen Wohnverhältnisse, die Geldnöte, die teilweise schwierige Ernährungslage, den Auswanderungsdruck. Schwarzmarkt und Privilegien werden nebenbei gestreift. Als Reinier (Reinier Diaz) von seinem ersten Training in der Jugendnationalmannschaft heimkommt, berichtet er: Sie haben mir sogar Fisch und Pommes frites gegeben … Und es stellt sich für die Familie die Frage, wieso sie auf ihn verfallen sind, da doch sonst nur die Söhne von hohen Bonzen genommen würden.
Reinier ist jungverheiratet, ein Kind ist schon da, alle wohnen sehr beengt bei der Schwiegermutter. Er hat keine Arbeit und Einkünfte nur, wenn ihm Fortuna im Glücksspiel gewogen – oder wenn er als Stricher erfolgreich gewesen. Er spielt Fußball in Mannschaften, die sich aus den jungen Männern des Armenviertels spontan bilden - dabei wird er von Talentsuchern entdeckt. Yosvani (Milton Garcia), einer der Mitspieler im Kiez, steht materiell besser da. Er lebt mit seiner Verlobten bei deren Vater und hilft ihm bei nicht immer sauberen Geschäften. Reinier und Yosvani kommen sich viel näher als sonst beim Fußball üblich. Und dann ist da noch ein spanischer Tourist, auf den sich die Hoffnungen von Reiniers Familie richten: Der junge Kubaner soll den Fremden in Spanien heiraten und die anderen dann nachholen. Hens zeigt im Film die Massen männlicher Prostituierter an der Strandpromenade von Havanna. Bei der Präsentation seines Werks berichtet er von jungen Männern, die von hier aus nach Europa gelangen und wie ihre Schicksale dort verlaufen. In der Filmhandlung scheitert der Plan, nur der Spanier verlässt dieses düstere Havanna. Der Film endet mit einer melodramatisch aufgeladenen Bluttat tragisch.
Der Streifen ist professionell gut gemacht, weist relativ hohes künstlerisches Niveau auf und stützt sich vor allem auf zwei ausgesprochen sehenswerte Nachwuchsschauspieler. Die beiden verkörpern mit ihren Rollen zwei entgegengesetzte Typen - und hier ist die Thematik tatsächlich universal und die Handlung über Kuba hinausweisend. Während Reinier im Lauf ihrer Beziehung allmählich klüger, vorsichtiger, verantwortungsvoller wird, rennt Yosvani – er hat den sympathischeren Part - mit der Unbedingtheit seiner Liebe schnurstracks ins Unglück. Wieder einmal: zum Weinen schön.
Auch das ist eine Geschichte von begrabnem Leben, doch anders als in Thomas Wolfes geräuschvollem Familienroman „Schau heimwärts, Engel“ ein stilles Drama, dafür zeitlich und örtlich uns viel näher. Helmer (Jeroen Willems) ist Mitte fünfzig, ledig und wirtschaftet allein auf einem kleinen Hof nahe an Hollands Südgrenze. Bei ihm lebt sein alter Vater (Henri Garcin), den er versorgen muss. Helmer war nicht als Hoferbe vorgesehen, nach dem frühen Tod des Bruders ist er eingesprungen. Hat er sich, sein autonomes Leben geopfert? Die Handlung setzt damit ein, dass er den altersschwachen Mann im Haus umquartiert – der Vater wird zum Sterben ins Dachgeschoss gebracht und dort von ihm ebenso pflichtbewusst wie unverkennbar frei von Zuneigung gepflegt. Helmer renoviert die Räume unten, die er selbst bezieht, ohne sie jedoch mit Leben ausfüllen zu können. Wir werden Zeuge einer leisen und verspäteten Midlife-Crisis, deren Substanz etwas rein Negatives ist: Helmers unterbliebenes Coming-out.
Oben ist es tatsächlich still: Vater und Sohn kommunizieren kaum miteinander. Der Jüngere fühlt sich auf dem Hof seit jeher fehl am Platz, der Ältere sagt als Letztes, bevor er stirbt: „Du bist ein sonderbarer Kauz.“ Der Sohn ist Milchbauer, hält Rinder und, mehr zum Vergnügen und gegen das Alleinsein, Schafe und zwei kleine Esel. Sein Verhältnis zu den Nachbarn ist korrekt, beinahe freundschaftlich. Dagegen weicht er dem sympathischen älteren Milchfahrer (Wim Opbrouck), der ihn mag und ihm näherkommen möchte, konsequent und zugleich gegen sein eigenes Bedürfnis nach Nähe aus. Dieselbe angstvolle Abwehr alles Erotischen vertreibt auch den jungen Knecht (Martijn Lakemeier) nach wenigen Wochen wieder vom Hof. Es wird noch einsamer um Helmer: Der Viehhändler siedelt mit Familie nach Neuseeland über. Der Milchfahrer quittiert den Dienst und kehrt nach Belgien zurück. Doch dann ist er bei der Beerdigung von Helmers Vater wieder da. Die letzte Einstellung deutet eine mögliche Wende an: Helmer, nun ungewohnt ausgeglichen auf seinem eigenen Grund liegend, blickt mit einer Mischung aus Neugier und Zufriedenheit zur Seite, ohne dass uns mehr ins Blickfeld gerät.
Die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold hat den gleichnamigen, sehr erfolgreichen Roman von Gerbrand Bakker auf ihre eigene subtile Weise verfilmt, atmosphärisch dicht und stimmig, detailreich. Die eindrucksvollen Sequenzen drinnen und draußen folgen in raschem Wechsel. Über allem liegt eine Art von November-Sinnlichkeit. Es ist durchgehend winterlich, dabei feucht-mild oder leicht frostig. Gelegentlich könnte man Bezüge zur Welt der Evangelien vermuten: Helmer, wenn er seinen Vater wie sein schweres Kreuz die Treppe hinaufschleppt. Oder Helmer als der gute Hirte inmitten seiner Lämmer. Und dann bei der Beerdigung eine Art Auferstehung, nicht des Vaters, sondern des Sohnes oder des Milchfahrers, der wieder da ist, mit Wundmalen im Gesicht, die nicht erklärt werden.
Je öfter man den Film, uraufgeführt auf der Berlinale 2013, jetzt ansieht, umso eindrucksvoller erscheint einem Frau Leopolds Arbeit und die ihrer Crew. Jeroen Willems ist bald nach den Dreharbeiten Ende 2012 einem Herzanfall erlegen. Hier erleben wir ihn noch ganz auf der Höhe seines Darstellungsvermögens. Sein Helmer ist die einzige Hauptrolle des Films und auf ihm liegt die Last dieses spröden Stoffs – wunderbar, wie er ihr standhält. Da wird uns ein Schicksal, wie es selbst heute noch viele geben mag, behutsam vor Augen geführt, eines, das von andauerndem Verzicht und stummem Leiden daran erzählt.
Der 2013 herausgekommene Psychothriller heißt im Original „Tom à la ferme“, englisch entsprechend „Tom at the Farm“. Der abweichende deutsche Titel scheint mir klug gewählt, er trifft den Kern - das Problem der Identität ist in diesem Film zentral. Das gilt für alle vier Hauptfiguren. Sie wollen oder sollen sich nicht als das offenbaren, was sie sind, und – noch prekärer – sie dürfen sich nicht einmal selbst danach befragen, sonst riskieren sie sehr viel: zu entgleisen.
Der Mittzwanziger Tom aus Montreal (Xavier Dolan) hat seinen Lover Guillaume plötzlich verloren, vermutlich durch Selbstmord. Schon dies bleibt unaufgeklärt. Tom erscheint kurz vor der Beerdigung unangemeldet bei der Familie des Toten auf dem Land. Mit der verwitweten Mutter (Lise Roy) hat er gerechnet, nicht jedoch mit Francis (Pierre-Yves Cardinal), der den Bauernhof allein bewirtschaftet. Guillaume hatte ihm die Existenz des älteren Bruders unterschlagen. Tom seinerseits wird von Francis gezwungen, der Mutter Guillaumes Homosexualität zu verschweigen. Stattdessen hat er Details über dessen angebliche Freundin Sarah zu erzählen, d.h. zu erfinden. Mehrfach schiebt er Sarah auch eigene Erinnerungen an den Toten unter. Tom, sonst in der Werbebranche tätig, soll dann unbefristet auf dem Hof bleiben und mitarbeiten. Er gerät immer stärker in den Bann des sowohl anziehenden wie gewalttätigen Mannes. Wiederholte Fluchtversuche scheitern. Tom veranlasst Sarah (Évelyne Brochu), von Montreal herzukommen, um die Legende abzusichern. Damit verschärft sich die Krise, in deren Fortsetzung Tom die Selbstbefreiung gelingt.
Tom hat im Verlauf der Handlung Verstörendes erfahren, auch über sich selbst. Er arrangiert sich lustvoll mit der eigenen Unterwerfung. Kurzzeitig tritt Sarah gegenüber Francis überraschend in Toms Fußstapfen, konkurriert also mit Tom. Außerdem will sie Sex mit Guillaume gehabt haben. Das Bild von Agathe, der Mutter, verwandelt sich von dem einer abgeklärten Greisin zu dem einer längst tief Verzweifelten, die extremer Ausbrüche fähig ist. Alle überstrahlt jedoch mit seinem dämonischen Glanz Francis. Er ist attraktiv, aggressiv, gefährlich, zuweilen sympathisch, manchmal hilfsbedürftig. Seine starke Homophobie und das Bemühen, die geliebte Mutter zu täuschen, sind verdächtig. Will er sich selbst tarnen? Er wird seinerseits von Tom angezogen, später teilen sie zumindest die Lagerstatt. Aber Sarah scheint ihn ebenfalls zu verlocken. Ist Francis bisexuell? Oder ist Sex bloß Mittel in einem Spiel, in dem es nur um Macht und Demütigung geht und bei dem das Geschlecht der zu Unterwerfenden nebensächlich ist?
Vom Schluss her kann man sich dem Verständnis nähern. Tom flieht, Francis verfolgt ihn, um ihn zurückzuholen. Dabei ist Vollmond und als Tom wirklich entwischt ist, vernimmt man etwas, das für Wolfsgeheul gehalten werden kann. Sollte Dolan tatsächlich auf den alten Werwolf-Mythos rekurrieren? Francis ist gern nachts unterwegs und sein leicht verwilderter Vollbart vermittelt auch am Tag etwas von Wolfsanmutung. Hat man diesen Zipfel einmal in der Hand, mehren sich die Verdächte: Was ist mit der Kuh geschehen, deren Kadaver Francis am Tag nach Toms Eintreffen mit dem Traktor wegschleift? Woran ist das Kalb gestorben, das Tom einige Tage später vorfindet? Und ein neugeborenes Kalb bekommt von Francis gleich den seltsamen Namen „bitch“, wobei er sich unverblümt auf dessen Hinterfront bezieht. (Tom wird nachher geschmeichelt zu Sarah sagen, das sei ihm selbst zu Ehren geschehen.) Ist Francis auch noch Sodomit, also zoophil?
Man muss den Wolf nicht wörtlich nehmen, es ist wohl symbolisch gemeint. Francis ist als menschliches Wesen ein Mann mit pansexuellem Zerfleischungs- und Vernichtungsdrang. Selten wurde das Abgrundböse so anziehend verkörpert wie in dieser Figur, zumal sie eben nicht nur böse ist. Dass eine solche Sicht auf den Film einseitig bleiben muss, versteht sich. Der soziale Hintergrund ist einer eigenen Untersuchung wert. Dass der Streifen auch ästhetisch meisterhaft ist, ist schon oft festgestellt und im Einzelnen erörtert worden. In Venedig hat er 2013 den Preis der Filmkritik verdientermaßen bekommen.
Mehrdeutigkeit ist ein Hauptmerkmal von Xavier Dolans Film „Tom à la ferme“, deutsch „Sag nicht, wer du bist“. Bei einem Werk, das auch minimalistisch ist, regt das ebenso das Bedürfnis nach Auslegung an, wie es sie zugleich erschwert. Drei Hauptmotive oder –motivstränge dominieren die umfangreiche kritische Auseinandersetzung. Besonders oft fällt das Stichwort „Stockholm-Syndrom“. Toms Entwicklung während seines verlängerten Aufenthalts auf der Farm, durch Druck und gewaltsame Mittel erreicht, wird gern als zeitweilige Anpassung an eine fremdbestimmte Lage gesehen. Diesen Ansatz bevorzugen nicht nur professionelle Kritiker, er wurde schon bei der Vermarktung des Films betont. So kann man ein breites Publikum ansprechen – jeder kann einmal eine Geisel werden. Gegen diese Perspektive sprechen allerdings Anfang und Ende der Fluchtversuche. Nach Guillaumes Leichenfeier ist Tom entschlossen, nicht ins Bauernhaus, sondern nach Montreal zurückzukehren, und nimmt den Verlust seines Reisegepäcks in Kauf. Dann wendet er nach innerem Kampf und fährt wieder zur Farm, ohne Zwang, weil er selbst es will. Am Ende des Films befreit er sich selbst, ohne Hilfe von außen, allein aufgrund innerer Distanzierung. Das entspricht nicht der Entwicklung eines klassischen Stockholm-Syndroms.
