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1. Der zweite Sonntag im Mai

Die Dämmerung war sicher schon vorüber. Er wollte weiterschlafen und schlug die Augen nicht auf. Aber hier und da bimmelten Kirchenglocken zur Frühmesse über Stadt und Land. Ihre Klänge drangen wie kleine Pfeile ins noch kaum wache Bewusstsein und erweiterten den Spalt mit jeder halben Minute, die verging: unwiderruflich. Ja, die Zeit verging, auch zu dieser frühen Morgenstunde, und was sie einem, indem sie fortschritt, an Gefühl und Erkenntnis aufzwang, blieb haften für alle Zeit. Der junge Mann hätte es so nicht formulieren können – Spitzfindigkeiten waren seine Sache nicht -, dafür empfand er jetzt umso stärker Unlust und Widerwillen. Älter werden, in Zukunft nicht mehr jung sein … Er gab es auf und blinzelte ins Frühlicht.

     Obgleich das Schlafzimmer nach Norden lag, ließen die weißen, durchscheinenden Vorhänge schon viel Licht herein. Der Tag würde schön werden.

     Er wechselte die Seite und blickte nach der jungen Frau, seiner Frau, wie er ganz selbstverständlich bei sich dachte. Dabei waren sie noch kein Jahr verheiratet, keine sehr lange Zeit, auch nicht gemessen an ihrem bisherigen Leben. Er war siebenundzwanzig, sie drei Jahre jünger. Wenn er sie jedoch meine Frau nannte, nahm er die noch unabsehbare Reihe von Jahren vorweg, die er mit ihr verbringen würde. Diese zukünftigen Jahre waren ein Schatz: unverbrauchte, noch nicht beschmutzte, sozusagen chemisch reine Zeit, noch nicht behaftet mit jenem Film von Erinnerungen, die, wenn man ihnen auf den Grund ging, immer nur gemischte Gefühle erregten. Auch über diese Empfindungen war er sich nicht im Klaren. Aber sie waren vorhanden, ohne Zweifel, und stark.

      Er würde diese zukünftigen Jahre mit ihr gemeinsam verleben. Diese Vorstellung war zugleich tröstlich, da es also noch Zukunft gab, und bedrohlich – im Hinblick darauf, dass aus jeder Zukunft einmal Vergangenheit würde.      

     Ingrid schlief noch. Von den vielen Jahren, die sie beide zusammen sein würden, würden sie einen beträchtlichen Teil verschlafen. Das war natürlich zu bedauern; er konnte diese Zeitspanne jetzt nicht mehr voll in Anschlag bringen. Andererseits hatte es auch sein Gutes: Man war sich nahe, ohne dass irgendetwas zwischen sie treten konnte. Ingrids Atem ging tief und regelmäßig, sie war schön, jetzt noch schöner als im wachen Zustand, fand er. So hatte es noch einen weiteren Vorteil, wenn sie von der kostbaren Zeit so viel verschliefen – und zwar zu einem großen Teil nicht beide gleichzeitig: Sie konnten sich dabei wechselseitig zu verschiedenen Zeiten ungestört betrachten.

     Er ging von jeher gern früh schlafen und war dann morgens früh munter. Bei Ingrid war es umgekehrt. Er hatte versucht, sich umzugewöhnen, ihr zuliebe, und hatte es bald aufgegeben. Wenn er nun abends zu ihr sagte: Liebes, lass mich schlafen, ich bin müde, konnte er sicher sein, sie würde ihm von da an keine Fragen mehr stellen und auch sonst kein Wort zu ihm sagen. Nach spätestens fünf Minuten löschte sie ihre Lampe. Das war für ihn das Signal zum Aufbruch in die Regionen des Tiefschlafes. Innerlich war er dann weit fort von Ingrid, die er dennoch unbeweglich an seiner Seite wusste. Sie wachte neben ihm, sie wachte an seiner Stelle. Wenn er, was in dieser ruhigen Gegend selten vorkam, später durch Geräusche von draußen gestört wurde und dann aufwachte, konnte er oft an ihrer Atmung und der Haltung ihres Körpers erkennen, dass sie noch immer nicht eingeschlafen war. Sicher grübelte sie, das tun alle tüchtigen und pflichtbewussten Frauen. Er fragte sie bei Tag nie danach, glaubte jedoch, dass sie nachts an die GmbH dachte, die noch immer nicht gegründet war, oder an ihr erstes Kind, das bisher nicht kommen wollte.

     Gekrümmt, wie sie nun dalag, wirkte sie fleischiger, als sie wirklich war. Der Oberarm war nahe an den Kopf herangezogen – wie zur Verteidigung, aber das sah nur so aus –, und zwischen Hals und Schlüsselbein war eine tiefe Höhlung entstanden, in die er sich jetzt mit seinem Blick zu vertiefen suchte. Leider lag die Stelle im Schatten. Noch war es zu früh, Ingrid aufzuwecken. Es war ja Sonntag, eine an sich erfreuliche Tatsache, nur befahl ein grausames, schwer zu befolgendes Gesetz, die eigene Frau, wenn sie Langschläferin war, wenigstens am Sonntag in den Tag hineinschlafen zu lassen. Irgendeine Nummer wäre da unkomplizierter gewesen, fuhr ihm durch den Sinn: Man hätte nicht so viel Rücksicht nehmen müssen. Dieser Widerstand, den sie ihm da nur in seinen Gedanken entgegensetzte, erregte ihn jetzt noch mehr. Er näherte seinen Mund der Höhlung zwischen Hals und Schlüsselbein  und küsste sie sanft. Frauen hatten tatsächlich eine viel zartere Haut als Männer. Er musste daran denken, dass er zeitweise unter Rückenakne litt – und war doch sonst ein hübscher und gesunder Kerl! Ingrid rührte sich überhaupt nicht.

     Zur Untätigkeit, zum Stillesein verurteilt, wurde er innerlich von Minute zu Minute unruhiger. Diese Unruhe erschien ihm jetzt wie eine Aufforderung zum Handeln, ein Reservoir an Kraft, das sich allmählich aufstaute und einen Abfluss suchte. Wenn sie dann endlich aufgestanden waren, unternahmen sie nur wenig. Sie frühstückten lange. Der Nachmittag ging unter Zerstreuungen dahin, die wenig Energie erforderten: kurze Ausflüge oder Besuche. Man fuhr oder saß herum. Im Haus und im Garten verrichteten sie nur das Nötigste. Er wäre so gern auch in der freien Zeit ein aktiver Mensch gewesen. Hinderte ihn Ingrid daran, es zu sein? Sie müssten eben früher aufstehen, dann würde alles anders werden. Er hatte schon daran gedacht, am Wochenende allein sehr früh aufzustehen und Ingrid weiterschlafen zu lassen. Dreierlei hielt ihn davon ab: Die Aussicht, sie zu nehmen, wenn sie, noch halb im Schlaf, sich sträubte, und ihr Widerstand dann allmählich nachließ und in Lust sich verwandelte; die Angst, sie zu verlieren, denn die Trennung für zwei Stunden am Sonntagmorgen erschien ihm bereits wie der Anfang einer endgültigen; schließlich – und das war vielleicht der Hauptgrund – eine gewisse Müdigkeit auch auf seiner Seite: Gewöhnlich kamen sie am Samstagabend, abweichend von den übrigen Tagen der Woche, erst nach Mitternacht zu Bett; er hatte zu wenig geschlafen und wusste im Grunde recht gut, dass er dann gar nicht imstande war, ernsthaft zu arbeiten oder Sport zu treiben.

     Die Helligkeit hatte weiter zugenommen, das Licht von draußen war noch intensiver geworden. Es musste ein wunderbarer Maimorgen sein. Glänzend wird das Flusstal mit den Wiesen daliegen und drüben auf dem Hügel Neustadt, wo die Aufwinds herkamen. Es war ein seltener, echt fränkischer Name, und er war stolz auf ihn. Seit der Hochzeit wohnte Ingrid hier bei ihm im Dorf, im Bungalow, den seine Eltern noch gekauft hatten, kurz vor der Katastrophe. Vom Garten konnte er alles überblicken: das Dorf, das sich den Hang hinunterzog, das breite Tal, die Kreisstadt drüben.

     Der Gedanke an den Vater, der geistig verwirrt und in einer Anstalt untergebracht war, und der an die Mutter, die sich deshalb umgebracht hatte, verdunkelten ihm für eine Weile das Zimmer. Es war sinnlos, noch einmal all dem nachzugrübeln. Onkel Georg und er, sie hatten das Geschäft wieder hinaufgebracht, das war alles, was sie damals noch hatten tun können, und das war nicht wenig, weiß Gott, es konnte sich sehen lassen. Um sich abzulenken, will er sich lieber auf den schönen Sonntag freuen, der nun hoffentlich bald anfängt.

     Sie könnten zum Beispiel mit dem Motorrad hinauf ins Gebirge fahren, die erste größere Ausfahrt mit Ingrid in diesem Jahr. Das breite Wiesental aufwärts, dann auf die Hochstraße, wieder einmal auf den Goldberg – oder noch besser: die Hohe Kuppe. Zurück durch stillere Täler, wo die Strassen schmal sind, kurvenreich, und wo wenig Verkehr ist. Das ist genau das, was er sich wünscht. Aber Ingrid – sie wird vielleicht nicht wollen? Dann könnten sie ja stattdessen mit dem Wagen flussabwärts fahren. Der Biergarten, in dem sie im vorigen Sommer ab und zu gewesen sind, ist vielleicht schon offen. Man müsste vorher anrufen. In diesem Fall würde Ingrid natürlich auf dem Rückweg fahren müssen …      

     Eigentlich würde er doch lieber auf der Maschine sitzen. Wozu hat er sie denn wieder angemeldet? Es fällt ihm erst jetzt auf, dass Ingrid schon im vorigen Sommer und erst recht im Herbst nur noch selten mit ihm Motorrad gefahren ist. Wahrscheinlich ist sie auch früher nicht gern mitgekommen, er hat sich täuschen lassen. Er ist schön dumm gewesen zu glauben, er imponiere ihr, wenn er sie abgeholt und auch zurückgebracht hat. Er sieht sie noch im Vorgarten stehen und ihm zuwinken, er hat es manchmal nur im Rückspiegel gesehen. Und sind sie auf ihren Touren nicht wirklich ein hübsches Paar gewesen, zum Beispiel damals in Münsterbach beim Laurenzifest? Die Leute haben sich nach ihnen umgedreht, nicht bloß ihre Verwandten dort unten. Er spürt noch etwas von der Befriedigung, die er empfunden hat, wenn er sich damals so sah, wie ihn die anderen sehen mussten. Damals erschien ihm alles vollkommen, eben so, wie es sein sollte.

     Plötzlich fiel ihm ein, dass heute Muttertag war. Scheiße, dachte er, Muttertag.

     Beim Spätfilm gestern Abend hatte Ingrid ihm das Programm erläutert. Nicht etwa Vorschläge gemacht: Alles verstand sich ja von selbst. Und es fiel ihm jetzt nicht schwer, sich an jeden einzelnen Punkt zu erinnern. Alles würde nämlich geradeso ablaufen wie im vorigen Jahr, als sie noch verlobt waren und er zu jedem Opfer bereit. Zuerst, lange vor dem Mittagessen, zu seiner Oma ins Gasthaus. Das wird schnell vorbei sein, sie hat immer zu tun. Dann zu den Schwiegereltern und mit denen die Großeltern Mälzer abholen. Mit allen essen gehen. Der Tisch im Lamm ist sicher schon bestellt. Nachmittags kommen Ingrids Tanten. Man wird zum Friedhof fahren, dann spazieren gehen. Und schon wieder essen: Kaffee trinken am Markt. Dann bis zum Abendessen herumsitzen. Das wird zum Brechen öde werden. Schade um den schönen Tag!

     Er ist schon entschlossen, sich zu drücken. Soll es Krach geben! Er weiß, was sie von ihm erwarten, und spürt eine Welle von Wut und Ekel in sich aufsteigen. In Augenblicken wie diesem verdunkelt sich alles in ihm, und er ist nicht imstande zu begreifen, in welchem Missverhältnis seine Erregung zu ihrem Anlass steht. Hätte ihm jedoch einer gesagt, dass er diese ganze evangelisch-biedere Sippschaft Mälzer-Leberecht aus tiefstem Herzen, aus tiefster Leber und von noch weiter unten herauf hasst, dann hätte er sogleich begeistert zugestimmt. Aber niemand sagt es ihm, und er selbst kommt nicht darauf.

     Erschrocken sah er zu Ingrid hinüber, die noch immer ruhig weiterschlief. Sein Entschluss stand fest, das wusste er, aber mit ihm war auch das schlechte Gewissen da, das diese Entschlüsse gewöhnlich begleitete. Sie war schön, sie war seine Frau, er hatte sie heiraten dürfen. Sie war ebenso schön wie die nackte junge Frau damals auf dem Kalenderbild in Onkel Georgs Büro. War es eine Göttin? Umgeben von merkwürdigen Gestalten, schwebte sie keusch und verlockend auf einer Muschel. Einmal hatte er leider Olga auf das Bild angesprochen, Olga, die seine Tante war, die er jedoch aufgrund ihrer fortdauernden Jugendlichkeit nie Tante, sondern immer nur Olga nannte. Olga half schon damals stundenweise dem Onkel bei der Buchhaltung im Büro. Ob sie wisse, wer es gemalt habe und wie alt es sei. Nein, sagte Olga, sie wisse es nicht, es müsse ein alter Schinken sein, und es passe nicht in ein Trauerhaus. Dann stand sie auf und riss das Blatt von der Wand; Jahre hatte es dort schon gehangen. Sie zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Das war ein paar Monate, nachdem seine Mutter sich umgebracht hatte.

     Es wäre vergeblich gewesen, hätte er Olga erklären wollen, auf welche Weise ihn die Göttin an seine Mutter erinnerte. Es war derselbe gleichmütige Gesichtsausdruck, mild und ergeben, fast schon gleichgültig. Jahre später lernte er dann Ingrid im Eiscafé kennen, und sie erinnerte ihn viel stärker noch, als seine verstorbene Mutter es getan hatte, an die zerstörte Reproduktion. In Wahrheit hatte Ingrid mit ihrem etwas länglichen Gesicht nicht viel Ähnlichkeit mit der Venus von Botticelli. Aber einmal konnte der junge Mann gar nicht mehr vergleichen, und zum anderen hatte er sein Bild von Ingrid schon nach kurzem der Göttin entsprechend modelliert, so wie er sie noch im Kopf hatte. Schließlich war für ihn jetzt bei Ingrid wie vorher bereits bei der Venus nicht das Gesicht die Hauptsache – die Hauptsache war dieser prachtvolle, etwas fleischige Körper. Zwar war Ingrid im Ganzen eher schlank, nur um die Hüften etwas stärker, das genügte indessen, sie zur Nachfolgerin der Göttin zu machen. Was hatte ihn schon an der Venus fasziniert: die Fülle des Unterleibes bei ziemlich kleinen Brüsten. Die Scham war sehr schamhaft verborgen unter der enormen rötlich blonden Haarflut, die sich wie eine Kaskade den Kopf herabstürzte, den linken Arm entlang. Arm und Haar bildeten eine Art Theatervorhang. Es war ein Leib, der schamhaft aus einer Kulisse herausschaute und –trat. Wesentliches blieb noch in der Reserve: die Rückseite. Und in diesem Punkt berührten sich übrigens Ingrid und die Göttin. Aber Ingrid wusste es zu umgehen, sie entzog sich ihm dann, und er wollte nicht mit Gewalt nehmen, was mit Gewalt zu nehmen in seiner Vorstellung untrennbar mit dem Akt selbst verbunden war. Immerhin ließ ihn Ingrid, im Unterschied zur Göttin, ab und zu ihre Rückseite betrachten, ja, sie nutzte seine Schwäche und Erregbarkeit aus, wenn sie ihn erregen wollte. Diese Art von kleiner schlauer Berechnung entging ihm auf die Dauer nicht, und sie gefiel ihm.

     Besaß er das, was man früher eine schmutzige Phantasie genannt hatte? Keineswegs, auch Phantasie war nämlich seine Sache nicht. Dafür hatte er zeitweise ein Bedürfnis nach den Produkten einer schmutzigen oder eher noch gewalttätigen Phantasie. Er war also im Wesentlichen eine passive Natur. Aber wehe wenn ihm das einer gesagt hätte: Dem wäre es schlecht ergangen.

     Er hielt es nicht länger aus. Sich über sie beugend, begann er, Ingrid wiederholt sanft auf die Stirn zu küssen. Wie eine Göttin, dachte er und war voller Rührung. Sie schlug langsam die Augen auf, ihr erster Blick an diesem Morgen traf ihn. Er sank auf sie und empfand sehr viel Zärtlichkeit. Heute würde es besonders gut werden, jedenfalls viel besser als gewöhnlich. Überschwemmt vom eigenen Gefühl, entging ihm, dass sie schon vollkommen wach war.

     Sie fragte: „Theo, wie spät ist es denn?“

     Er war selbst erstaunt: bereits halb neun. Stundenlang lag er also schon wach.

     „Wir müssen sofort aufstehen. Wir haben nicht so viel Zeit wie sonst. Du weißt doch, heute ist Muttertag.“ Sie glitt unter ihm fort, und er blieb liegen, blieb schmollend im Bett und hörte sie im Badezimmer hantieren.

     Ihr jetzt grollen zu können, passte ihm gut, taktisch gesehen. Sie hatte sich ihm entzogen, sie war im Unrecht, er von Anfang an im Vorteil. Dies bedachte er, während er duschte und sie für ein eiliges Frühstück sorgte. Also behielt er das Schmollen einfach bei. Sie blieb freundlich, sagte aber nur wenig, aus Vorsicht. Er schien bedrückt und gab sich einsilbig, vermied ihren Blick. Einmal begegneten sich die Blicke doch, als sie beide zur selben Zeit die Münder aus den Kaffeetassen hoben. Gespannt prüfte er ihre Reaktion, versenkte sich bohrend in ihre Augen und zog den eigenen Blick nach Sekunden befriedigt zurück: Sie wusste schon alles, es würde gar keinen Kampf geben. Wie nach dreißig Jahren Ehe, ging ihm durch den Kopf. Und wirklich war es nicht die erste Krise dieser Art. Er hätte an Silvester denken können – der Abend war katastrophal zu Ende gegangen – oder an den Antrittsbesuch ihrer Tanten bei ihnen – sie würden kein zweites Mal kommen, so grob war er gewesen. Aber er vermied es jetzt, sich an diese Szenen zu erinnern. Die Erinnerung daran hätte ihn vielleicht beschämen können, und das wäre dem Schmollen und Grollen abträglich gewesen. Um sich durchzusetzen, musste er stark bleiben, um seinen Willen zu bekommen, musste er seine ganze Kraft einsetzen. Er war verletzt, und sie wollte ihm zu viel zumuten.

     Noch hielt sie dem Schein nach daran fest, der Tag würde nach Plan in der Familie verbracht. Sie riet ihm, den leichten, hellgrauen Anzug zu tragen, dazu die nachtblaue Krawatte. Fertig angezogen sah er – schwarzhaarig, groß und breitschultrig – überraschend solide aus. Sie nahm den Fliederstrauß aus der Vase, den sie am Vorabend im Garten geschnitten hatte. Der Strauß entsprach farblich seiner Krawatte, das fiel ihm auf.

     Sie wurde schon etwas nervös, aber er sagte noch immer nichts. So verließen sie das Haus, er holte den Wagen aus der Garage. Erst als sie neben ihm saß, die Geschenkpakete auf den Knien, den Flieder in der Linken, bemerkte er leichthin, sie müssten ja nicht den ganzen Tag bei den Eltern verbringen. Dazu sei der Tag viel zu schön.

     Wie er sich das denke, das sei unmöglich, alles sei vorbereitet, das Essen im Lamm, Kaffee trinken, Abendessen … An einem Tag wie heute die Mutter allein lassen!

     Reiche es denn nicht, sie am Vormittag zu besuchen, ihr die Geschenke zu geben, ihr Gutes zu wünschen, sich eine Stunde mit ihr zu unterhalten? All das sei doch schon etwas Besonderes. Und außerdem, fügte er roh hinzu, lebe seine Mutter ja nicht mehr, er beanspruche die Zeit, die sie, lebte sie noch, bei ihr verbracht hätten.

     Worauf sie ihm entgegenhielt, ein viel größeres Opfer sei es für sie, einmal im Vierteljahr mit ihm den Vater in der Anstalt zu besuchen.

     Er gab ihr keine Antwort. Er war ihr jetzt ernstlich böse. Dass sie den Gang zum Alten, der hilflos, der eine Ruine war, mit dem sinnlosen Herumsitzen bei ihren Verwandten vergleichen musste! Lief es darauf hinaus, dass sie heute nachgeben wollte, wenn er in Zukunft allein zur Anstalt fuhr?

     Sie saßen stumm nebeneinander. Er lenkte den Wagen über die Brücke, durchs Stadttor. Endlich bog er in die kleine Gasse ein, dann von der Strasse ab in die Hofeinfahrt. Ein Messingschild: Glaserei Aufwind – hier war er zu Hause. Die Werkstatt, seit fünfundzwanzig Jahren auf dem Hof des Schwarzen Bären untergebracht, lag verschlossen da. Onkel Georg war vermutlich zu einem Frühschoppen fortgegangen. Olga schlief am Sonntag lange. Sie gingen durch den Hintereingang in die Gaststube hinein.

     Seine Großmutter war beschäftigt. Einige Gäste reisten ab, sie stellte die Rechnungen aus. Theo und Ingrid hockten sich an den leeren Stammtisch, um auf sie zu warten.

     Die Alte, weißhaarig, über siebzig, mit Augen, die vor Schwäche blinzelten, kam herüber und setzte sich für drei Minuten zu ihnen. Ihr Gesicht wies auffallend wenige Spuren des Alters auf. Die Haut war noch ziemlich glatt und gut durchblutet. Die Jahre und Jahrzehnte hatten dennoch ihr Werk der Zerstörung getan: Das Gesicht der Alten war starr, entblößt von jeder Mimik, unfähig, das geringste Gefühl auszudrücken. Hatte sich die Haut deshalb so frisch erhalten? Theo schätzte seine Großmutter, aber er sah sie nicht gern längere Zeit an.

     Die beiden jungen Menschen hätten nicht sagen können, ob ihr Geschenk, eine Brosche, willkommen war. „Ist recht. Danke schön. Und ihr zwei, fahrt ihr noch ans Grab deiner Mutter.“ Uralt klang die Stimme, brüchig. Sie sagte dann, sie hätte zu tun, sie müsse sich als Nächstes darum kümmern, dass die Zimmer aufgeräumt würden; sie sollten jetzt gehen. Theo sah während der Woche fast täglich zu ihr herein.

     Das Ehepaar fuhr, wie schon im Vorjahr, danach zu den Schwiegereltern. Theo lenkte den Wagen zur Gartenstadt.

     Er schwieg weiterhin. Da nahm sie den Faden wieder auf. Natürlich könne sie ihn nicht zwingen, in Neustadt zu bleiben, aber sie könne nicht fort, ihr Platz sei heute im Haus der Eltern. Er müsse sich daher entscheiden: Bleibe er bei ihnen, komme sie auch in Zukunft mit in die Anstalt. Anderenfalls müsste er dann den Vater allein besuchen.

     Das war stark – Erpressung. Die Besuche beim Alten waren viel eher zu ertragen, wenn sie zu zweit dort waren. Die Blicke gehen zwischen drei Personen leichter hin und her als zwischen zweien. Wenn ihm das Bild des Vaters peinlich wurde, sah er hinüber zu Ingrid und fand dann die Kraft, noch etwas zu sagen. Allein mit dem Vater stockte das Gespräch häufig, seine Besuche endeten dann viel zu rasch: regellose Flucht. Allerdings waren sie gerade erst draußen gewesen. In einem Vierteljahr hat er sie vielleicht umgestimmt. Irgendein Grund wird sich schon finden, sie wird auch wieder einmal nachgeben müssen. Der Aussicht, das Haus Leberecht heute schon nach kurzem wieder verlassen zu können, konnte er jetzt nicht widerstehen.

    Er sagte, er wolle dann den Tag lieber allein verbringen. Er werde spazieren fahren.

    „Du brauchst aber einen triftigen Grund. Nicht dass ihnen die Stimmung von Anfang an verdorben ist. Sag, dass du unerwartet zum Aufmessen auf eine Baustelle musst.“

     „In diesem Aufzug? So dumm sind sie nicht.“

    Sie lachten beide zur gleichen Zeit. „Erzähle ihnen was von einer Reklamation. Du musst mit den Auftraggebern verhandeln. Ausmessen und verhandeln. Es ist eilig, die Sache muss in Ordnung gebracht werden, bevor die Arbeit morgen weitergeht.“

     „Ja, so wird’s gehen.“ Er war mit ihr zufrieden.

    Sie waren eine Dreiviertelstunde zu spät. Die Schwiegereltern saßen feiertäglich angezogen in ihrem Wohnzimmer. Herr Leberecht trug schon den Mantel über dem Arm. Sie waren an Pünktlichkeit gewöhnt. Die Großeltern waren es ebenso und warteten jetzt vermutlich schon in derselben Haltung in ihrem eigenen Haus, zwei Strassen weiter. Für längeres Verweilen war keine Zeit mehr.

     Ingrid übernahm es, für ihn zu lügen. Auch in diesem Punkt hatte sie nicht genügend Zutrauen in ihn. Die Eltern blickten erst misstrauisch. Dass hier etwas nicht in Ordnung war, schien zum Greifen nahe. Sie ergriffen es aber nicht, vielmehr malten sich auf ihren Gesichtern dann lauter zwiespältige Gefühle ab. Dass er so fleißig war und die Firma so gut versehen mit Aufträgen, war doch ein Grund, auf ihn stolz zu sein. Die Befriedigung gewann die Oberhand, das Misstrauen schmolz bis auf einen kleinen Rest dahin.

     Herr Leberecht wollte wissen, um welches Objekt es sich denn handele, wieder die Ferienhauskolonie in den Bergen? – Nein, nein, sagte Theo rasch, etwas Neues, unten am Kanal.

    Herr Leberecht meinte, die Ferienhäuser hätten schon genügend Ärger bereitet. Ob sie sich damit nicht übernommen hätten?

     Fünf Minuten später gingen alle vier zusammen aus dem Haus. Theo fuhr als Erster weg. Es war wie Urlaub. Dabei wäre es ihm am Morgen noch wie ein Verbrechen vorgekommen, Ingrid weiterschlafen zu lassen und allein im Garten zu arbeiten.

     Er überlegte, ob er nach Hause fahren und aufs Motorrad umsteigen solle. Aber das würde vielleicht bei den Nachbarn Aufsehen erregen, an einem Tag wie heute. Außerdem hatte er es jetzt eilig, aus der Gegend fortzukommen. Seine Unruhe war seit seinem Erwachen ständig größer geworden. Er blieb auf der Bundesstrasse und fuhr an seinem Dorf vorbei.

     Im Radio spielten sie ein altes Lied: Downtown. Er summte es mit: Dann geh in die Stadt - Downtown … Später befand er sich auf der Autobahn, ohne ein Ziel zu haben. Die Strecke war frei, er fuhr sehr schnell, er fuhr immer weiter nach Süden.

2. Der Doppelgänger

Die Strecke war frei. Ein Minimum an Konzentration genügte, um vorwärtszukommen. Er riskierte nichts und hatte den Kopf frei zum Denken. Aber während er auf der Autobahn mit dem Wagen einhundertvierzig Kilometer in der Stunde zurücklegte, geradewegs nach Süden, bewegten sich die Gedanken im Kriechgang und noch dazu im Kreis: Von Neustadt kam er nicht los.

     Am Anfang war es ihm leicht gemacht worden. Ingrid und er, sie waren schnell aufeinander zugegangen. Er sah sie jetzt wieder vor sich, Ingrid im Eissalon, wie sie vom Nebentisch zu ihm herübersah. Er bestellte den teuersten Becher, einen mit exotischen Früchten; das Zubereiten dauerte eine Viertelstunde. Dann kam er mit dem Herauslösen des Fruchtfleisches nicht zurecht. Nur Schalen und Stacheln, riesige Gehäuse, aus denen er mühsam den Saft heraussog. Der Saft tropfte herab, von den Lippen herunter, und hinterließ klebrige Flecken auf Hemd und Hose. Ingrid lachte, aber ohne Spott; das gefiel ihm. Das sei ja kein Vergnügen, sagte sie, sondern Schwerarbeit, wie man das nur so servieren könne … Unterdessen hatte sie ihren Stuhl unauffällig aus dem Kreis ihrer Freunde heraus- und an seinen Tisch herangedreht. Diese kleinen Stühle und Tische, sie standen ja sehr nahe zusammen.