Zu Recht viel beachtet wird dagegen das komplizierte Mutter-Sohn-Verhältnis. Agathe ist die Herrin im Haus, sie sagt dem Sohn, was zu tun ist, korrigiert sein Verhalten, brüllt ihn gelegentlich an und ohrfeigt einmal sogar den schon Dreißigjährigen. Francis fühlt sich der Mutter verpflichtet und strebt zugleich von ihr weg. Er will ihr Kummer ersparen, selbst um den Preis der Lüge. All das empfindet er auch als Last und Unfreiheit und wünscht der Mutter und sich selbst, sie möge bald sterben. Sein Auftreten wirkt bescheiden bis unterwürfig, wenn Agathe zugegen, und selbstbewusst oder dominierend, wenn er mit Tom allein ist. Die seelische Verwandtschaft zwischen Mutter und Sohn ist offensichtlich. Dabei sind Mutter- wie Kindesliebe von untergründiger Ambivalenz geprägt.
Gefühlsambivalenz tritt zwischen Francis und Tom offen zutage und nimmt hier breiten Raum ein. Sie füllt den Großteil der Handlung aus und bestimmt deren Fortgang mit ihrem Dualismus von Gewalt und Zärtlichkeit. Schon die Begrüßung des Gastes stimmt ein auf den Doppelcharakter ihrer Kommunikation. Francis reißt den Gast aus Montreal brutal aus dem Schlaf und hält ihm den Mund zu, aber er spricht selbst leise, rücksichtsvoll. Am anderen Morgen bringt er als Erstes ein Lob auf den von Tom vorbereiteten Redetext an. Er steht hinter dem am Tisch Sitzenden, wie ein Wächter, weniger drohend als beschützend. Doch kurz darauf schockiert er Tom in der Dusche à la Hitchcocks „Psycho“ und verbietet ihm, Parfüm zu benutzen. Das Sinnliche ist schon Bedrohung. Nach der missglückten Trauerfeier zieht Francis die Schraube weiter an, schlägt Tom erstmals und verrät sadistische Befriedigung. Er sagt: Ich habe gewusst, dass du kommen wirst ... Von wirklich wissen kann keine Rede sein, Tom war ihm persönlich noch unbekannt. Er hat nach der Nachricht vom Tod des Bruders das Erscheinen von dessen Partner nur vermutet, also befürchtet, vielleicht auch erhofft oder beides zugleich.
Mutter und Sohn sind sich einig: Tom muss bleiben. Er wird gar nicht gefragt und noch am Tag der Exequien für die Stallarbeit eingeteilt. Dabei bewährt er sich ebenso wie darin, Agathe zu belügen, indem er eigene Erinnerungen an den Toten auf dessen angebliche Freundin Sarah überträgt. Francis ist hochzufrieden, ihr Einvernehmen kurze Zeit ungetrübt. Bald übt Tom unbedacht Kritik an ihm, spricht das schiefe Verhältnis zur Mutter, die schmerzliche Erinnerung an den Bruder an und will abreisen. Da verliert Francis die Kontrolle über sich und jagt Tom in ein Maisfeld mit messerscharfen Blättern. Er verprügelt den viel Schwächeren, die Finger in dessen Haare gekrallt. Aber dann lösen sich die Finger, die Hände umfassen den Kopf des anderen, scheinen ihn streicheln zu wollen. Tom erfährt, er müsse nun erst recht bleiben. Zwischendurch spucken sie sich an. Nach diesem Exzess ist ein Arztbesuch fällig und der Abend wird zur idyllischen Bügelstunde. Francis, jetzt sehr sanft, sagt: Ich weiß, dass ich dir gefalle. Geh nicht fort …
Ein Kalb wird geboren, von den beiden Männern aus dem Kuhleib herausgeholt. Wir sehen nur, wie sie ihre blutverschmierten Hände und Arme danach säubern. Francis verbindet zartfühlend eine Wunde neu, die er Tom am Vortag zugefügt hat. Dann kramt er Kokain hervor und, scheinbar unmotiviert, noch eine Bluse, die er mal einer Frau schenken wollte. Tom erfährt auch auf Nachfrage nicht, warum das Geschenk nicht übergeben wurde. Setzt Francis jetzt Tom mit ihr gleich? Er zwingt den anderen, eine Line zu sniefen, dann führt er ihn in die Scheune und fordert ihn zum Tango auf. Um den Kassettenrekorder zu übertönen, spricht Francis sehr laut, und die heimlich mithörende Mutter muss vernehmen, wie verhasst dem Sohn das Leben auf dem Hof ist. Er wartet auf ihren Tod oder Umzug ins Pflegeheim. Tom macht sich sehr gut beim weiblichen Part des Tanzes, der abrupt abgebrochen wird, als Agathe in den Blick gerät. Hinterher wirft Francis, mit dem Rücken zu Tom, diesem vor: „Es ist deine Schuld.“ Nachts kühlt sich Tom die neue Gesichtsschwellung mit Eis.
Noch von Schlägen gezeichnet will Tom anderntags mit seinem Wagen fort. Francis hat vorsorglich die Reifen abmontiert und lädt seinen Gefangenen stattdessen zu einer Spritztour mit dem Lkw ein. Unterwegs wird Bier besorgt und dann stehen die zwei in einer verlassenen Halle. Francis wirft Tom Unfreundlichkeiten an den Kopf, er sei verschwendetes Sperma. Tom mokiert sich darüber, dass Francis nun selbst parfümiert ist, und fragt: Für Hochzeiten? Da beginnt Francis Tom zu würgen. Der geht, statt Angst zu zeigen, bereitwillig darauf ein, fordert: stärker. Francis erkennt an, dass Tom gerade die Oberhand hat: Sag stopp, wenn’s Zeit ist. Du bist jetzt der Boss … Tom empfindet Francis’ Ähnlichkeit mit Guillaume als schmerzlich aufwühlend. Die beiden kommen sich sehr nahe und küssen sich – dann doch nicht, denn Francis läuft weg, wartet im Auto. Nachts sieht man die beiden in ihren Einzelbetten im Schlafzimmer der Söhne liegen, drei Meter voneinander entfernt an gegenüberliegenden Wänden. Tom starrt auf den Rücken des anderen.
Sarahs Kurzbesuch auf der Farm - Tom hat sie telefonisch herbeigebeten - ist sowohl retardierendes wie beschleunigendes Moment. Francis ist wegen ihrer Wirkung auf Agathe zu Recht besorgt. Der Besuch wird, als die Mutter das Lügengewebe erkennt, abgebrochen. Die Männer bringen die junge Frau im Auto zum Bus. Francis und Sarah alkoholisieren sich während der Wartezeit. Francis fängt an, Toms Rolle mit Sarah neu zu besetzen, und schenkt ihr die Seidensamtbluse. Er macht Tom deutlich, dass Schwule jetzt hier nichts mehr zu suchen haben. Die Frau scheint den Bauern tatsächlich zu beeindrucken. Zugleich benutzt Francis sie, um Abstand zu Tom zu gewinnen. Etwas später wird Sarah ihren Bus nehmen, als sei nichts gewesen. Geschehen ist aber doch etwas: Tom hat währenddessen in einer Bar erfahren, weshalb Francis im Dorf geächtet und zu welchem Ausmaß an Gewalt er fähig ist.
Spielt die folgende Szene am nächsten Tag oder Tage danach? Das bleibt unbestimmt. (Die gesamte Handlung erstreckt sich über mindestens sieben Tage, evtl. über mehrere Wochen.) Tom wacht allein auf, es ist heller Tag. Ihr gemeinsames Schlafzimmer hat sich verändert, die Möbel sind umgestellt. Die beiden Einzelbetten sind in die Mitte des Raumes gerückt worden, dicht beieinander wie ein Doppelbett. Die rechte – Toms – Hälfte ist unbenutzt. Tom liegt allein in Francis’ Bett, seine Sachen gleich daneben. Wir erfahren nicht, wie lange die neuen Verhältnisse schon bestehen. Agathe und Francis sind nicht zu Hause. Tom nutzt die Gelegenheit zur Flucht, wird von Francis verfolgt und kann entkommen.
Das also ist das Grundgerüst einer Handlung, die, anders als ein Geschehen mit Stockholm-Syndrom, einlädt zu Fan-Fiction. Primär geht es im Film um die nicht gelingende Beziehung zweier Männer, die, so verschieden sie auch sind, sich gegenseitig stark anziehen und einander dabei immer wieder erheblich verletzen. Ihre Geschichte spiegelt zugleich die unbewältigten Konflikte zwischen Mutter und Sohn wider. Sind die zwei Männer wirklich miteinander fertig? Tom ist mit Francis’ Lkw nach Montreal gefahren … Seine Ankunft in der Lichterstadt am Sankt-Lorenz-Strom erinnert formal stark an jene von Lai in Wong Kar-Wais „Happy Together“ in Hongkong. Lai hat sich endgültig von Ho getrennt und kann auf ein Wiedersehen mit Chang aus Taiwan hoffen. Tom hat nur die Erinnerung an einen Toten und dessen gewalttätigen Bruder.
Das ist ein mutiger Film. Das sagt sich so leicht, dass es längst zur Phrase verkommen, alles andere als den Mut eines Rezensenten zu beweisen scheint. Hier liegen die Verhältnisse einmal anders, und das liegt weniger am Stoff als an seiner Darbietung. Dass einer sich in einen Mörder verliebt, kann vorkommen. Die Bühne, auf der das im Film geschieht, ist das eigentlich Spektakuläre. Der junge Franck (Pierre Deladonchamps) betritt sie an zehn aufeinander folgenden Tagen als eine Welt mit Strukturen und Gesetzen ganz eigener Art. Auf sie reagiert er seinem Wesen entsprechend, erlebt Krisen, steht vor Entscheidungen und nimmt eine Haltung ein, die außerhalb von ihr nur schwer vorstellbar wäre.
Franck besucht an diesen Sommertagen immer wieder einen Bergsee in der Provence. Der FKK-Strand an ihm wird ausschließlich von homosexuellen Männern aufgesucht, die dort nicht nur baden und sich sonnen, sondern auch intensiv cruisen. Ihre verschiedenen Aktivitäten werden uns vom Film ebenso exakt wie stoisch vor Augen geführt. An der Darstellung ist dennoch wenig Pornografisches, sie ist nicht einmal erotisierend. Sie ist auch nicht kritisch wertend. Sie berichtet insofern nur, wie es ein Naturfilm, sagen wir von den Galapagos-Inseln, tun würde. Und in dieser reinen Naturkulisse treten dann im Verlauf der Handlung existenzielle und ethische Probleme auf, die Franck zunehmend überfordern.
Er macht bald zwei neue Bekanntschaften. Der bisexuelle Henri (Patrick d’Assumçao) legt keinen Wert auf Sex, angeblich will er nur in Ruhe am See sitzen und sich vielleicht mal unterhalten. Für Letzteres eignet sich Franck, unkompliziert freundlich und offen, sehr gut. Die beiden freunden sich platonisch an, doch Franck kann sich nicht ausreichend um den wesentlich älteren, in einer Lebenskrise steckenden Mann kümmern. Er selbst ist jetzt fasziniert von Michel, der Titelfigur des Filmes (Christophe Paou). Ihm nahezukommen, ordnet er alles unter, auch dann noch, als er heimlich Zeuge wird, wie Michel den eigenen Freund beim Baden ertränkt. Franck tritt rasch dessen Nachfolge an. Erst als die Wasserleiche gefunden ist und die Polizei ermittelt, sprechen die beiden über den Mord. Michel kann vermuten, dass Franck die Tat beobachtet hat und ihm dennoch verfallen bleibt. Franck kooperiert nicht mit der Polizei.
Die Handlung spitzt sich zu. Henri lässt erkennen, dass auch er den Täter kennt, und wird daraufhin von Michel getötet. Dann die Schlussszene mit halb offenem Ende: Michel hat einen dritten Mord begangen und sucht Franck, der sich im Wald vor ihm versteckt. Diese Szene hat eine auffallende Parallele zu Dolans drittletzter Einstellung in „Tom à la ferme“, bis in den Monolog des Verfolgenden hinein. (Beide Filme, die u.a. von der Faszination des Bösen handeln, kamen 2013 kurz hintereinander heraus und erhielten überwiegend positive Kritiken.) Anders als Tom entkommt Franck wohl nicht. Er trifft seine Entscheidung nur aus dem Gefühl für Michel heraus, das immer noch stärker ist als Existenzangst und Grauen.
All das ist vorzüglich in Szene gesetzt. Der Film kommt ohne Musik aus, setzt atmosphärisch ganz auf Licht und Wind und die Südalpen-Naturszenerie. In sie hermetisch eingeschlossen spielt sich dieses Drama ab, die Geschichte einer übergroßen Anziehung, der gegenüber Moral wie Zukunft bedeutungslos werden. Es vermittelt eine Ahnung von Umfang und Tiefe jener Welt des Realen, die sich abseits kultureller Konvention und Kodifikation erstreckt. Ja, „L’inconnu du lac“ wagt viel und gewinnt und überzeugt ästhetisch umso mehr. Der Streifen, auch von Arte France unterstützt, spricht für die reife Filmkultur Frankreichs. Das ist zum Glück kein Tendenzfilm, keiner, der um Verständnis oder gar Sympathie werben will. In Cannes hat er 2013 in der Reihe „Un Certain Regard“ den Preis für Beste Regie bekommen.
Nachbemerkung: Gerade diesen Film möglichst in der Originalfassung mit Untertiteln ansehen. Die Biederkeit der Synchronisation zerstört hier wie so oft einen Großteil der dichten Werkatmosphäre.
Gedreht 2004, auf der Berlinale 2005 vorgestellt, dort nominiert für den Teddy Award in der Sparte Kurzfilm, später bei uns als Bonus-Material zur DVD von Simon Chungs „End of Love“ erhältlich, inzwischen auch gratis im Netz anzusehen – der australische Kurzfilm ist so aktuell wie zur Zeit seiner Produktion; außerdem cineastisch rundum gelungen.
Der Filmemacher Boreham verkörpert selbst die Hauptfigur Daniel. Das ist ein noch junger Mann, eine Figur wie auf Bildern von Edward Hopper. Er streift allein, beziehungslos, in einer Stimmung wechselnd zwischen Melancholie und Anflug von Heiterkeit durch Sidney, fährt mit der U-Bahn zu einem Freibad, dreht im Becken Runden, schlendert durch Straßen, über einen Asia-Markt, isst fernöstlich und erinnert sich an Saigon. Als er dort lebte und sich einsam fühlte, stellte ihm Monica, seine lesbische Freundin, John vor (Phoenix Leonard). Die beiden wurden rasch ein Paar, verstanden sich als die zwei Hälften aus Platons Symposion. Das Gebilde wurde in Vietnam durch den Druck einer fremden, ablehnenden Außenwelt zusammengehalten. Sie dachten, in Australien müsste das Leben für sie einfacher sein. Zurückgekehrt und materiell abgesichert entfremdeten sie sich rasch einander. Daniel: „Wir waren die Parodie einer Hetero-Ehe.“ In dem Maß, wie jeder von ihnen die Möglichkeiten einer toleranten, liberalen und letztlich auch einer Gesellschaft der Beliebigkeit für sich nutzte, zerfiel ihre Bindung. Sie verloren füreinander ihre Identität und nahmen sich nicht mehr wirklich wahr. Dieser zwangsläufige Ablauf, in kleinen, undramatischen Schritten erfolgend, ist der wesentliche Inhalt des Films. Nur angedeutet, mehr durch Bilder als durch Worte, wird Kritik geübt an grundlegenden Umständen des Lebens im Kapitalismus oder Kommunismus. Am Ende teilt Monica auf einer Postkarte mit, John sei wieder in Saigon: traurig. Die Trennung der beiden Platonschen Hälften ist jetzt vollkommen.
Es gibt keinen Dialog, nur einen Erzähler (Ian Roberts), der Daniels Gedanken wunderbar mitschwingend vorträgt. Komplettiert wird der starke ästhetische Eindruck durch eine Filmmusik, die diesen Stoff von Sehnsucht und Entsagung zum Klingen bringt. Hinterher wundert man sich, wie kurz ein großartiger Film sein kann – nur neun Minuten!
2018 wird der Filmemacher André Téchiné fünfundsiebzig. Sein vorerst letzter in einer langen Reihe von Spielfilmen ist „Mit siebzehn“ („Quand on a 17 ans“), 2016 entstanden. Er nimmt Themen und Motive aus seinem 1994 herausgekommenen Streifen „Wilde Herzen“ („Les roseaux sauvages“) wieder auf. Beide erzählen Coming-of-age-Geschichten vor einem zeitgeschichtlichen Hintergrund, auf beide reagierte die Kritik enthusiastisch. Reizvoll dürfte es sein, die zwei Filme zu vergleichen, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede festzustellen.
Der ältere Film spielt in der altertümlichen Kleinstadt Villeneuve-sur-Lot, halbwegs zwischen Bordeaux und Toulouse gelegen. Aus diesem weiten Landschaftsraum hat sich das spätere Werk in ein enges Pyrenäental zurückgezogen. Bagnères-de-Luchon ist ein altes Heilbad kurz vor der spanischen Grenze. Gelegentlich verlagert sich die Handlung auf die umgebenden Höhen und einen Bergbauernhof. Der Name des Badeortes fällt im Film nicht, er kann nur aus dem Abspanntext entnommen werden. Dagegen zeigt die Kamera den Namen Villeneuve-sur-Lot auf einem damaligen Plakat der Kommunistischen Partei.
1994 wird ein Stoff aus dem Jahr 1962 präsentiert. Hintergrund sind die Endphase des Algerienkrieges und seine Auswirkungen auf den Alltag im Mutterland. Die historisch-politischen Ereignisse sind eng mit der laufenden Handlung verbunden. Dagegen spielt „Mit siebzehn“ in der Gegenwart. Es gibt nur einen aktuellen, dafür tief in die Handlung eingreifenden Bezug: die Aktivität des französischen Militärs in einem afrikanischen Staat, vermutlich Mali. Die gegenwärtige Krise Frankreichs – ökonomisch, politisch, sozial – wird total ausgeblendet - kein Wort über Terror, den Front National oder Jugendarbeitslosigkeit. Nur die Strukturveränderungen in der Landwirtschaft werden am Rande kurz gestreift.
Obwohl „Wilde Herzen“ mit 109 Minuten etwas kürzer ist als „Mit siebzehn“ (116 Minuten), werden 1962 mehr Schicksale erzählt. Es gibt vier nach Orientierung suchende Hauptpersonen – die kurz vor dem Abitur stehenden Schüler François, Serge und Henri sowie die eine Parallelklasse besuchende Schülerin Maïté – und zwei Hauptnebenfiguren, eine Lehrerin und einen Lehrer. 2016 konzentriert sich die Handlung fast vollständig auf zwei Siebzehnjährige, die sich häufig prügeln und dem Anschein nach einander hassen: Thomas, Adoptivsohn halbafrikanischer Herkunft auf dem Bergbauernhof, und Damien, Sohn einer Ärztin, die ihrerseits alle Nebenfiguren weit überragt.
Der jüngere Film knüpft vielfach an Situationen an, die schon im älteren markant waren. Dabei kommt es zu aufschlussreichen Bedeutungsverschiebungen. So hören wir 1962 wie 2016 ein Lehrerlob vor der Klasse. Serge wird grundlos für einen Aufsatz gelobt und sein Betrug sogleich von der Lehrerin entdeckt. Dagegen lobt später der Lehrer zu Recht Thomas - und zu allgemeiner Freude. Hier deutet sich bereits die Tendenz des Spätwerks an, hin zum konstruktiv Aufbauenden anstelle eines Panoramas verwirrter Gefühle. Beide Filme schließen mit einem Gang durch die freie Natur, wie ein Hymnus an die Jugend. Doch der Abgang des Trios François, Maïté und Serge über eine Brücke enthält keine gemeinsame Zukunft. Was zwischen ihnen sein kann, ist schon zu Ende entwickelt. Thomas dagegen rennt über die Berge einem Treffen mit Damien entgegen, den er erst jetzt vorbehaltlos lieben wird. Identisch sind dagegen die Reaktionen von Maïté und der Ärztin, als François bzw. Damien ihre gleichgeschlechtliche Präferenz offenbaren. Beide Frauen äußern überrascht fast wortgleich, dazu könnten sie nichts sagen. In beiden Filmen fällt je ein Mann in einem irregulären Krieg: Serges Bruder in Algerien, Damiens Vater in Mali. Daraufhin erkrankt jeweils eine weibliche Figur an reaktiver Depression. Allerdings kommt Damiens Mutter besser über diese Krise hinweg als die Lehrerin des toten Bruders, wiederum ein Indiz dafür, dass Vitalität eher im Spätwerk gefeiert wird. Das militärische Zeremoniell für einen gefallenen Soldaten findet sich in beiden Filmen und ist im jüngeren noch plastischer geraten. Unter den weiteren Selbstzitaten gibt es jeweils die Vorliebe Serges wie Thomas’ für Baden unter freiem Himmel bei niedriger Wassertemperatur. Die entsprechende Szene ist 2016 viel freizügiger als die 1994 gedrehte. Dasselbe gilt für den jeweils einzigen sexuellen Akt im Film: 1962 unter der Bettdecke, 2016 unverhüllt natürlich. Damien und vor ihm François suchen den Geliebten im väterlichen Bauernhaus auf, wo es nur zu frustranem Kaffeetrinken en famille kommt. Für François folgt unmittelbar danach die Illusion einer weiteren Annäherung, Damien kehrt enttäuscht ins Tal zurück, bezogen auf die Handlung ein Fall von retardierendem Moment vor späterer Erfüllung.
Diese Zitate wie die analogen Themen und Motive erzeugen einen größeren Werkzusammenhang. Es sind in beiden Fällen lange Filmerzählungen mit einer Vielzahl kurzer Sequenzen, in denen die Figuren lebensecht allmählich entwickelt werden. Darüber sollte nicht übersehen werden, was die zwei Filme unterscheidet und was für einen künstlerischen Reifeprozess, für die ästhetische Überlegenheit des Spätwerks spricht. Allein schon die Rolle der Landschaft hat sich stark gewandelt. War sie 1994 nur Beiwerk, vor allem am Schluss vorkommend, so ist sie 2016 zusammen mit dem Wetter durchgehend eingebaut, schafft Atmosphäre, bietet eine Bühne. Auffallend ist ferner, wie die frühere Bedeutung der Lehrer für die Entwicklung der jungen Menschen sich minimiert hat. Gesellschaftliche Prägung wie Konflikte haben im Zentrum des Films Platz gemacht für juvenile Individualität. Das personifizierte Böse fehlt im jüngeren Film vollständig, im älteren war es zumindest in Henri z.T. noch verkörpert, etwa wenn er als Reaktion auf die Verurteilung Salans Brände legen will. Überspitzt formuliert: Politik scheint 2016 ersetzt durch Fatum. Und wie ironische Relativierung wirkt es wiederum, dass die aktuellen Vokabeln Auswanderung und Exil doch im Schulunterricht fallen, nicht auf Französisch - im Spanischunterricht.
„Mit siebzehn“ ist eine vorzügliche filmische Studie über unwillkürliche Abläufe, in denen jugendlicher Hass sich als maskiertes Begehren herausstellt. Kritiken und Kommentare haben schon bei „Wilde Herzen“ einen möglichen autobiographischen Hintergrund erörtert. 1962 war Téchiné neunzehn und er kommt aus der größeren Region, in der beide Filme angesiedelt sind. Trifft diese Zuschreibung zu, dann stellt der spätere Film vielleicht eine Utopie in der Vergangenheit dar, ästhetisch perfekt realisiert.
Inzwischen gibt es so viele Beispiele, dass man von einem Trend sprechen kann: Das Queer Cinema geht aufs Land, siedelt seine Geschichten unter Bauern an. Das begann zögernd um die Jahrtausendwende und hat sich im laufenden Jahrzehnt deutlich verstärkt. Auch international längst renommierte Filmemacher beteiligen sich: Ang Lee, André Téchiné, Xavier Dolan. Ist es eine Art Exotismus, ist man der bisherigen Schauplätze müde? Dabei spielt sich offen schwules Leben nach wie vor überwiegend in urbaner, vor allem metropolitaner Umgebung ab. Dorthin zieht es jede neue Generation Gleichgeschlechtlicher, allein schon aus Gründen der Partnerwahl. Um diese seltsam erscheinende Gegenbewegung eines Teils der Filmkultur verstehen zu können, wollen wir eine Reihe von Filmen auf ihnen gemeinsame Elemente hin untersuchen. Achten wir vor allem auf die Stellung der Helden innerhalb des ruralen Milieus. Wie sind die familiären Verhältnisse dargestellt, was erfahren wir über ökonomische Zusammenhänge?
Ein frühes Beispiel ist „Red Dirt“ von Tag Purvis (USA 2000). Der junge Griffith ist Waise, seine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es kann sich auch um Suizid gehandelt haben. Großgezogen hat ihn eine Tante - tatsächlich ist sie seine leibliche Mutter, wie sich dann herausstellt. Sie ist Neurotikerin und ihr droht Unterbringung in der Psychiatrie. Wie die Farm in Mississippi bewirtschaftet wird, interessiert den Film kaum. Ein gewisser Wohlstand scheint vorhanden. Griffith langweilt sich auf dem Land, hat aber nicht die Kraft, es zu verlassen. Zu stark bleibt auch nach seinem Coming-out die Bindung an die Mutter und die gewohnte Umgebung. Dagegen verlässt seine Kusine, die ihn heiraten wollte, von ihm enttäuscht die Heimat.
Auch Ennis in „Brokeback Mountain“ von Ang Lee (USA 2005) hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren. Seine materielle Lage ist von Anfang an miserabel und bleibt es bis zum Schluss des Films: die elterliche Ranch mit Hypotheken überlastet, keine ausreichende Schulbildung, hartes Dasein als abhängiger Rancharbeiter, frühe und unüberlegte Heirat, Scheidung mit drückender Alimentenzahlung. Sein Gefühlsleben ist ebenfalls anhaltend defizitär. Allein der Kontakt zu seinen Töchtern mildert die am Ende sich abzeichnende Alterseinsamkeit.
In Benjamin Cantus „Stadt, Land, Fluss“ (Deutschland 2011) finden wir erneut desolate Familienverhältnisse vor. Markos Vater hat die Familie verlassen, der Mutter wurde als Alkoholikerin das Sorgerecht entzogen. Marko lebt in einer WG und lernt Landwirt. Schauplatz ist ein Dorf in Brandenburg. Gedreht wurde auf dem Gelände einer realen landwirtschaftlichen Genossenschaft, die in die Handlung einbezogen ist. Deren Verhältnisse erscheinen solide. Dennoch wird resigniert festgestellt, dass das Bearbeiten des Bodens weniger lukrativ sei als die Geschäfte der Banken im Hintergrund. Marko findet innerhalb der Genossenschaft einen Partner.