     So einfach hatte alles begonnen, einfach und viel versprechend. Er gefiel ihr, sie reizte ihn, und er wusste, dass er mit ihr eine gute Figur abgab.

     Dagegen jetzt: die GmbH und der Meisterkurs und Ingrids Schwangerschaft, ein Komplex, der verworren zusammenhängt. Er würde sich gern auf seinen Instinkt verlassen, doch der Instinkt sagt ihm nur, dass diese Dinge besser nicht derart eng miteinander verknüpft sein sollten. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie noch nicht zustande gekommen sind und eines am anderen hängt. Aber auf welche Weise und seit wann?

     Er wäre heute besser in Neustadt geblieben; je mehr er sich von der Heimat entfernt, umso deutlicher begreift er es. Leberechts zögern schon seit der Hochzeit die Gründung der GmbH immer weiter hinaus – und er muss ihnen noch weitere Vorwände liefern, sie vor den Kopf stoßen! Wenn der Onkel von dieser Spritztour erfahren wird, wird er, wie gewöhnlich, etwas säuerlich dreinsehen und gar nichts sagen. Habe ich nicht schon genug am Hals, soll das heißen.

     Die GmbH – seine, Theos, Idee ist es nicht gewesen. Wessen Idee dann? Ein Einfall vom Onkel, sonderbar. Allerdings haben Leberechts zuerst von Zusammenarbeit gesprochen. Und davon profitiert. Klar, wenn sich eine kleine Malerfirma mit nur drei Gesellen an eine Bauglaserei mit vierzehn dranhängen kann … Der Onkel hat ihnen manchen Auftrag vermittelt … Und so sind allmählich ihre Einwände gegen diese Ehe weggeschmolzen, wie Schnee im Vorfrühling.

     Sicher, Ingrid hätte ihn in jedem Fall geheiratet. Ihn, unbedingt ihn wollte sie haben, und das begriff er recht gut. Weniger klar sah er, weshalb ihre Familie ihm misstraute. Der Vater im Irrenhaus, die Mutter eine Selbstmörderin, war es das, war so einer zu schade für das einzige Kind? Oder waren es noch ältere Geschichten, die er womöglich nicht kannte? Trägt er vielleicht ein Zeichen auf der breiten und glatten Stirn, für alle anderen sichtbar, nur für ihn nicht, auch dann nicht, wenn er sich, wie er es gern tut, lange  im Spiegel betrachtet?

     Zwei Wochen vor der Hochzeit hat der Onkel vorgeschlagen, eine GmbH zu gründen. Die Vorteile: gemeinsam Aufträge hereinholen, sie aufeinander abgestimmt erledigen. Man würde ganz anders dastehen, gegenüber Kunden, Lieferanten und Banken. Leberechts haben sofort ja gesagt. Seitdem arbeiten zwei Anwälte und drei Steuerberater am Gesellschaftervertrag. Die Schwiegereltern haben immer neue Wünsche, Einwände – und profitieren weiter von Onkel Georgs gutem Willen. Neulich haben sie es offen herausgesagt: Die Geburt eines Enkels würde ihnen die Unterschrift unter den Vertrag leichter werden lassen … Wie lange schlief er schon mit Ingrid? Seit wann hatten sie keine Vorsorge mehr getroffen? Er rechnete nach: siebzehn, achtzehn, neunzehn Monate – Zeit genug, schwanger zu werden. Aber noch nicht lange genug, um in Panik zu geraten.

     Im Betrieb lief es besser als privat. Sie nannten ihn in der Firma den Juniorchef, was nicht ganz richtig war. Die Glaserei gehörte noch immer den Gebrüdern Aufwind. Er war der Angestellte seines Onkels und, genau genommen, auch seines Vaters. Tatsächlich lenkt allein der Onkel die Geschäfte, kaufmännisch vom Büro aus. Aber er, Theo, sorgt dafür, dass die Arbeit getan wird. Ist das nicht ebenso wichtig?

     An der GmbH werden sie alle beteiligt sein, Ingrid und er, der Onkel und Olga und sogar sein Vater und die alten Leberechts natürlich auch. Olga redet jetzt dauernd davon. Er kann sich die verschiedenen Prozentsätze nicht merken, die Mehrheit wird natürlich bei den Aufwinds liegen. Wobei sich jetzt für ihn die Frage stellt: Was ist mit Ingrid, zählt sie zu ihnen oder zu ihren eigenen Leuten? Es schwant ihm da etwas: Von Ingrid kann es abhängen, wer das Übergewicht erhält.

     Übrigens sagt Olga immer: Wir werden Anteile halten, sie sagt nicht bekommen. Bedeutet das am Ende, dass er ins Betriebsvermögen einzahlen soll? Da steckt doch schon sein Erbteil drin, das von den Eltern seiner Mutter. Onkel Georg hat es für ihn hineingesteckt. Besser, er fragt vorerst nicht danach … Der Onkel wird Geschäftsführer, sein Stellvertreter Herr Leberecht. (So nannte Theo den Schwiegervater bei sich. Dennoch duzten sie sich. Es war mit ihnen beinahe wie im Supermarkt, wo eine Kassiererin der anderen zuruft: Frau Schmidt, kannst du mir Hunderter wechseln?) Und Ingrid, die noch immer bei den Eltern den Bürokram erledigt, kommt zu Olga auf den Hof des Schwarzen Bären. Merkwürdige Paarungen, hoffentlich geht es gut. Hauptsache, er selbst kann weiter draußen auf den Baustellen sein.

     Wenn alles gut geht, soll er in einigen Jahren Onkel Georgs Nachfolger werden. Wie fern ihm das noch war, er verband kaum Konkretes mit dieser Vorstellung. Kaufmännisches wird er sich aneignen müssen und den Meisterkurs absolvieren. Das war die Zukunft, noch ziemlich unbestimmt, nebulös. Im Beruf Zukunft zu haben, das war doch etwas Positives, sagte er sich selbst immer wieder, es war ein Grund für Gefühle wie Vorfreude, Stolz, Neugier … Dennoch fühlte er sich ähnlich wie damals auf dem Gymnasium, als ihm die Oberstufe noch bevorstand. Im Verlauf der zehnten Klasse warfen die Lehrer bereits Blicke in die Zukunft. Es fielen dann Namen wie Shakespeare, Cicero, oder es wurden Begriffe genannt wie Integral, Differential und Grosses Latinum, und er stellte sich unter Oberstufe dann wörtlich eine hohe Stufe vor, die nicht leicht zu erklimmen war. Er war etwas enttäuscht, vor allem aber erleichtert, als ihn sein Vater nach der Mittleren Reife von der Schule nahm und bei den Gebrüdern Aufwind Glaser lernen ließ. Er solle später den Betrieb übernehmen, hieß es nun, das sei das Beste für ihn. Und auf wen hätten sie auch sonst kommen können? Sein Cousin war ja schon fort, und Manfred wäre dafür auch nie in Frage gekommen, sagte Olga, schon früh sei das allen klar gewesen.

     Das Geschäft entwickelte sich damals sehr vorteilhaft. Sie expandierten erst über die Kreis- und dann über die Bezirksgrenzen hinaus. Heute holen sie selbst im Raum München gute Aufträge herein. Dazwischen aber lag jene schlimme Zeit, als sein Vater den Verstand verlor. Ganz Neustadt wusste es bald: Der Alte litt unter Größenwahn. Er fuhr drei Tage und Nächte kreuz und quer durch die Gegend und bestellte bei dreizehn Autohändlern dreizehn Luxusschlitten. In diesen Tagen schuf er ein fatales System von Krediten, Käufen und Beleihungen, leicht wie Spinnwebe und ebenso leicht zu zerreißen, und die Firma hatte den Schaden. Wie in solchen Fällen üblich – die Irrenärzte kennen sich da besser aus als die Angehörigen – kam es auch zu großzügigsten Schenkungen an Unbekannte, die zufällig am Schwarzen Bären vorbeigingen. Dieses irre Gefühl, alles tun zu können, alles zu beherrschen, sich grenzenlos ausbreiten zu können, hielt nicht lange bei ihm an. Sie gaben ihm irgendetwas in der Klinik, und er verfiel sehr rasch, fiel in stumpfe Gleichgültigkeit, wurde läppisch.

     Onkel Georg bekam die Vormundschaft für den Vater. Es war im dritten Lehrjahr, er stand vor der Prüfung. Überall in der Stadt Klatsch und Tratsch. Endlich war einmal etwas passiert in Neustadt. Die Mutter ertrug es nicht. Ging ins Wasser. Da hörte der Klatsch auf. Die Prüfung bestand er mühelos. Schwieriger war es, das Geschäft wieder hinaufzubringen. Er und der Onkel, sie schafften es. Ja, das ist ein Grund, stolz zu sein, Und heute ist Muttertag. Besser, an all das nie mehr denken.

     Er kam dann auf etwas anderes, das viel näher lag. Hatte Herr Leberecht Wind bekommen von den Problemen dieser großartigen Firma Systemtourist? Die Ferienhäuser hätten schon genug Ärger gemacht? Er, Theo, hatte doch erst vorgestern von Olga erfahren, dass die Systemtourist keine Kredite mehr bekam und dass sie vielleicht eine Menge Geld verlieren würden.

     Der Verkehr war jetzt viel dichter, als er weiter im Norden gewesen war. Er fuhr nur noch hundertundzwanzig. Die grünen Hügel, die so lange an ihm vorbeigesaust waren, rückten plötzlich zur Seite. Er fuhr über die Donau. Hinter der Brücke begann das flache Land. Es war hier, anders als heute Morgen in Neustadt, diesig und der Horizont unübersichtlich.

     An der folgenden Ausfahrt verließ er die Autobahn und lenkte den Wagen auf die nächste Kreisstadt zu. Es war schon nach eins, und er war hungrig.

     Auch hier gab es ein Stadttor, auch hier fuhr man bergauf in die Stadt hinein, auch hier gestaffelte Giebelhäuser: Sparkasse und Volksbank, Bäcker und Metzger, ein Café und Gasthöfe, Gasthöfe … Die Fassaden waren bunter als in Neustadt, kein fränkisches Fachwerk, dafür farbiger Putz. Vielleicht war auch das Leben hier farbiger – und wenn nicht hier, dann vielleicht woanders. Es gab ja noch so viele kleine Städte.

     Er parkte den Wagen beim Landratsamt. Im Goldenen Adler war kein Tisch mehr frei. Familien feierten dicht zusammenhockend. Im Kreuz dasselbe Bild – da fiel es ihm erst ein: Auch hier war ja Muttertag, einer der höchsten Feiertage des Jahres, auch hier führten sie die Mütter ins Gasthaus, um ihnen Dank abzustatten und um Schuld abzutragen, indem sie sie abfütterten und abspeisten … Er muss froh sein, wenn er überhaupt etwas zu essen bekommt.

     Die Hauptstrasse weiter hinuntergehend, sah er dann durch ein offenes Fenster in die Krone hinein und entdeckte einen freien Tisch – schnell hinein und Platz genommen. Er lehnte sich zurück und legte beide Arme auf die obere Kante der umlaufenden Sitzbank. Die Kellnerin warf ihm einen zerstreuten Blick zu, sie stand am Nachbartisch und notierte eine umfangreiche Bestellung. Es saßen dort drei Personen, ein Ehepaar Mitte dreißig mit der Mutter, die die sechzig schon hinter sich hatte. Der Sohn (oder Schwiegersohn) war unzufrieden mit der Bestellung der Alten: Das war zu wenig, wirklich nur dieses Pastetchen? Sie solle sich doch mehr gönnen, an einem Tag wie diesem. Sie lächelte angstvoll, dann halt doch (in Gottes Namen) den Kalbsnierenbraten. Zucker wird sie haben, dachte Theo. Oder etwas mit der Galle. Dann kam die Kellnerin zu ihm und sagte, dieser Tisch sei reserviert. Er hatte das kleine Blechschild übersehen.

     In einem Steakhaus fand er doch noch Platz. Hier war es auffallend leer. Theo grinste. Seine Zähne waren noch in Ordnung, er konnte sie noch ins Fleisch schlagen. Zum Holzfällersteak gab es einen Berg Bratkartoffeln, und die Salatschüssel war auch recht anständig.

     Nachher stand er im Waschraum und rieb sich die Hände trocken. Das Papierhandtuch, bräunlich, grob und von schlechter Qualität, ließ pappig-raue Kügelchen entstehen. Sie verteilten sich über die feuchten und fleischigen Innenhandflächen, ein peinlich scheuerndes Gefühl. Um es loszuwerden, begann er, die Hände an den Hosenbeinen abzureiben. Eigentlich war es schade um Stoff und Passform. Aber er musste sich jetzt unbedingt von diesem unreinen, grobkörnigen Abrieb befreien. Er massierte dabei die Oberschenkel, die wie die Handflächen ziemlich fleischig waren. Aber auch muskulös, sagte er sich, ein wenig massig, aber auch muskulös. Ja, er hatte in letzter Zeit zwei Kilo zugenommen. Er fühlte es selbst – und sah man es auch? Er begann, Gesicht, Hals und Bauchansatz im Spiegel zu betrachten.

     Dass er zuletzt zwei Kilo zugenommen hatte, war richtig. Allerdings benutzte er diese entschuldigende Erklärung schon seit längerem. Sie hatte ihren Zweck – ihn selbst zu beruhigen – bereits vor einem halben Jahr, vor einem Jahr und noch weiter zurück erfüllt. Immer der gleiche Sachverhalt: Er nahm zwar langsam, jedoch stetig an Gewicht zu. Aber es stand ihm, davon überzeugte er sich jetzt erneut. Stattlich, so konnte man es nennen.

     Sich im Spiegel zu betrachten, war ein Vergnügen besonderer Art, ja mehr als das: von Zeit zu Zeit eine Notwendigkeit. Man konnte sich dabei vergewissern, überhaupt noch vorhanden zu sein – und zwar vollkommen vorhanden. Es schien ihm nämlich, als verlöre er zwischenzeitlich, zwischen solchen Begegnungen mit dem eigenen Spiegelbild, jeweils an Substanz. Dass es sich zumindest physisch gerade umgekehrt verhielt, war ihm bewusst. Indessen beruhigte ihn das nicht. Man konnte diese Gewichtszunahme noch in einem anderen Licht sehen. Der Alterungsprozess war unaufhaltsam, und bedeutete Altern nicht Zerfließen, ein Erweichen und Entweichen eben jener Substanz? Wie der geschmeidige Stoff seines guten Anzuges so war auch der Stoff, aus dem er selbst bestand – Haut, Muskeln, Sehnen, Organe und nicht zuletzt das Fett – dazu bestimmt, sich zu zersetzen. Er wusste es, und sein Gefühl nahm diesen Prozess nur vorweg. Zeitweise war diese Verstimmung so stark, dass er an keinem Spiegel vorbeigehen konnte, ohne das eigene Spiegelbild suchen zu müssen. Er fixierte sich dann selbst und gewann langsam seine Ruhe zurück, wenn es ihm gelang, sich ruhig in die Augen zu sehen. Er war jung und hübsch, konnte sich sehen lassen. In solchen Augenblicken spürte er, wie sich das Bedrohliche verflüchtigte, und es war ihm, alle seine Bestandteile fügten sich neu zusammen, zu einem rundum erfreulichen Ganzen. Er musste jetzt lächeln: Unter dem massiven Schädel und hinter dieser glatten Stirn machten sich oft finstere Stimmungen breit, es war kaum zu glauben. Heute Morgen zum Beispiel –

     Die Tür vom Restaurant her öffnete sich abrupt. Ein Halbwüchsiger mit Pickeln im Gesicht hatte sie aufgestoßen und ging jetzt rasch an ihm vorbei zum Pissoir. Theo hörte sofort auf, sich selbst zuzulächeln. Seine Hände waren sauber und trocken. Er konnte gehen und zahlen.

     Nach dem Mittagessen war er guter Laune. Er fuhr ein Stück am Strom entlang, überquerte ihn erneut und fuhr in nördlicher Richtung weiter, jetzt schon auf dem Heimweg. Der Nachmittag war noch lang, er konnte sich Zeit lassen und die Autobahn meiden.

     Etwa eine Stunde Fahrt auf der Landstrasse und er kam in ein Tal, in dem er vorher nie gewesen war. Allerdings war er oft darüber hinweggefahren, auf einer hohen Autobahnbrücke, es musste weiter unten sein. Ein Seitental öffnete sich, er bog von der Bundesstrasse ab. Da lag eine Ortschaft, die sich Stadt nannte, aber kaum städtisch wirkte. Immerhin gab es große Parkplätze in der Nähe des Stadttores. Er stieg aus und ging zu Fuß weiter. Er hoffte, auf diese Weise mitten ins Städtchen zu gelangen. Stattdessen stand er plötzlich vor einem grauen Schloss, einem großen, verschnörkelten Kasten. Im Durchgang zum Innenhof befand sich die Kasse für die Schlossführungen. Es gab einigen Andrang, die nächste Führung war in acht Minuten. Er reihte sich ein und scherte dann doch aus, kurz bevor er an die Reihe kam. Im Grunde ist es mit diesen Schlössern immer dasselbe, dachte er, wenn man eines gesehen hat, kennt man sie alle.

     Er ging lieber im Park spazieren. Dort jedoch waren ihm zu viele Leute. Zwar gab es bunte Rabatten anzuschauen, doch störte ihn das ständige Rauschen von der Umgehungsstrasse. Alles war streng geometrisch und zielte auf die Statue eines beleibten Herrn mit Perücke. Sie stand am Ende des Parks zwischen zwei identischen niedrigen Gebäuden, es waren halbe Ruinen. Nannte man so etwas nicht Orangerie? Er kehrte um und stand schon wieder vor dem Fürsten aus Stein, dessen Bauch sich mächtig vorwölbte, als wäre eben dieser Körperteil Mittelpunkt nicht nur des Parks, sondern gleich des ganzen Fürstentums. Sehr unvorteilhaft, fand Theo, wie hat er sich nur so darstellen lassen können, er sieht ja aus wie eine indische Tempelhure … Diesen Ausdruck hatte er in Fischbek seinem Wortschatz einverleibt. In Fischbek bei Hamburg hatte er vor Jahren dem Bund als Panzergrenadier gedient.

     Er verließ den Garten und gelangte durch das Haupttor des Schlosses auf den Marktplatz. Hier feierten sie wie in alten Zeiten, singend und tanzend, bechernd und schmausend. Ein hölzernes Podium war errichtet worden. Abwechselnd traten Gesangvereine und Volkstanzgruppen auf. Holzbänke und -tische füllten den Platz zur Hälfte, und dicht gedrängt saß Jung und Alt beieinander. Sie versorgten sich mit Eß- und Trinkbarem an den Verkaufsbuden, die seitlich aufgeschlagen waren. Theo kaufte ein großes Stück Streuselkuchen und aß es im Weitergehen auf.

     Eben unterbrach eine Tanzgruppe jugoslawischer Arbeiter den tranigen Reigen aus heimischen Männerchören, ostpreußischen Trachten und braven kleinen Engeln, die zum Steinerweichen Flöte spielten. Das war mit einem Mal eine ganz andere Musik! Es war lebhaft, wie er sich den Süden, ja sogar wild, wie er sich den Osten vorstellte. Hübsche, drahtige Mannsbilder umkreisten nicht weniger anziehende Serbinnen (oder Kroatinnen, das war noch die Frage), stampften um sie herum, ergriffen sie und wirbelten sie durch die Luft. Er wollte ihnen bis zum Schluss ihres Auftritts zusehen, aber er mochte sich als Einzelner nicht zu denen setzen, die paarweise oder in Gruppen gekommen waren, jetzt gemeinsam weiter aßen oder tranken und sich weiter unterhielten und nur gelegentlich zur Bühne sahen.

     Am anderen Ende des Marktes stand eine verkrüppelt wirkende gotische Kirche, einzelne junge Leute auf den Steinstufen vor dem Portal. Da war auch Platz für ihn. Er ging langsam zur Kirchentreppe hinüber, ließ sich auf die oberste Stufe fallen und hatte nun das Schloss vis-à-vis, die Tänzer in gleicher Höhe und das Volk unter sich. Die Wände des Portals schützten ihn vor dem Wind, der am Nachmittag aufgekommen war, und die Sonne, die über dem Schloss stand, wärmte ihn. Die Jugoslawen traten bald ab, er verlor das Interesse an Musik und Tanz. Aber ihm war wohl an diesem Ort, er blieb sitzen, die Menge und einzelne Gestalten beobachtend und in sich selbst hineinhorchend. In bequemer Haltung, allmählich in sich zusammensinkend, begann er, seinen Empfindungen nachzuhängen.

     Lange war es her, dass er so allein gewesen war und Zeit nur für sich gehabt hatte. Er kam sich seltsam vor: an den Rand eines Festes gedrängt und dabei herausgeputzt wie ein Pfingstochse. Ja, auch das Alleinsein wollte gelernt sein. Er hatte es nie trainiert und fühlte sich in dieser ungewohnten Lage jetzt doch merkwürdig wohl. Sollte er Talent zu dieser Art Existenz haben? Betrieb, Ehe und Familie füllten ihn seit Jahren völlig aus. Taten sie es wirklich? Er überlegte, wie es früher gewesen war, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren. Er hatte nach der Schule keine Freunde mehr gehabt. Als die Lehre begann, zogen sich die Freunde von früher von ihm zurück – oder er sich von ihnen –, und neue fand oder suchte er nicht. Er war damals wie aus der Bahn geworfen und nur darauf aus, Fuß zu fassen, schnell erwachsen zu werden, es den anderen zu zeigen. Und das war ihm gelungen! Er hatte keine Freunde gehabt und war doch nie allein gewesen – vielleicht war das gar kein Widerspruch? Man konnte auf die merkwürdigsten Gedanken kommen, wenn man am Muttertag allein durch die Gegend fuhr.

     Seit ein paar Minuten überschnitten sich jetzt, ohne dass er es recht wahrnahm, Gedanken und Empfindungen einerseits und äußere Eindrücke andererseits. Wie gewöhnlich durchschaute er den Zusammenhang zunächst nicht. Das Gefühl für das Besondere der eigenen Existenz, die Erinnerung an frühe Freundschaften und die Empfindung, dass ihm seit langem etwas fehle: All das betraf nicht nur Vergangenheit und Gegenwart in Neustadt, es hing auf unklare Weise auch mit dem Anblick von Menschen zusammen, die er gerade jetzt unmittelbar vor sich sah.

     Die Gruppe bestand aus vier Personen, zwei Männern und zwei Frauen – soweit war alles in Ordnung. Sie waren ungefähr in seinem Alter und mit Motorrädern unterwegs. Die drei Maschinen standen am Straßenrand, eine davon war eine Tausender Kawasaki, wie er sie selbst fuhr. Es ärgerte ihn jetzt, dass er mit dem Wagen unterwegs war. Er hätte sonst seine Maschine sicher auch an diesem Ort abgestellt und wäre leicht mit ihnen ins Gespräch gekommen.

     Er fand dann heraus, dass der jüngere der beiden Männer einem Schulfreund stark ähnele. Diese Feststellung war endlich etwas, woran er sich halten konnte Das Chaos der Erinnerungen und Empfindungen ordnete sich, und je länger er den unbekannten jungen Mann musterte, umso größer kam ihm die Ähnlichkeit vor. Ob er es am Ende sogar war? Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Aber nein, der hier war etwas zu jung, höchstens fünfundzwanzig. Außerdem trugen die Maschinen Stuttgarter Kennzeichen – und Peter war damals zu seinem Vater nach Bremen zurückgekehrt. Seitdem hatte niemand mehr irgendein Zeichen von ihm erhalten.

     Sein Spitzname war Lockenpeter gewesen – aber der Afrolook war Natur. Der Doppelgänger hier trug seine brünetten Haare jetzt kurz, sie kräuselten sich allerdings stark. Peter und er, sie waren bloß ein Jahr in dieselbe Klasse gegangen. Peter, der Ältere von ihnen, war nämlich sitzen geblieben, und als er bei ihnen auftauchte, wollte Theo unbedingt neben ihm sitzen, und das erreichte er auch. So verbrachten sie in großer Nähe dieses Schuljahr, das für beide das letzte werden sollte. Sie wussten es am Anfang noch nicht, vielleicht ahnten sie es.

     An Peter war vieles unvollkommen. Sportlich war er eine Niete, und er hatte weder Manieren noch Geld in der Tasche. Für die Lehrer war er ein hoffnungsloser Fall: Am Unterricht war er vollkommen uninteressiert. Dazu dann der fremdartige norddeutsche Akzent, kehlig zwar wie hier im Süden, aber dabei knapp und hart, so knapp und hart ... Alles zusammen wirkte, wie das nur in der Schule, nie im späteren Leben vorkommt, äußerst aufreizend auf alle, auf Lehrer, Kameraden und die Mädchen. An ihm war eine freche Nachlässigkeit, eine bodenlose Aufsässigkeit, die alle kitzelte und aufstachelte. Selbst die Trägsten fühlten sich, sahen und hörten sie ihn, zu mehr berufen, sie wussten nur noch nicht genau wozu. Peter schien es zu wissen, er lächelte oft recht eigenartig. Ach, und die Mädchen! Das Beste an Peter war ja, dass er gern Themen anschnitt, auf die man selbst nicht gekommen wäre. Er war geradezu darauf erpicht, Tipps zu geben und für Aufklärung zu sorgen …

     Natürlich war man schon aufgeklärt. Trotzdem war er, Theo, ihm dann natürlich dankbar, und er wird ihm dafür immer dankbar sein … und amüsant war es ja auch, noch dazu in der Religionsstunde, auch typisch Peter … Also, es war so: Peter erklärte ihm damals, dass man die Weiber auch andersrum ficken könne. Er gab sich dabei keine Mühe, leise zu sprechen. Einige, die in der Nähe saßen, lachten. Theo bemerkte, dass er beneidet wurde. Durch solche Gespräche fühlte er sich vor allen anderen ausgezeichnet. Außerdem gingen die Stunden auf diese Weise angenehm und leicht dahin.

     Oft hatte er später im Lauf der Jahre an dieses Gespräch gedacht. Und dann ging Peter damals ja noch einen Schritt weiter. Er sagte, allerdings bedeutend leiser, denn das war nur für ihn bestimmt: Es sei dann auch egal, ob man es mit einer Frau oder einem Mann zu tun habe. Merkwürdig, diese Erinnerung war jetzt frischer als die an den Anfang jener Aufklärungen, vielleicht weil er gerade an sie kaum einmal mehr gedacht hatte? Das traf einen jetzt ein wenig unvorbereitet. Hier war Peter einen Schritt zu weit gegangen! Er, Theo, hatte es nie mit einem Mann getrieben – abgesehen, natürlich, von ein paar kleineren Sauereien am Gymnasium, aber nicht mit Peter, und das hatte ja auch weiter gar nichts auf sich. Er, Theodor Aufwind, würde es auch in Zukunft aller Voraussicht nach mit keinem Mann treiben. Er lächelte jetzt in der Erinnerung an das Gespräch, das eigentlich gar keines gewesen war, denn er hatte damals nur zugehört, lächelnd und überrascht. Er kam sich sogar jetzt, nach so langer Zeit, noch ein wenig überrumpelt vor und lächelte doch zufrieden und selbstzufrieden vor sich hin und in sich hinein. Dieser Zustand der Selbstzufriedenheit trat bei ihm ungefähr alle acht bis zehn Tage einmal auf.