„Sleepless Knights“ von Stefan Butzmühlen und Christina Diz (Deutschland 2012) spielt in der spanischen Provinz. Die Wirtschaftskrise hat Carlos von Madrid vorübergehend in die karge Extremadura heimkehren lassen. Seine Familie lebt dort kleinbäuerlich bescheiden, doch auskömmlich von Schafzucht. Der Vater leidet zunehmend an Demenz. Leichte innerfamiliäre Spannungen erklären sich aus gelegentlich vorkommender Rivalität zwischen Geschwistern. Carlos nimmt eine Beziehung zu einem ins Dorf versetzten jungen Polizisten auf.
Kleinbäuerlich trist geht es auch in Nanouk Leopolds Romanverfilmung „Oben ist es still“ (Niederlande 2013) zu. Ein alternder schwuler Sohn lebt allein mit seinem sehr alten Vater, pflegt ihn zu Tode, ist beziehungsunfähig an den Hof gefesselt, von dem er weiß, dass er keine Zukunft haben wird. Die Utopie eines wirklichen Ausbruchs ist seit Jahrzehnten begraben.
Ein kleines Dorf in Masuren hat die Regisseurin Szumowska als Schauplatz für ihr Drama „Im Namen des …“ (Polen 2013) gewählt. Ein Priester verliebt sich in den Bauernjungen Lukasz. Auch dessen Herkunft weist das uns schon bekannte Muster auf: der Vater tot, ein Bruder geistig behindert, der Hof eine dürftige Klitsche. Während der Weg des Pfarrers in Depression und Stagnation führt, schafft Lukasz einen etwas pikanten sozialen Aufstieg, nämlich aufs Priesterseminar.
In Xavier Dolans „Sag nicht, wer du bist“ (Kanada 2013) ist der schwule Bauernsohn schon tot, sein überlebender Partner lernt erst bei dessen Beerdigung die Familie und deren sozial isolierte Lage im Dorf kennen. Die Kamera zeigt ringsum verlassene, zum Verkauf stehende Anwesen. Der Bruder des Toten bewirtschaftet mit Mühe die ansehnliche Farm allein. Sein Verhältnis zur verwitweten Mutter ist ambivalent, das zu Sexualität problematisch, zwei wesentliche Quellen seiner großen Aggressivität. Der Besucher aus Montreal befreit sich durch Flucht aus seiner Verstrickung dort und lässt zwei Gescheiterte allein zurück.
André Téchiné bezieht in „Mit siebzehn“ (Frankreich 2016) einen traditionellen Pyrenäen-Bergbauernhof und eine hypermoderne Milchviehhaltung im Gebirgsvorland als Nebenschauplätze ein, übt diskret Kritik an der Entwicklung von Landwirtschaft zu Agrarindustrie. Die Bäuerin auf dem alten Hof hatte lange nur Fehlgeburten, das Ehepaar hat daher Thomas, der halbafrikanischer Herkunft ist, an Kindes statt angenommen. Thomas erlebt sehr verunsichert während einer nun doch gelingenden Schwangerschaft der Adoptivmutter sein eigenes Coming-out. Der Film endet verheißungsvoll offen.
Fassen wir zusammen: Die acht vorgestellten Filme weisen auffallend viele Brüche und Traumata im Familienleben auf, von denen die meisten nichts mit Homosexualität von Söhnen zu tun haben: Krankheiten, Unfälle, vorzeitiger Tod usw. In fast allen Filmen spielen Strukturprobleme und -wandel auf dem Land eine zumindest deutlich wahrnehmbare Rolle. Wie steht es demgegenüber mit Elementen von Homophobie oder sonstiger Ablehnung der sexuellen Differenz? Diese kommen zwar gelegentlich vor, spielen aber eine geringere Rolle als man hätte erwarten können. Dabei erweckt das publizistische Echo auf solche Filme oft den Eindruck, hier ginge es primär um die Ausweitung der Kampfzone aufs Land – Kampf um Gleichberechtigung bis in den hintersten Winkel. Die realen Filmstoffe entsprechen dieser Einordnung jedoch nicht. Es gibt auf ihren ländlichen Schauplätzen Homophobie und allgemeine Ablehnung eher seltener und wenn, dann meist verhaltener, maskierter als im städtischen Milieu. (Die Ausnahme „Brokeback Mountain“ ist ein schon historischer Stoff, Jahrzehnte vor unserer Gegenwart angesiedelt.)
Was also sind die Motive für diesen Drang der Filmemacher, ein traditionell urbanes Thema in ländlicher Umgebung neu zu interpretieren? Das klassische Coming-out-Drama wird abgelöst durch sozial und psychologisch breiter fundierte Drehbücher. Der Gesichtskreis hat sich erweitert. Zwei randständige Milieus amalgamieren – haben wir es mit einer Art Regenbogenkoalition auf filmästhetischem Gebiet zu tun? Eher nicht, denn das ländliche Sozialdrama kommt seit langem als solches gut allein zurecht. Doch der Schwulenfilm profitiert schon vom Bühnenwechsel. Er setzt seine Figuren in neuer Beleuchtung in Szene. Mit der Viehzucht auf den Höfen kommt Kreatürliches – Geburt und Tod – stärker ins Blickfeld von Individuen, deren Schicksal es gewöhnlich ist, kein biologisches Leben via Reproduktion weiterzugeben. Zudem sind sie auf dem dünn besiedelten Land ohnehin seltene Exemplare, zwangsläufig viel exotischer wirkend als in den Szenevierteln der Metropolen. Das homosexuelle Individuum grenzt sich so stärker ab, gewinnt auf dem Land an unverwechselbarer Identität zurück, was es in der Gesamtgesellschaft im Zuge an sich begrüßenswerter Entwicklungen an Besonderheit eingebüßt hat.
Es ist kein Zufall, dass diese Kinofilmsparte nun eine Ausweichbewegung macht, zeitlich parallel zur fortschreitenden Angleichung des rechtlichen Status ihres Publikums. Kunst meidet Trivialität, das bloß Selbstverständliche, das nur noch als normal Anerkannte. Leicht überspitzt formuliert: Die Ehe für alle kommt und der anspruchsvolle Schwulenfilm zieht sich aufs Dorf oder die Farm zurück. Dort, in einer vormodernen Welt, sucht und erlebt er eine Wiederaufladung mit Bedeutung. Zum klarsten Ausdruck dieser Tendenz findet Dolans Film, wohl der ästhetisch kraftvollste in der Reihe. Sein Tom, ein Werbefuzzi aus Montreal, ist überwältigt von einer blutigen Kalbsgeburt wie später von einem Tierkadaver. Er weigert sich lange, sich in Sicherheit zu bringen, denn er glaubt, er habe das nun gefunden: das wahre, authentische Leben.
Auch dieser hervorragende ungarische Film, herausgekommen 2014, folgt einem allgemeinen Trend aufs Land. Der junge Profifußballer Szábolcz (András Sütö) scheitert in Deutschland und zieht sich in die Puszta zurück, um Bienen zu züchten. Dort bezieht er das von den Großeltern geerbte, leer stehende und verfallende Haus abseits eines Dorfes. Mit Hilfe des noch etwas jüngeren Dörflers Áron (Ádám Varga) repariert er Dach und Inneres. Sie fühlen sich voneinander angezogen und werden unter Schwierigkeiten ein Paar. Der Ex-Fußballer kommt damit eher zurecht als der naive Lehrling. Die krassen Reaktionen aus der Dorfbevölkerung erschweren ihnen das Durchhalten. Der Besuch seines deutschen Freundes Bernard (Sebastian Urzendowsky) bei Szábolcz kompliziert die Lage. Der Heimkehrer lehnt es ab, wieder nach Deutschland zu gehen, und bleibt bei Áron. Das verhindert indessen ihren folgenden Absturz nicht. An dieser Stelle wird für den Rezensenten das Spoilerverbot wirksam. Jeder Zuschauer hat das Recht, die Katastrophe im einsamen Pusztagehöft unvorbereitet auf sich wirken zu lassen.
Andererseits: Dass das Filmdrama eine Tragödie ist, deren genaues Ende man besser nicht preisgibt, ist noch kein Grund, den am Film Interessierten zuvor in die Irre zu führen. Man könnte wieder einmal eine Rezension der Rezensionen schreiben. In ihrer Verlegenheit, sich über den Schluss auszuschweigen, retten sich manche in unhaltbare Behauptungen, die im Widerspruch zur Filmhandlung stehen. Und der Verleih greift dergleichen auf, da er es wohl für verkaufsfördernd hält. So ziert die DVD ein Zitat des „Hollywood Reporter“: „Ein romantisches Dreieck, von Zärtlichkeit erfüllt …“ Dieses in Wahrheit nur einen kleinen Teil des Films ausfüllende Dreieck ist tatsächlich so beschaffen: Áron und Bernard konkurrieren um Szábolcz, prügeln sich und im Suff kommen sich alle drei gerade einmal für den Rest einer Nacht näher. Oder das Zitat aus der „Berliner Zeitung“, auch auf dem Cover prangend: „Ein Liebesparadies, in dem alles möglich ist: Begehren jenseits von Eifersucht und ein glückliches Leben in der Natur.“ So verdreht man den wesentlichen Gehalt des Films ins Gegenteil. Tatsächlich enthält er idyllische Momente von großer Schönheit, eingestreut zwischen die zahlreicheren Szenen voll von Härte und Gewalt. Dass Glück in diesem Umfeld Utopie bleiben muss, ist zentrale Botschaft des Streifens. Er wäre sonst keine Tragödie, eine Gattung, für die Scheitern stets immanent ist. Man kann hinter solchen Fehlinterpretationen auch eine, speziell deutsche, Aversion gegen Tragödien überhaupt, nicht nur im Film, erkennen. So wird dann aus einem eindreiviertelstundenlangen Opus mit Schmerz und Tod für den Evangelischen Pressedienst ein „liebenswerter kleiner Film“.
Eine andere oft erörterte Frage: Übt dieser Film auch Kritik am aktuellen Zustand der ungarischen Gesellschaft? Oberflächlich gesehen scheinen wir in einen tiefen soziokulturellen Graben zwischen West- und Osteuropa zu blicken. Tatsächlich aber hat sich der Regisseur in einem Interview erstaunt über eine solche Perspektive gezeigt, darüber, dass er in Berlin vor allem auf den Zusammenhang des Films mit Politik und Gesellschaft im heutigen Ungarn angesprochen werde. Ihm sei es vielmehr um eine universell gültige Liebesgeschichte gegangen. Diese Äußerung mag auch taktisch begründet sein, Császi hat die nationale Filmförderung Ungarns in Anspruch genommen und vielleicht noch mehr Projekte im Kopf. Dennoch sollten wir seinen Standpunkt akzeptieren. Figuren wie sein Áron sind in vielen Gesellschaften anzutreffen, mit jeweils regional akzentuierten Problemlagen. Zu beachten ist auch, dass das Drehbuch auf einem realen Kriminalfall bereits aus dem Jahr 2008 beruht.
Ádám Vargas Schauspielkunst ist das größte Plus in diesem auch insgesamt überzeugenden Film. Ihm gelingt das Schwierige: in der Mimik und im Auftreten des schweigsamen, einfach strukturierten, unerfahrenen jungen Landbewohners Áron eine komplexe Entwicklung voll von Widersprüchen und Sprüngen, auch das Begehren und die Angst davor lebendig werden zu lassen. Großen Respekt für diese enorme Leistung.
Der Rezensent musste im Netz lange suchen, bis er eine überwiegend negative Kritik des Films entdecken konnte. Er fand sie schließlich in der österreichischen Zeitung „Die Presse“: Dort titelte Andrey Arnold am 27.10.2017: „Film-Yorkshire wie aus der Whisky-Werbung“. Gewöhnlich sonst nur Zustimmung, auch viel begeistertes Lob. Und wie viele Preise der Anfang desselben Jahres herausgekommene Streifen schon bekommen hat! Tatsächlich weist er große Qualitäten auf: dichte Atmosphäre, beeindruckende Landschaftsbilder, kluge Kameraarbeit, tüchtige Schauspieler, Einblicke in eine entlegene Ländlichkeit - als Ganzes ist er ein ambitioniertes Filmdrama, das den Absturz in die Tragödie vermeiden will und kann.
Worum geht es? Der Mittzwanziger John (Josh O`Connor) ist übel dran. Er muss die Arbeit auf der Schaffarm seines Vaters weitgehend allein bewältigen, nachdem der Alte einen ersten Schlaganfall erlitten hat. Es gibt noch eine Großmutter (Gemma Jones), die den Haushalt führt. Johns Mutter hat schon vor langer Zeit Hof und Familie verlassen. Es ist eine harte und raue, scheinbar gefühlskalte Welt. John ist überfordert, trinkt zu viel und hat nur anonymen Sex mit Männern. Dann wird für eine Woche Gheorghe (Alec Secareanu), ein rumänischer Wanderarbeitnehmer, zur Hilfe eingestellt. Die beiden freunden sich an und unter Gheorghes Einfluss verändert sich John zum Positiven hin. Eine größere Krise wird überstanden, am Schluss scheint es für die beiden jungen Männer eine gemeinsame Zukunft auf einer modernisierten Farm zu geben - ein bedeutender Stoff, zweifellos.