     Er begann erneut, den Doppelgänger zu mustern. Die Ähnlichkeit war wirklich stark. Derselbe schmale Körper, nervös und unsportlich, ein Eindruck von Schwäche, eine Art von Schwäche, die sich selbst noch genießt … Er sprach mit dem anderen Mann in ihrer Gruppe; die beiden standen nebeneinander, Theo hatte sie im Profil vor sich. Die beiden jungen Frauen saßen abseits auf einer niedrigen Steinbank, unterhielten sich ebenfalls und kehrten Theo ihre Rückseiten zu. Wer mochte zu wem gehören? Vier Personen, zwei männlichen, zwei weiblichen Geschlechts – und drei Motorräder: Hier waren mehrere Kombinationen denkbar. Er begann zu zählen und kam zu keinem Ergebnis. Mathematik war nicht seine Stärke gewesen. Zwischen den Paaren, wie sie da zusammenstanden und –saßen, gab es auch keinen Blickkontakt. Am Ende gehören sie gar nicht zusammen? Er muss vor der Kirche sitzen bleiben, bis sie aufbrechen.

     Übrigens hat er sich Peters Tipp später zunutze gemacht. In Fischbek gab er keine Ruhe, bis drei Kameraden sich mit ihm zusammentaten. Zu viert versuchten sie es in St. Georg, wo der Strich billiger war als an der Reeperbahn, und sie trieben zwei Nutten auf, die es gegen Aufpreis machen ließen. Vielleicht logen die anderen ja, er zumindest kann mit vollem Recht behaupten: Bei ihm hat es geklappt, er ist auf seine Kosten gekommen.

     Der junge Mann, Peter wie aus dem Gesicht geschnitten – und was für ein Gesicht: hübsch, jedoch ausdruckslos, wenn er nicht gerade grinste, was aber nur selten vorkam –, dieser andere Peter trug eine schwarze Motorradjacke mit dunkelgrünen Schulterstücken und eine schwarze Schnürlederhose, das sah aus wie ein Rollbraten. Er, Theo, hat zu Hause gerade so eine Hose im Schrank. Aber bei ihm selbst sitzt sie viel besser. Eng ist sie ja auch hier geschnitten, aber an seinem Körper sitzt nichts richtig. Zu schlaff. Theo musterte ihn schärfer, mit boshaftem Vergnügen. Ein auffallend kariertes Hemd, kann aber den Bauch nicht kaschieren. Und der, mein Lieber, ist entschieden zu dick für deine schmale Figur! Weit hast du es kommen lassen … Wenn er an damals dachte … Theo war verwirrt. Er musste sich klar machen, dass er den richtigen Peter ja gar nicht vor sich hatte. Was ging ihn der hier an.

     Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe. Die beiden Frauen standen auf, und die Männer begannen zur selben Zeit, ihre Tücher vor die Gesichter zu binden. Dabei waren zwischen den Paaren vorher weder Worte noch offene Blicke gewechselt worden. Die eine der beiden Frauen fuhr allein los, als nächster der Kumpel des Doppelgängers. Zuletzt stieg, wortlos und wie auf Kommando, die zweite junge Frau bei diesem falschen Peter auf. Auch sie war hübsch, mit langen blonden Locken, stark zurechtgemacht. Theo kam sie wie eine Friseuse oder Kosmetikerin vor. Sie hatte eine Wespentaille und, wörtlich in Theos Sprache, einen Riesenarsch, der in sehr engen ausgebleichten Jeans steckte. Es gab Plakate von solchen Weibern und in dieser Aufmachung und Haltung. Und es gab Männer, die von solchen Bildern erregt wurden. Einer seiner Kameraden in Fischbek hatte sich ein Plakat dieser Art auf die Innenseite der Tür seines Spinds geklebt. Theo saß äußerlich ruhig da und sah sie alle wegfahren. Die innere Ruhe, die er nach dem Essen eine Zeitlang empfunden hatte, die Selbstzufriedenheit, sie waren dahin. Erst der Doppelgänger und dann auch noch mit einem Weib wie dem da … Wenn sie sein wäre, dachte er, und dieser andere Peter dann sein – Rivale? Das war eine auf Anhieb sehr erregende Vorstellung, und es gelang ihm nicht, sich einzureden, er verabscheue ihn dann oder hasse ihn sogar. Merkwürdig, sagte er sich, es muss daran liegen, dass er so eine Art Peter ist. Die Frau sah jetzt, kurz bevor das Paar endgültig aus seinem Gesichtsfeld verschwand, genau wie auf dem Plakat in Fischbek aus. Und er, den er nie mehr sehen würde – Stuttgart war groß und ziemlich weit von Neustadt -, er fuhr seine, Theos Maschine.

     Es war fünf Uhr nachmittags. Die letzte Gruppe trat ab, die Mikrophone wurden ausgeschaltet, die Technik abgebaut, und die Bühne lag dann verlassen da. Mehr und mehr wanderte das Publikum ab. Theo blieb vor der Kirche sitzen. Feste, die starke Eindrücke bei uns hinterlassen, ohne dass sich etwas mit uns ereignet hat, können einen nachher melancholisch stimmen. Theo war jetzt melancholisch. Spannung hatte in der Luft gelegen, etwas, das mit Wiedererkennen und Erwartung zu tun hatte, und die Spannung hatte sich in Nichts aufgelöst. Der Platz sah, trotz der schönen Gebäude ringsum, alltäglich und gewöhnlich aus. Morgen musste er früh an die Arbeit.

     Um halb sechs stand er auf und ging zum Wagen. Die zurückströmenden Ausflügler ließen ihn nur langsam vorwärtskommen. Konzentration war nötig. Im Gegenverkehr tauchten hinter verschmutzten Windschutzscheiben blitzartig Gesichter auf und verschwanden, Gesichter, die erhitzt wirkten. Seine Aufmerksamkeit wurde ständig von innen nach außen gelenkt - wie Wasser zu Tal fließt – und an der Oberfläche festgehalten. Keine Zeit zum Nachdenken mehr. Das empfand er, ohne sich den Vorgang klarzumachen, als entlastend.

     Eine halbe Stunde vor Neustadt fiel ihm ein, dass er am Vormittag keine Verabredung mit Ingrid getroffen hatte. Sollte er sie bei ihren Eltern abholen? Er fuhr ins Dorf und bog in seine Straße ein. Es war nicht nötig, den Wagen in die Garage zu fahren, er konnte über Nacht auch einmal am Straßenrand stehen. Das Haus erreichend, sah er, dass im Wohnzimmer Licht brannte. Ingrid, in einer Zeitschrift blätternd, lag im Schaukelstuhl. Offenbar hatte sie das Geräusch des Wagens gehört, sie blickte kurz auf. Dann senkte sie den Kopf sofort und las weiter. Diese Bewegung fiel etwas zu hastig aus und kam ihm gewollt vor. Er bemerkte erneut, sie bemühte sich, sorglos zu wirken, aber sie war es nicht. Im Wagen langsam an seinem Haus vorbeifahrend, sah er seine Frau jetzt erstmals wie auf dem Theater.

     Sie trafen sich in der Diele. Ingrid war nichts anzumerken, keine Besorgnis, keine Verstimmung. Die Tanten hatten sie vor einer halben Stunde hier abgesetzt und waren gleich nach Hanau weitergefahren.

     Theo machte sich in der Küche einen Imbiss zurecht, während sie daneben stand und ein paar Worte über den Tag in der Familie verlor. Er hörte gar nicht hin.

     Nachher im Wohnzimmer fragte sie, wie sein Ausflug gewesen sei. Schön, sagte er, schöne warme Luft, am Morgen leere Straßen, am Mittag volle Gasthäuser, ein sehr gutes Steak für ihn, für zwei Mark ein Riesenstück Kuchen auf die Hand, auf einer Bühne Musik und Volkstänze … „Warst du schon mal da unten?“ – „Nein, nur davon gehört.“

     Er hatte ihr alles erzählt und stellte das Fernsehen ein. Eine Krankenschwester bedrohte einen Priester mit einer Spielzeugpistole. Sollte das komisch sein?

     „Ich putz mir die Zähne und geh dann schlafen. Müde vom Fahren. Willst du noch weiterschauen?“ – Er solle ausmachen.

     Sie kam ein paar Minuten nach ihm ins Bett. Bevor sie das Licht löschte, schlug sie ihm vor, in der Woche einmal abends mit ihr in Neustadt essen zu gehen, am besten beim Griechen. Gute Idee, sagte er und dachte: Damit ist dann alles wieder in Ordnung.

     Am Dienstagabend fuhren sie zum Griechen. Sie saßen im Inneren des Lokals, in einer Art Koje, die auf drei Seiten durch Bretterwände vom übrigen Raum abgeteilt war. Zwei Aquarien mit Unterwasserflora und Zierfischen filterten das Licht intensiv grün. Ein Lichtstrahler war auf ein Plakat mit blauem Himmel, blauem Meer und weißem Gemäuer gerichtet; das ergab einen Blaustich, doch konnte er sich gegen das Grün nicht durchsetzen. Man saß hier wie in einer Grotte oder wie unter Wasser.

     Beim Essen sagte ihm Ingrid, sie habe heute mit Olga telefoniert. Sein Cousin werde am Wochenende erwartet. „Er bleibt wie immer nur zwei Nächte und zieht dann weiter über Land. Er macht wieder Urlaub.“

     „Meinetwegen, was geht es uns an?“

     Sie lachte: „Dein einziger Cousin! Einer deiner nächsten Verwandten … Bist du gar nicht neugierig auf ihn? Ich habe ihn ja noch nie gesehen. Und du, wann hast du Manfred zuletzt gesehen?“

     „Es kann fünfzehn Jahre her sein, mindestens. Er hat damals schon in Berlin studiert … Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Außerdem will er ja von uns nichts wissen. Er weicht uns aus.“

     „Warum ist er nach Berlin gegangen, wegen der Bundeswehr?“

     „Sagt man. Frag mich nicht. Er existiert doch für uns gar nicht mehr.“

     Besser, sie wechselten jetzt das Thema. Er war gereizt und zeigte es ihr, nicht zum ersten Mal. Zwanghaft kam sie immer wieder auf Manfred zu sprechen. Theo verstand das nicht: Sie war doch gewöhnlich auf der Hut. Welcher Teufel ritt sie, mehr über den Cousin wissen zu wollen? Und er hätte ihr auch nicht viel mehr sagen können. Manfred hatte ihn sicher längst vergessen, und sie konnten ihn genauso aus dem Gedächtnis streichen. Er hatte sie alle brüskiert und ihn, Theo, in ganz besonderer Weise. Sie hatten ihn wissen lassen, dass er in Fischbek stationiert war, anderthalb Jahre lang. Der Cousin, der damals schon in Hamburg wohnte, hatte ihn jedoch kein einziges Mal eingeladen.

     Um sich abzulenken und auch sie auf andere Gedanken zu bringen, fragte er sie, ob sie Lust auf Urlaub in Griechenland habe. „Im Herbst, vielleicht Oktober, wenn die Motorradsaison vorbei ist.“ Er legte das Messer auf dem Tellerrand ab und wies mit der Rechten auf das Plakat: „Irgend so eine Insel.“

     Ihre Antwort ließ auf sich warten. Kopf und Oberkörper hin- und herwiegend, lächelte sie, und ihr Lächeln war anders als gewöhnlich. Da war etwas Leuchtendes und Strahlendes. Er fand ihre Reaktion sonderbar. Sie sagte schließlich, sie wisse nicht, ob das dann noch möglich sei … Er war verwirrt: Gab es neuen Ärger, in der Firma oder privat? Aber sie hörte nicht auf zu lächeln, und er fand sie schöner als sonst am Abend, so schön wie nur manchmal am Sonntagmorgen, wenn sie noch schlief oder im Halbschlaf lächelte.

     Da sagte sie ihm, sie sei schwanger, endlich. Er war perplex. Daran hätte er zuletzt gedacht. Sein erster Gedanke nun: Er war also doch nicht impotent! Und dann sagte er sich, dass er froh sein müsse. Es war ein freudiges Ereignis, so sagte man doch. Vielleicht sagte man das erst bei der Geburt. Aber da sie so lange darauf gewartet hatten, war auch die Schwangerschaft schon ein freudiges Ereignis. Und dann waren alle Gedanken auf einmal da: Nicht impotent! Die GmbH! Der Meisterkurs! Die Firma! Er sah jetzt richtig froh aus und sagte nur, das sei aber einmal eine gute Nachricht. Seit wann sie es wisse?

     Seit heute Mittag, seit sie beim Arzt gewesen sei. Aber vermutet habe sie es schon etwas länger. Theo fühlte deutlich, dass er mit dieser Schwangerschaft in letzter Zeit gar nicht mehr gerechnet hatte. Sich selbst gegenüber konnte er jetzt ja ehrlich sein. Hoffentlich wird es ein Junge.

     Sie bestellten noch eine Flasche Wein. Ingrid ließ sie ihn fast allein trinken, denn sie wusste, dass sie den Wagen an diesem Abend ins Dorf zurückzulenken hatte.

     Als sie im Bett lagen, sagte sie, sie müssten nun viel vorsichtiger sein, in jeder Beziehung. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass sie jetzt für seine speziellen Wünsche viel offener war. Wie damals in St. Georg kam er auch hier endlich ans Ziel. Er war ganz bei der Sache, nur eines störte ihn: Ingrid war zwar erst jetzt vollkommen eins mit dem Bild jener Göttin, doch ihr Bild verwandelte sich immer wieder, und er sah dann nicht Ingrid und auch nicht mehr die Göttin vor sich und unter sich, sondern – klar und peinigend – jenes Plakat im Fischbeker Spind.

 

3. Eine Zuflucht

Als Fremder nachts irgendwo ankommen, das ist nicht jedermanns Sache. Man fragt sich daher beizeiten durch, von Gasthof zu Gasthof, ob sie etwas für die Nacht frei haben. Bei peripher gelegenen Pensionen ruft man bloß an. Es kann vorkommen, dass in kleinen Städten schon mittags alle Zimmer belegt sind – vielleicht ist es am Montag vor Himmelfahrt. Millionen müssen dann unterwegs sein. Mag sein, dass man hungrig ist und bald zu Mittag essen möchte, aber die Sorge um die Nacht treibt einen weiter und weiter …

     Reisen an sich ist, dachte er, alles in allem nicht sehr vergnüglich. Wenn einen jedoch zu Hause, in der eigenen Stadt, die stets gleichen und schon tausendmal empfangenen Signale nur noch schmerzen, wenn das Gefühl zunehmender Erstarrung die Brust beengt und den Geist veröden lässt – und das ist oft schon nach einem halben Jahr in der Stadt der Fall -, so muss man an Ortsveränderung denken. Es ist weniger Lust auf Neues als vielmehr Unvermögen, das Alte noch weiter zu ertragen. Bei diesem Zustand sagt man von einem Menschen gewöhnlich: Er braucht Erholung. Also heißt es, sich mit möglichst geringem Aufwand neuen, weniger künstlichen Eindrücken auszusetzen. Man braucht dann bloß aufs Land zu fahren. Die Sinne werden dort unmittelbarer angesprochen als in der Großstadt, die fast nur noch eine Welt aus Piktogrammen ist. In der Stadt haben selbst bunte Tücher, statt einfach nur zu schmücken, noch eine tiefer gehende Bedeutung.

     Ihm fiel jetzt zu seinem Glück das Kloster ein. Es lag abseits der Hauptstraßen in einem verborgenen Winkel des Landes, zu Fuß zwei Stunden von der kleinen Stadt. Am Telefon eine geistlich besorgte Altstimme – nicht die Zentrale, sondern die Pforte -: Sie werde ihn mit dem Gasthof verbinden. Dann eine kräftigere jüngere Stimme (Mezzosopran), welche die Frage nach der Herberge ohne Umstände bejahte. Er möge nur gleich kommen, nicht später als sechs Uhr, dann würden sie nämlich fortgehen.

     Er beschloss, sich vor dem Marsch noch zu stärken. Zum Mittagessen kehrte er in einem der Gasthöfe ein, die ihn für die Nacht abgewiesen hatten. Für den Altar, von Riemenschneider, war dann allerdings heute keine Zeit mehr.

     Die Sorge, nach Einbruch der Dunkelheit am fremden Ort Unterkunft suchen zu müssen, war er für diesmal los. Zwischen Suppe und Braten konnte er es sich eingestehen: Diese immer wiederkehrende Furcht war zumindest übertrieben, ja eine Art Zwangsvorstellung. Irgendeine Unterkunft fand sich am Ende immer, und seine Ansprüche waren durchaus bescheiden. Doch darum ging es im Grunde gar nicht, vielmehr war es so, dass ihn die Nacht der Möglichkeit beraubte, mit der neuen Umgebung bald schon vertraut zu werden. Er musste an Prousts großen Roman denken: Ging es ihm nicht ähnlich wie dem Erzähler mit seinem Horror vor fremden Hotelzimmern und ihrem absurd-feindlichen Mobiliar? Prousts Balbec war heute überall. Aber es waren in seinem Fall nicht die Zimmer, die Orte selbst waren möbliert und nur für den Tag möbliert. Was am Tag harmlosen Zwecken dient, erscheint bei nächtlicher Beleuchtung verzerrt und drohend, rätselhaft oder absurd … Ein menschenleeres Lampengeschäft, in dem alle zum Verkauf stehenden Leuchten intensiv, im Übrigen jedoch sinnlos vor sich hinstrahlen, ist ebenso schreckenerregend wie der lange unbemerkt bleibende, unbeleuchtete Riesenturm einer gotischen Kirche, der einen mit seinem schwarzen Schlagschatten erst im letzten Augenblick anfällt und überfällt. Letzte Passanten sind entweder eilige Flüchtlinge oder Halunken, denen nicht über den Weg zu trauen ist. Hunde und Katzen haben für diese Atmosphäre voller Tücke die richtige Witterung: Im Herumstöbern durch einen seltenen Einzelgänger aufgeschreckt, werden sie sogleich aggressiv oder fliehen … Er hätte sich jetzt noch viel mehr Details ausmalen können. All das war natürlich lächerlich und die Diagnose klar: Am Vertrauen fehlte es. Immer wieder musste es mühsam erworben werden, und das war eben nur bei Tag möglich.

     Nicht dass er die Nacht an sich fürchtete. War die Umgebung vertraut, war sie willkommen. Sie lullte ein, deckte Unschönes zu und erlöste einen von der Monotonie des allzu Vertrauten.

     Er brach dann unmittelbar vom Gasthaus auf und verließ die kleine Stadt und das unscheinbare Tal, in dem sie lag. Oben angekommen, folgte er einem Feldweg, der sich an Äckern und Hecken vorbei und durch Wäldchen zog, immer ziemlich eben dahin. Es ging über eine Art wellige Hochebene, an drei Horizonten verschwammen höhere Berge im Dunst. Ein Aussichtsturm, aus grauen Feldsteinen gemauert und nicht sehr hoch, stand etwas abseits in den Feldern. Er hätte die Landschaft gern von oben betrachtet und sich einen Überblick verschafft. Aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen: Sich die Unterkunft für die Nacht zu sichern, war jetzt wichtiger. Und war es sonst im Leben nicht oft ähnlich: Der Tag forderte dies und das – und dabei wäre man gern stehen geblieben und hätte den Lauf der Dinge einmal in aller Ruhe verfolgt …

     Ob die Nonnen wohl sehr empfindlich sein würden? Er ermahnte sich, rechtzeitig daran zu denken, den obersten Knopf seines Hemdes zu schließen. Und hemdsärmelig musste er dann auch nicht mehr sein. Noch nie hatte er ein Nonnenkloster von innen gesehen, er war indessen bereit, sich für eine Nacht einem Regiment von milder und sinnenferner Strenge zu unterwerfen.

     Er unterhielt sich damit, ein Kaffeehausgespräch zu rekapitulieren, das er tags zuvor im Neustädter Lamm mitangehört hatte. In Neustadt hatten sie es also letzten Winter tatsächlich riskiert, so eine komische Oper namens Palästina aufzuführen, aber nur die Musik, leider ohne Kostüme und ohne Tanz, sagte die eine Dame zur anderen, ihrem Besuch von auswärts. Ergreifend sei es ja gewesen, aber vielleicht doch etwas zu modern. Eigentlich höre sie, wenn schon Gesang, dann doch lieber die Chansons von Hildegard Knef. Er hatte die Dame gestern nicht richtig verstanden, erst jetzt begriff er, dass man sich an eine konzertante Aufführung von Pfitzners Palestrina gewagt hatte. Das war allerdings ein starkes Stück! Er lachte laut, allein auf freiem Feld, damit Bergson klar widerlegend, den er auf dieser Reise abends las und der geschrieben hatte: Wir würden die Komik nicht genießen, wenn wir uns allein fühlten.

     Er hatte jetzt etwa die halbe Strecke zum Kloster zurückgelegt. Der Weg führte gerade am einzigen Dorf unterwegs vorbei. Ein Hofhund bellte, er war hoffentlich angekettet.

     Hinter dem Dorf begannen Obstgärten. Die Kirschen waren schon abgeblüht, Äpfel und Birnen standen zum kleineren Teil noch im Flor, aber in einigen Tagen würde es auch damit vorbei sein. Eine Wiese war gelb überschäumt vom Löwenzahn, der wie toll blühte. Alles gedieh, auch die im letzten Herbst gepflanzten Bäumchen belaubten sich und sprossen empor. Die frischen Farben, die zarten Formen, all das tat den Augen nach den winterlichen Entbehrungen gut. Wegen solcher Eindrücke fährt man aufs Land. Er versenkte sich in den Anblick der rein weißen Birnenblüten, in die cremefarbene Apfelblust und ihr irritierend heftiges und unregelmäßiges Geäder. Dann verglich er die eben ausgerollten Blättchen untereinander. Die jungen Birnenblätter glänzten wie in aller Unschuld lackartig, wogegen das neue Grün der Apfelbäume von Anfang an einen silbrigen Grauschimmer aufwies, etwas pelzig Aufgerautes, das an Erfahrung und Abhärtung denken ließ. Zwei so nahe verwandte Baumarten – und erschienen in ihren einzelnen Formen reich an Kontrasten.

     Sein Großvater hatte daheim die ersten Obstgärten angelegt; sie waren längst verwildert. Sein Vater hatte weitere Obstgärten angelegt; auch sie wurden nicht mehr gepflegt. Er selbst pflanzte keine Apfelbäumchen. Er entstammte einer verrotteten Familie! Das war aus den Buddenbrooks. Zitieren war seine Passion. Manchmal schien es ihm, er lebte bloß, um Situationen wiederzufinden, die er aus der Literatur kannte.

     Wenn er unbedingt positiv denken wollte, durfte er auf den eigenen Entwicklungsstand stolz sein. Im Grunde hatte er sich selbst erzogen. Zwar war auch in ihm das Bedürfnis nach Orientierung vorhanden gewesen, zuweilen hatte es sich sogar recht heftig geäußert. Die Suche nach Figuren, die Identifikation ermöglichen sollten, verlief indessen stets enttäuschend. Diese Erfahrung verfolgte ihn seit über dreißig Jahren, als läge dem ein Naturgesetz zugrunde.

     Mehr als eine Ahnung, ein sicheres Gefühl, also Instinkt, trieb ihn in jungen Jahren hinaus in die Welt. Aus Instinkt suchte er Distanz zu Familie, Herkunft, Heimat. In seinem heimatlichen Nest wäre er zwangsläufig eine Figur à la E.T.A. Hoffmann geworden: ein deformierter Kleinstadtcharakter. Und in der Großstadt? War er, trotz allem und auf andere Weise, vielleicht auch eine Figur wie bei E.T.A. Hoffmann geworden. Es sollte ein Experiment werden. Alles wollte er sich neu schaffen, wie er es für richtig hielt: die innere wie die äußere Welt. Es war ihm gelungen, auch ein Grund, stolz zu sein. Aber seit er auf die vierzig zuging, sah er immer deutlicher: Alles lief zwar in einem anderen Rahmen, doch im Grunde nach denselben Gesetzen wie in der Jugend ab. Nur eines war neu, eine beginnende Müdigkeit. Er begann sich aus dem immer gleichen Kreislauf von Hoffnung, Erfahrung und Enttäuschung hinauszusehnen. Die großen Inhalte – er hatte sie vergeblich außerhalb der eigenen Person gesucht.

     Dazu kam, dass die Parallelen sich aufdrängten. Der Blick wurde schärfer, auch sich selbst gegenüber, und er sah: Auch er war nur einer aus seiner Sippe. Dieser einzig noch möglichen Identifikation war er so lange wie möglich ausgewichen, ein langer, ermüdender Umweg.

     Die große Stadt, in der er unbedingt hatte leben wollen, war, alles in allem, auch nur eine Enttäuschung. Um Erfolg zu haben oder sich Erfolg und Zufriedenheit vorzutäuschen, war ein zunehmend größerer Aufwand nötig, emotional wie physisch. Der Aufwand wurde größer, die Ergebnisse wurden allmählich dürftiger. Was nutzte es einem dann noch, in einer großen Stadt zu leben? Seit einigen Jahren betrachtete er die Heimat mit anderen Augen. Jedoch verstand er unter Heimat nicht mehr dasselbe wie zwanzig Jahre früher. Er war jetzt planlos und ziellos in weiten Landschaften unterwegs, um sich aus einzelnen Eindrücken eine ideale Heimat zurechtzumodeln. Denn darüber war er sich klar: Heimat hatte es in der Wirklichkeit nie gegeben, und es würde sie außerhalb des eigenen Kopfes auch nicht geben. Heimat war nur ein Wort; es bezeichnete ein Mosaik unterschiedlicher positiver Bilder, die man sich verschafft hatte und bei sich aufbewahrte.

     Seine Entwicklung in den letzten Jahren hatte ihn allmählich den Freunden in der großen Stadt entfremdet. Da war zum Beispiel Stefan. Seine Fluchten und die Fluchten weiterer Freunde führten in andere Richtungen. Sie flogen ein- oder zweimal im Jahr weit fort, jedes Jahr weiter. Sie glaubten, das entgangene Glück an konkreten Orten noch einholen zu können. Je weiter ein Ort entfernt und je größer er war, umso wahrscheinlicher musste es doch sein, dort eine tiefere Befriedigung finden zu können. Stefan kam jedes Jahr unzufriedener zurück, nicht weil er unterwegs keine Befriedigung gefunden hatte, sondern weil er dort, wo er sie nicht gefunden hatte, nicht länger hatte bleiben können: Die Befriedigung hätte sich sonst noch eingestellt, es war nur eine Zeit- und Geldfrage. Wie Prousts Erzähler von Balbec hätte man von Stefan und seinen Reisezielen sagen können: Der Aufenthalt dort hatte ihm nicht genutzt, und eben das erzeugte in ihm die starke Sehnsucht, bald wieder dorthin zurückzukehren.

     Stefans Freunde dachten und litten wie er. Sie schickten ihm ironische Ansichtskarten aus New York und unironische aus Seattle oder Sydney. Stefan arrangierte sie an der Wand seines Wohnzimmers, und zwischen all diesen Karten aus Sydney, Seattle und so weiter störten die Karten dieses einen Sonderlings, der er selbst war, den beabsichtigten Gesamteindruck empfindlich. Dass Stefan dort Motive wie die Kartause von Münsterbach, ein Stück Spessartwald oder einen Gletscher in Graubünden duldete, es bewies, dass er wahrer Freundschaft fähig war. Der Schwerverständliche traf Stefans Freunde im Winter, und sie litten unter der eigenen großen Stadt, die ihnen nicht groß genug und, wie sie sagten, in jeder Hinsicht zu provinziell war. Sie fragten Stefans sonderbaren Freund, wo er im Urlaub gewesen sei, und wenn er zum Beispiel sagte: In Franken, fragten sie zurück: In Frankreich?

     Er drang jetzt in einen Bereich des Waldes vor, in dem das Licht sich veränderte. Der Baumbestand war hier weniger dicht, die natürliche Beleuchtung erschien infolgedessen diffus und sogar künstlich. Zahlreiche Stämme waren gefällt oder entwurzelt worden und kleine Lichtungen waren entstanden; sie wuchsen bereits wieder zu. Der Wald war in seinem Inneren zugleich in Auflösung und in Regeneration begriffen. Alle diese Erscheinungen verteilten sich unregelmäßig über eine größere Fläche. Der Weg änderte häufig die Richtung. Ohne die Wegzeichen hätte er die Orientierung verloren.