Nur leider: An dem Wiener Verriss ist einiges dran. Dessen Verfasser erinnern die beiden Hauptfiguren an „formidable Herrenmodemodels“, er moniert am Drehbuch die vielen „Klischees“ und „die Substanz eines abgegriffenen Groschenromans“. Auf der einen Seite handelt es sich um ein typisches britisches Sozialdrama, das Realität ungeschminkt darstellt. Daran ist nichts zu bemängeln. Doch die Filmfiguren wollen sich dieser Umgebung nicht bruchlos einfügen, es mangelt ihnen zum Teil an Glaubwürdigkeit. Das trifft bereits für den Vater (Ian Hart) zu, der den Zustand der Hinfälligkeit nach seinem zweiten Schlaganfall nicht wirklich vermitteln kann. Wie rosig das Gesicht, wie wach die Augen … Unfreiwillig hilflos wirkt allerdings der Darsteller des John, wenn er die Wandlung, das Reifen eines Charakters plausibel machen soll. Und der Rumäne, ein fast zu gut aussehender Fremder, ist geistig wie charakterlich ein Idealbild von Mann, schlechthin ein Erlöser für diesen Ort der Beladenen. Wenn er John sehr überlegen betrachtet, scheint er eher eine Versuchsanordnung in einem Labor zu überwachen als selbst in eine Handlung voller Leidenschaft involviert zu sein. Dahinter steckt weniger Unvermögen der Darsteller als vielmehr Schwäche des Drehbuchs. Sie kommt vor allem im letzten Drittel zum Vorschein und stellt die Schauspieler vor so gut wie unlösbare Aufgaben. Francis Lee hat seinen Film wie einen etwas altbackenen Erziehungsroman konzipiert, mit einem sehr problematischen, doch wandlungsfähigen jungen Mann einerseits und einem perfekten neuen Gefährten andererseits, der das an John bisher Versäumte im Schnelldurchgang nachholt. Dass einer wie Gheorghe dreckige Gelegenheitsjobs annimmt, nehme ich dem Film schon nicht ab. Und wenig wahrscheinlich ist auch, wie mühelos John auf dem Land Sexpartner findet, z.B. bei einer Viehauktion oder in der Dorfpinte abends. Insgesamt paart sich im Ergebnis also Verismus mit pädagogisch überfrachtetem Kintopp.
Warum regt sich so gut wie keine Kritik am ästhetisch Unbefriedigenden des Werks? Ein schlimmer Verdacht: Ist da nicht ein sehr willkommener politischer Standpunkt des Films auszumachen – ein rückständiges, hilfsbedürftiges Britannien als Gewinner, und zwar dank Zustroms von außen? Der Filmemacher scheint dafür Stichworte zu liefern: Die Mutter des Rumänen ist Englischlehrerin, Johns Vater wird von einer schwarzen Ärztin behandelt, auf den in zweierlei Hinsicht am Boden liegenden John sehen die kontinentalen Gastarbeiter einer großen Kartoffelproduktion verächtlich herab wie auf einen Poor White. Für den ebenfalls in Wien erscheinenden „Kurier“ wird Gheorghe gar zum „Flüchtling“ – dabei deutet er John gegenüber an, wegen einer früheren Liaison nach England gekommen zu sein. Auch die Seite critic.de unterstreicht dennoch den möglichen politischen Aspekt, spricht von „Transformation in Zeiten des Brexit“ und formuliert: „Entstanden während der Brexit-Debatte, argumentiert der Film gegen die politische Verschlossenheit, die immer auch eine Verschlossenheit der Gefühle und der Körper bedeutet.“ Auch so kann man eine private Liebesgeschichte überhöhen wollen und d.h. wiederum überfrachten. Die EU-weite Agrarstrukturkrise, gerade in den Bergregionen, die im Film mitverhandelt wird, ist ja nicht Folge des Brexit, sondern im Gegenteil eine von dessen vielen Ursachen.
Der nordenglische Bauernsohn Francis Lee hat seine Motivation für den Film so erklärt: Er habe darstellen wollen, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er selbst den elterlichen Hof in den Pennines nicht verlassen. Nur ist die Figur John eine Generation jünger als Lee selbst. Damit hat der Filmemacher eine persönliche, Jahrzehnte zurückliegende Problematik – gehen oder bleiben - in die Gegenwart von heute verpflanzt, für einen aktuellen Problemfilm mit starken sozialen Bezügen keine gute Voraussetzung. Mit einer weniger streng schematischen Figurenzeichnung hätte „God’s Own Country“ dennoch ein großartiger Film werden können.
Auch Tomasz Wasilewskis 2013 produzierter Streifen „Tiefe Wasser“ zeigt, welch hohes Niveau Filmkunst in Polen gegenwärtig erreichen kann. Fast jede Szene ist akkurat inszeniert und dabei so kraftvoll wie originell. Die Darstellungen der Schauspieler, die Dialoge, die Kameraführung, der sparsame Einsatz von Musik – all das überzeugt auf Anhieb. Umso mehr bedauert man den konstruktiven Mangel der Handlung zum Schluss hin. Davon später mehr.
Was ist das Thema dieses Werks? So allgemein wie möglich ausgedrückt: die Autonomie des Individuums, ihre starke Einschränkung, das Bewusstwerden fehlender Autonomie, die tastenden Versuche, sie doch noch zu erreichen. Der junge Kuba (Mateusz Banasiuk) trainiert seit Jahren, um sich eine Position im Profischwimmsport zu schaffen. Um gegen die große Konkurrenz zu bestehen, nimmt er leistungssteigernde Mittel. Einer anderen Berufstätigkeit geht er nicht nach. Seine unbefriedigende materielle Situation wird kaum beleuchtet. Er lebt mit seiner Freundin Sylwia (Marta Nieradkiewicz) bei seiner Mutter (Katarzyna Herman). Die beiden Frauen sind sich nicht grün, konkurrieren jede auf ihre Weise um Zuwendung durch den jungen Mann – der seinerseits stark am Sex mit Männern interessiert ist. Aus anonymen Kontakten wird eine Liebesbeziehung, als er den Studenten Michal (Bartosz Gelner) kennenlernt. Das fragile häuslichen Dreiecksverhältnis mutiert zum explosiven Viereck, dessen Schauplatz Teile von Warschau und dessen Umgebung sind. Die urbane Szenerie vermittelt variantenreich die Anmutung eines Käfigdaseins: Käfige die Neubauwohnungen, die Aufzüge, Treppenhäuser, Durchgänge, Parkhäuser, die eingehausten Schnellstraßen, verschachtelten Restaurants usw. Doch es gibt Gegenwelten: die intensiv grünen, gewässerreichen Parks der Stadt, die wald- und seenreiche Landschaft der polnischen Tiefebene. Sie bilden den Gegenentwurf zu einem Leben unter dauernden Zwängen. Kuba gewinnt Geschmack an der Freiheit des Tun und Lassens – und taucht mitten in einem Ausscheidungsschwimmen plötzlich im wörtlichen Sinn ab und weg …
Er bleibt nicht lange in den tiefen Wassern. Mutter und Freundin verbünden sich, setzen ihn unter Druck, er muss Michal aufgeben, wird auch beruflich unter Kuratel gestellt. Ob er sich auf Dauer unterwerfen lässt? Das ist zumindest fraglich. Das Schlussbild legt die Vermutung nahe: Hier hat einer glasklar verstanden, wie es um ihn bestellt ist und dass es so nicht gut werden kann. Hass liegt in der Luft und der Film ist zu Ende. Dieser offene und suggestive Schluss wäre viel überzeugender, wenn nicht unmittelbar davor der verlassene Michal Opfer einer dramaturgisch mühsam herbeigeführten Gewaltattacke geworden wäre. Sein blutiges Ende überschattet das des Filmes und nimmt ihm leider ein Gutteil seiner Wirkung.
Dennoch kann Wasilewskis Werk weitgehend neben Malgorzata Szumowskas Film „Im Namen des …“ bestehen. Beide zusammen, etwa zur selben Zeit gedreht, ergeben einen Querschnitt durch das Polen von heute, setzen ein Bild zusammen, das sowohl ländlich wie städtisch, traditionell wie modern, religiös geprägt wie säkularisiert ist – und insgesamt dem Beobachter von außen ebenso dynamisch wie problematisch erscheint.
Didier Bivel hat „Baisers cachés“ 2016 als Fernsehfilm gedreht, er wurde dann am 17. Mai 2017 aus Anlass des Internationalen Tags gegen Homophobie auf France 2 gezeigt. Aufgrund der sehr positiven Reaktionen war die anschließende Vermarktung im Kino und auf DVD leicht, auch international.
Die Zutaten zum Drehbuch, würden sie einem vorab mitgeteilt, erscheinen fast allzu bekannt, wie aus einem Lehrbuch. Da sind zwei Sechzehnjährige an einer Oberschule, die gerade ihr Coming-out gemeinsam durchstehen, Nathan (Béranger Anceaux) frühreif und relativ souverän, auch schon verantwortungsbewusst, Louis (Jules Houplain) dagegen verwirrt, lange zum Lügen und Doppelspiel neigend. Ebenso konträr angelegt die Eltern der beiden: Nathans verwitweter Vater, ein Polizist, kämpft sich zur Toleranz durch, während Louis’ Eltern – er Facharzt, sie Bilanzbuchhalterin - sehr repressiv reagieren, bis die Ehe daran zerbricht. Dieses Hell-Dunkel prägt auch die Schule im Film. Homophobie scheint für die Majorität der Mitschüler die natürlichste Reaktion zu sein, bis hin zu brutaler Körperverletzung. Einfühlsam verständnisvoll zeigt sich im Verlauf ausgerechnet Laura, die getäuschte Alibifreundin von Louis. Die Lehrerschaft ist ebenso gespalten, der Direktor ein ängstlicher Opportunist, wohingegen die reife lesbische Mathelehrerin sich aus purem Mitgefühl selbst vor der Klasse outet und damit Nathan erst stark macht. Louis wird von der feindlichen Umwelt fast zum Selbstmord getrieben. Allgegenwärtig ist das Handy-Fotografieren, das Hochladen und Verbreiten kompromittierender Bilder. Und dann ist Louis auch noch ein talentierter Boxer … Genug, möchte man so vorbereitet meinen, das ist ja wie Pizza mit allem …
Aber dann das Wunder, man sieht den Film erstmals und ist von der ersten bis zur letzten Szene tief berührt. Die Fiktion, zusammengesetzt wie aus einem Modellbaukasten, wirkt authentisch, sich organisch entwickelnd. Wir erleben, nicht nur in den Hauptrollen, glaubhafte Figuren, deren Geschichte uns mitnimmt. Der Film appelliert stark an Gefühle und vermeidet dabei mit großer Sicherheit das Abgleiten ins Sentimentale. Die Gefahr, einen zeitgeistigen Thesenfilm zu drehen, war auch groß, doch Bivel und seine Crew sind ihr nicht erlegen. Hier zeigen sich immer wieder das handwerkliche Geschick und das Bewusstsein für das jeweils passende Detail, wie sie charakteristisch sind für die lange, ungebrochene Tradition französischer Filmkultur und Kultur allgemein. Wie sparsam, punktgenau und effektvoll die Filmmusik eingesetzt wird, wie Ausschnitte aus der Landschaft, den Städten der Île-de-France das Lokalkolorit schaffen, wie die talentierten Schauspieler unser Verständnis, unsere Sympathien gewinnen (Jules Houplain wie der kleine Bruder von James Dean) – ein Film, den man sich gern wiederholt ansieht und dabei immer stärker in seinen so menschenfreundlichen Bann gerät.
In Argentinien gilt Santiago Giralt als einer der fähigsten jüngeren Filmemacher. Mit dem 2015 herausgekommenen „Jess & James“ ist ihm ein Roadmovie geglückt, das die für diese Gattung üblichen Strukturen aufweist und zugleich ästhetisches Neuland betritt. Wie gewöhnlich setzt auch dieser Film ein Reisen ins Unbekannte auf der Suche nach Selbstverwirklichung mit Leben und gesteigertem Lebensgefühl gleich. Ihn interessiert jedoch noch eine Parallelität – die von Reisen und Träumen. Wenn Reisen Leben ist und umgekehrt Leben eine Art Reisen und wenn wir reisend träumen oder träumend reisen, ist dann vielleicht sogar Leben ein Träumen und Träumen das wahre Leben? Jesse (so wird er im Original gerufen, mit spanischer Aussprache, dargestellt von Martín Karich) spricht es unmittelbar zu Beginn des Films in einem sehr kurzen Prolog aus: „Ist das hier eine Reise oder ein Traum?“
Jesse hat übers Internet James (Nicolás Romeo) kennengelernt und nach schnellem Sex bekommt er ein Angebot von ihm: mit dem Auto von James’ Mutter einige Tage gemeinsam wegzufahren. Für Jesse ist der Trip vor allem Flucht vor einem Heiratsprojekt, das er nicht will. Die beiden jungen Männer fahren los, kommen sich immer näher, haben neue Eindrücke, Begegnungen. Die Melancholie der argentinischen Ebene kontrastiert mit seltsam Witzigem, darunter eine sehr komische Pantomime in einem Café, die mit ihrem Rauswurf endet. Sie lernen in einer kleinen Provinzstadt Tomás (Federico Fontán) kennen, eine eigenartig blasse Filmfigur, in der sich vor allem Jesses Problematik – bleiben oder sich lösen – stellvertretend widerzuspiegeln scheint. Jesses innere Monologe, direkt an den Zuschauer gerichtet, können ebenso Handlungskommentare wie Traumgedanken sein. Wiederholt werden Jesses spontane Erinnerungen an seine Mutter eingeblendet. Auch dabei geht es um Erwachsenwerden, Ablösung. Visuell sind die Filmszenen selten platt realistisch, sondern abwechselnd grell, überakzentuiert oder undeutlich, verschwommen, weichgezeichnet. Dem entspricht auch die Filmmusik. Das Hauptthema ist rhythmisch stampfend, laut, dagegen klingen lange Passagen fast wie Sphärenmusik, nur etwas unrein, beinahe gequetscht. Die Figuren selbst werden gelegentlich zu Schemen und verwandeln sich zurück in fest umrissene Menschenkörper: Vexierbilder als Traumstilmittel.
Das Gesicht des an der Realität der Außenwelt zweifelnden Jesse des Anfangs taucht mitten in der Episode mit dem Gespensterhaus wieder auf, die eine Schlüsselszene ist. Der Traumcharakter der Handlung wird hier am deutlichsten. Die beiden Freunde treffen auf einem noblen Landsitz ein, fragen die dort allein lebende ältere Dame nach einer Stadt namens James Gray, als wüssten sie nicht, dass das der Name eines Filmregisseurs ist. Sie werden opulent bewirtet und beherbergt. Im Haus spukt es ein wenig. Steht die Dame für Jesses Mutter und das nachts gespensternde Kind für den Jungen, der Jesse einmal war? Über dem bukolischen Paradies scheint ein Fluch zu liegen - Jesses Schuldgefühle -, und die Vertreibung daraus ist nur konsequent. Sie besuchen noch Jesses älteren Bruder, der vor vielen Jahren die Familie verlassen, mit ihr gebrochen hat. Mit der Pseudologik von Träumen findet Jesse, er sei jetzt an seinem Ziel, in seinem Zuhause angekommen. Dabei ist er zum ersten Mal dort und hat im Prolog noch erklärt, er hasse seinen Bruder. Wie die beiden sich sofort wiedererkennen, wie sie sich bestärken, auch das hat traumhafte Züge: Wunscherfüllung à la Freud. Freilich, all das ist Auslegungssache, wohingegen die zahlreichen erotischen Szenen es gerade nicht sind und voller Kraft wie Intimität ein Gegengewicht gegen das angedeutet Surreale und klug Verrätselte des Films darstellen.
Und dann fahren sie heim und nehmen Tomás mit und man mag sich die Alltäglichkeit, die sie erwartet, nicht vorstellen; zu glanzvoll die Tage der Reise. Giralt hat aus seinem Thema – in einer Krise durch Flucht zur Emanzipation gelangen– ein rundum überzeugendes Filmkunstwerk gemacht.
Für die in Brooklyn geborene und aufgewachsene Filmemacherin Eliza Hittman war „Beach Rats“, herausgekommen 2017, erst der zweite Spielfilm. Sie schrieb auch das Drehbuch und siedelte die Handlung in ihr bekannten Milieus an. Die meisten Szenen spielen am Strand von Coney Island oder an nahe gelegenen Küstenabschnitten oder in Stadtvierteln ganz im Süden von Brooklyn. Bevölkert ist der Film von Durchschnittstypen aus etwas heruntergekommenen New Yorker Vororten. Diese Menschen reden die knappe, prosaische Alltagssprache und was sie erleben, ist nicht wirklich spektakulär. Der Film ist also sehr nahe dran an der Realität von heute. Umso beeindruckender ist die ungewöhnliche ästhetische Umsetzung der Filmhandlung.
Frankie (Harris Dickinson) lebt mit seiner jüngeren Schwester noch bei den Eltern in einem älteren Reihenhaus. Der kleine Garten dahinter ist verwahrlost. Der Vater hat Krebs und stirbt bald. Es sind Sommerferien und Frankie verbringt viel Zeit mit drei Kumpels am Strand oder in Kneipen. Frankie scheint gut zu ihnen zu passen, zu ihrer leicht großmäuligen Anspruchslosigkeit, ihrem Interesse an jungen Frauen, das kaum einmal erwidert wird, und ihrem hohen Drogenkonsum. Dann wirft Simone (Madeline Weinstein) ein Auge auf Frankie und der lässt sich nach anfänglichem Zögern auf sie ein. Er tut das vor allem, um seine Stellung innerhalb des Jungmännerquartetts zu festigen. Doch Simone hat ihn und seine von ihr mehr erahnte als klar erkannte Problematik bald satt und trennt sich von ihm.
Frankies Rückseite, die weder die Kumpels noch Simone kennen, sieht so aus: Er ist insgeheim an Männern um die fünfzig interessiert und sucht über ein Dating-Portal passende sexuelle Kontakte. Sein Doppelleben behagt ihm keineswegs. Daher unternimmt er einen ungeschickten Versuch, sich den Freunden zu offenbaren, die beiden grundverschiedenen Milieus sich ein wenig annähern zu lassen – mit der fatalen Folge eines gemeinschaftlich begangenen Raubüberfalls. Am Ende sehen wir Frankie allein, isoliert im Vergnügungspark. Wie er sein Leben künftig führen wird, bleibt offen.
Erregender als die Handlung ist die Bildersprache. Frankie lebt in einer Welt, die nur aus Teilansichten, Fragmenten, Rudimenten zu bestehen scheint. Man möchte den alten Satz, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, umkehren. Hier sind die Ausschnitte der Realität absolut, irgendein Zusammenhang oder gar eine Totalität undenkbar. Die Kameraführung folgt konsequent diesem bildästhetischen Programm, ist besessen davon, uns Details von Körpern, Gesichtern, Innenräumen zu zeigen. Einem Kritiker fiel dazu das Wort „klaustrophobisch“ ein. In der Tat ist der Film atmosphärisch bedrückend. Die Kamera zeigt den sterbenskranken Vater zusammengekrümmt von der Seite und verweilt nach der Beerdigung auf einem Teil des schwarzbestrumpften mütterlichen Beins. Besonders krass die im Internet sich feilbietenden reiferen Männer: reihenweise und unverbunden lauter Torsi aus Bäuchen, Schenkeln, grimassierenden und schlecht beleuchteten Gesichtern und natürlich Genitalien. Dieser New York-Film kommt ohne jedes Hochhaus aus, obwohl selbst in Coney Island viele stehen. Einmal gerät kurz die nächtlich beleuchtete Freiheitsstatue ins Bild – wie eine ironische Ankündigung kommenden Unheils. Die Clique kreuzt gerade auf einem Tanzschiff vor der Stadt und hier wird der Vorhang, hinter dem sich Frankies zweite Existenz abspielt, auf einmal durchscheinend.
Ebenso faszinierend wie die Kameraarbeit ist Harry Dickinsons Mimik. Es gelingt ihm, sich fein nuanciert auf jede der rasch wechselnden Situationen einzustellen, das Innenleben seiner Figur im bloßen Gesichtsausdruck offenzulegen. So schlicht die Dialoge, so beredt und differenziert sein Mienenspiel, doch nie aufgesetzt wirkend.
Erst das Schlussbild zeigt den abendlichen Vergnügungspark, die hoch aufragenden, farbig illuminierten Fahrgeschäfte, das Spektakel des Freitagabend-Feuerwerks in prachtvoller Großaufnahme. Indem Frankie aus allem, dem er verbunden war, herausgefallen ist – gesperrt nun auch sein Zugriff im Dating-Portal -, sieht er sich erstmals als Individuum der Welt als Ganzes gegenüber, vielleicht auch ihrer Schönheit. Der Roman seines erwachsenen Lebens kann beginnen.
Dieser Film, fertiggestellt 2015, ist ein Beispiel für den intensiven kulturellen Austausch zwischen Nordamerika einerseits und Ost- und Südostasien andererseits. Der 1981 in Texas geborene Filmemacher Josh Kim ist koreanischer Herkunft, er las als junger Mann den Kurzgeschichtenband „Sightseeing“. Ihr Verfasser Rattawut Lapcharoensap, in Chicago geboren und thailändischer Abstammung, wuchs in Bangkok auf. Um aus zwei Texten der Sammlung, sie verschmelzend, erst ein Drehbuch, dann einen Film zu machen, zog Kim selbst für längere Zeit in die thailändische Hauptstadt. Er realisierte sein Werk in thailändischer Sprache und überwiegend mit einheimischem Personal. Der Streifen wurde international unter dem Titel „How to Win at Checkers (Every Time)“ ein großer Erfolg und schaffte es unter anderem auf die Berlinale.
Lapcharoensaps Geschichten sind sozialkritisch. Dementsprechend dient auch in Kims Film das mann-männliche Paar vor allem dazu, die soziale Kluft zwischen Arm und Wohlhabend aufzuzeigen. Die Beziehung der beiden jungen Männer Ek (Thira Chutikul) und Jai (Arthur Navarat) zerbricht, als Jais Eltern den Sohn vom Militärdienst freikaufen, d.h. über den lokalen Schwarzmarktboss Bestechungsgeld fließen lassen. Ek dagegen muss an die malaysische Grenze und wird auf einer Patrouille von Rebellen erschossen. Zuvor erleben wir die Einberufungsziehung in einem buddhistischen Tempel mit. Der thailändische Staat benötigt nur einen Bruchteil der jungen Männer fürs Militär und veranstaltet daher für alle einundzwanzig gewordenen zusammen mit der Musterung eine pompöse Lotterie. Wie sich dabei die Korruption diskret und zugleich schamlos inszeniert, ist einer der beiden Höhepunkte des Films.
Die zentrale Beziehung ist indessen die von Ek zu seinem elfjährigen Bruder Oat (Ingkarat Damrongsakkul). Erzählt wird die Filmgeschichte anhand der Erinnerung des jungen Erwachsenen Oat (Toni Rakkaen). Geschickt werden Alpträume und Kommentare des überlebenden Bruders mit Kinderszenen verwoben. In Oats leicht verklärendem Rückblick erscheint Ek fast wie ein irdischer Bodhisattva: sanft, mitfühlend, verantwortungsbewusst, redlich. Allerdings konsumiert er auch Chrystal Meth und ist erst Barkeeper, dann gezwungenermaßen Prostituierter in einem Lokal für Homo- und Transsexuelle. Dorthin nimmt er den Elfjährigen auf dessen hartnäckiges Bitten hin einmal mit, bevor er Bangkok für immer verlässt. Oats kindliche Einblicke in die Szene sind der zweite großartige Höhepunkt des Films.
Oat selbst passt sich nach Eks Tod voll Bitterkeit den korrupten Verhältnissen im Land an und vermeidet so das Schicksal des Älteren. Insgesamt atmet der Film eine Atmosphäre, die gesättigt ist von mitreißender Melancholie. Beeindruckend für den Zuschauer ist auch, wie souverän Kim Einflüsse anderer Filmemacher von Techiné bis Weerasethakul im Rahmen eines traditionellen Erzählkinos verarbeitet hat. Zur Vorbereitung hat er überdies eine Kurzfilmdokumentation über jene Einberufungsziehung gedreht: „Draft Day“ (anzusehen als Zugabe auf der bei Edition Salzgeber herausgekommenen DVD - oder allein im Netz leicht zu finden).
Dieses Vier-Personen-Drama von Andrew Steggall, herausgekommen 2016, ist ein sehr beachtlicher Debütfilm. Die Engländerin Beatrice (Juliet Stevenson) besucht zum letzten Mal ihr Ferienhaus in Südfrankreich, um es zu räumen. Sein Verkauf ist ein Vorzeichen für das nahende Ende ihrer wenig glücklichen Ehe. Begleitet wird Beatrice von ihrem Sohn Elliot (Alex Lawther), fünfzehn Jahre alt, geistig frühreif, will Schriftsteller werden. Er fühlt sich bald zu dem nur wenig älteren Pariser Clément (Phénix Brossard) hingezogen, der im Dorf untergebracht wurde, während seine Mutter in Paris im Sterben liegt. Die Handlung pendelt einige Zeit zwischen melancholischem Entrümpeln des Hauses und sich vortastender Annäherung der beiden Jungen. Sie spitzt sich zu, als Elliots Vater (Finbar Lynch) nach Frankreich kommt. Am Ende des Films sind die absehbar gewesenen Entwicklungssprünge vollzogen und weitgehend akzeptiert.
Was den Filmemacher Steggall angetrieben hat, kann man mit den Begriffen Fatum und Fluidum umreißen. Ihn interessieren gesetzmäßige Abläufe innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen, die unvermeidlichen Krisen und wie sie sich atmosphärisch erst ankündigen, dann manifestieren. Ästhetisch ist das rundum gelungen mit kraftvoll-schöner Bildersprache und knappen, immer den Kern treffenden Dialogen. Die Handlung ist stets eingebettet in Landschaft und Architektur der Provence. Tragende Rollen spielen neben den vorzüglichen Schauspielern auch die Inneneinrichtung sowie ein Hirsch, der (vielleicht) angefahren wurde, und vor allem das Element Wasser. Verstärkt wird der Charakter eine „Wasserufergeschichte“ noch dadurch, dass die Handlung immer wieder mit derjenigen von Dvořáks Oper „Rusalka“ synchronisiert wird. Diese Querverweise kann der Zuschauer entschlüsseln, wenn er will, notwendig ist es für die starke Wirkung des Streifens nicht. Das gilt ebenso für Zitate aus Xavier Dolans Erstling „I Killed My Mother“. Kluge Kritiker wollen sogar herausgefunden haben, dass die Figur des Clément Parallelen zum Gast in Pasolinis „Teorema“ aufweist.
Die Gefahr, überfrachtetes Kunstgewerbe zu produzieren, lag für einen jungen Regisseur bei so hochgespannten Absichten nahe. Steggalls Film ist es in keiner Sequenz geworden, sondern fast schon ein (gar nicht so kleines) frühes Meisterwerk.