     Plötzlich assoziierte er die Szenerie mit einem Bild von Weisgerber. Es war ein Sebastian mit Reiter, und zwar die Ludwigshafener Version. Es fehlte hier allerdings die Gestalt des jungen Märtyrers, an einen Baum gebunden und sonderbar allein gelassen, es fehlte auch der Reiter im Hintergrund des Bildes, seine Haltung feierlich und drohend und sein Gesicht unkenntlich. Jedoch war die Stimmung des Ortes auch ohne die Personen die gleiche wie auf jenem Bild; ein Schauplatz, den die Akteure jederzeit betreten konnten.

     Weisgerber, süddeutscher Maler der Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen, er hatte ihn zufällig entdeckt oder wiederentdeckt, als er sich vor Jahren wegen einer Erbschaft in der Pfalz befand. Er nutzte die freie Zeit, um die Pfalzgalerie in Kaiserslautern kennenzulernen. Er hatte sich durch alle Säle und Epochen vorgearbeitet, ein Saal und dann noch einer waren übrig, da lenkte aus dem allerletzten das sehr keusche und zugleich sehr erotische Bildnis eines jungen Mannes alle Aufmerksamkeit, deren er noch fähig war, auf sich. Es war Albert Weisgerber. Seither hatte er eine Reihe ähnlicher Selbstbildnisse dieses Malers gesehen, und jedes wirkte in derselben Weise scheu und aufreizend. Es verströmten diese Bilder unausgesprochene Autoerotik. Sie waren Ausdruck einer liebevollen Versenkung in sich selbst, sie forderten jedoch keineswegs dazu auf, sich diesem Körper zu nähern.

     Er besuchte dann Bildergalerien in Saarbrücken, Stuttgart und Ludwigshafen und stand oder saß lange vor Werken wie dem Absalom oder den Sebastian-Bildern. Dies waren keine Selbstbildnisse, doch sie erregten bei ihm nicht weniger Staunen und Sympathie.

     Erst jetzt, auf diesem Gang durch den Wald, erfuhr er, was das Ludwigshafener Bild für ihn bedeuten konnte. Waren die unmittelbar vorangegangenen resignativen Gedanken die Auslöser? Er versetzte sich nun an Sebastians Stelle. Das war eine Identifikation, die endlich einmal nicht mit Enttäuschung verbunden sein würde. Schmerzen und Leid waren von vornherein mit dieser Rolle verbunden, gerade in der Qual bestand in diesem Fall die Erfüllung. War Masochismus die Lösung seines Problems? Weisgerber hatte ein schönes Bild gemalt. Der Genuss in der Vergewaltigung, von dem Nietzsche an einer Stelle spricht, ist, wie dieses Bild nahelegt, auch dem Opfer möglich. Ein kühner Gedanke, aber ihm, einem zweiten Sebastian, sind in seiner jetzigen Doppelnatur solche Schlüsse erlaubt. Ein gefährlicher Gedanke? Nein, ihm wird er nicht mehr gefährlich werden. Dieser abschüssige Weg ist ja von ihm schon einmal eingeschlagen worden und er hat in der Realität nur zu Verdruss und Langeweile geführt. Dennoch, trotz dieser ernüchternden Erfahrungen, blieb das Bild in seiner Erinnerung schön und verlockend. Er sollte wirklich den seit längerem geplanten Aufsatz über die suggestive Kraft der Bilder von Weisgerber schreiben.

     Plötzlich trat er aus dem Wald heraus. Da unten, umgeben von Feldern und Gärten, lag das Kloster.

 

 

Die Schwestern betrieben hier die Landwirtschaft und auch den Gartenbau. Er durchquerte den Gürtel der Äcker, der rundum vom Klosterwald umschlossen war und der seinerseits die ausgedehnten Gärten umgab, die bis an die Klostermauern reichten. Vieh sah er keines. Der hohe Futtersilo, der hinter dem Kloster aufragte, ließ indessen vermuten, dass auch Tiere gehalten wurden. Die Gärten waren sehr belebt: Hilfskräfte in blauen Arbeitskitteln, mit allerlei einfachen Arbeiten befasst, Gärtner (Gesellen und Meister), die zugleich anordneten und zupackten, schließlich Nonnen in ihrer Tracht, die umhergingen und sich vergewisserten, wie jeder an seinem Platz zurechtkam. Er blieb stehen und ließ, indem er die Augen zu Schlitzen verengte, das Bild vor sich stillstehen. Es hatte dann große Ähnlichkeit mit Abbildungen in alten Büchern, etwa über den Gartenbau im sechzehnten Jahrhundert.

     Eine Tafel, in der Nähe des Tores angebracht, belehrte einen, dass die Schwestern hier eine Anstalt unterhielten. Sie hatten allerlei Beladene in ihrer Obhut. Wer am Leib oder an der Seele schwer geschädigt war und in der Welt nicht zurechtkam, konnte hier eine Zuflucht finden.

     Er durchschritt das Torhaus und befand sich im inneren Klosterbezirk, einem schönen, weiten Park, wo unter alten Bäumen Gebäude aus sechs oder sieben Jahrhunderten standen. Das Gasthaus, spätes neunzehntes Jahrhundert, war ein behäbiger Riegel und lag dem Hauptbau der alten Abtei gegenüber. Er ging hinein und machte drinnen sogleich die Bekanntschaft einer blonden jungen Frau: Mit ihr hatte er vorhin telefoniert. Sie war keine Nonne, sie sah ihm offen in die Augen und führte ihn hinauf in den Oberstock, wobei sie ihm Verhaltensmaßregeln gab. Er hörte nur halb hin. Sie war eine auffallende Erscheinung, sie hatte bei aller anmutigen Frische etwas sonderbar Altfränkisches, wie auf Bildern des jüngeren Cranach. Nicht nur war der Schnitt des Gesichtes altertümlich, auch Mimik und Gestik wirkten recht unzeitgemäß. Von Cranach gab es eine Darstellung Christi mit der Ehebrecherin, an diese fühlte er sich jetzt erinnert. Die junge Buhlin sah darauf recht appetitlich aus. Sie war errötet, und das stand ihr sehr gut. Ihre Haltung verriet weniger Zerknirschung und Bußfertigkeit als vielmehr tiefen Verdruss darüber, ertappt worden zu sein. Sie würde die Ehe erneut brechen, könnte sie es in Zukunft gefahrlos tun. Übrigens waren auf jenem Bild die Hitzigen, die sich geifernd ereiferten und bei Jesu beschwerten, mit viel feinerer Psychologie gemalt als die Sanften, die zwar gewiss nicht alles verstanden, es aber dennoch entschuldigten. Einer der Ankläger, erinnerte er sich, während sie über den Flur gingen, hatte gräuliche Geschwüre am Hals, ein anderer, ein hübscher Kerl mit sinnlichem Tierblick, hatte, indem er Partei nahm gegen die Ehebrecherin, offenbar selbst größte Lust, mit ihr zu sündigen. Nicht viel fehlte und er hätte sich die Lippen geleckt …

     Sie zeigte ihm, wo das Bad lag, dann den Aufenthaltsraum. Sie traten in sein Zimmer. Es war geräumig und mit schlichten älteren Möbeln ausgestattet. Er sei der einzige Gast im Haus, sie würden um sechs Uhr schließen, da morgen Ruhetag sei. Wenn er noch etwas essen wolle, könne er es zwischen fünf und sechs bekommen. Zum Frühstück werde morgen jemand da sein, um ihn zu versorgen. Er solle gleich noch einmal zu ihr in die Gaststube kommen, sie werde ihm dann den Schlüssel für das Haustor geben; den dürfe er nicht verlieren, es sei nämlich niemand von ihnen über Nacht in der Nähe.

     Er ging im Zimmer auf und ab. Dazu verlockte einen der große Raum und die beiden Fenster zum Hinausschauen und –lehnen. Sie gingen auf den Hauptplatz, der mit hohen alten Linden bestanden war. Durch die sich begrünenden Zweige erschien, unscharf wie im Aufriss, die Abtei der Renaissance mit ihrem Eckturm aus gleicher Zeit. Er wollte jetzt alles sehen. Im Zimmer war es wunderbar still, wunderbar würde der Abend werden.

     Er ging hinunter und stand orientierungslos in einem breiten Gang mit offenen Türen rechts und links. Da war die Küche, da die Vorratsräume, da eine Art Backstube … Hinter ihm machte sich ein Mensch bemerkbar. Er wandte sich um und stutzte – was für eine Erscheinung, auch er! Ein Mann um die dreißig in kurzen Shorts und mit kunstvoll verwirrten blonden Locken … Hier war offenbar ein städtischer Coiffeur am Werk gewesen und hatte, vermutlich für viel Geld, den Eindruck urwüchsiger und ungeordneter Haarpracht erzeugt. Diese Absicht, mit viel Raffinement etwas möglichst primitiv Wirkendes herstellen zu wollen, verstimmte. Sieht so der Pächter eines Klosterwirtshauses aus? Sicher benutzt er auch ein Parfüm, das zugleich brutal und dezent riecht. Überhaupt ist er viel zu hübsch … Er wandte sich ab.

     Der andere musste an derartige Äußerungen männlichen Unmuts angesichts männlicher Schönheit gewöhnt sein. Er fragte beflissen, wenn auch mit dem herben Akzent der Gegend: „Suchen Sie den Gastraum?“ – Der Fremde bejahte wortlos und bekam den Weg gewiesen. Fürs Erste war er der Desorientierung entronnen, er stand mitten in der Gaststube.

     Er bekam den Schlüssel und ging ins Freie. Draußen strömten die Insassen, die Pfleglinge zu ihren Wohnungen. Es war Feierabend. Einige grüßten ihn von weitem, wie es Kinder auf dem Land tun, denen Artigsein eingeschärft worden ist, zumal Fremden gegenüber. Andere schienen ihn nicht einmal zu bemerken. Diese als Erster zu grüßen, vermied er lieber. Im Übrigen verlief jede Begegnung anders. Es gab kein vorhersehbares Verhalten, keine Übereinstimmung, keine Gesetzmäßigkeit, keine Norm. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, liefen alle vereinzelt durchs Tor und durch den Park. Mit dem Feierabend hatte sich das schöne Bild der Ordnung aufgelöst. Eine passive und idiotische Anarchie lag jetzt über der Anstalt.

     Er fand heraus, dass die alte Klosterkirche längst abgerissen war. An ihrer Stelle stand ein einfacher, reizloser Betsaal. Hinter dem Gasthaus lagen weitere Gärten, mitten darin ein schmucker Pavillon aus dem Rokoko. Er wird ihn nachher vom Badezimmer aus sehen können.

     Es war fünf Uhr. Er ging in die Gaststube zurück und nahm an einem der Tische Platz. Während er auf sein Abendessen wartete und auch während er es verzehrte, unterhielten sich am Nachbartisch ein Priester und eine Greisin auf philosophische Weise. Pascals Name fiel, auch der von Albert Schweitzer. Sie zitierten mit Fleiß, doch er merkte: Hier ging es nur um sehr alte Verwundungen, deren Narben noch immer schmerzten. Die Greisin und der Priester benutzten den philosophischen Balsam gewohnheitsmäßig. Kränkungen wurden mit frommen Zitaten behandelt wie Hautdefekte mit Cortison bestrichen. Der jahrelange Gebrauch von Pascal und Schweitzer hatte zu ähnlichen Ergebnissen geführt wie die Gewöhnung an das Nebennierenrindenhormon. Allmählich hatte sich die Heilwirkung erschöpft, die Behandlung verursachte jetzt selbst einen Reiz, an den man bereits gewöhnt war und den man mit Gesundheit verwechselte und mit immer höheren Dosen unterhielt.

     Gegen sechs Uhr leerte sich der Gastraum. Er zahlte und ging in den Oberstock hinauf. Die Fluchten der beiden breiten Gänge: leer, das große Zimmer: leer. Es war eine einladende Leere. Er spürte, wie nacheinander von ihm abfiel, was ihn sonst ausfüllte: Interessen, Gefühle, Bewusstseinsinhalte. Der große, einfache Raum schien alles aufzusaugen, jedoch mit nichts sich anzufüllen. Man versank im Bewusstsein, dass ein jedes sich wohltuend auflöse. Besonders angenehm war ihm die Vorstellung, dass niemand wusste, wo er sich jetzt befand. Er war unerreichbar geworden – und wie wenig Mühe hatte ihn das gekostet. Gesetzt den Fall, irgendeiner bedürfe seiner jetzt gerade dringend - Stefan, die Mutter oder jemand im Verlag –, sie hätten ihn nicht gefunden. Übrigens war es unwahrscheinlich, dass man ihn benötigte. Indessen verstärkte diese unbegründete Annahme jenes Gefühl von Verantwortungslosigkeit, das mit Urlaub und Erholung so eng verbunden ist. Er war entspannt und gut gelaunt, er war es so sehr, dass er sich eingestehen konnte, die ermüdenden Bewusstseinsinhalte seiner normalen städtischen Existenz mit den genau entgegengesetzten vertauscht zu haben. Von einem mentalen Vakuum konnte also keine Rede sein.

     Er stand am Fenster, hörte, wie unten die Türen von außen geschlossen wurden, und sah die Wirtsleute wegfahren. Er war nun allein in dem großen alten Kasten; rundherum nur alte Bäume, andere leere Gebäude und etwas weiter ab die Wohnungen von Nonnen, Körperbehinderten und Geistesschwachen. Einen so tiefen Frieden hatte er seit Jahren nicht mehr um sich empfunden.

     Er kam vom Baderaum her und kehrte ins Zimmer zurück. Draußen sandte eine dünne Glocke sieben feine Schläge ins maigrüne Laub. Unmittelbar darauf setzte sie erneut an, diesmal zu heftigem Gebimmel. Sogleich strömten Menschen von den Wohngebäuden herbei und zum Betsaal hin. Er sah ihnen vom Fenster zu. Eine größere Gruppe von Pfleglingen, von einer ernsten und energischen Nonne geführt, schob und drängte sich eben unten vorbei. Es sah aus, als ginge es in einen Kampf. Er musste an Nietzsche denken: der Priester als Krankenwärter. Jedoch wirkte dieser Zug hier auf den Betrachter vor allem ästhetisch. Es war wie auf dem Theater, nach vielen sorgfältigen Proben: sehr bewegt, dramatisch zugespitzt und schön.

     Später kamen einzelne hinterher. Manchmal schob einer, vielleicht ein Spastiker und selbst der Hilfe bedürftig, einen anderen im Rollstuhl zur Kirche. Dann feierten sie alle zusammen eine Maiandacht. Sie zogen singend und betend durch den Park, und in seinem stillen, leeren Zimmer vernahm er abwechselnd die Stimmen des Priesters und der Gemeinde von wechselnden Standorten her, rund um das große, leere Gasthaus.

     Er nahm das Buch aus dem Rucksack und begann, im Sessel kauernd, zu lesen. Bergsons Theorie vom Lachen war für ihn nicht so vergnüglich, wie er beim Kauf des Buches vermutet hatte. Als Agnostiker hatte er bereits Mühe, sich auf den festen metaphysischen Grund dieser Lehre zu begeben. Eigentlich hatte er sich unter Lebensphilosophie etwas ganz anderes vorgestellt, eine wesentlich geschmeidigere Art zu denken. Das System des Philosophen, das Lachen allein als gesellschaftlichen Reinigungsprozess zu erklären – genau genommen eine beleidigende Annahme -, war nicht so offen, wie Bergson selbst beteuerte. Im Gegenteil, es erwies sich bei fortschreitender Lektüre als nur zu sehr in sich geschlossen, und wenn es galt, jenes System zu verteidigen, verstand der Philosoph keinen Spaß. Sein Vorsatz, lebensnah zu denken, undogmatisch zu prüfen, Phänomene aus praktischer und intimer Kenntnis darzustellen – all das stand in einem gewissen komischen Kontrast zu übertriebener Systematisierung und der Abwehr jeder Beobachtung, die nicht ins sozial fixierte Schema gepasst hätte. Schade. War dies der große Philosoph, dem Prousts Werk so viel verdankte und dessen Geist dem Stoff des großen Romans die irisierende Färbung gegeben hatte? Der Einfluss des Philosophen auf den jüngeren Schriftsteller bewies keineswegs die Qualität seiner Philosophie. Literatur, gerade auch große Literatur, kann offenbar auf wenig überzeugendem philosophischem Untergrund wachsen – vielleicht auf diesem sogar am besten? Die Philosophie war dann nur wie ein Ferment.

     Er legte das Buch auf den Tisch, stand auf und ging hinüber in den Aufenthaltsraum. Dort gab es einen Kühlschrank zur Selbstbedienung, ferner einen Bücherschrank mit unterhaltsamen Werken der fünfziger Jahre, schließlich einen Fernsehapparat. Warum nicht einmal fernsehen? Zu Hause besaß er gar kein Gerät. Dieser Umstand ermöglichte es ihm, sich jetzt mit einfachem Knopfdruck neue Perspektiven zu eröffnen. Urlaub machen, mit alten Gewohnheiten brechen, sich neue Eindrücke verschaffen – war das nicht eins und für ihn jetzt sehr bequem zu erreichen?

     Indessen hatte er Mühe mit der Fernbedienung. Nur ein Programm erschien flimmerfrei und sogar in Farbe auf dem Schirm. Sonderbare Gestalten sah er da um sich versammelt, er saß mitten unter ihnen, und sie redeten über ihn hinweg. Vorn die Moderatoren, darunter eine Frau, sie sprachen harmlos und kundig wie Verkäufer im Reisebüro, wenn sie entlegene Ziele anpreisen, als wären es die naheliegenden. Man hört es und glaubt es halb und halb doch nicht. Das Verkaufsgespräch war als Diskussion getarnt. Die Moderatoren präsentierten dem Publikum kostümierte Männer, Männer, die behaupteten, für ihr Leben gern Motorrad zu fahren. Da fühlten sie sich so frei, und wer fühlt sich nicht gern frei?  Die Männer hatten ihre spezielle Feiertagskleidung angelegt. Sie nannten sie zwar bloß Kluft, aber das war eine Untertreibung. Sie legten vielmehr größten Wert auf ihre Erscheinung, ja, ihr Äußeres schien ihnen das Wichtigste, so breiten Raum nahm es im Verkaufsgespräch ein. Sehr viel Leder, viel Metall und wenn Baumwollstoff, dann dieser wieder am Rand mit Leder abgesetzt. More leather here than on the Ponderosa, hatte mal einer aus Hamburg in die Staaten berichtet.

     Bei all den vielen Worten blieb unklar, worin sich diese Männer von anderen Männern, auch Motorrad fahrenden, unterschieden. Das Aggressive im Äußeren sei unverzichtbar, sagten sie, aber gewalttätig sei man natürlich nicht. Das Aggressive sei nur unverzichtbarer Bestandteil des Outfits. Warum sie sich so kleideten? Einer ihrer Wortführer (die sie Präsis nannten, er dachte an Präservative): Damit uns die anderen, die ebenso sind wie wir, erkennen.

     Zwischen Präsis und Moderatoren saß ein geistlicher Herr, der Pater Viktor. Fünfundsiebzig Jahre zählt er bereits und sucht noch immer die Nähe solcher Männer, wie sie es sind, ja, er besucht Männer wie sie auch im Gefängnis, etwa dann, wenn einer von ihnen jemanden umgebracht habe, wie er beiläufig fallen ließ. Ein Moderator setzte erschreckt nach: Umgebracht?! – Aber die Frage ging unter, denn die Moderatorin hatte gerade entdeckt, dass der geistliche Herr unter dem schwarzen Rock des Seelsorgers Motorradstiefel trug und, kaum zu glauben, am Ende auch eine Lederhose? Da mimte er kurz den Verstimmten, solche indiskreten Blicke gehörten sich nicht.

     Hinter den Präsis saß auf Stuhlreihen biertrinkenderweise das fahrende Fußvolk und schwieg. Fast alle waren infolge Bewegungsmangel und allzu reichlicher Ernährung ziemlich fett, und einigen stand es recht gut. In der zweiten Reihe räkelte sich in bequemer Position ein bildhübscher junger Mann mit ganz kurzem schwarzem Kinnbart, durch den sich der Ansatz eines weißen Doppelkinns abzeichnete. Unter dem weißen T-Shirt imponierte ein stattlicher Wanst. Halb selbstzufrieden, halb verunsichert griente er in die Kamera, die wiederholt über seinen Körper strich. Einer seiner Nachbarn stand auf, um vor Ende der Sendung einmal hinauszugehen. Da glitt der Blick des liegenden Bildhübschen voller Einverständnis über den knapp geschnürten Korpus des Fortgehenden. Als Zuschauer fühlt man sich von so viel Übereinstimmung infiziert. Er ging zum Kühlschrank und holte sich eine Weißbierflasche heraus, um sie in diesem Kreis zu leeren. In ihrer Trägheit lag viel Harmonie, eine harmonische Trägheit, sie erinnerte ihn an ein früheres Fernseherlebnis, einen Film über die Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln. Diese hatten sich in großer Zahl am Strand liegend gesonnt, und der Kommentator hatte bemerkt, sie unterschieden sich gegenseitig nicht als Individuen. Dennoch oder vielleicht eben deshalb schienen sie miteinander sehr vertraut.

     Wie die Mönche bezeichneten sie ihre Oberbekleidung als Kutte. Einer erzählte, die Kutte des Anwärters, den sie auf Englisch Prospect nannten, werde mit allem Möglichen getränkt, auch mit Urin, und sie werde nie gewaschen! Entsetzen bei den Moderatoren, deren einer einflicht, er benutze sein Oberhemd ja auch schon den zweiten Tag. Und die Moderatorin beruhigt das Publikum, sie habe vorhin einen der Präsis beschnüffelt, er benutze ein vorzügliches Parfüm.

     Da war die Sendung schon zu Ende. Sie ließen ihn abrupt allein. Er schaltete aus und ging mit dem Rest Bier und einem Rest guter Laune in sein Zimmer zurück.

     Er war so entspannt, dass es ihm schwer fiel einzuschlafen. Gewöhnlich erlebte er den herannahenden Schlaf als einen Akt der Befreiung: alles abwerfen, hinter sich lassen. Unwillkürlich fand er in einem anderen Erinnerungsfetzen den künstlichen Widerstand, der ihm, indem er ihn überwand und von sich stieß, zur Bewusstlosigkeit verhalf.

     Es war in M., auf einer anderen Reise. Er wollte einmal nicht auf den Preis sehen und wurde schlechter als sonst bedient. Jenes Hotel war leider eines für Snobs. Er stieß überall auf eine falsche Bescheidenheit, die immerzu demonstrierte: Wir haben es ja nicht nötig. Aber eben diese Demonstration war ihnen nötiger als das liebe Brot. Immer taten sich Türen auf und es traten Gäste heraus, die aussahen wie russische Großfürsten und –fürstinnen im Exil, ausgesucht schäbig gekleidet. Das Restaurant wandte sich, ausweislich seiner Karte, an Feinschmecker. Waren solche auch unter den Gästen? Es konnte morgens vorkommen, dass die ausgetrockneten Brötchen vom Vortag zum Frühstück serviert wurden. Die Gäste halfen sich darüber wie über alles andere mit nur einer Bemerkung hinweg: Hier sei es zum Glück nicht so perfekt wie in den schrecklich stereotypen neuen Hotels. Die besondere Atmosphäre einer ganz anderen Welt herrschte, und dafür zahlte man schließlich, das heißt man zahlte nur für die Äußerungen eigener gefühlsmäßiger Bedürfnisse, nicht für einen realen Gegenwert.

     An diesem oder jenem Abend erschien die Crème von H. und widmete sich eine halbe Stunde der Frage, ob die Studienrätin und die Gattin des Baudirektors für M. overdressed seien: So hatten es die Mütter dieser Endvierzigerinnen bei deren Aufbruch moniert. Bei ihnen hieß das noch aufgebrezelt. Waren sie es oder waren sie es nicht, überlebenswichtige Frage! – Natürlich gab es auch, betont unauffällig, ein homosexuelles Paar. Die beiden waren um die fünfzig, nahmen einen Tisch in der Ecke und setzten sich über Eck so, dass sie allem sonst den Rücken kehrten. Das hinderte den Jüngeren der beiden indessen nicht daran, den Einzelreisenden einer sehr intensiven visuellen Prüfung zu unterziehen, als der Unbekannte einmal hinausging.

     Er gähnte unwillig und schob die Erinnerung von sich. Unmittelbar danach musste er eingeschlafen sein. Der Schlaf war tief, traumlos und dauerte bis zum Morgengrauen.

     Eine Kinderstimme riss ihn gegen acht Uhr aus letztem Dösen und Dämmern: „Aller guten Dinge sind drei, aller guten Dinge sind drei!“ Er sprang aus dem Bett und zum Fenster. Da unten über den Platz hüpfte eine Frau von vierzig Jahren, von ihr kam jener Sprechgesang.

     Er ging hinunter in die Gaststube, und im Nu war der mit den Locken um ihn und versorgte ihn mit großer Freundlichkeit; nichts Geschäftsmäßiges schien ihr anzuhaften. Der Wirt zündete eine Kerze vor ihm an, er bot ihm gleich an, noch mehr Kaffee bekommen zu können, obwohl die Kanne bereits vier Tassen enthielt. Er ging so weit, dem Gast die erste Tasse selbst einzuschenken.

     Während der Gast frühstückte, telefonierte der Wirt. Er bestellte nüchtern und kurz angebunden Fleisch und Getränke für den kommenden Feiertag, Vatertag, wie er sagte. Am Telefon hatte sein Gesicht etwas Leidendes, leicht Verlebtes. Wie er in den Hörer hineinhorchte, entspannte sich die Gesichtsmuskulatur so sehr, dass Andeutungen von Aufschwemmungen deutlich sichtbar wurden. Nachher gab er einem Handwerker, der im Hause arbeitete, Geld für Zigaretten: „Das sollte dann für eine Schachtel reichen.“ Eine Insassin der Anstalt meldete sich und wollte am nächsten Tag in der Küche helfen. In jedem Fall traf der Wirt den rechten Ton im Umgang.

     Als er zahlen wollte, fand er den Wirt in einem Nebenraum mit Kuchenbacken beschäftigt, mit einer Schürze und mehlbestäubt. Er walkte gerade den Teig auseinander. Grinsend legte er das Holz beiseite und lachte mit rundem, nun wieder recht gesund wirkendem Gesicht. Er wollte wissen, wie es dem Gast gefallen habe. Gut, sagte der Gast, es sei eine große Überraschung gewesen. Da zeigten sich Stolz und Befriedigung im runden Wirtsgesicht, ein Ausdruck, der beide hinderte, noch etwas hinzuzufügen.

4. Schienenersatzverkehr

Schienenersatzverkehr – was für ein Wort. Allerdings war jetzt nicht die Zeit, etymologische Betrachtungen anzustellen. Manfred stand auf dem Neustädter Bahnhof am Gleis nach Süden; hatte sich verwundert gefragt, warum kurz vor Abfahrt des Zuges er als Einziger hier stand – und dann erst den kleinen roten Anschlagzettel neben dem Fahrplan entdeckt: Schienenersatzverkehr. Er muss also für ein paar Stationen einen Bus benutzen, dann in den Zug umsteigen. Nicht alle Anschlüsse seien gewahrt, hieß es noch. Er wird vielleicht den Schnellzug in Würzburg verpassen und ein oder zwei Stunden später als geplant in Hamburg ankommen. Gleichviel oder in Gottes Namen.

     Das Kloster war sehr weit fort, es war sicher aufgehoben an seinem Ort und in seiner Zeit. Was an ihm, Manfred, davon noch haftete, platzte in großen Schichten und Stücken ab. Er lief im Trab um den Bahnhof herum, fand den Bus auf dem Vorplatz und schwang sich hinein und sank keuchend auf einen der hinteren Plätze. Der Busfahrer schwatzte mit dem Schaffner Minuten über die Zeit, die der Fahrplan vorgab.

     Schienenersatzverkehr. Ersatzverkehr? Das klang fast obszön. Doch war der Tatbestand an sich minderwertig. Am Ende ein verkehrter Ersatz? Nichts hinausstrecken, hieß es in den Wiener Straßenbahnen. Und: Kein Abgang. Verbote allüberall, wie Wände ringsum. Jedoch gab es für fast alles Ersatz. Ersatzkaffee. Ersatzansprüche. Ersatzbefriedigung. (Minderwertig als bloßer Ersatz?) Und nun sogar das Kreiswehrersatzamt. (Es lag in der Nähe, Manfred kannte es auch von innen, das war lange her.) Und in diesem Fall Ersatz wofür, etwa Ersatz für Männer? Aber General MacArthur hatte seinerzeit gesagt: Für Sieg gibt es keinen Ersatz. Für Honig übrigens auch nicht. Niemand sagt Ersatzhonig, es heißt Kunsthonig. Und dieser befindet sich in Gesellschaft, etwa von künstlichen Zähnen – an denen er haftet. Kunst also gleich Ersatz? Und sie scheint sich verleugnen zu wollen: das künstliche heißt naturidentisches Aroma. Aroma ist alles, alles hat Aroma, verströmt, verschwendet Aroma, man mag es oder man mag es nicht. Naturidentisch: was für ein Wort. Mit der Natur identisch und doch Kunst, also Ersatz? Sein Denken, bisher an der Oberfläche geblieben, sank hinab und wurde zum Sinnen, zur Anschauung. Das war das Ende vom Formulieren.

     Sie rollten am Lamm vorüber. Dort hatte er neulich gegessen. Sie gaben eine Oper namens Palästina … Der Mama hatte es gar nicht gepasst. Aber er war spät von Hamburg aus angekommen und sehr hungrig gewesen. Er rief also gleich nach der Ankunft bei ihr an und sagte, er komme erst nach dem Essen. Er stärkte sich für den Marsch hinaus aus der Stadt. Sie war natürlich gekränkt, wenn nicht beleidigt, und zeigte es doch nicht; zeigte nur, dass sie es nicht zeigte. Da war eine Lücke im Tonfall, in der Mimik. Es war unklug von ihm gewesen. Es war nur ein Glied in einer Kette von Unklugheiten gewesen, und seine Mutter hatte zur Länge der Kette mehr Material geliefert als er, seiner Meinung nach. Aber darauf kam es nicht mehr an. Worauf kam es überhaupt noch an?

     Wider Erwarten bog der Ersatzbus hinter dem Lamm rechts um die Ecke. Er vermied die breite Tangente, da war eine Baustelle, und die Ersatzroute führte quer durch die Altstadt. Bei seinen seltenen Besuchen kam Manfred kaum noch einmal dorthin. Er mied die Gegend geradeso wie die Erinnerungen an sie.

     Jetzt, am späten Vormittag, schoben sich die Karossen der Einkäufer, Touristen und Kurgäste zum Hauptplatz hinauf. Sie brauchten fünf Minuten, bis sie diesen höchsten Punkt des Stadtkerns hinter sich hatten. Und rollten dann Stück um Stück hinunter. Würzburg war noch sehr fern.

     Gerade am Schwarzen Bären stockte es schon wieder. Ein Motorradfahrer überholte sie rechts, rollte auf den Gehweg hinauf und hielt vor dem Gasthof. Manfred wandte sich nach ihm um, gewohnheitsmäßig. Würden in der Umgebung die Feuer speienden Berge der Urzeit jetzt in dieser Minute erneut ausbrechen, sein Begehren wäre unter Asche bewahrt und versiegelt, in seiner Zeit und an seinem Ort. Das war keine sehr originelle Vorstellung. Indessen war das Begehren an sich, ewig erregt und befriedigt, in seinen ewigen Wiederholungen selbst das Gegenteil von Originalität. Und vorüber auch die Zeit, in der ein besonderer Geschmack allein schon für Interesse sorgte, Anstoß oder Teilnahme. Selbst dieser Seitenstrom und Nebenarm war zu breit geworden, war von zu vielen und zu oft befahren worden.

     Ach, und jetzt gerade war es nur Augenlust, ein harmloses Spiel,  Genuss ohne Reue. Und wenn es Ersatz war, ein ästhetischer Ersatz für Vitaleres, so hielt er ihn doch für höherwertig, darauf bestand er.

     Der andere stieg ab, sicherte den Stand der Maschine, und Manfred war Sebastian. Die Szene im Wald, der behelmte Reiter … Er soll den Helm nicht abnehmen. Schwarz glänzendes Leder ohne einen Farbtupfer bis zu den Stiefeln. Auch der Helm war schwarz, doch feuerrot die Lackierung des Tanks und der Verkleidung. Schwarz-rot die Kombination oder rot-schwarz der Akkord, das war auch Manfreds Wahl beim Lüscher-Test damals gewesen. Max, Maximilian mit vollem Namen, auch Maximin oder Maxim waren gebräuchlich, er dehnte oder kürzte seinen Namen je nach Anlass wie seinen Bestand an Ideen, Maximen oder ethischen Grundsätzen - dieser Max also, noch dazu ein richtiger Psychologe, ließ ihn einmal den Lüscher-Test ausführen, als das Verfahren noch in Mode war. Lange war auch das her, wenn auch nicht ganz so lange wie jener Termin auf dem Kreiswehrersatzamt. Schwarz-rot oder Rot-schwarz sprang also heraus, und dann durfte sich Manfred etwas anhören: Schwarz bedeute in diesem Fall das tiefe Unbefriedigtsein, die starke Frustration, der an ihm fressende Verdruss über die jetzige Situation und Konstellation. Und das Rot sei die Bereitschaft zum Ausbruch, zu aggressiven Lösungen, zur Explosion. Ein erschreckender Befund. Rot war das Blut und schwarz der Tod, und das wollte in eins fließen.

     Der andere war hübsch und noch ziemlich jung, kaum über Mitte zwanzig, dunkelhaarig, ein Gesicht von eirunder Form, im Ausdruck von gewisser stattlicher, autoritativer Gutartigkeit; was alles zutage trat, indem er den Helm abnahm. Es schien Manfred, er werde schon etwas üppig. Wollte einer etwas dagegen sagen – keine Fleischeslust ohne Fleisch. Der Unbekannte reckte den Hals, sein Blick streifte den Bus, die Insassen, den Reisenden nach Würzburg, und dann ging er zügig auf die Tür des Gasthofes zu.

     Nein, nein, es wird nicht Theo sein … Doch, er ist es. Theo.

     (Und Theo denkt oder empfindet, indem er die schwere Tür zu sich heranzieht und durch den Spalt verschwindet: Ein Bus. Steht im Stau. Leute drin. Ein Mann. Mann um die vierzig. Schaut zu mir her. Kennen wir uns? Ah, Oma sitzt drüben. Wird mich nach Ingrid fragen … Weiß schon, dass was Kleines kommt.)

     Die Verwirrung dieser Minute war für Manfred vollkommen. Zugleich fuhr der Bus wieder an und zügig von Neustadt fort. Dann irgendein Dorf, dessen Namen mit –stadt endete. Oder war es –hausen? Ein Umsteigen wie im Traum. Nun über Schienen mühelos. Keine Details ritzten das Bewusstsein, das statisch in der Betrachtung der Fassade des Schwarzen Bären verharrte.

     Diese Verwandtschaft, diese bucklige Verwandtschaft, vernachlässigt, so gut wie vergessen! Und was hieß Verwandtschaft, verwandt war er mit der toten Tante, Papas viel jüngerer Schwester, sie hat sich vor Jahren umgebracht, üble Geschichte, Skandal. Die anderen waren angeheiratet, verschwägert nur – bis auf ihn, den Kleinen da. Der ziemlich groß und stattlich geworden ist. Mit dem bin ich verwandt, blutsverwandt. Er schmeckte das Wort, es schmeckte ein wenig verboten. Und ihn habe ich sogar einmal auf meinen Händen getragen …

     Taufe und Konfirmation … Aufwinds waren evangelisch wie sie selbst. Dass beide Familien der Minderheit hier angehörten, war vielleicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Und vielleicht waren auch sie vor Generationen aus Thüringen zugewandert und spielten geschäftstüchtig die gleiche Rolle wie die Chinesen in Südostasien. Sie rackerten, sie arbeiteten an den vielen katholischen Feiertagen, sie hielten die Türen offen, bedienten die Katholiken, verdienten an ihnen. Es gab also nicht viele, die man zum Paten bitten konnte. So wurde es abgemacht, dass er, Manfred, schon mit fünfzehn, knapp sechzehn erst, einen der Paten des Kleinen abgeben musste. Der andere war – Onkel Georg vielleicht? Und abgemacht war auch, dass er, Manfred, die Rolle nur in der Kirche spielen würde. Fürs Praktische, für die Geschenke sollte die Mama geradestehen. Und so lief es dann all die Jahre.

     In der Kirche hatte das kleine unhandliche Bündel nur kurz auf seinen Händen gelegen. Es fing an zu quieken, dann zu brüllen. Man nahm es ihm fort, es beruhigte sich. Später sah er ihn ab und zu bei Familienfeiern. Er sah ihn dann, wenn er ihn überhaupt ansah, ohne Interesse größer werden. Der Verkehr zwischen ihren Familien war nicht sehr rege. Aufwinds kamen schon damals, bevor er nach Berlin ging, nur ein paar Mal im Jahr hinaus in die Sandgrube. Später hörte der kleine Junge so gut wie auf zu existieren.

     Die Mama schrieb eines Tages in die ferne Großstadt, Theos Konfirmation stehe bevor, er sei auch eingeladen, aber ihr sei schon klar, er werde nicht kommen. Und Manfred schrieb der Mama, er könne auch gar nicht kommen, er fliege doch in die USA, sei am Tag der Konfirmation just in Chicago. Dann kam eine förmliche Einladung, von Theo sauber mit der Hand geschrieben, als ob er nicht wüsste, dass Manfred, den er seit Jahren nicht mehr gesehen, in Chicago sein würde und für die Geschenke die Mama zuständig. Manfred antwortete gar nicht und schrieb nur der Mama, abgesehen von Chicago und der Unzuständigkeit in punkto Geschenke, sei er, Manfred, bekanntlich vor Jahren aus der Kirche ausgetreten; womit die Patenschaft als kirchliches Amt erloschen. Dieser Rechtsauffassung wurde nicht widersprochen.

     Noch einmal Jahre später schrieb ihm die Mama, Theo tue Dienst in Fischbek, mehr nicht. Manfred stellte sich insoweit tot. Frage an sich selbst: Warum? Nun könnte er sich selbst gegenüber Gide zitieren: Proselyten machen ist - wie noch gleich - der Verderbten Glück. Aber sich auf diesem Niveau zu belügen, war vielleicht Maximins Sache, seine nicht. Ach was, nicht einmal Komplikationen in Neustadt fürchtete er, also Getratsche. Neustadt war ihm mehr als gleichgültig, und in diesem Vetter vom Lande sah er einen klobigen, fränkelnden nachpubertären Burschen vor sich, ohne ihn tatsächlich zu sehen. Worüber hätte er mit ihm reden können - und sei es auch nur zehn Minuten lang?

     Manfred Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber findet nun ihre Grenze in eben dieser Frage: Worüber könnte er mit ihm reden? Er stellt sich diese Frage nur in Bezug auf die Fischbeker Vergangenheit. Dabei dürfte sich der geistige Zuschnitt des jungen Mannes seitdem nicht radikal verändert haben. Aber Theo erscheint ihm jetzt in sehr reizvoller Gestalt, und er beginnt sich in vager Form eine nochmalige Begegnung zu aquarellieren.

     Nach dem Tod der Tante - und der Schwager ja schon in der Psychiatrie - hielten seine Eltern fast keinen Kontakt mehr zu Aufwinds. Als aber der Papa im vorletzten Jahr gestorben war, riefen sie öfter aus der Stadt an: Olga und Ingrid, deren Namen seine Mutter nun häufig im Mund führt, besonders den von Ingrid.

     Wie lange hat er Theo also nicht mehr gesehen? – Um die fünfzehn Jahre. – Gibt es auffallende Ähnlichkeiten zwischen ihnen? – Sind, bis auf die dunklen Haare, auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Sein Gesicht ist rund geschnitten, nicht länglich. Auch scheint er keine leptosome Hühnerbrust zu haben. (Welch ein Genuss, zu bewundern, wo man neidisch ist.)

     Vielleicht gab es verborgene oder nur ihm, Manfred, jetzt verborgene Ähnlichkeiten oder, kaum zu hoffen, Übereinstimmungen? Der Intercity kroch schon seit einiger Zeit das Sinntal hinauf, um in einer Kette von Tunnels zu verschwinden. Da war schon Sterbfritz und wieder einmal verschwunden diese ganze kleine fränkische Welt.

 

5. In der Sandgrube

Die Sandgrube stand nicht im Straßenverzeichnis von Neustadt. Sie rangierte dahinter, in einem Anhang, der betitelt war: Wohnplätze und Einrichtungen außerhalb. In dieser Reihe fanden sich: Katzentempel (?), Kläranlage, Lohgerberei (ehem.), und auf die Sandgrube folgten noch Schäferei und Schuttabladeplatz. All das roch ein wenig absonderlich nach den unehrlichen Berufen des Mittelalters. Der Galgenberg fehlte allerdings.

     Dabei war Manfreds Großvater ein angesehener, nämlich wohlhabender Mann gewesen. Er wohnte zeitlebens in einer Villa nahe dem Bahnhof. Im Jahr des speziellen Heils erwarb er die Sandgrube in den Hügeln östlich vom Fluss. Damals, in den Jahren vor dem Krieg (und nach ihm erst recht), vermehrte sich die Zahl der Truppenübungsplätze rundherum fortlaufend, bis ein beträchtlicher Teil des Landes von ihnen bedeckt war. Kasernen wurden benötigt, für ihren Bau Steine, Zement und Sand. Ein sicheres Geschäft, obgleich auf Sand gebaut.

     Die Konzession zum Abbau lief 1960 aus. Manfreds Vater, der ohne Beruf aus Krieg und Gefangenschaft heimgekehrt war, erbat sich vom Großvater das Gelände. Der Alte überließ es ihm per Schenkung und kümmerte sich, selbst jetzt behaglich im Ruhestand lebend, nicht weiter um die Sandgrube (ehem.). Er war wie der Gott Voltaires, dem wir die Existenz verdanken, der uns dann aber uns selbst überlässt.

     Der Vater kaufte einige umliegende Äcker und Wiesen, Hektar für Hektar, von verschiedenen Kleinbauern. Es war die Zeit der Flurbereinigung. Durch die Käufe erwarb der Vater Anspruch auf staatliche Protektion. Bevor die Gelder flossen, erschien ein Vertreter der Behörde im Gelände, besichtigte, stellte Fragen. Manfred war eingeschärft worden: Und wenn er dich fragt, sag ihm nicht, dass du später nicht in die Landwirtschaft willst.

     Das Darlehen, ein immenser zinsloser Kredit auf fünfzig Jahre, wurde im Wesentlichen in ihr neues Heim gesteckt, ein Bungalow genanntes niedriges, lang gestrecktes Gebäude, das halb in einem Wäldchen stand, halb noch auf der untersten der früheren Abbauterrassen. Sie räumten die Villenetage am Bahnhof.

     Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. Manfred verlebte nur die ersten fünf davon in der Sandgrube. Dann kam er durch fünfundzwanzig Jahre zweimal jährlich für wenige Tage zu Besuch. Schritt für Schritt vollzogen sich Umwälzungen, im Gelände wie an den Menschen.

     Wenn er in den späteren Jahren von Hamburg aus zu ihnen fuhr, lagen bei der Ankunft in Neustadt sieben Stunden Bahnfahrt hinter ihm, und ein Fußmarsch von dreißig oder vierzig Minuten stand ihm noch bevor. Gewöhnlich kam er im Winterhalbjahr. Es war dann immer schon dunkel. Das rasche Gehen belebte ihn, er fühlte sich dadurch verjüngt, zumal er zu alten Eltern ging. Ihnen gegenüber fühlte er sich sehr jung. Er ging noch ebenso rasch wie vor zwanzig Jahren. Die Straße führte vom Bahnhof aus der Stadt hinaus und in die Wiesen hinein; sie wurden auf einem Steindamm durchquert. Zu beiden Seiten lag meist nebliger Dunst, der die Sicht erschwerte. Das Wasser des Flusses strömte ungesehen unter der Brücke dahin. Ab und zu überholten ihn Autos. Sie fuhren zu dem Dorf, das drüben lag. Seit seinem Weggang war es in die Breite und Höhe gewachsen. Neue Häuser zogen sich jetzt den Prallhang hinauf, es hieß dort Am Weinberg; sie gehörten jungen Leuten, viel jünger als er selbst jetzt. Sie waren um die Zeit seines Aufbruchs erst geboren worden.

     Die Landstraße bog rechts ab, und sein Weiterweg war ein Waldweg, der sich steil den Hang hinaufzog, hier und da mit Resten von Asphalt bedeckt. Die Kronen der hohen Robinien und Eichen – Wintereichen mit totem Laub – berührten sich über dem Weg. Es gab keine Laternen, der Weg war nicht öffentlich, es war finster. Manfreds Füße kannten den Weg, die Schlaglöcher, die zu Gruben sich erweitert hatten. Er strauchelte nicht und hätte auch mit geschlossenen Augen hinaufgefunden.

     Sein Schwung ließ nach. Es war nicht der Berg, sondern die Frage: Sind sie noch älter geworden? Sie werden immer hinfälliger, und du trittst ihnen entgegen in immer derselben Gestalt. Ein Jüngling mit vierzig, fragwürdige Erscheinung …

     Wenn er die untere Sohle der früheren Grube erreichte, glomm ihm von der Hausecke schwaches elektrisches Licht entgegen, es funzelte verbraucht aus einer verschmutzten alten Röhre. Die großenteils verwilderten Gärten blieben im Dunkel, er sah das vermooste Dach nicht, nicht das Grau der Putzfassade, die einmal weiß gewesen war. Frisch und neu war hier alles im Jahr seiner eigenen Konfirmation gewesen. Die Leuchte war kaum von Nutzen, sie schalteten sie nur ein zum Zeichen, dass er erwartet wurde. Die Kunststeinplatten im zugewucherten Vorgarten standen zum Teil hoch. Er drückte die Klingel. Sie war ebenso alt wie die Außenlampe und klang blechern-dürftig. Alles war hier veraltet, erschöpft und neigte sich seinem Ende zu.

     Sie öffneten ihm rasch und standen beide in der Diele. Ja, sie waren erschreckend alt und sie waren es nicht in seiner Nähe geworden. Sein Bild von ihnen, wie er es sonst im Kopf hatte, war jedes Mal viel jünger als sie selbst. Er musste es nach der Ankunft stets schnell retuschieren. War er wieder fort, verjüngten sie sich dann in seinem Kopf allmählich wieder.

     Verhutzelt, dachte er, verknöchert, verkrümmt, vernachlässigt die Kleidung und die Frisuren.

     Dennoch war seine Sorge auch dieses Mal unbegründet gewesen. Noch zeichnete sich  kein wirkliches Ende, kein endgültiger Zusammenbruch ab. Sie gaben sich ganz unverändert, sie gaben noch immer dasselbe Stück: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes. Es war in zahlreichen Aufführungen allmählich immer mehr perfektioniert worden. Die Mama wünschte ein „Guten Abend, willkommen daheim, Manfred“ und strahlte, wie man es an Greisinnen selten sieht. Unwandelbares Strahlen all die Jahre, wenn er ankam. Und der Papa sagte wie immer: „Guten Abend, Manfred. Schön, dass du wieder da bist. Lass es dir noch einmal ein paar Tage gut gehen.“ Und wie immer empfand Manfred die hierin enthaltene harmlose kleine Unterstellung und nahm sie ohne Widerspruch hin.

     Dann gab es einen spätabendlichen Imbiss für ihn. Ein Paar Würstchen wurde erhitzt, Brot und Sprudel kamen auf den Tisch, ein süßer Nachtisch in Gestalt eines Grießpuddings. Manfred aß und gab Auskunft über den Verlauf der Reise, die die Eltern selbst nie unternommen hatten. Man besprach das Wetter der letzten Wochen. Die anfängliche Munterkeit war schon dahin, das Gespräch versickerte allmählich, bis einer, Manfred oder die Mutter, das erlösende Wort sprach: „Sollen wir schlafen gehen?“

     Der Vater war leidend. Noch deutlicher erwies es sich am folgenden Morgen. Er aß wieder nur Zwieback und lehnte heute sein Frühstücksei ab. Woran litt er seit Jahren schon, war es eine Verdauungsstörung, eine chronische Darmentzündung? In Hamburg schlug Manfred von Zeit zu Zeit in seiner Ausgabe von Pschyrembels Klinischem Wörterbuch nach (253. Auflage) und las dort unter Kolitis ulcerosa:

 

Wie kaum bei einer anderen Krankheit ist die Persönlichkeit des Patienten mit dem entzündlichen Dickdarmgeschehen verbunden.

 

     Es hatte vor etwa zehn Jahren begonnen (das entzündliche Dickdarmgeschehen), ungefähr mit dem Ruhestand, und sich dann von Jahr zu Jahr verschlimmert. Der Vater hielt strenge Diät, er aß nur noch Zwieback, dazu morgens ein Ei, mittags ein winziges Stück Huhn und wenige Kartoffeln. Er trank nur noch Fencheltee und duldete nicht die kleinste Abweichung auf dem Speisezettel. Den größten Teil des Tages verbrachte er auf dem Sofa, ruhend und schweigend.

     Es hätte nahe gelegen, einen Arzt zu nehmen. Aber er ging, seit er krank war, zu keinem mehr und ließ auch keinen ins Haus kommen. Unbehandelt schritt die Auszehrung so immer weiter fort. Einmal hieß es, man könne ihm doch nicht helfen, ein anderes Mal, ein Arzt werde ihn ins Krankenhaus stecken, man werde ihn operieren, und an den Folgen werde er dann krepieren.

     Auch an diesem Morgen lag er auf dem Sofa, das in der Küche stand. Er beteiligte sich nicht am Gespräch, das er dennoch überwachte, misstrauisch oder apathisch, wer konnte es sagen, oft im halben Schlummer. Die Mutter vermied es, über seine Krankheit, über die Zukunft zu sprechen.

     Manfred hielt den Anblick dieser atmenden Totenmaske nicht länger aus und verließ ihr Heim, diesen Vorsaal einer Leichenhalle.

     Die Morgensonne stand schon über dem östlichen Kamm und erwärmte die drei Terrassen der alten Grube. Das Haus lag noch im Schatten des Berges, die Sonne wird es ab Mittag bescheinen. Hier war der Winter die helle Jahreszeit. Der Bungalow stand vom Frühjahr bis in den Herbst im tiefen Blätterschatten des Wäldchens und der Bäume, die vor dem Haus aufgeschossen waren. Ohne Heizung war es im Sommer drinnen oft unangenehm kühl.

     Die ganze untere Ebene hier war einmal als Gartenland genutzt worden. Wie viel Mühe hatte es seinerzeit gekostet, den Boden fruchtbar werden zu lassen. Nur eine kleine Fläche, jetzt kahl daliegend, wurde noch bebaut, ein kleiner Gemüsegarten und eine Ecke für Blumen. Die Lichtung wuchs von ihren Rändern her immer mehr zu. Die Kronen der alten Bäume gingen noch mehr in die Breite. Brombeeren und Himbeeren kolonisierten als Erste die aufgelassenen Gärten, dann kamen Schwarzdorn und Weißdorn, die Haselnuss, Birken und schließlich die hohen Bäume: Weiden, Robinien, Vogelkirschen und Eichen. Noch vor zwanzig Jahren waren hier Felder mit Tausenden von Tulpen, Narzissen und Gladiolen gewesen.

     Den alten Fahrweg hinauf auf die mittlere Terrasse hatten sie auch zuwachsen lassen. Nicht einmal zu Fuß kam man mehr durch. Fremden sollte das Vordringen unmöglich gemacht werden, das war die Absicht des Vaters. Manfred fand noch den kleinen Abkürzungspfad von früher. Er war steil und rutschig. Oben angekommen kam er doch nicht mehr an die ehemaligen Hühnerställe heran. Die sechs flachen Gebäude staken rundum in übermannshohem Dornengebüsch, noch jetzt im Winter hätte man eine Machete benötigt. Die Ställe waren leer, die Türen verschlossen, die Fensterscheiben teilweise zerbrochen. Von weitem sah er, dass drinnen noch der alte Kot in mächtigen Schichten lag.

     Noch einen Pfad weiter hinauf zwischen sehr alten Obstbaumruinen – die Anlage stammte vom Großvater -, dann die obere Terrasse, wo früher Erdbeeren und Kartoffeln gezogen wurden. Auch hier das gleiche Bild: nachwachsender mitteleuropäischer Urwald. Den Hintergrund bildete eine rötliche Felswand, schütter bebuscht und bewaldet. Er kämpfte sich weiter nach oben und kroch zwischen Apfelbäumen bergan, die noch Früchte trugen. Manche der zahlreichen Vögel im Gelände ernährten sich jetzt im Winter von ihnen.

     Endlich stand er oben. Die Wiesen waren sauber gehalten, das Land hier war seit Jahren verpachtet. Die Fernsicht öffnete sich, da war das breite Tal und dahinter die alte Stadt mit der Pfarrkirche auf dem Hügel. Er sah hinunter auf die Terrassen mit ihren Ruinen und ihrem Wildwuchs. Es war ein Bild von Verfall und Fruchtbarkeit, von Ende und Anfang.

     All das war ihm angeboten worden, als es noch in Blüte stand. Es war einige Jahre vor dem väterlichen Ruhestand. Sein Vater führte ihn nicht auf die Höhe, um etwa die Versuchung zu  steigern – sie besprachen es in der Küche. Ob Manfred sein Nachfolger werden wolle? Der Sohn war perplex wie selten einmal und begriff eines: dass die eigene Existenz, dass Berufswahl, Freunde, Leben in der fernen Großstadt, dass all dies einfach nicht zählte gegenüber dem Lebenswerk des Vaters und dessen Willen, dieses Werk gegen den Ablauf der Zeit zu verteidigen. Unglücklicherweise besaß er nur diesen einen Sohn, der früh fortgegangen war, einen lächerlichen Beruf ergriffen hatte (Kunstgeschichte!) und noch immer nicht verheiratet war.

     Manfred lobte die Sandgrube. Er wisse sie zu schätzen, ihre Schönheit, ihre Einmaligkeit. Das Angebot ehre ihn, sei nicht ohne Verlockung. Indessen: Er sei nicht der Rechte dafür. Später schien es ihm, von da an sei es mit dem Vater und der Sandgrube bergab gegangen.

     Allerdings konnte man den Kräfteverfall auch anders erklären. Sein Vater war erschöpft. Er hatte mit vierzig Raubbau getrieben, die eigenen Kräfte überfordert. Er warf sich damals auf immer neue Zweige landwirtschaftlicher Produktion und verzettelte sich auch noch im Gartenbau. Die Rinder, das Weidevieh: Milch und Fleisch. Die Hühner: Eier und Fleisch. Die Feldfrüchte: Kartoffeln und Rüben. Nur den Getreideanbau gab er bald wieder auf. Und erst das Obst: Äpfel, Birnen, Kirschen, Zwetschgen, Mirabellen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren. Dann noch die Schnittblumen: Tulpen, Narzissen, Gladiolen, Astern, Dahlien.

     Die Milch nahm die Genossenschaft ab, die schlachtreifen Kühe der Metzger. Alles Übrige wurde selbst vermarktet. Eier an Hotels und Kurkliniken und Privatkunden. Kartoffeln an Privatkunden. Obst an die Privatkundschaft. Schnittblumen an Blumenläden und wieder an Privatleute. Der Verkauf war zum größeren Teil en détail und nur zum kleineren en gros.

     Die Eltern ackerten und rackerten von halb fünf morgens bis zehn, elf Uhr abends, sieben Tage in der Woche: So ging das fast das ganze Jahr. Sie hatten keine Hilfskräfte, nur an Samstagen und manchmal auch sonntags kamen für Tagelohn italienische Bauarbeiter aus der weiteren Umgebung. Sie hießen Antonio, Renato und Pasquale und übernahmen die schwersten Arbeiten wie den Wegebau. Es waren kräftige junge Männer, im Vergleich zu ihnen wirkte der Vater wie ein Phthisiker.