Das knapp zwei Stunden lange Werk des portugiesischen Filmemachers João Pedro Rodrigues „Der Ornithologe“, 2016 herausgekommen, zeichnet sich durch hohe cineastische Qualität, enorme Spannweite der Thematik und einen geglückten Genremix aus. Es beginnt wie ein Naturdokumentarfilm aus einer der schönsten Landschaften Europas. Der Ornithologe Fernando (Paul Hamy), ein Mann Anfang dreißig, erkundet auf einem Kajak die Vogelwelt in einem tief eingeschnittenen Flusstal im Norden Portugals: Steinadler, Gänsegeier, Schwarzstörche. Dabei kentert er und wird von zwei chinesischen Pilgerinnen gerettet, die vom Jakobsweg abgekommen sind. Die beiden jungen Frauen sind nicht nur eifrige Christen, es sind auch sadistische Lesbierinnen. Fernando wird zu einem neuen Heiligen Sebastian gemacht, befreit sich mit Mühe und erlebt danach herumirrend immer Seltsameres. Zum Wendepunkt wird die Begegnung mit dem taubstummen Hirten Jesus, den er erst körperlich liebt und dann in einem Kampf tötet. Von da an nimmt die Handlung zunehmend phantastische, surreale Züge an. Fernando begegnet in einem Märchenurwald ausgestopften exotischen Tieren (die dennoch bedrohliche Laute von sich geben), einem lateinisch sprechenden Amazonentrio und Tomé, dem gleichfalls gewaltsam umgekommenen Zwillingsbruder von Jesus. Fernando erweckt Tomé zum Leben, wird von diesem zur Sühne des Brudertods erstochen - und am Schluss sehen wir beide als Paar heiter zu Fuß dem Zentrum von Padua zustreben. Der deutlich gealterte Ornithologe (jetzt von Rodrigues selbst gespielt) hat seine Identität vollkommen verändert und heißt jetzt Antonio.
Was soll all das bedeuten? Rodrigues hat hier eine aktuelle Fassung der Geschichte bzw. Legende vom Heiligen Antonius von Padua geschaffen. Portugals Nationalheiliger hieß ursprünglich Fernando und kam aus Lissabon. Infolge eines Schiffbruchs gelangte er nach Italien und wurde einer der großen Prediger des noch jungen Franziskanerordens. Der Regisseur erzählt nun mit seinem Film eine moderne Abenteuergeschichte, in der sich in Anlehnung an den Lebenslauf des Heiligen seine eigene Biographie widerspiegelt. (Der homosexuelle Rodrigues hatte anfangs Biologie studiert und wurde später vom Atheisten zum Gläubigen.) Der Streifen schwankt so zwischen doppelter Identifikation (Fernando = Rodrigues = Heiliger Antonius) sowie Nachfolge einerseits und gewagter künstlerischer Blasphemie andererseits. Rodrigues schreibt selbst in einem Text über sein Werk: „Wie im Leben des Heiligen finden sich in meinem Film der symbolische Tod, Auferstehung und Märtyrertum … Es ist der Geist des Heiligen, der Leben in den Film haucht, und Fernando zu einer neuen Identität finden lässt …“ Es sei ihm also um „Auseinandersetzung mit Spiritualität“ gegangen.
Damit sind wir beim Problematischen des Werks. Es besteht nicht allein darin, dass unter den Adressaten des Films auch Nichtgläubige sind, die jene Heilsbotschaft, die Entwicklung vom atheistischen Biologen zum christlichen Pilger, für sich nicht nachvollziehen werden. Das Dilemma liegt auch in der Darstellung selbst. Sie soll eine geistige Entwicklung illustrieren, d.h. sie sich materialisieren lassen. Etwas nicht unmittelbar mit den Sinnen Erfahrbares, Transzendentes wird in üppige Filmsprache übersetzt. Im Verlauf der Handlung müssen die Mittel dazu immer stärker wirken, die Szenen krasser, blutiger werden. Und das Ergebnis ist ein ziemlich banales Mirakel: Anstelle des athletisch blühenden Anfangdreißigers Hamy sehen wir den asketisch-asthenischen Anfangfünfziger Rodrigues vor uns.
Trotz dieses Einwands: Das Werk überzeugt insgesamt als Film einfach durch die Wucht seiner Bilder, die Magie der Natur in ihm und die enorme schauspielerische Leistung von Paul Hamy. Dieser Film hat einen langen Atem. Als Motto vorangestellt ist ihm ein Zitat aus der Pfingstpredigt des Heiligen Antonius von 1222: „Wer sich dem Geiste nähert, wird seine Wärme spüren und sein Herz wird sich in neue Sphären erheben.“ So allgemein und umfassend formuliert, kann der Gehalt des Werks dann doch von sehr vielen aufgenommen werden.
Auf dem Filmfestival von Locarno bekam Rodrigues 2016 den Silbernen Leoparden für die Beste Regie.
Das Ungeheuer im Schrank ist für den achtzehnjährigen Oscar (Connor Jessup) eine Kindheitserinnerung. Damals wurde er Zeuge eines homophoben Gewaltverbrechens und identifiziert sich seitdem bewusst oder unbewusst mit dem querschnittsgelähmten Opfer. Dieses seelische Trauma steht in komplexer Beziehung zu Oscars desolater familiärer Situation. Bei der Trennung seiner Eltern blieb er bei seinem verhaltensgestörten, selbst gewalttätigen Vater (Aaron Abrams). Die Besuche bei der Mutter (Joanne Kelly), die in einer harmonischen neuen Beziehung lebt, reichen als Gegengewicht nicht aus.
Nach seinem Schulabschluss ballen sich die Probleme für Oscar. Er verliert den Aushilfsjob im Baumarkt, erhält den angestrebten Studienplatz in New York nicht und kommt mit seiner sexuellen Identität nicht klar. All das kulminiert, als er während einer Auseinandersetzung seinen Vater in einen Schrank stößt, um sich abends Ausgang zu erzwingen. Jetzt fallen zusammen das alte Verbrechen und die laufende väterliche Tyrannei, die Zwangserinnerung und die Zwangslage daheim. Parallel dazu läuft für den jungen Mann verstörend sein Coming-out ab. Die Krise wird überwunden durch Umzug zur Mutter und Oscars Unterbringung in einem elitären Bildungsinstitut. Er will Maskenbildner werden, wird zum Beruf machen, was ihn bisher schon beschäftigt hat: die Nachtmahrgestalten in seinem Kopf ästhetisch bannen.
Das scheint ein schwerer Stoff, hat jedoch vor allem die Form einer schmissigen Familientragikomödie. Sie ist zugleich ironisch, bissig und liebevoll. Der schweren Geburt des erwachsenen Oscar steht gegenüber die surrealistische Leichtigkeit vieler Sequenzen. Zwar sind da auch immer wieder eingeblendete Visionen, visuell erfahrbarer Horror, und schrille Zwischentöne, doch alles zusammen fügt sich seltsamerweise zu einem harmonischen Ganzen. Es gibt einen sprechenden Hamster und die vielleicht kürzeste Penetration der Filmgeschichte, als katastrophal halluziniert und zugleich wie mit einem Augenzwinkern inszeniert. Unterstützt wird diese Verbindung von Drama und Idylle durch den Schauplatz, die herrlich gelegene alte Stadt St. John’s an der Küste von Neufundland. Kongenial neben den opulenten Bildern der Kameraarbeit auch die zu den Schlüsselszenen erklingende Filmmusik. Die Bildmotive sind klug variiert und werden dabei optimal eingesetzt. Hervorragende Schauspieler bringen uns die Handlung nahe. Zu ihnen gehören noch Sofia Banzhaf als Gemma, Oscars Schulfreundin, Aljocha Schneider als Wilder, einen jungen Kollegen, von Oscar insgeheim begehrt, und Mary Walsh als skurril-komische Leiterin des Baumarkts. Kanada ist ein erstaunlich produktives Filmland voller Talente.
Stephen Dunn, geboren 1989, wandelt mit seinem ersten Spielfilm „Closet Monster“ erkennbar auf den Spuren von Xavier Dolan und David Cronenberg. Für seine dennoch ganz eigenständige Verarbeitung des Stoffs erhielt er verdientermaßen zahlreiche Preise, darunter auf dem Internationalen Filmfestival von Toronto die Auszeichnung als bester kanadischer Spielfilm des Jahres 2015.
2018 brachte der junge Alexandre Moratto seinen ersten Spielfilm „Sócrates“ auf den Markt. Das Werk fand rasch international Verbreitung und Anerkennung. Auf zwei befremdliche Aspekte der Werbung für den Streifen gehe ich später noch ein.
Der Film erinnert an Werke des italienischen Neorealismus, doch ist er in Farbe gedreht und spielt im Brasilien von heute. „Sócrates“ heißt ein Fünfzehnjähriger, der mit seiner Mutter vor dem gewalttätig evangelikalen Vater geflüchtet ist. Am Filmanfang steht Sócrates verzweifelt vor der Leiche seiner Mutter und am Ende verstreut er ihre Asche am Meeresstrand. Dazwischen liegt eine Passionsgeschichte, die in kurzen Episoden zeigt, wie der Junge bei seinen Versuchen der Selbstbehauptung immer wieder scheitert. Wohnen können, Arbeit suchen, persönliche Bindungen eingehen, das sind für ihn unlösbare Aufgaben. Der nur 71 Minuten lange Film wechselt häufig den Schauplatz: in buntem Wechsel Stadtzentrum, zumeist heruntergekommene Außenbezirke, Küstenlandschaft. Sócrates begegnet einer Vielzahl von Menschen, die ihm nicht helfen können. Bei ihrer Zeichnung vermeidet der Film jedes Schwarz-Weiß-Schema. Die Lebensverhältnisse sind, wie sie sind, und lassen solide Existenzen, Lebensglück gar, kaum zu. Dass der Teenager schwul ist, begründet nicht seine Misere, doch es verschärft sie.
Moratto hat seinen Film mit einem Mini-Budget und armen jungen Leuten aus einem von der UNICEF finanzierten Sozialprojekt gedreht. Das Ergebnis dieser Arbeit ist mehr als ansehnlich, ist ein Glücksfall. Wesentlich trägt dazu die vorzügliche Besetzung der Hauptrolle bei. Wie der so fotogene wie schauspielerisch talentierte Christian Malheiros als Sócrates auf seine Mitwelt schaut, wie er leidet, kämpft, unterliegt, aber nicht untergeht, das bleibt hängen.
In den Texten über den Film, von der New York Times bis zu sissymag.de, wird unisono behauptet, der Film spiele und sei gedreht worden in und am Rand von São Paulo. Tatsächlich handelt es sich um die Hafen- und Großstadt Santos im Bundesstaat São Paulo. Zwischen beiden Städten erstreckt sich eine unbebaute Bergregion von etwa 30 Kilometern Breite, die bis auf 1200 Meter über den Meeresspiegel ansteigt. Würde man etwa von einem in Philadelphia spielenden Streifen behaupten, sein Schauplatz sei New York? Gewiss nicht. Das Detail zeigt, wie gering in Zeiten manchmal aufgeregter Dekolonialisierungsdebatte das tatsächliche Interesse der Konsumenten an einem realen Drittweltland eingeschätzt wird.
Noch krasser sind zwei Fehler im Text der edition salzgeber auf deren DVD-Cover. Es heißt da: „ … die frühere Chefin seiner Mutter verweigert ihm das ausstehende Gehalt …“ Tatsächlich leitet dort in der WC-Anlage ein Mann den Betrieb. Sócrates gibt zuerst vor, seine Mutter sei kurzfristig krank, und übernimmt tageweise ihre Putzarbeit. Zu Recht will der Manager den Lohn nicht an den Minderjährigen, sondern nur an die Mutter auszahlen. Als er von ihrem Tod erfährt, gibt er sogleich unaufgefordert das Geld dem Jungen. Die verfälschende Darstellung soll vielleicht eine antikapitalistische Note ins Sozialdrama bringen – oder der Texter hat den Film gar nicht oder nur flüchtig angesehen. Wie Manfred Salzgeber, der Gründervater der Firma, auf solchen Umgang mit einem lohnenden, seriösen Werk reagiert hätte? Vielleicht sarkastisch, vielleicht resigniert.
Der 2017 herausgekommene Film „Thirty Years of Adonis“ von Scud ähnelt einem mächtig das Wasser aufwirbelnden Raddampfer mit zwei großen Schaufelrädern, einem formal-ästhetischen und einem geistigen. Beide sind nicht aus derselben Werkstatt und ursprünglich auch gewiss nicht zum Transport von Geschichten wie dieser entworfen. Die Handlung ist vordergründig eine von heute, zwar spektakulär, doch im Ganzen realistisch. Yang Ke (Adonis He Fei) ist ein arbeitslos gewordener Darsteller der Peking-Oper und wird von seinem Agenten daher jenseits der Bühne vermarktet, als Model, in der Pornofilm-Industrie, als Prostituierter, Männern wie Frauen zur Verfügung stehend. Dieses Hongkong glitzert, blendet und bringt den attraktiven jungen Mann bis an die äußersten Grenzen seiner physischen Existenz. Er scheint in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen, als er ein eigenes Bistro eröffnet, einen Lebenspartner findet und die Stadt mit ihm verlassen will. Nur vollendet sich sein Schicksal schon vorher, auf höchst grausige Weise.