     Manchmal kamen die Italiener, nicht um zu arbeiten, sondern um Hühner zu kaufen. Sie nahmen sie lebend mit und schlachteten sie zu Hause. Die Mutter fing die gewünschte Zahl in einem der Ställe und stopfte die Tiere in einen langen Papiersack; darin war Futtermehl für das Geflügel geliefert worden. Bei solchen Gelegenheiten brachten sie manchmal Cesare mit, Antonios Sohn oder Neffe. Er war ungefähr so alt wie Manfred. Manfred fand ihn freundlich und hübsch, wenn auch etwas zu gelassen für sein Alter. Er sprach fließend Deutsch und sprach es besser als die Einheimischen. Zum ersten Mal fiel es Manfred auf, dass sein eigenes Hochdeutsch für kundige Ohren einen Neben- oder Unterton aufweisen musste, einen Akzent ohne Zweifel. Da war etwas Erdiges und Klobiges an seiner Sprache. Man konnte reiner und flüssiger sprechen, Cesare bewies es. Manfred bemühte sich, es ihm gleichzutun. Es war schwer vorstellbar, dass Cesare in einigen Jahren auf dem Bau arbeiten würde wie sein Vater und seine Onkel. Und vollends undenkbar war es, dass er dann an den Wochenenden in der Sandgrube schuften würde. Seine Leute daheim fingen schon an, ihren hübschen kleinen Gott zu mästen. Er wurde ein wenig rundlich, wie ein süßer Panettone, von dem der Ansatz zur Fülle unter anderem vielleicht auch herrührte. Er kam nur zwei oder drei Sommer lang.

     Und dann Karlheinz. Die Erinnerung an ihn, den Schulkameraden, hing offenbar mit Cesare zusammen. Maximin würde den Vorfall damals eine Übersprunghandlung nennen. Aber es ging nur um ein Wort. Sie waren auf den Wiesen hinter dem Wäldchen unterwegs. Manfred fand, Karlheinz sei dick, und sagte es ihm. Es war halb Neckerei, halb Bewunderung. Er selbst kam bei allem Futtern nicht aus dem Zustand des Spindeldürren heraus. Die Großmutter hatte gesagt, als Besuch da war: Der? Der wird noch keine zwanzig.    

     Karlheinz fasste es übel auf, fiel ihn an, rang ihn nieder und lag dann auf ihm: Sag, dass ich nicht dick bin! – und drückte sein volles Gewicht gegen Manfred, der kaum Luft bekam zu widerrufen: Nein, du bist nicht dick. Es war eine Art Vergewaltigung, die ihr Ziel im Verbalen, Begrifflichen fand. Wäre ihm nicht der Atem ausgegangen, er würde dieses Eingeständnis gern ein wenig hinausgezögert haben.

     Vor ein paar Jahren nun war er auf dieser Wiese hier oben Rudi begegnet, dem viel jüngeren Bruder von Karlheinz. Sie hatten sich seines Wissens vorher nie gesehen. Wer war der junge Mann mit dem dunklen Blick, der nicht grüßte und stumm und vorwurfsvoll an ihm vorüberging? Seine Miene schien sich dabei auf eine uralte Bekanntschaft zu beziehen. Die Mutter erklärte es Manfred nachher: Das sei der Bruder von Karlheinz, er sei doch jetzt ihr Pächter. Es war nicht angenehm, einem Menschen zu begegnen, der einem etwas an Wissen vorauszuhaben schien. Sein Blick deutete an, schon alles zu kennen, was Vergangenheit und Zukunft ihres Verhältnisses betraf. Manfred wollte ihm heute nicht erneut begegnen und trat den Rückweg an, den gleichen Weg, den er heraufgekommen war.

     Die meisten Hühner wurden geschlachtet verkauft. Das Schlachten besorgte die Mutter, denn Manfreds Vater konnte kein Blut fließen sehen. (Wie konnte er dann am Krieg in Polen und Russland teilnehmen, vom Kriegsausbruch bis zu seiner Gefangennahme anno vierundvierzig? Die Lösung: Sie machten ihn zum Funker.) Und es war tatsächlich ein blutiges Geschäft, wovon Manfred sich überzeugte, wenn er aus seinem Zimmer auf den Vorplatz sah. Da stand die Mutter am Hackklotz und schwang das Beil, trennte zwanzig- bis dreißigmal an einem Vor- oder Nachmittag den Kopf vom Rumpf einer Henne. Blut schoss in starkem rotem Schwall heraus, und der Rumpf hüpfte und wackelte noch eine Zeitlang kopflos, doch flügelschlagend über die Richtstätte. Dieses Flügelschlagen war grausig, unheimlich. Nur unappetitlich und mühselig waren dagegen die nachfolgenden Arbeiten, das Abbrühen, Rupfen und Ausnehmen. Ekelhaft das Gekröse – aber die Hühnerleber, die nicht verkauft wurde, schmeckte frisch gebraten vorzüglich. Zartes, butterweiches, doch leicht körniges Fleisch, ein wenig herb im Aroma.

     Sie hatten beide mehr als genug zu tun, Manfreds Eltern, und wenig Zeit für ihn. Zum Glück gab es die Großeltern, deren einziger Enkel er war, bis Theodor auf die Welt kam; worauf sich allerdings wenig änderte, für die Alten war er kein Gottesgeschenk. Der Großvater war an der Familie ohnehin wenig interessiert. Er las viel, er war fern wie Gott, wie der Gott Voltaires. Die Großmutter dagegen stand früh in Manfreds Bann, nicht umgekehrt, und blieb es bis in ihre letzten, trüben Jahre. Sie hielt ihn zum Lernen an: Lern was, du siehst, wie dein Vater sich quält, lern was, damit du es besser hast. – Sie übte Schönschreiben mit ihm. Im Ganzen bewegte sie sich ihm gegenüber in einem engen Zirkel von Bewundern, Zanken, Bewundern. Das war auf die Dauer lästig. Manfred zog sich daher immer wieder in die Sandgrube zurück, um schon nach kurzem erneut sein Quartier in der Villa am Bahnhof aufzuschlagen. Seine ganze Schulzeit über pendelte er zwischen den beiden Polen, den zwei so verschiedenen Haushalten in einem Takt, den er selbst bestimmte und der die feinsten atmosphärischen Störungen wiederga. Er war in Grenzen frei, und die Frequenz seiner Besuche ähnelte den Linien und Kurven eines Elektrokardiogramms. Herz und Gefühl verursachten oft heftige Ausschläge, beruhigende Bindungen von Dauer ergaben sich nicht.

     In großen Abständen kam dem Vater in den Sinn, Manfred zu ernsthafter Tätigkeit und Mitarbeit im Betrieb anzuhalten. Das waren nur Episoden, die folgenlos blieben. Sie waren jedoch peinlich genug, so lange die Sache andauerte.

     Zum Unangenehmsten gehörte der komplette Umzug eines Hühnervolkes von einem Stall in einen anderen. Ursprünglich war der freie Auslauf der Hühner geplant gewesen und anfangs auch praktiziert worden. Dann jedoch schlugen Habichte, die unter Naturschutz standen, immer häufiger Hennen. Das Geflügel blieb daher ganzjährig im Stall, das hieß nun Bodenhaltung. Aus dunklen Gründen mussten von Zeit zu Zeit die Ställe gewechselt werden. Vielleicht wurden sie dann auch gereinigt. Der Hühnertransport ging so vor sich: Nach Einbruch der Dunkelheit betraten die Eltern mit Manfred den Stall. Die Hennen schliefen schon auf Reihen von hölzernen Stangen über der Kotbank, einer Betonplatte in Kniehöhe. Einer, gewöhnlich Manfred, hatte mit der Taschenlampe zu leuchten. Die Mutter hielt einen leinenen Kartoffelsack auf, und der Vater ergriff nach und nach fünfzehn oder zwanzig schlafende Tiere, um sie in den Sack zu stopfen und ihn zuzubinden, worauf die nächsten zwanzig Säcke auf die gleiche Weise gefüllt wurden. Die Säcke wurden mit dem Unimog zum neuen Stall gefahren und ihr Inhalt dort einfach auf dem Stallboden ausgeleert.

     Peinlich wurde die Sache, wenn der Vater an den Zehen der immer nur im feuchten, verdreckten Stall lebenden Tiere jene steinharten, schwarzen Gebilde entdeckte, die er Kotballen nannte. Sie sollten entfernt werden. Er knackte sie mit einer Zange, während nun die Mutter Tier und Lampe und Manfred den Sack halten musste. Die Prozedur erschreckte die Tiere, sie belebten sich, krächzten, flatterten und hackten mit den Schnäbeln nach den Händen der Menschen. Mit ihnen belebten sich auch die Milben, von denen es bei dieser Art von Haltung auf den Tieren und überhaupt im Stall wimmelte. Sie befielen jetzt die Menschen als neue Wirte, es begann sogleich zu jucken. All das war widerwärtig, ekelhaft und verstörend. Manfred ließ dann schon einmal einen Sack zu Boden gleiten, um die Hände vor einem hackenden Schnabel zu schützen, und ein Teil der Tiere im Sack entfloh. Der Vater war mit Manfred sehr unzufrieden. Es waren dann harte Worte gefallen, an die er sich jetzt nicht erinnern wollte.

     Er war auf der untersten Terrasse angelangt und näherte sich dem Haus. Es lag, nun besonnt, sehr schön da im fahlen Winterwald, sozusagen höchst romantisch. Dieser Charakter des Ortes hatte sich ihm erst spät enthüllt. Dabei war er von jeher für Reize der Natur empfänglich, schon als Kind. Damals besaß er ein Buch mit Reproduktionen berühmter Bilder. Es hieß: Hundert Meisterwerke der Malerei. Besonders liebte er eine Landschaft von Wolf Huber, ein Musterbeispiel der Donauschule. Die betreffende Stelle im Buch schlug er immer wieder auf und versenkte sich in die Ansicht, die sich nicht so sehr vom bewaldeten Steilhang hinter ihrem Haus unterschied. Aber er verglich damals nicht. Überall sonst musste es besser, schöner, herrlicher sein als daheim.

     Es gab auch einen Führer durch den Louvre. Bei welcher Gelegenheit war er wohl in den Besitz des Großvaters gelangt? Es war nur ein Taschenbuch mit dürftigen Abbildungen, unter denen die Wiedergabe eines Werkes von Charles Le Brun Manfred am stärksten anzog. Dargestellt war der Kanzler Séguier. Der junge Sonnenkönig, dem der Kanzler damals zur Seite stand, konnte nicht mehr Glanz verbreitet und Pracht entfaltet haben als dieser Staatsmann in den besten Jahren, ein nicht unschöner Mann mit schwarzem Hut und schwarzem Haar (oder war es eine Perücke?), ein Mann von würdigem und doch irgendwie tückischem Gebaren. Dieser Prachtmensch oder –kerl saß, angetan mit goldbrokatnem Mantel, auf einem Schimmel, über den eine rote Riesenprunkdecke gebreitet war. Pagen beschirmten den Kanzler von rechts und von links, sie waren im Überfluss vorhanden: Sieben oder acht von ihnen umtänzelten das Pferd. Es gab nicht allzu viel für sie zu tun: das Zaumzeug halten, die beiden schwarzen Schirme mit den goldbrokatnen Fransen gegen das dunkle Gewölk des Himmels halten … Sie hielten sich bereit, Befehle jeder Art entgegenzunehmen, und boten bis dahin dem Kanzler, ihrem Herrn, einen erfreulichen Anblick, goldlockig, kurz berockt und eng bestrumpft, wie sie nun einmal waren.

     Demgegenüber fiel das eigene Familienleben natürlich stark ab. Ohnehin verbrachte man wenig Mußezeit miteinander, zumindest im Elternhaus war es so. Immerhin, einige Male spielte der Vater mit ihm Schach. Manfred war mit acht oder neun zu jung und viel zu ungeduldig und verlor das Spiel jeweils schnell. Sie tranken einmal bei dieser Gelegenheit Glühwein. Manfred, erbost nach verlorener Partie und beschwipst, schüttete in einem sonderbaren Anfall dem Vater den Rest des heißen roten Getränkes in den Hemdausschnitt, woraufhin nie mehr Schach gespielt wurde.

     Das Mittagessen verlief an diesem Tag ebenso bedrückend wie das Frühstück. Der Vater, schweigend und verstimmt, aß fast nichts von seinem Einerlei. Manfred bekam die außerplanmäßigen Produkte der mütterlichen Kochkunst serviert. Daran hatte sie den ganzen Vormittag gearbeitet. Er hätte sich währenddessen nicht mit ihr unterhalten können, denn sie musste sich auf diese schwierig gewordene Arbeit konzentrieren. Nun war sie erschöpft und gleichwohl aufgekratzt und fragte mit künstlicher Munterkeit: „Kann man es essen?“

     Bei ihrem Gespräch stellte sich heraus, dass die Eltern, wenn sie nicht mit dem Golf zum Einkaufen in die Stadt fuhren, die unterste Terrasse nicht mehr verließen. Sie hatten seit Jahren die Wiesen über der Sandgrube nicht mehr gesehen, sie waren nie mehr zu Fuß auf dem  eigenen Grund unterwegs.

     Manfred half wie üblich beim Abwasch. Der Vater lag auf dem Küchensofa und schlief jetzt ohne Zweifel fest. Diese Gelegenheit nutzte die Mutter und beklagte sich flüsternd: Jeder sehe doch, wie es um ihn stehe. Er bringe sich selbst um. Und was solle dann aus ihr werden? Sie könne nicht allein leben. Und alles sei jetzt schon so schwer. Er lasse keine Reparaturen am Haus mehr zu, er dulde keine fremden Leute, keine Handwerker, und ihr seien die Hände gebunden. Wohin solle das noch führen? Natürlich könnten sie hier in der Einöde nicht bleiben, doch wenn sie davon nur anfange, drohe er mit dem Altersheim, und das sei nichts für sie.

     So sprach die Stimme der Vernunft. Er wollte ihr nicht flüsternd Recht geben und schwieg. Dann sah er auf den Schlafenden. Der Anblick, wie da Geist und Fleisch verfielen, berührte ihn tief, aber es war kein Mitleid, eher Abscheu. Manfred ging in sich: Kam der Widerwille vielleicht daher, dass er selbst Fleisch von diesem Fleisch war? Dafür sprach das unheimlich Anmutende, das Unheimliche war ja das Vertraute, das nun Schrecken erregte. Biologisch verbunden sein (und sei’s auch nur durch einen Akt in der Vergangenheit) und nicht eingreifen können, den Verfall nicht aufhalten können: Das war Grauen erregend, nicht weniger als jene kopflosen, mit den Flügeln schlagenden Hennen, aus denen das rote Blut spritzte. Und er hatte ihm warmen roten Wein über die Brust gegossen …

     Er war ohne Mitleid und war ihm doch innerlich näher als früher. Er war kein Gymnasiast mehr und konnte den Familienroman der Neurotiker nicht einfach wie damals weiterspinnen und sich andere passendere Eltern erfinden. Auch die Vaterschaft war gewiss, die mentale Verwandtschaft war zu groß für den geringsten Zweifel. In der Bockigkeit des Alten fand er sie wieder. Still sein, geschehen lassen, sich verweigern in einer Zeit rasenden Fortschritts, in der alles forderte: Sei flexibel! Sei spontan! Lerne lebenslang! Für solche Töne (und für viele andere) hatte er früher, in seinen besseren Jahren, nur ein skeptisch-ironisches Lächeln übrig gehabt. In der Erinnerung daran entdeckte Manfred ein Stück von sich selbst. Es war Proust, der bemerkt hatte, von einem gewissen Alter an fänden wir alle unsere Vorfahren in uns selbst wieder. Das war richtig, und ging er sich auf den Grund, so fand Manfred dort mehr vom Vater als von der Mutter.

     Sie verbrachten den Nachmittag im Wohnzimmer, der Vater auf dem dortigen Sofa ruhend, Manfred und die Mutter in den Sesseln gegenüber. Die Vernunft erhob ihre dünne Stimme: Es müsse etwas geschehen, sagte die Mutter in elegischem Ton. Manfred fiel kräftig ein, er hatte sich nun doch zum Intervenieren entschlossen. Sie hackten beide auf ihm herum, klagte der Vater. Alles gehe doch ruhig seinen Gang, und den störten sie jetzt, statt zufrieden zu sein.

     Manfred malte ihm dieses und jenes aus: Schlaganfall, Oberschenkelhalsbruch, die Mutter als Pflegerin ausgefallen, kein Auto mehr da, Hilflosigkeit höchsten Grades – was dann?

     Dann werde alles wie üblich und wie vorgesehen geregelt. Er sei auch mit der bescheidensten Ecke in einem Heim zufrieden. Er könne sich fügen.

     Sie lachte: er, der Schwierige, Unverträgliche, mit seinen Marotten. Unerträglich für Fremde sei schon sein dauerndes, heftiges Aufstoßen.

     Er belebte sich auffallend, richtete sich auf, saß dann mit aufgestützten Ellenbogen auf dem Sofa, argumentierte, wirkte mit einemmal zehn Jahre jünger.

     Manfred rechnete ihm vor, dass das Vermögen ansehnlich sei und Zinsen und Rente für den laufenden Verbrauch ausreichten, theoretisch. Und für besondere Bedürfnisse könne man natürlich auch das Kapital angreifen. Nur sei ihr Vermögen unproduktiv angelegt, es verschlinge mehr, als es erbringe. Alles müsse verkauft und neu angelegt werden. Und sie bräuchten eine Wohnung fürs Alter, oder ein kleines Haus, nahe an den Geschäften, nicht weit zum Arzt, zur Apotheke. Zwei Jahre müsse man veranschlagen, wenn man die Sachen ändern wolle. Es sei keine Zeit mehr zu verlieren.

     Sie redeten zu dritt miteinander, zwei Stunden lang. Die Situation war ungewohnt. Jahrzehnte waren vergangen, ohne dass sie sich ausgesprochen hätten. Da gab der Vater nach. Er werde bei der Stadt anfragen, ob die Kommune Interesse an der Sandgrube habe. Er könne auch der Bank anbieten, den Verkauf zu vermitteln. Er wolle sich mit der Mutter die Eigentumswohnungen drinnen in der Stadt ansehen. Er werde … er könne … er wolle …

     Sie genossen alle drei das Gefühl, etwas Entscheidendes sei geschehen.

     Manfreds Abreise, sein Aufbruch vom Elternhaus zwei Tage später, verlief zeremoniös wie immer.

     Selbstredend blieb danach alles beim Alten. Die Mutter schrieb Manfred einige Wochen später einen Brief und teilte ihm kurz mit, sie sei sich mit dem Vater einig, in der Sandgrube zu bleiben. Damit sei auch der Plan mit dem Altenheim vom Tisch. Manfred fühlte sich genarrt, doch kam er bald darüber hinweg. Der Vater schrieb ihm nie.

     Die Erdbeerzeit war die einzige im Jahr, in der der Vater noch Obst aß. Sie besaßen davon einige Beete neben dem Haus. Immer schon hatte er es abgelehnt, gekauftes Obst zu essen. Südfrüchte waren verpönt gewesen. Mochte früher die Großmutter Bananen und Apfelsinen für Manfred besorgt haben, er hatte sich nur an die eigenen Produkte gehalten. Da Äpfel und Birnen sich zuletzt als unbekömmlich herausgestellt hatten, blieben ihm nur noch die Erdbeeren. Die Mutter sorgte dafür, dass er während der kurzen Saison täglich eine große Portion verspeiste.

     In jenem Jahr schmeckten sie ihm womöglich noch besser als früher. Sie schlug nach der eigenen Ernte vor, Erdbeeren im Supermarkt zu holen. Er war einverstanden, es wäre früher undenkbar gewesen. Nach den Erdbeeren wollte er weiter Obst essen, sie kaufte Aprikosen, Nektarinen, Pfirsiche und was der Markt sonst bot. Er entwickelte eine wahre Gier nach süßen Früchten. Dabei klagte er immer, sie seien säuerlich. Er streute Zucker sogar über die Aprikosen.

     Diese Obstkur endete im Spätsommer mit anhaltenden Durchfällen. Er magerte noch mehr ab und verfiel zusehends. An einem Mittwoch im September stürzte er mittags in der Küche zu Boden und prellte sich dabei den Kopf. Vielleicht war es ein leichter Schlaganfall. Sie schaffte ihn ins Bett und ließ endlich einen Arzt kommen. Ohne Widerstand zu leisten, ließ er sich ins Krankenhaus bringen. Die Sprache, die Sinne, der Verstand, alles funktionierte noch leidlich. Der einweisende Arzt sagte, sie müssten den Ausgezehrten dort erst wieder aufpäppeln.

     In der ersten Nacht auf der Station stand er auf – niemand erfuhr, warum – und stürzte mit dem Kopf gegen das Metallgitter des Bettes. Man fand ihn mit schwerem Schädelhirntrauma. Sie verlegten ihn sofort auf die Intensivstation, wo er drei Tage und vier Nächte bewusstlos dem Tod entgegentrieb. Am Sonntagmorgen erlosch der Rest seiner Existenz.

     Als Manfred nach einem Monat in der Schweiz nach Hamburg zurückkam, fand er den Brief seiner Mutter, die Nachricht vom Tod des Vaters. Die Leiche war schon eingeäschert, aber die Urne noch nicht beigesetzt, wie er erst später erfahren sollte. Es verhielt sich damit folgendermaßen:

     Die Eltern waren vor Jahren auf dem Rathaus gewesen, sie hatten sich für ein anonymes Grab entschieden und dies amtlich registrieren lassen. Du hast dann nicht die Arbeit mit dem Grab, sagten sie ihm. Und: Einen Gärtner? Das würde dich auch noch mal Geld kosten. Es war beider Wille, und er akzeptierte es.

     Erst nach Monaten sah er den Verlauf und den Stand der Sache klar vor sich: Die Urne war entgegen seiner Annahme bei seiner Rückkehr noch nicht beigesetzt; Einäscherung und Bestattung waren ohne jede Feier erfolgt; seine Mutter war beidem fern geblieben; wo genau das anonyme Gräberfeld auf dem Friedhof war, wusste sie nicht; sie hatte den Friedhof nach dem Tod noch nicht betreten.

     Zunächst zeigte sie ihm die Rechnung des Bestatters, mit der angeblich etwas nicht stimmte. Daraus ergab sich auch das Datum der Beisetzung: Ende Oktober. Monate später hieß es am Telefon, Ingrid habe ihr angeboten, sie einmal zum Friedhof zu fahren. Sie habe sie allein fahren und dort, am Rand der Rasenfläche, ihre Kerze anzünden lassen. Sie selbst brauche nicht zum Friedhof zu fahren, um dem Toten nahe zu sein. Nur Olga sei immer noch verstimmt, wie sie von Ingrid wisse: Wie habe man ihn bloß so elend verscharren können. Verscharrt!

 

 

6. Die Witwe und der Pächter

Trauerhaus

 

  Er war auf alles gefasst, Schmerz, Verzweiflung, Hilf- und Ratlosigkeit und Tränen sowieso. Sechs Wochen war der Vater tot. Der Brief mit der Todesnachricht wies düster-elegische Stellen auf, wie zum Beispiel: … und als ich vom Krankenhaus heimging, läuteten die Kirchenglocken in der Nähe. Für mich läuteten sie das Ende eines fünfzigjährigen gemeinsamen Lebensweges ein. Das war stark empfunden, dennoch sentimental und verlogen. Erstens waren es katholische Glocken, die zur Messe riefen, zweitens war die Mama kein bisschen religiös, und drittens hatten schon zu Beginn ihrer Ehe keine Glocken geläutet; es war eine zivile Kriegstrauung gewesen. Das konnte alles andere als heiter werden.

    Manfred schob die Reise zur Mutter so lange auf wie gerade noch möglich. Er selbst trauerte überhaupt nicht. Zwar hätte man weinen können über so viele verlorene Jahre, so viel Vergeblichkeit eines ganzen Lebens, aber eben nicht erst heute. Jetzt war einem doch eher nach Aufatmen zumute. Aus, vorbei, vielleicht kommen noch bessere Zeiten. Seinetwegen hätte er in Frieden uralt werden können.

     Er kam bei Tag in der Sandgrube an und sah die Mutter, als er um die Hausecke bog, drinnen in der Küche hantieren. Sie wirkte auf ihn wie immer. Dieser erste Eindruck bestätigte sich, als sie ihm die Haustür öffnete. Das sonst übliche Strahlen erschien zwar abgeschwächt, doch im Übrigen war sie nüchtern, gefasst und verhielt sich durchaus zweckmäßig in allem. Von Regungen eines trauernden Gemütes kaum eine Spur.

     Das Bild des Toten stand eingerahmt hinter Glas auf ihrem niedrigen Wohnzimmerschrank aus den fünfziger Jahren. Es war das Bild eines jungen Mannes, es stand schon Jahrzehnte an diesem Platz, neben der Keramikbowle mit den Rheinburgen auf bauchigem Rund. Wenn sie zum Schreibtisch ging, wo die vielen Papiere lagen, die sie noch ordnen musste, sah sie hinauf und sprach ihn an: Das habe ich nun davon! – Sie haderte im Ernst mit dem Toten.

 

 

Alles verkaufen

 

Was ihre Zukunft betraf, fand Manfred die Mutter entschlossener als erwartet. Alles müsse verkauft werden, sagte sie, alle Grundstücke und Gebäude. Hier im Wald könne sie nicht allein bleiben, zumal ohne Auto jetzt. Auch seien die laufenden Kosten zu hoch, die Steuern, Versicherungen und das Heizen. Sie könne nur mit einer kleinen Witwenrente rechnen. Der Bescheid darüber stand noch aus.

     Für sich denke sie an eine Eigentumswohnung mit drei Zimmern im Zentrum von Neustadt. Falls dort nichts zu haben sei, würde sie auch benachbarte Städte in Betracht ziehen. Verkauft werden solle auch das von den Großeltern Ererbte, die vermietete Villa mit dem anhängenden Baugrundstück. Die Betreuung sei ihr auf Dauer zu mühsam.

     Er war erleichtert und stimmte allem zu. Zwar war die Mutter Alleinerbin, doch als Pflichtteilsberechtigter durfte er mitreden. Nur über den zeitlichen Ablauf kam es zu Differenzen. Er schlug ihr vor, als Erstes das Baugrundstück zu verkaufen – es war wertvoll, da in zentraler Lage für Geschosswohnungsbau geeignet – und vom Erlös eine Wohnung zu erwerben. Parallel zur Wohnungssuche könne sie dann die Sandgrube anbieten.

     Sie wandte ein, Villa und Baugrund seien im Grundbuch bisher nicht getrennt, sie wolle sie nur zusammen verkaufen, jedoch erst nach der Sandgrube. Sie wollte also mit dem schwierigsten Objekt beginnen. Sonst würde sie riskieren, sagte sie, mit neuer Wohnung, aber ohne Käufer für das jetzige Haus dazustehen. Dagegen war wenig zu sagen, immerhin hätte sie im Notfall die Sandgrube auch vermieten können.

     Sie begann bereits, das Haus von allerlei Plunder zu befreien, damit der Umzug umso leichter falle. Rudi, der Pächter, half ihr, Keller und Speicher zu entrümpeln. Er fuhr neuerdings auch einmal wöchentlich mit ihr zum Supermarkt.

     Sie war dabei, den Schreibtisch aufzuräumen. Unter anderem hätten sich da Kontoauszüge aus vielen Jahren angesammelt. Und da sie schon die Berge von Altpapier in der Wohnung beseitige, gebe sie jetzt auch die Bündel mit Manfreds Briefen aus fünfundzwanzig Jahren fort. Diese Aktion war offenbar schon angelaufen. Hier erst stutzte er. War das ihre Art von Trauerarbeit? Jedenfalls besorgte sie sie gründlich.

     Umso überraschter war er, als sie ihn gleich nach seiner Ankunft in Hamburg anrief. Er war noch keine halbe Stunde daheim und erfuhr nun, dass alles Besprochene nicht gelten solle. Sie fühle sich restlos überfordert. Mit Maklern zu tun haben, fremde Leute herumführen, Verträge abschließen, Erlöse neu anlegen, das war ihr nun plötzlich entschieden zu viel. Sie sei krank, erschöpft, zitterig. Es bleibe ihr nichts anderes übrig, als alles beim Alten zu belassen.

     Manfred antwortete ein wenig gereizt. Da hätten sie nun Stunde um Stunde alles durchgesprochen, sogar darüber, welche Möbel sie behalten wolle – und nun  plötzlich! Dabei habe sich zwischen seiner Abreise und der Ankunft in Hamburg rein gar nichts verändert. Sie wisse doch selbst, dass sie vieles verändern müsse.

     Allerdings müsse es nicht so schnell nach dem Tod des Vaters geschehen. Niemand erwarte von ihr, dass sie sofort handele. Sie solle sich noch vier oder sechs Wochen Ruhe gönnen und dann, wenn es ihr besser gehe, den ersten Schritt tun. Und dann weiter Schritt für Schritt, wie sie es selbst für richtig halte. Sie habe ja die rechte Einsicht.

     Sie beruhigte sich, und die Sache war erst einmal vertagt. Manfred sah in einem Punkt klar: Ihm war ein Rollenwechsel zugemutet worden, vom zustimmenden Zuhörer zum antreibenden Vertragspartner.

 

 

Erzähler mit Bart

 

Die Dinge kamen doch in Fluss. Die Mutter brach mit jahrzehntelangen Gewohnheiten. Neues wurde angeschafft, erstmals auch ein Fernsehgerät. Das war ein Jahr nach dem Tod des Vaters. Vorher versuchte sie es mit Lektüre und bat Manfred bei einem seiner nun häufigeren Besuche, ihr ein geeignetes Buch zu besorgen. Die Bestände im Haus waren ausgelesen. Nach Liebesromanen stehe ihr der Sinn. Manfred errötete innerlich und fragte nach Autoren, die sie schon kannte und die ihr gefallen hatten. Da waren aus dem großelterlichen Haushalt Werke von Ganghofer und Anzengruber.

     Er fuhr am Tag danach ohnehin nach Würzburg, um eine Ausstellung zu besuchen. Von Ganghofer, von Anzengruber mussten sich leicht weitere Bücher finden lassen. Doch die Buchhandlungen, die er kannte, enttäuschten ihn. Beide Autoren waren offenbar längst aus der Mode, nichts von ihnen vorrätig. Zum Bestellen und späteren Abholen fehlte ihm die Zeit. Da entdeckte er im Modernen Antiquariat für fünf Mark einen dicken Band mit Erzählungen von Turgenjew. Das war, dachte er, kein schlechter Ersatz.

     „O nein, ein Russe“, entfuhr es der Mama, „das soll ich lesen?! Und wie der schon aussieht: mit Bart! Das ist nichts für mich. Ich wollte doch einen Liebesroman. Aber die fünf Mark bekommst du trotzdem.“ – Vielleicht hatte ja auch Anzengruber einen Vollbart getragen, doch tat er es nicht auf dem Einband ihres Buches von ihm. Bei seinen späteren Besuchen waren die ungelesenen Erzählungen zwischen die billigen Unterhaltungsromane eingereiht, und der Rücken mit den schwarzen Großbuchstaben TURGENJEW von unten nach oben starrte ihn jedes Mal aufdringlich-vorwurfsvoll an, wenn er im Sessel saß und sein Blick auf jenes Monstrum aus den siebziger Jahren fiel, die Schrankwand aus Palisander.

     Bei einem Telefonat bekam er es noch einmal unter die Nase gerieben. Ingrid habe ein Buch für sie besorgt: Komm zurück, Frühling von damals, von Britta Heim-Knaller. Ein wunderbares Buch, und es war Ingrid von der Buchhändlerin in Neustadt als besonders geeignet für Witwen ab siebzig empfohlen worden. Ja, so machte man das.

 

 

Das Phantom Ingrid

 

Welche Vorstellung sollte er sich von Ingrid machen? War sie ein Engel voller Demut oder eine allzu berechnende Person? In den fernmündlichen Berichten seiner Mutter durchlief sie eine gewisse Karriere. Olga brachte sie einige Wochen nach dem Tod des Vaters ins Haus. Damals waren sie und Theo, der offenbar nicht mitkam, noch verlobt. Zur Hochzeit ging die Mutter nicht. Sie schützte Trauerzeit vor und nannte Manfred den wahren Grund: Das Geldgeschenk brauchte so nicht ganz so üppig auszufallen.

     Nach der Hochzeit kam Ingrid etwa vierzehntägig zu ihr, jetzt meist ohne Olga. Sie plauderte mit der Mutter oder hörte nur zu und übernahm kleine Aufträge. Anfänglich lobte die Mutter sie über jedes Mass. Im Lauf der Zeit nahmen die kritischen Äußerungen zu, sie richteten sich indessen eher gegen Ingrids Umgebung. Ingrid beging den Fehler, sie zum Kaffee- trinken in den Schwarzen Bären einzuladen. Die Oma Aufwind war eine grobe und schwerhörige Alte – wie hatte die Mutter schreien müssen, um sich ihr verständlich zu machen. Überdies gab es nicht einmal selbstgebackenen Kuchen, nur Ware vom Konditor. Diese war nach ihren Begriffen stets minderwertig.

     Ingrid vermied es, sie zu sich einzuladen. Es war Rudis spontaner Einfall, mit der Mutter eines Nachmittags unangemeldet bei Theo und Ingrid vorzufahren. Niemand öffnete auf ihr Läuten hin. Vom Nachbarn, der im Garten arbeitete, erfuhren sie, dass Aufwinds zu Hause sein müssten. Er versprach, ihnen später Bescheid zu sagen. Ingrid meldete sich bald am Telefon: Wie leid es ihr tue, sie habe sich nach der Arbeit kurz hingelegt und auf das Klingeln hin auf der Straße nur einen ihr unbekannten Geländewagen stehen sehen. Zu dumm, dass sie an einen Irrtum geglaubt und nicht geöffnet habe. Als Theo von der Sache gehört habe, da habe er sich halb tot gelacht …

     Ingrid kam weiter regelmäßig zur Mutter ins Haus. Den zunehmend ungnädigen Auslassungen seiner Mutter entnahm Manfred jedoch, dass ihr Kurswert stark gefallen war. Rudis Stern strahlte jetzt immer heller, und dann war da noch eine Schulfreundin seiner Mutter. Sie hatten nach Jahrzehnten die eingemottete Freundschaft reaktiviert und besuchten sich sehr häufig.

     Er konnte sich kein wirkliches Bild von Ingrid machen. Er hatte sie noch nie gesehen und war allein auf die in der Tendenz schwankenden Berichte seiner Mutter angewiesen.

 

 

Alles verschenken

 

Er fuhr jetzt viel häufiger nach Neustadt, einmal im Vierteljahr kam er für ein paar Tage. Dass er nicht einen ganzen oder halben Urlaub bei ihr in der Sandgrube verbringen wollte, kränkte die Mutter. Sie wollte um jeden Tag seiner Besuche feilschen, und dies wiederum verdross ihn, er wollte insoweit keine Geschäfte mit ihr machen: seine Lebenszeit gegen ihre Liebe beziehungsweise ihr Geld. Er verstand es so: Er kam aus einem Rest an Verantwortungsgefühl heraus und um seine Interessen zu wahren. Er wollte die Sachen voranbringen, wenn sie dazu bereit war. Ihr aber lag vor allem am Bewirten und Miteinanderreden, ohne dass sie sich verpflichtet gefühlt hätte, der Abrede auch Taten folgen zu lassen. Ihre Interessen deckten sich nicht.

     Kaum war er ein oder zwei Tage da, begann sie ihm vorzurechnen: Die Hälfte seines Besuches sei schon wieder herum.

     Sie geriet im ersten Jahr ihrer Witwenschaft ab und zu in eine wahre Versagenshaltung. Dies mochte vielen Witwen zu Anfang so gehen, die Umgebung musste es ertragen, wenn möglich mit Gleichmut. Dass sie jedoch die eigene Depression zum Versuch einer Erpressung benutzte, nahm er nur mit Ingrimm hin. Er bekam von ihr eine Reihe von Briefen, in denen sie drohte: Am besten, ich verschenke alles … Gebt mir bloß ein kleines Zimmerchen in einem Altenheim, was brauche ich denn mehr … Hier bezog sie sich auf einen Plan des Verstorbenen, der vielleicht ebenso wenig ernst gemeint gewesen war und den sie stets bekämpft hatte: das Vermögen ganz oder zum größten Teil einer Stiftung oder Körperschaft zu übertragen und im Gegenzug dafür Unterkunft und Betreuung bis zum Lebensende zu erhalten. Er kannte ihre materiellen Verhältnisse schon zu gut und wusste, dass dies ein aberwitzig schlechtes Geschäft für sie sein würde, und sie besaß noch genügend Geisteskraft, um es selbst zu erkennen. Vielleicht ging es ihr nur darum, den Sohn zu demütigen, indem sie für eine Weile vorgab, seine Interessen zählten überhaupt nicht mehr.

     Auf diese Stellen in ihren Briefen ging er niemals ein. Sie sollte ihn aber nicht noch mehr reizen: Noch konnte er sein Pflichtteil geltend machen. Manfred war nicht darauf aus, möglichst bald oder später möglichst viel zu erben. Jedoch ist Erben nicht bloß eine materielle Frage, es wird oft, in bestimmten Familien, auch zu einer Frage des Stolzes, der Selbstachtung.

 

 

Die Bank um die Ecke

 

Einen Makler in Würzburg, wie ihr von Manfred vorgeschlagen, wollte die Mutter nicht mit der Vermittlung beauftragen; da fürchte sie, betrogen zu werden. Erfahrungen solcher Art hatte sie zwar noch nie gemacht, jedoch lauerten Geldgier und Übervorteilung ohne Zweifel hinter dem Horizont. Aus dem gleichen Grund wollte sie auch keine Anzeige in der Süddeutschen oder Frankfurter Allgemeinen aufgeben. Es hätten sich Interessenten von weit her melden können, denen sie von vornherein misstraute.

     Manfreds Missvergnügen wuchs. Das Finanzamt hatte die Sandgrube im Wert hoch veranschlagt, als es um die Erbschaftsteuer ging. Aber gab es in und um Neustadt genug zahlungskräftige Interessenten dafür? Heutzutage war sie doch ein Objekt nur für Liebhaber, unvergleichlich schön gelegen und dabei vollkommen unökonomisch. Man konnte nicht mehr so wirtschaften wie der Vater vor dreißig Jahren. Manfreds Idee war, potentielle Käufer unter den Wohlhabenden der benachbarten Großstädte zu suchen. Am Ende musste er damit zufrieden sein, dass die Mama überhaupt den ersten Schritt tat und die Sache ihrer kleinen Bank in Neustadt übergab.

     Beim ersten Besuch des Bankmannes sollte Manfred dabei sein, so war es abgesprochen. Er kam dann aber an einem Montag im Januar – am Sonntag war Manfred nach Hamburg zurückgefahren. Die Mutter hielt ihn telefonisch auf dem Laufenden. Bei dieser kleinen Bank war es üblich, Vermittlungsprovision vom Käufer wie vom Verkäufer zu nehmen Der Vermittlungsvertrag lief über neun Monate, und die von der Bank festgesetzte Preisforderung lag sehr weit unter dem Verkehrswert. Wie konnte sie einen solchen Vermittlungsvertrag unterschreiben!

     Drei Monate verstrichen, bis die erste Anzeige im Lokalblatt erschien. In dieser Zeit beließ man es bei einem Aushang im Schaufenster der Bank. Der Mann von der Bank verblüffte die Mama mit treuherzigen Bekenntnissen, wie zum Beispiel: „So ein großes Objekt haben wir noch nie gehabt.“ Oder er äußerte offen Zweifel an der eigenen Berufswahl: „Ach, man hätte in der Schule mehr lernen sollen, dann müsste man sich jetzt nicht mit diesem Quark abgeben.“ Ob nach der ersten noch weitere Anzeigen erschienen, konnte Manfred nicht herausbekommen. Die Mutter wusste es nicht und fragte auch nicht danach. Der Quark kam nicht voran.

 

 

Die Interessenten

 

Dabei mangelte es nicht an Kaufinteressenten. Sie kamen sogar von Schweinfurt herauf. Aber keiner von ihnen bot auch nur zwei Drittel des geforderten Preises. Die Zeiten waren übel, dem Mittelstand ging es schlecht. Einige hatten ersichtlich gar kein Vermögen, andere waren am Erwerb auf Rentenbasis interessiert, wieder andere boten ihre bisherigen Häuser zum Kauf an: die Sandgrube gegen ein Miethaus in Schweinfurt, Baujahr 1897, voll vermietet, aber nicht saniert. Einige wollten kaufen, suchten aber noch Teilhaber, andere boten wieder Häuser zum Tausch an, in denen Tanten mit Wohnrecht wohnten, die dort, um Gotteswillen, auch bleiben sollten. Durfte man Reitställe errichten, Brunnen bohren, den Wald abholzen?

     Einer kam vom benachbarten Ökohof. Dahinter stand eine Stiftung der öffentlichen Hand. Er bot ein Fünftel, auch ein Rekord, mehr gab sein Etat nicht her. Bevor er ging, wies er über alle drei Terrassen: Das müsse unter Naturschutz gestellt werden, er werde es der Bezirksregierung melden. Die Mutter geriet in Panik. Manfred riet ihr, sofort alle früheren Gärten und Wege abräumen und abholzen zu lassen. Aber da Panik bei ihr nur zu Sichtotstellen führte, warteten sie einstweilen auf die Bezirksregierung oder neue Interessenten

     Nach sieben Monaten waren die Dinge dahin gekommen, dass die Mutter ihm sagte, sie wolle jetzt gar nicht mehr verkaufen. Wenn noch ein Interessent komme, werde sie ihn abweisen. Sie sei eher bereit, der Bank Entschädigung zu leisten. Sie hatte schon früher Kaufwillige abgewiesen. Einer war schon vor den Zeiten der Bank gekommen, hatte eine Reitschule zur Therapie behinderter Kinder einrichten wollen und war nicht einmal empfangen worden.

     Nach Ablauf des Vertrages mit der Bank rief ein Neustädter Makler an: Ob er die Vermittlung übernehmen dürfe, er habe schon einen Interessenten an der Hand … Die Mutter kaufte stattdessen einen Fernseher und neue Polstermöbel. Rudi installierte die Satellitenschüssel.

 

 

Schnelle Reaktion

 

Für das Frühjahr nach dem Tod des Vaters plante er mit Max eine Kunstreise durch Franken. Max schien sich neuerdings für sakrale Kunst, für sakrale Architektur zu interessieren, oder er interessierte sich tatsächlich dafür. Es standen Max zehn Tage im Mai zur Verfügung, er wollte mit der Ente von seiner kleinen Stadt bei Frankfurt herüberkommen. Als Standquartier fassten sie Haßfurt ins Auge. Von da wollten sie Ebrach, Maria Limbach, den Bamberger Dom ansteuern, und vielleicht auch Maria Bildhausen (das sie dann aber ausließen und durch Tückelhausen ersetzten). In Haßfurt selbst nahmen sie sich die Ritterkapelle vor und das frühere Kloster in den Wiesen, das jetzt eine Domäne war. Steuern, das heißt fahren, würde Max. Manfred besaß nicht einmal einen Führerschein. Von ihm wurden einige sachkundige Kommentare erwartet, soweit sie sich mit Maxens Sicht der Welt vereinbaren ließen.

     Zwei Monate vor dieser Reise besuchte Manfred die Mutter und erwähnte den Haßfurter Plan. Er könne vielleicht zwischendurch für einen halben Tag zu ihr kommen. Nun hätte sie sagen können: Bring den Max doch mit, oder sie hätte insoweit schweigen können. Es wäre ihm beides recht gewesen. Max war nur mäßig interessiert – sie hatten schon kurz darüber gesprochen -, immerhin war es vielleicht die letzte Gelegenheit für ihn, die Sandgrube noch kennenzulernen; das Grundstück stand schon zum Verkauf.

     Über das Thema aller Themen hatte er zu Hause nie gesprochen. Es war kein Thema für sie. Ihr Puritanismus funktionierte auch ohne religiöse Basis. Die Liebesromane standen nicht im Widerspruch dazu. Es waren höchst unerotische, sentimentale Werke über Geschöpfe ohne Unterleib. Sein erotischer Lebenslauf hatte sich also für sie wie hinter einem dichten Vorhang abgespielt, nur zuletzt war er vielleicht ein wenig durchscheinend geworden. Übrigens gab es im Fall von Max nichts zu entschleiern, weder Sexus noch Eros, nur Logos und die Gewohnheit. Aber er konnte doch nicht dementieren, was gar nicht diskutabel war, und fühlte sich wie Christian aus Buddenbrooks, und die Mama wurde für einen Augenblick zur Konsulin: Assez, Christian, dieses interessiert uns durchaus nicht. Sie wusste, dass er schon häufiger Reisen mit Max unternommen hatte.

     Erstaunlich, wie geistesgegenwärtig seine Mutter noch war: „Nein“, sagte sie sofort, „dann komme ich lieber für einen Tag zu dir nach Haßfurt, wenn du dort wieder allein bist.“

     Er sagte ihr, nach Maxens Abreise werde er selbst nach Thüringen fahren und von dort zurück nach Hamburg.

     Weiter wurde über den Reiseplan nicht mehr gesprochen. Übersetzt hieß die mütterliche Botschaft: Bring ihn mir bloß nicht hierher. Lieber fahre ich nach Haßfurt, das mich, wie du wohl weißt, gar nicht interessiert. Aber auch dort wünsche ich ihn nicht zu sehen. – Und diese Reaktion schon beim harmlosen, abwesenden Max. Wie erst bei einem realen Liebhaber, der ihr leibhaftig präsentiert würde?

 

 

Der Pächter

 

Rudi gehörte einer aussterbenden Gattung an, er war noch eine Art Feierabendlandwirt und war es mehr zu seinem Vergnügen. Den Lebensunterhalt verdiente er in einer Elektrofabrik. Er war unverheiratet und um die dreißig. Die Mama erzählte von Krampfanfällen in seinen jungen Jahren, deshalb hatte ihn die Bundeswehr nach ein paar Wochen ausgemustert. Er hielt kein Vieh, er pflanzte Kartoffeln und verkaufte Grünfutter an Großbauern. Es blieb ihm, neben Elektrofabrik und Landwirtschaft, noch Zeit, die Mutter zu betreuen. Sie fuhren einkaufen oder spazieren. Der Vater hatte ihn nicht im Haus haben wollen. Jetzt erledigte er fällige Reparaturen und hielt draußen die Wege frei. Die Mutter bezahlte ihn für alles. Er erhielt von ihr mehr, als er an Pacht ablieferte.

     Manfred sah ihn bei seinem ersten Besuch nach dem Tod des Vaters. Er kam wohl auf einen Wink der Mutter, um sich vorzustellen. War ein wenig befangen, bemühte sich, einen guten Eindruck zu machen. Er wurde früh kahl, er war ein wenig korpulent, ein Eindruck von Raumverdrängung ging von ihm aus. Sie redeten über Karlheinz, der jetzt anderswo lebte. Aber einer müsse doch zu Hause bei den Eltern bleiben, er lachte breit. – „Hast du gesehen, wie stark seine Unterarme sind“, sagte die Mutter, als er gegangen war. Manfred war es recht, dass einer fürs Gröbste da war.

     Bei weiteren Besuchen sah Manfred, wie er draußen zwischen den Bäumen auf und ab ging. Es sah nach Kontrollgängen aus. Er kam nicht herein. Die Mutter sagte. „Er hat Angst, du könntest etwas dagegen haben, dass ich ihm den Unimog geschenkt habe.“

     Als die Vermittlung der Bank ins Leere lief, kam er wieder herein, jetzt viel selbstbewusster. Sie sprachen über alles Mögliche, die Weltpolitik, den Hunger in der Welt, die Verschwendung in der Rüstung. Die Welt war schlecht, er war entrüstet. Seine Ablehnung schien auf unklare Weise Manfred einzubeziehen. Er war im Persönlichen spröde, kühl. Manfred argwöhnte, der andere sähe in ihm einen Vertreter jenes Systems aus Hunger, Hochrüstung und Ungerechtigkeit. Das war natürlich absurd.

     Einige Zeit später starb Rudis Mutter an Krebs. Die Mama berichtete Manfred, für sie werde sich nichts ändern, er habe versprochen, ihr die Treue zu halten.

     Er hatte sich schon früher bewährt. Sie sei, sagte die Mutter einmal zu Manfred, im ersten halben Jahr als Witwe dem Selbstmord nahe gewesen – Rudi habe sie davon zurückgehalten.

     Treue um Treue. Sie gab ihm, dessen Pachtvertrag bisher jährlich zu erneuern war, einen Zehnjahresvertrag, ohne Manfred zu fragen. Dann, in einem ihrer häufigen Anfälle schlechten Gewissens, ließ sie sich als Nebenabrede auf gesondertem Wisch unterschreiben, bei Verkauf der Sandgrube ende der Vertrag vorzeitig. Ob das juristisch so in Ordnung war? Und würde man den Zettel auch in die Hand bekommen, gegebenen Falles?

 

 

 

 

Letzte Chance

 

Die Mutter hatte es vorausgesehen: Sie könne nicht allein leben. Dem Pächter fiel die Rolle des Hausmeiers zu. In der Sandgrube lief es jetzt ab wie bei den Merowingern damals in den Zeiten ihres Niedergangs. Ach, die arme, arme Dynastie ... Das war aus dem Libretto einer Operette, die Manfred wer weiß wann und wo gesehen hatte. Erstaunlich, was das Gedächtnis alles festhält. Mit Zitaten kam man indessen auch nicht weiter. Vielleicht lag sogar der Vergleich mit Thronwirren in Byzanz näher: Herrschaft von Witwen und Eunuchen. Rudi war kein Eunuch, dafür Epileptiker. So etwas durfte man nur denken, nicht laut sagen. Er scheute keine Arbeit, er machte sich die Hände dreckig und stemmte sich (mit seinen kräftigen Unterarmen, jawohl) gegen den allgegenwärtigen Verfall. Er machte Vorschläge. Seine Augen waren überall. Er kontrollierte die Mutter auch. Das war vielleicht seine wichtigste Funktion.

     Gewöhnlich kam er nur an den für seine Besuche festgesetzten Tagen ins Haus. Wenn er aber Fahrspuren auf dem Waldweg entdeckte und von keinem angemeldeten Gast wusste, ging er zum Haus und klingelte. Ob alles in Ordnung sei? So erfuhr er noch am gleichen Tag, dass der Anwalt aus Neustadt wiedergekommen war. Ein halbes Jahr waren keine Interessenten mehr da gewesen. Nun wollte er doch kaufen. Die Mutter stieß alle Beschlüsse vom vorigen Sommer sofort um. Rudi müsse es verstehen, sie könne auf Dauer doch nicht hier bleiben. Es werde ihm Kummer machen, es tue ihr jetzt schon leid, sie sei innerlich gespalten.

     Dann rief sie Manfred an, um sich in ihrer nicht sehr festen Entscheidung bestärken zu lassen. Sie zählte ihm, ohne dass er auch nur ein Stichwort gab, alle Vernunftgründe auf, die für Verkauf und Umzug sprachen, das Alter, drohende Gebrechen, zu hohe laufende Kosten – und sie könne sich nicht von einer Person allein abhängig machen. Manfred riet ihr zum Verkauf, sie solle ernsthaft verhandeln.

     Drei Tage später brach sie die Gespräche ab. Der Anwalt wünschte ein Gutachten über den Wert der Sandgrube. Sie dagegen erhöhte die im Vorjahr schon nicht durchgesetzte Preisforderung noch einmal um symbolische fünftausend Mark und schickte ihn gleich weg, als er das nicht auf der Stelle akzeptieren wollte.

     Diesmal rief sie Manfred nicht an, sondern schrieb ihm nach einiger Zeit, es sei ihr noch rechtzeitig klar geworden, dass sie hätte betrogen werden sollen. Im Übrigen würde sie auch in einer anderen Wohnung nicht ohne Rudis Hilfe auskommen.

     Manfred ging in seinem Antwortbrief auf die Sache gar nicht mehr ein.

 

 

 

Ende aller Fiktionen

 

Die ständige Rede der Mutter war gewesen: Manfred müsse sie bei der Anlage der Verkaufserlöse beraten, sie verstehe davon nichts. Er habe hier das letzte Wort, er müsse sie auch bei der laufenden Verwaltung des Geldvermögens unterstützen. Manfred durchdachte die Sache und wollte zu festverzinslichen Staatspapieren raten. Aber solange nichts verkauft war, gab es auch nichts anzulegen, es sei denn ihren stattlichen Notgroschen (sechsstellig, wenn auch nur knapp). Er befand sich seit vielen Jahren zur Hälfte auf einem Girokonto, zur anderen Hälfte auf einfachem Sparbuch mit kümmerlicher Verzinsung. Ein Wahnsinn, fand er, brachte es aber nicht zur Sprache. Dies geschah dann von ihrer Seite, bei jenem Aufenthalt, der sehr zu ihrem Verdruss mit seinem Abendessen im Lamm begonnen hatte.

     Eben erst war der Rechtsanwalt in die Flucht geschlagen worden, und es war nun klar, sie würde nichts mehr an ihren Verhältnissen ändern. Umso wichtiger war es, nicht leichtfertig auf Zinseinnahmen zu verzichten. Er hatte die Verzinsung mittelfristiger Staatspapiere ungefähr im Kopf. Sie war sehr angenehm berührt und ließ sich einen Nachmittag lang alles erklären, den Nominalzins, den Realzins und so fort. Sie würde ein Depot besitzen? Sie konnte nicht in allem folgen, doch im Grundsatz war sie überzeugt, wie es schien. Sie ließ sich von Manfred die Bezeichnungen der in Frage kommenden Papiere aufschreiben. Damit werde sie zur Bank gehen und sich erkundigen, was zu haben sei.

     In diesem Punkt schien doch noch etwas bewegt worden zu sein.

     Aber sie kippte auch hier einfach weg. Ein paar Wochen später erfuhr er von ihr am Telefon, sie habe die ganze Reserve ihrer kleinen Bank auf vier Jahre gegeben und zwar zu einem Zinssatz, der um mehr als einen halben Prozentpunkt unter dem vergleichbarer Staatspapiere lag.

     Er (mühsam beherrscht): „Wolltest du nicht nach Bundesobligationen fragen?“

     Sie (mit pampigem Unterton): „Pah, da krieg ich doch auch nicht mehr Zinsen.“

     Es war nur so dahergesagt, ohne jede Kenntnis bloß behauptet, um sich den Anschein des Argumentierens zu geben. Manfred erlitt einen seiner seltenen cholerischen Anfälle und rechnete ihr im Wutanfall noch vor, wie viel sie sich verscherzt habe:

     „Du rennst von einem Supermarkt zum anderen, bloß um am Kamillentee drei Pfennige zu sparen. Drei Pfennige die Packung zu zwanzig Beutel! Und dann verzichtest du so einfach mal auf fünfzig, sechzig Mark Zinsen im Monat. Du traust niemand über den Weg, der nicht aus Neustadt ist – aber von jedem einheimischen Gauner lässt du dich mit Vergnügen hereinlegen. Wie lange haben wir über all das geredet, einen geschlagenen Nachmittag! Und dann stößt du einfach alles um! Wozu hast du mich überhaupt gefragt?! Es kann mir doch gleich sein. Mir reicht es, ich bin dieses Theater satt …“

     Sie brauche sich so etwas nicht anzuhören, das sei unter ihrer Würde.

     Sie brachen das Thema ab und beendeten das Gespräch rasch. Er wusste, es war der Bruch, jedenfalls von seiner Seite.

     Von nun an wurde ihre Verbindung viel lockerer. Manfred rief die Mutter nicht mehr an und beantwortete ihre gelegentlichen Briefe erst nach längerer Zeit. Besuche in Neustadt plante er für die nähere Zukunft nicht. Am Ende des Sommers bat sie ihn in einem Brief, ihr doch wenigstens regelmäßige Lebenszeichen zukommen zu lassen.

     Diesmal schrieb er schon nach drei Tagen:

 

     Liebe Mama, hier waren die Tage und Wochen zuletzt randvoll. Nicht nur deshalb kam ich den Sommer über kaum zum Schreiben. Nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre fällt es mir zunehmend schwerer, noch viel zu Papier zu bringen. Lebenszeichen, nun gut, aber womit soll so ein Briefbogen noch gefüllt werden? Immer nur über das Wetter, die Zimmerpflanzen oder Fragen der Ernährung schreiben? Mir scheint, diese Nebensächlichkeiten sollen nur zudecken, dass alle wesentlichen Fragen ungelöst und als unlösbar zur Seite geschoben sind. Diese netten Kleinigkeiten sind nur die Fassade, und dahinter ist gar nichts mehr.