Dieser Stoff wird stilistisch wie vom späten Pasolini dargeboten. „Die 120 Tage von Sodom“ ist als Vorbild für die Sex- und Massenszenen wie für diejenigen sozusagen aus dem Gesellschaftsleben deutlich zu erkennen. Das immerhin haben Salò und Scuds Hongkong gemeinsam: Ihre innere Ordnung ist befristet und das Bewusstsein ihrer Endlichkeit treibt die Zeitgenossen zu immer raffinierteren, oft scheußlichen Exzessen. Der Haupterzählstrang wird häufig unterbrochen, indem Rückblenden oder Visionen eingeschaltet sind. Sie scheinen jede Illusion eines Zeitkontinuums zerstören zu wollen. Der Schluss der Filmhandlung schließlich ist eine Coda im Jenseits, und zwar in einem, das noch Kontakt hat zum aktuellen Diesseits, dem gleichzeitig aber auch dessen Vergangenheit und Zukunft zugänglich sind.
Diese Elemente gehören bereits dem geistigen Hintergrund des Films an, der vom Buddhismus geprägt ist. Karma und Wiedergeburt sind die großen Themen, mit denen zugleich die christliche Passionsgeschichte synchronisiert wird. Zum religiösen Aspekt erklärte Scud in einem Interview: „Bevor ich mit dem Drehbuch zu ‚Adonis’ begonnen habe, bin ich für einige Wochen zu einem berühmten Meister nach Bhutan in Klausur gegangen. Den fertigen Film habe ich als Erstes seinem wichtigsten Apostel vorgeführt. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit europäische Zuschauer den tibetanischen Buddhismus verstehen. Dies ist zumindest die genaueste Analyse davon, die ich bieten kann – und die auch ohne Vorbehalt von den Geistlichen akzeptiert wurde.“ (Zitiert nach einem der DVD beigegebenen Booklet der Edition Salzgeber.)
Die Spannweite des Programms, das dem Film zugrunde liegt, ist also enorm. Ist das Werk auch gelungen? Zumindest gilt dies für jede einzelne Szene, von denen jede aufregend schön, ja betörend ist, nie ins Kunstgewerbliche abgleitet, immer kraftvoll und originell erscheint. Mit diesen Bildern allein schafft der Film schon als Mosaik ein überzeugendes Ganzes. Schließlich ist Kunstfilm an sich das: eine in sich geschlossene autonome Welt aus bewegten Bildern, nicht die Darlegung einer rational nachvollziehbaren Botschaft oder Lehre. Um im Bild des Anfangs zu bleiben: Scuds Filmdampfer gleitet souverän und rauscht majestätisch über Untiefen wie Abgründe.
„Amphetamin“, 2010 herausgekommen, ist das dritte Werk des Hongkonger Filmemachers Scud. Der Titel zeigt schon an, worum es in der Hauptsache geht: Drogenmissbrauch. Der Streifen, angesiedelt im Jahr 2008, zeichnet das Charakter- und Lebensbild eines jungen Mannes. Ganz hervorragend verkörpert der Schauspieler Byron Pang diesen Schwimmlehrer Kafka – sein Name eine Anspielung auf den Roman „Kafka am Strand“ von Haruki Murakami – und er läuft immer dann zur Hochform auf, wenn er die Figur als „high“ darzustellen hat. Kafkas sexuelle Identität bleibt letztlich unklar, als homosexuell kann man ihn nicht ansehen. Scud nimmt damit noch einmal das Hauptthema seines vorherigen Films „Permanent Residence“ auf – Partnerschaft sehr Ungleicher - und lässt ihn eine Bindung an den offen schwulen Investmentbanker Daniel eingehen (ebenso vorzüglich von Thomas Price gespielt). Während ihrer Beziehung enthüllt sich Kafkas Drogenabhängigkeit und führt zu immer katastrophalerem Verlauf. Die Story hat als zeitgeschichtlichen Hintergrund die damalige Finanzkrise. Daniel muss am Ende zurück nach Australien, wo er schon früher lange gelebt hat, und Kafka – nun, man kann es sich denken. Aber wie und mit welch grandiosen Szenen und Bildern es geschieht, daran erweist sich erneut Scuds außerordentliches Talent, seine enorme Kreativität. Es spielen auch mit die Straßen und Brücken von Hongkong, ein Hochhaus mit seinem Dachgarten, die Kulisse der Berglandschaft um die Stadt und die Meeresbuchten. Und dann gibt es noch Linda (Winnie Leung), Daniels Ex-Freundin. Eigens aus Australien eingeflogen, beschleunigt sie ungewollt den tragischen Verlauf. Weitere Nebenfiguren sind Kafkas Eltern, sein gleichfalls drogenabhängiger Bruder und seine eigene Ex-Geliebte.
Die Machart des Films überforderte manche Zuschauer. Sie wechselt oft von mal krassem, mal poetischem Realismus zu eingeschobenen Rückblenden, Träumen, Visionen. Auf diese Weise wird erst die Figur Kafka mit ihrem Hintergrund, ihrer Vorgeschichte und ihrer inneren Struktur plastisch. Die Bildsprache, gelegentlich an Robert Mapplethorpe erinnernd, ist zugleich drastisch und raffiniert, ohne dass ihr bloße Werbeästhetik vorzuwerfen wäre. Noch das ästhetisch exaltierteste Detail ist hier legitimiert als jeweils erregendes Handlungsteil in engem Zusammenhang mit der erzählten Geschichte insgesamt. Scud selbst tritt, wie andere große Filmemacher vor ihm, in einer kleinen Nebenrolle auf. Wie in den meisten seiner Werke werden auch in „Amphetamin“ andere Filme von ihm visuell oder im Dialog zitiert. Eigenwerbung? Ausdruck eines überaus starken Egos? Man kann es so sehen. Oder auch so: Scuds Filme stehen nicht jeder für sich, sie haben einen inneren Zusammenhang. Sie bilden eine Art Hongkonger Comédie humaine von heute.
Marco Berger, arrivierter argentinischer Filmemacher norwegischer Abstammung, hat „Young Hunter“ 2020 herausgebracht (spanischer Originaltitel: „El Cazador“). Mit deutschen Untertiteln ist das Werk seit 2021 auf dem Markt. Da es bei uns noch nicht viele gesehen haben dürften, verbietet sich, die Handlung im Detail zu erörtern. Schließlich ordnet die edition salzgeber ihre DVD dem Genre Thriller zu, bei der Spannung unverzichtbar ist. Allerdings weckt diese Rubrizierung vielleicht falsche Erwartungen …
Der fünfzehnjährige Oberschüler Ezequiel (Juan Pablo Cestaro) sucht, um sexuelle Erfahrungen zu sammeln, Kontakte zu anderen jungen Burschen. Er lässt sich auf eine Beziehung zu dem geringfügig älteren Mono (Lautaro Rodriguez) ein, der mit ihm seine eigenen Zwecke verfolgt, von denen Ezequiel nichts ahnt. Zu spät sieht er klar, jetzt soll er gegenüber anderen möglichen Opfern selbst Monos Rolle übernehmen. Dieser Ablauf entspricht dem Prinzip Thema und Variation und wird großenteils in klassischer Thrillermanier dargestellt. Es geht allerdings, so viel sei verraten, nicht um Verbrechen im alten Stil, sondern um ein modernes Phänomen. Jeder Zuschauer kann selbst prüfen, ob er den Rückgriff auf traditionelle Ästhetik bei einem so aktuellen Stoff für geglückt hält. Das Drehbuch dehnt erkennbar die Handlung, um eine dichte Atmosphäre aus Unsicherheit und Misstrauen erzeugen zu können. Überdehnt es sie nicht zeitweise? Auf der anderen Seite hat dieses Verfahren auch Vorzüge. Es rückt gerade durch seine Längen die Hauptfiguren mit ihren seelischen Regungen und ihrer inneren Widersprüchlichkeit in volle Beleuchtung. Dabei reden sie viel weniger, als dass sie ihre Mitwelt beobachten. Selten werden so ausgiebig beredte Blicke und Körperbewegungen und –haltungen eingesetzt wie hier. Marco Berger hat nicht nur einen Thriller, sondern auch eine psychologische Studie über frühes Begehren und vorzeitige Reife gedreht. Tatsächlich liegt in dieser Entwicklung seiner Figuren die wesentliche Essenz des Werks und macht seinen Wert zum großen Teil erst aus. Zu den schon erwähnten Gestalten kommen als Träger der Handlung noch zwei hinzu: der Schüler Juan (Patricio Rodriguez), noch jünger als Ezequiel, und Monos angeblicher älterer Cousin Chino (Juan Berberini). Auch bei ihnen bringt Bergers Erzählweise die Ambivalenz des Charakters sozusagen zum Leuchten, d.h. wie seine Figuren insgesamt sind sie höchst lebendig. Hat man den Film dreimal gesehen, scheint sein Personal fast zum Kreis uns real umgebender Menschen zu gehören. Die sich permanent verändernden Landschaften dieser Gesichter, mit denen Nah- und Großaufnahmen uns immer wieder konfrontieren, man vergisst sie nicht leicht.
Die Kurzversion von Inhaltsangabe auf der Coverrückseite löst durch einen Satz bei mir wieder Befremden aus: „Mit dem etwas älteren Mono klappt es dann endlich mit dem ersten Mal.“ Mit dieser Detailinformation wirbt die edition salzgeber nicht nur auf der DVD, sondern generell für den Film, doch entspricht sie keineswegs der Filmhandlung. In deren Verlauf erzählt Ezequiel in einem der wenigen längeren Dialoge Mono von zwei früheren ebenso intensiven Erlebnissen mit anderen, und sie sind im Film nicht dargestellt. Man kennt solche Abweichungen beim Anpreisen der Filmware schon. Nicht der reale Inhalt des Streifens wird oft beworben, sondern eine Erwartungshaltung geweckt, die man für absatzfördernd hält. Besondere Wertschätzung für sorgfältig hergestellte Kunstwerke oder das Publikum äußert sich dadurch nicht – im Gegenteil. Noch bezeichnender für diese Art von Filmkultur ist, dass die eklatante Falschdarstellung des Filminhalts im Internet auf vielen Kanälen von anderen nachgeplappert wird, von Medien ebenso wie von Veranstaltern. Im Übrigen vermeidet der Film, da sein Stoff unter Minderjährigen spielt, die Darstellung intimer Szenen fast gänzlich. Um das Präsentieren konkreter sexueller Vorgänge geht es ihm gar nicht, sondern um die Gefühle, die Gedanken und auch die Geschäfte, die mit ihnen verbunden sind.
„Vier Tage in Frankreich“ (im Original „Jours en France“) von Jérôme Reybaud ist als Roadmovie mit fast zweieinhalb Stunden Länge mehr als ein Happen Frankreich, es ist schon ein großer Brocken, dabei dank einem Drehbuch voll kluger Einfälle nicht überdehnt oder ermüdend. Man kann den Film auch als Roadmovie im Doppelpack bezeichen, denn den entschwundenen Pierre (Pascal Cervo) im weißen Alfa Romeo verfolgt bald in einem Leihwagen sein Partner Paul (Arthur Igual). Erleichtert wird ihm das dadurch, dass Pierre laufend die Dating-App Grindr nutzt und somit Spuren auf einer gedachten Landkarte Frankreichs hinterlässt.
Wir erfahren nicht, weshalb Pierre im Morgengrauen Paris verlässt. Streit mit Paul, seelische Krise oder noch anderes, es bleibt im Dunkeln, ebenso seine mit dem Aufbruch verbundenen Vorstellungen – falls er solche überhaupt hat. Der Entflohene scheint zum Lehrkörper der Sorbonne zu gehören. So wenig wir über seine allgemeine Lage wissen können, so deutlich konturiert erscheinen sein Wesen und seine Art auf andere zu reagieren. Es sind nicht wenige, denen er und Paul in diesen vier Tagen begegnen. Diese bunte Kollektion umfasst etwa so viele Männer wie Frauen, die Ersteren überwiegend mehr oder weniger flüchtige Sexualpartner, die Frauen meist Zufallsbegegnungen. Es sind ganz unterschiedliche Charaktere, denen allein ausgeprägt individuelle Züge gemeinsam sind. Fast könnte man so den Eindruck gewinnen, die französische Provinz sei nur von Sonderlingen bevölkert, nicht von Durchschnittsmenschen. Allgemein haben die Dialoge gehobenes Niveau, es geht in ihnen oft ein wenig literarisch zu. Auch die dazu passende Musik fehlt nicht. Ausbalanciert wird dieses Bildungsbürgerliche durch zum Teil schockierend Peinliches, gerade auf dem sexuellen Terrain. Die von der Handlung im Detail erzeugte Stimmung schwankt dennoch zwischen leicht humorvoll und diskreter Melancholie.
Ebenso bedeutend für die starke atmosphärische Wirkung des Films sind die rasch wechselnden Schauplätze, diese kleinen Städte und die weiten Landschaften. Pierre fährt von Paris immer weiter direkt nach Süden, tief ins mittlere Frankreich. Die Orte wirken in ihren Zentren meist wie Kulissen, gut geeignet zur Verfilmung von Balzacs Werken und kontrastiert doch von den geschäftigen Rändern mit Supermärkten, Hotels, Tankstellen, Parkplätzen und Kreisverkehren. Die Landstraßen mit ihren vielen Kurven schwingen sich in der Auvergne immer höher hinauf zu herrlichen Aussichten, dann fahren Pierre und Paul, jeder für sich suchend und irrend, ostwärts und in die Alpen hinein. Die Handlung kulminiert unmittelbar an der italienischen Grenze auf einer Passhöhe, bevor sie an der Côte d’Azur ausklingt, im Morgengrauen des fünften Tages.
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2014
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