     Als du Witwe wurdest, hattest du die Chance, deine Verhältnisse noch einmal neu zu ordnen. Du hast sie vertan. Es hat sich gezeigt, dass du nicht imstande bist, selbständig zu handeln. Stattdessen erschöpfst du dich in einem sinnlosen, chaotischen Zickzackkurs, der eigentlich nur Leerlauf ist.

     Wenn du schon nicht imstande bist, für dich zu handeln (womit du nicht nur dir selbst, sondern künftig auch mir schadest, nebenbei bemerkt), so hättest du dich doch auf mich stützen können. Ich wäre zu erheblichem Einsatz von Zeit und Mühe bereit gewesen. Aber du hattest kein wirkliches Interesse daran. Du hast dich stattdessen Personen ausgeliefert, die nicht zur Familie gehören und ihre eigenen Interessen verfolgen.

     Eine Zeitlang schlugst du die Zeit mit Projekten tot, die gar nicht ernst gemeint waren. Indem du Familienrat hieltest, wolltest du nur Familie spielen. Du hieltest mich zum Narren …

 

     Er überlas das Geschriebene. Natürlich würde er das nicht abschicken. Er hatte sogar noch fortfahren wollen: Ich sollte Staffage sein. Der Sohn war für dich nur eine Attrappe, um dir selbst und anderen etwas vorzuspielen. Meine reale Person ist dir fremd und unheimlich.

     Aber wie sonst schreiben, ohne sich in falsches Licht zu setzen oder Entscheidungen heraufzubeschwören, die man jetzt auch nicht wollte, nicht wollen konnte, wollen durfte? Er heftete den angefangenen Bogen in die Mappe mit ihren letzten Briefen ein und schrieb darunter: Nicht mehr abgesandt. Er dachte: Ich schicke ihr dann eine Karte aus Kötschach-Mauthen.

7. Der Erbe

Es war der erste Sonntag im Oktober. Manfred war gerade mit dem Nachtzug von Villach angekommen. Er nahm kein Taxi, wie eigentlich geplant. Er hatte unterwegs nur zeitweise schlafen können, einen sehr leichten und unruhigen Schlaf, und fühlte sich matt und unausgeruht. Die Stadt kam ihm, wie meist nach längerem Wegsein, grau und verlebt vor. Von wegen weiße Stadt des Nordens! Jetzt, am zeitigen Sonntagmorgen, wirkte ihr Antlitz, vom Portal des Hauptbahnhofs aus betrachtet, griesgrämig und welk. Entblößt vom sonstigen Geschäftsleben, standen die mächtigen Büro- und Kaufhausblocks der Innenstadt mit weiß-grauen und grau-gelben Fassaden wie erschöpft und zum baldigen Abriss bestimmt herum. Zu viel Übereinstimmung zwischen der momentanen eigenen körperlichen Verfassung und dem Ausdruck im Bild der Stadt! Er fuhr mit der Rolltreppe hinunter zur U-Bahn.

     Die Treppe, die Hallen, der Bahnsteig, die Bahn selbst: alles ziemlich leer, schmuddelig und freudlos. Und all das war erst zu seinen Lebzeiten gebaut worden, war neu gewesen,  als er – weit von hier – noch zur Schule ging. Auch als er später zum ersten Mal mit dieser U-Bahn fuhr, etwa fünfzehn Jahre mochten es her sein, war hier alles noch viel heller gewesen, weniger ramponiert als heute. Es war im Übrigen noch immer höchst zweckmäßig: weiträumig, rechtwinklig und abwaschbar. Das Tonnengewölbe der Station, eine weiß gekachelte Röhre, sprach noch von eleganter Funktionalität, doch der Zweck selbst schien sich fragwürdig geworden zu sein. Der Zug passierte erst schnell ratternd die Haltestellen aus jener Zeit der Zweckmäßigkeit und rumpelte dann langsam auf alter, kurvenreicher Strecke unter den Vorstädten der letzten Jahrhundertwende dahin. Das Streckennetz der Stadt war zusammengeflickt aus Alt und Neualt, und über alldem lag die gleiche Patina aus Moder und Gleichgültigkeit.

     Wie mächtige, dunkle Stockzähne aus dem viel kleineren, öd-bunten Nachkriegsgewimmel herausragend, begrüßten ihn, als er an der Station Osterstraße mit den Koffern hinaufrollte, die drei alten Hausburgen zur Linken; rechts der niedrige graue Bunker von Karstadt. Er schleppte die Koffer auch noch die Osterstraße entlang, diesen Kleine-Leute-Boulevard des Nordwestens, bis in seine kleine, ruhige, enge Wohnstraße. Heimatliches Eimsbüttel! – Eimsbüttel? Eine scheußliche Gegend, aber die Mieten sind niedrig: Kommentar eines Bekannten aus Alsterdorf, er kam jetzt nicht mehr auf seinen Namen. Sie hatten oft in den Bars ein paar Sätze miteinander gesprochen, er war ihm wie so viele aus den Augen gekommen. Manfred sagte ihm damals nicht, dass er gar keine Miete zahle, sondern in der eigenen Wohnung lebe. Damals gefiel es ihm hier, heute schwer vorstellbar, und er war den Großeltern dankbar, dass sie ihn bedacht hatten, dass er die gerade modernisierte Wohnung hier  hatte kaufen können. Sterben und erben und kaufen.

     Er leerte den Briefkasten. Hinter der Wohnungstür stellte er die Koffer ab und kippte als Erstes die Fenster, um Frischluft hereinzulassen. Er öffnete noch keinen der Briefe, worunter einer aus Neustadt war, mit bekanntem Namen, aber von ihm nicht erwartet. Nehmen wir alles später zur Kenntnis, nicht jetzt. Er zog sich aus und legte sich, entgegen seiner Gewohnheit, nackt ins Bett. Da er leicht fror, trug er sonst immer etwas um die Schultern. Nun wickelte er sich umso tiefer in die Decke. Er genoss es, noch nicht völlig angekommen zu sein. Er schlief nicht, er dämmerte nur vor sich hin.

     Nach einiger Zeit hellte sich sein Bewusstsein wieder auf. Er sah jetzt bei geschlossenen Augen die Kette der Karnischen Alpen vor sich, wie man sie von den Wäldern und Almen oberhalb Kötschachs wahrnimmt. Diese gewaltigen Auf- und Abschwünge, ungeheure elegante Fluchten, jeder Berg vollkommen anders, jeder vollkommen durchgeformte Idee, extrem oder nur angedeutet das Spitze oder das Runde, erschreckend schön in eisiger Individualität – und alles übergossen vom milden Licht des Südens und so erst erträglich. Eine derart kontrastreiche Harmonie hatte er in der ganzen Natur noch nicht erlebt. Wie wohl die Mama die Karte mit dieser Ansicht aufgenommen hat?  Der Brief aus Neustadt schob sich mit einemmal vor die Kulisse der Karnischen Alpen, aber er verbot sich geradezu, etwas ahnen zu wollen. Erst heute Abend, nach dem Essen, wollte er die Post durchgehen und diesen Brief zuletzt.

     Vom Gailtal kommend, hatte er in Villach fünf oder sechs Stunden auf den Nachtzug warten müssen. Er bummelte durch die Altstadt, saß in einem Café, dann am Drauufer und aß zur Nacht, wie es dort heißt. Mehr als eine Stunde war noch herumzubringen. Er nahm die Samstagausgabe einer großen Zeitung aus Deutschland mit in den kleinen Wartesaal und begann, dieses Bergwerk des Wissens nach etwas Katzengold zu durchforschen. Rechts von ihm häuften sich bald viertelpfundweise die Teile des Blattes, die nur taubes Gestein enthielten.

     Zu seiner Linken, jedoch an der Wand gegenüber, lag, über drei oder vier Sitze bäuchlings der Länge nach hingestreckt, eine Gestalt, die dem rückwärtigen Anschein nach männlichen Geschlechts war. Wie Manfred unruhig blätternd sich vergeblich um etwas Wissen von einigem Wert bemühte, so wälzte man sich drüben rastlos von einer Flanke auf die andere, um der instabilen Bauchlage doch noch etwas Bequemlichkeit abzutrotzen. Da dies nicht gelang, saß er schließlich auf und schaute sich um. Außer ihnen war niemand im Raum. Ihre Blicke kreuzten sich.

     Der andere war knapp über zwanzig, schwarzhaarig, kräftig, wohlgenährt, recht angenehm die etwas knödelhafte Physiognomie. Er verband die Arglosigkeit jungen Fleisches mit forschem Mienen- und Augenspiel. Unverkennbar war er bajuwarischen Stammes. Vor siebzig Generationen waren sie kühn über den Hauptkamm der Alpen vorgedrungen und hatten die Windischen allmählich gegen die Karawanken gedrückt. Und nun der da: hochgemut. Es war etwas kriegerisch Flottes um ihn, und es war nicht nur die schwere schwarze Motorradjacke, auch nicht nur die schwarzen Texasstiefel oder das enge Beinkleid aus schwarzem Tuch, das die fleischigen Schenkel eng umspannte. Aufmachung und Ausstrahlung fielen hier in eins und ergaben einen Gesamteindruck von kraftvoll unsolider Begehrlichkeit.

     Es kam jetzt ein älterer Arbeiter herein, nahm neben dem Jungen Platz und geriet bald mit ihm ins Gespräch: Älpler unter sich. Der Ältere wollte heim ins Gailtal, der Jüngere wohnte in Klagenfurt, wohin er unterwegs war. Er kam ursprünglich aus einem Gebirgstal Oberkärntens, das bei Touristen und Kraftwerksbauern seit langem beliebt ist. Der Ältere bewunderte die Freiheit des Jungen, der, wie sich herausstellte, gerade eine Reihe von Tagen hindurch auf dem Münchner Oktoberfest gesoffen hatte. Ob er beweibt sei, wollte der Ältere wissen, was der Jüngere verneinte. Der Arbeiter sagte, das sei gut, wenn hinterher niemand hadern könne. Offenbar lagen bei ihm die Dinge anders.

     Der Jüngere kam Manfred jetzt wie ein lokaler Flussgott vor. Die Touristen und Kraftwerksbauer hinter sich lassend, hatte er sich in die tiefer gelegene Beckenlandschaft vorgewagt, war in der Schwemmlandschaft sesshaft und allmählich selbst ein anderer geworden, offener, genießender, weniger kernig, ausufernd.

     Sie waren wieder zu zweit. Den Jungen fror jetzt, obwohl es ein milder Abend war. Vielleicht kam es daher, dass er – so würde die Zeitung aus Frankfurt es ausgedrückt haben – vor kurzem erst vomiert hatte. Er zog die Lederjacke aus, streifte einen Pullover über – wobei sich lebensfroh ein junger Bier- und Speckbauch abzeichnete – und trug die schwere Jacke dann über dem Pullover, hingeflegelt über zwei oder drei Sitze.

     Zwei Bekannte von ihm erschienen auf dieser Kammerspielbühne. Mager und strizzihaft kamen sie in keiner Hinsicht in Betracht. Er prahlte ihnen gegenüber mit seinem unglaublichen Münchner Bierkonsum. Zur Nachkur war er dann noch in Salzburg gewesen und hatte weitergesoffen. So hatte er fünf Nächte lang durchgemacht: enorme, bewunderungswürdige Physis!

     Er verspürte das Bedürfnis, in diesem Kreis mit Weibergeschichten aufzutrumpfen. Aber allein vom physischen Genuss geprägt, war er zu sehr der Realität verhaftet und zu wenig Phantast, um etwas zu erfinden. Es hatte sich diesbezüglich gar nichts abgespielt, wie er freimütig eingestand. Ja, die Frauen … Er seufzte. Kontinente schienen da infolge Plattenverschiebung auseinanderzudriften. Waren die Frauen zu anspruchsvoll oder war er nicht anspruchslos genug? Eitelkeit, Unsicherheit und Gekränktsein mischten sich auf seinem runden Gesicht. Ach, die Weiber …

     Dagegen habe es Anträge von Schwulen geregnet. München sei voll von ihnen. Aber er doch nicht, doch nicht mit ihm! Es sei denn, man böte ihm sehr, sehr viel Geld, und nun sah er gerade zu Manfred hinüber. Achttausend Schilling. Oder zehntausend Schilling? Die Phantasie, die ihm für heterosexuelle Visionen gefehlt hatte, riss ihn nun fort zu Preisvorstellungen, die einfach indiskutabel waren. Oder war er doch so viel wert? Nachher, als er zum Klagenfurter Zug gegangen war, wollte Manfred das nicht mehr unbedingt ausschließen.

     Sein Abmarsch: Klirren der Sporen, vibrierendes Fleisch. Die enge Lagerstatt im Liegewagen, im Geist mit ihm geteilt. Und jetzt hier im eigenen breiten Bett, wie geschaffen für zwei ihrer Art, intensives Vergnügen, lange nicht mehr derart genossen.

     Nachher griff er dann doch zu Olga Aufwinds Brief, vor allem anderen. Die Mutter war natürlich tot, seit drei Wochen schon. Tot und beerdigt, nicht verscharrt. Er möge sich melden, auch wegen der Bestattungskosten. Es gebe eine Menge für ihn zu tun.

     Er dachte, nun müsste er sehr überrascht sein, überrascht und verwirrt und traurig. Aber er war keines davon. Es lag nicht daran, dass er Olgas Brief schon vor zwei Stunden in der Hand gehalten hatte, woran Vermutungen hätten geknüpft werden können – sie waren bewusst unterblieben. Gewiss, mit diesem raschen und relativ frühen Tod hatte man nicht rechnen können oder müssen. Eine ihrer Tanten war im Vorjahr mit achtundneunzig gestorben, es war sonst ein zähes Geschlecht. Dennoch war er jetzt nicht wie vor den Kopf gestoßen.

     Es lag daran, dass die familiäre Bindung hier nie stark gewesen war. Völlig zerfranst, hatte sie sich schon vor dem Tod der Mama in eine Reihe offener Vermögensfragen aufgelöst. Darunter hatte sie vielleicht gelitten, wie stark, war ihm unbekannt. Hatte die Entfremdung ihren Tod beschleunigt, gar herbeigeführt? Er wollte es nicht hoffen, man würde ihn Näheres wissen lassen. Er wird bald in Neustadt anrufen, bald, nicht sofort.

     Da nun beide Eltern tot waren, erkannte er den Unterschied seiner Einstellung zu ihnen. Zum Vater hatte es immerhin mögliche Anknüpfungspunkte gegeben, das Verhältnis zur Mutter war bei scheinbar größerer Nähe immer von Graden der Fremdheit bestimmt gewesen. Daraus resultierten die lächerlich-peinlichen Konflikte der letzten Zeit.

     Es war für ihn schwer, ihr gerecht zu werden, da sie zur anderen Partei gehörte. Sie hatte, so schien es ihm nicht erst jetzt, in die falsche Familie hineingeheiratet. Sie war diesen Käuzen und Sonderlingen nicht gewachsen gewesen. Bis dahin geknebelt, gewann sie ihre Freiheit erst als Witwe, und sie kam mit ihr nicht mehr zurecht.

     Noch ein anderes Erklärungsmuster bot sich an: Sie war doch zeitlebens mehr oder weniger zufrieden gewesen und setzte nach dem Ausfall des Vaters alles daran, die bisherigen Verhältnisse aufrechtzuerhalten.

     Aber da war vor Jahren ein Brief von ihr gekommen. Darin schrieb sie ihm, sie habe viel früher einmal – in seiner Knabenzeit – fortgehen wollen. Aber wohin und wie sich dann ohne Beruf durchschlagen? Von ihm und seinem weiteren Schicksal in diesem Fall war nicht die Rede. Als ob er nicht zählte. Er war, wie er erst seit einiger Zeit wusste, ein Ersatzkind gewesen. Der Erstgeborene war schon vor Manfreds Geburt gestorben, und seine eigene Geburt war dann so schwierig gewesen, dass an weiteres Gebären nicht mehr zu denken war.

     Das war eine Familiengeschichte, die vielfältig belastet war, sozusagen hypothekarisch überfrachtet, zuletzt unter der Last zusammengebrochen. Ernst war die Familiengeschichte, heiter die Kunstgeschichte? Es war Zeit, die Akten erleichtert zu schließen.

     Er musste sich bald ums Nötigste kümmern. Die Todesumstände erfragen. Die Frage der Erbschaft klären und das Erbe, darauf lief es vermutlich hinaus, auch antreten, eine Rolle, zu der er wenig Talent in sich verspürte. Er verschob dieses Dringende auf morgen. Zunächst wollte er sich im Beruf etwas Luft verschaffen.

     Im Verlag war er, nach vier Wochen Urlaub, nicht schon wieder für längere Zeit zu entbehren. Er wusste es, und man sagte es ihm auch am Montag. Was konnte er mit einem Sonderurlaub von ein oder zwei Tagen anfangen? Nach Neustadt fahren, sich die Schlüssel für die Sandgrube geben lassen (von wem auch immer, womöglich von Rudi) und in einem Berg von Papieren ertrinken. Dann nach Hamburg zurückfahren, im Bewusstsein, nichts gelöst zu haben, jedoch ab sofort für alles verantwortlich zu sein: Steuern, Versicherungen, Heizung, Lüftung, Verhütung von Einbruch, Feuer, Wasserschäden; im Hinterkopf die Sorge um den Naturschutz und die Bezirksregierung … Dazu kam die Verwaltung der Villa. Es lag auf der flachen Hand, dass er Hilfe organisieren musste. Aber an wen sollte er sich wenden, und wie sollte er in so kurzer Zeit die Eignung herausfinden? Waren es nicht ganz verschiedene Metiers? Jetzt hätte auch er sagen können: Das habe ich nun davon. Doch ihm war bewusst, er hatte es zuallererst sich selbst anzulasten. Warum hatte er Aufwinds immer nur brüskiert? Er geriet in eine Art Verzweiflung und verschob den Anruf in Neustadt auf Dienstag.

     Mit Olgas Stimme tags darauf war die Erinnerung an sie wieder da. Es war eine freundliche Feldwebelstimme: So wird’s gemacht! Widerspruch wurde nicht geduldet. Immer schon war sie vollkommen überzeugt gewesen von der Schlüssigkeit der eigenen Ansichten, vom zweifellos eintretenden Erfolg, wenn man nur auf sie höre. Dabei hatte der Haupteinsatz ihres Lebens mit einem Fiasko geendet. Die Ehe mit einem Alkoholiker war nach drei Jahren kinderlos geschieden worden. Sie hatte im Verlauf dieses Abenteuers einen Teil ihres kleinen Vermögens verloren, nicht jedoch ihre kämpferische Selbstsicherheit. Sie musste jetzt über fünfzig sein, aber er sah sie als Mittdreißigerin vor sich, und ihre Stimme, ihre Rede gaben ihm Recht.

     „Nun hör dir das an: der Manfred! Hat einer noch mit dem gerechnet?! Zu früh ruft er jedenfalls nicht an.“ – Sie schien sich an unsichtbare Zuhörer zu wenden, tatsächlich saß sie allein in ihrer kleinen Wohnung über dem Gasthof. Sie sprach ihn noch längere Zeit in der dritten Person Singular an, als wäre man noch im achtzehnten Jahrhundert und sie ein Offizier und er gemeiner Soldat. „Dass er seine Todesfälle immer im Urlaub abwickeln muss und andere haben die Plage damit! Findet er das so in Ordnung? Wenn er glaubt, wir fänden das schön, dann irrt er sich aber gewaltig. Er sollte einmal in sich gehen. Aber ihn kümmert’s wohl nicht, er hat ja keinen mehr zu verlieren, und wir zählen hier gar nicht für ihn …“

     Manfred ließ ihre bärbeißige Suada über sich ergehen, die auch eine Art war, Beileid auszudrücken. Als sie Atem holte, fragte er sie nach den Umständen des plötzlichen Todes.

     „Ja, ein plötzlicher Tod, das kann man sagen, ein plötzlicher Herztod war’s … bei der Gartenarbeit. Sie hat Blumenzwiebeln gepflanzt, Tulpen und Traubenhyazinthen. Der Pächter hat sie gegen Abend gefunden. Sie war schon Stunden tot, vielleicht seit der Früh. Sie war schon steif. Sie hat sich zu viel zugemutet. In den leeren Tüten müssen Hunderte von Zwiebeln gewesen sein, die hat sie alle noch verbuddelt.“  - Auf seine Nachfrage: Nein, sie sei nicht obduziert worden, die Leiche sei nach zwei Tagen freigegeben worden. Gestern sei die Rechnung des Bestatters mit der Post gekommen, sie sei noch nicht bezahlt. Er sagte hastig, sie solle sie ihm schicken, er werde sofort überweisen.

     Natürlich habe es in Neustadt etwas Gerede gegeben, auch seinetwegen. “Aber“, fuhr sie fort, „deine Eltern waren schwierige Leute, wir wissen es doch. Ingrid hat es auch noch erfahren, wenn auch nur bei deiner Mutter. Übrigens erwartet sie etwas, sie ist im siebten Monat. Ja, Manfred ( - nun doch die direkte Ansprache! - ), so nah liegt das, Tod und Geburt. Und deshalb kümmere ich mich um deine Angelegenheiten … Und was soll nun weiter werden? Wie willst du mit allem fertig werden?“

     Er sagte ihr, er sei sich der Erbschaft nicht sicher. Sein Verhältnis zur Mutter sei am Ende belastet gewesen. Wer kümmere sich denn jetzt um die Sandgrube? – Es war Rudi, natürlich, aber er wolle bald Bescheid bekommen, was nun werden solle. „Er hat sich vielleicht verrechnet, der … na ja, ich will nichts gesagt haben.“

     Manfred spürte ihre Bereitschaft zu intervenieren und legte ihr alles offen dar, die Sorge um die Sandgrube, um den Verkauf, der ein Notverkauf sein würde, ein Verkauf in der höchsten Not. Und er sei vorerst an Hamburg gebunden, beruflich unabkömmlich.

     Da bot sie ihre Hilfe an. Was Rudi tue, das Haus täglich kontrollieren, das könne sie auch und vielleicht noch mehr. Wenn er es wolle, würde sie ihm die Schlüssel abnehmen, mit Vergnügen würde sie das tun, dem … na ja, sie wolle nichts gesagt haben. Und bei der Suche nach einem Käufer könne sie vielleicht auch behilflich sein.

     Das Gespräch dauerte noch eine halbe Stunde. Dann war ihr weiteres Vorgehen abgesprochen. Er wird einen Erbschein besorgen und ihr dann Vollmachten ausstellen. Sie wird die Schlüssel vom Pächter verlangen. Sie wird die Immobilien in der Würzburger Main-Post zum Verkauf anbieten. Sie wird die hinterlassenen Papiere sichten. Sollte etwas am Haus oder im Gelände zu tun sein, so werde sie die Männer einspannen, sagte sie. Sie erwähnte weder Onkel Georgs Namen noch den von Theo, auch nicht in anderem Zusammenhang. Er könne ruhig schlafen, sie werde ihn nicht enttäuschen. Ja, den Winter über habe sie im Büro viel weniger zu tun, ohnehin seien die Zeiten schon besser gewesen, mehr Arbeit früher …

     Sie fragte dann offen, wie er sie entschädigen wolle, für Gotteslohn sei es doch zu viel Arbeit. Er bot, nach kurzem Zögern und Nachdenken, den in Neustadt üblichen Provisionssatz der Makler an. Damit war sie gleich einverstanden, hochzufrieden, wie ihm schien. Auslagen werde er ihr sofort ersetzen. Und alle laufenden Rechnungen solle sie postwendend zu ihm schicken, wie natürlich auch die Neustädter Mieteinnahmen. Und er wolle demnächst einmal über ein Wochenende selbst zu ihnen kommen.

     Zweifellos hatte sie seit dem Tod der Mutter über alledem gebrütet. Hatte sie einen großen Plan? Dann war es ihm recht, so kamen sie voran. So viel Einigkeit in der Familie, war das noch möglich? Eigentlich war er mit Aufwinds bloß verschwägert, abgesehen von ihm, dem Kleinen, der demnächst Vater sein wird.

     Er war zwei Tage später beim Notar und überließ ihm alles, den Erbschein beschaffen, die Vollmachten für Olga ausstellen und beglaubigen und all den Kleinkram, der noch damit zusammenhing.

     Es folgte ein Winter der Arbeit und Zusammenarbeit. Eines erwuchs aus dem anderen, ohne Störung oder Stockung. Manfred kam vor lauter Arbeit nicht mehr in die Bars. Noch im Sommer hatte er fast jede Woche ein oder zwei Nächte dort verbracht. Außer Stefan sah er privat niemand mehr. Sie trafen sich jeden zweiten oder dritten Freitag bei Stefan zum Essen oder sie aßen zusammen in der Stadt. Wenn Stefan dann den letzten Bus oder die letzte U-Bahn nach St. Georg nahm, fiel es ihm schwer hinzunehmen, dass Manfred nicht mehr dorthin mitkam, sondern nach Hause fuhr.

     Sonntags ging er die Papiere aus Neustadt durch. Olgas Vollmachten waren eng  begrenzt (auf Anraten des Notars). Sie schickte ihm wöchentlich Abrechnungen, Verträge, Dokumente. Sie setzte alles, was zum Verkauf stand, in die Zeitung. Das Interessentenkarussell begann sich erneut zu drehen. Er telefonierte zweimal in der Woche lange mit Olga.

      Er verschob die Reise nach Neustadt immer wieder ins Ungewisse hinein. Vielleicht würde er erst hinfahren, wenn das Haus in der Sandgrube geräumt werden musste. Bis dahin lief dort alles auch ohne ihn mit genügendem Schwung. Olga drängte ihn nicht, bald zu kommen.

     Was nun die freien Samstage anging, so saß er an ihnen über ganz anderen Papieren. Endlich hatte er begonnen, den schon lange im Kopf skizzierten Aufsatz über die Magie in den Bildern von Albert Weisgerber zu schreiben. Er redete sich zunächst noch ein, er würde ihn vielleicht in einer Fachzeitschrift veröffentlichen können. Aus dem fertigen Text erfuhr man (und das heißt als Erster er selbst beim Schreiben) viel weniger über den toten Maler und sein Werk als vielmehr über ihn selbst, den lebenden Kunsthistoriker H., wie er auf dem Weg zu ihm noch unbekannten Bildern den Saarbrücker Hauptbahnhof verließ und eine ihm bisher vollkommen fremde Stadt durchquerte. Er sah sie mit den Augen Weisgerbers, oder er bildete es sich bloß ein. Er war in der Gegenwart aufgebrochen und in einer sozusagen prähistorischen Welt angekommen. Das Stadtzentrum bestand für ihn zunächst nur aus einer einzigen breiten, vierspurigen Einbahnstraße mit geschlossenen Fronten von Häusern der fünfziger und sechziger Jahre, eine Schlucht zwischen Wänden aus Stein und Glas. Es sah aus wie Frankfurt oder München dreißig Jahre früher. Die Fußgänger hetzten in dichtem Strom unter hohen, schmucklosen Betonkolonnaden an den Eingängen der Kaufhäuser entlang oder ließen sich von ihnen verschlucken. Die verbrauchte Luft aus den Kaufhallen vermischte sich mit den Gerüchen der Straße: nach Abgasen und Bratwürsten, nach Asphalt und Laugenbrezeln. Eine Armada aus blauen Autobussen  veranstaltete offenbar einen Wettkampf um eine Art Blaues Band der Saar. Nach undurchsichtigen Regeln überholten sie einander rechts oder links, scherten plötzlich aus, um an einer der zahllosen Haltestellen Menschen auf- oder abspringen zu lassen, und fädelten sich mit schwindelerregender Präzision wieder in den Verkehrsstrom ein. Hier fand er all das wieder, das Tempo! Tempo! jener Aufbaujahre und ihre ach so vertraute, schrecklich gemütliche, nur auf rascheste Bedürfnisbefriedigung abgestellte Art zu funktionieren. Und Laugenbrezeln, ach ja, und die Großmutter sagte: Ich kauf dir einen Kamelhaarmantel …

     Am Ende der Bahnhofstraße geriet er wieder in eine ganz andere Welt. Zwischen Kulissen aus dem achtzehnten Jahrhundert fand diese Stadt am Rand doch noch den Anschluss an eine wirklich zeitgemäße Art zu konsumieren. Nur ein Ecklokal am Marktplatz mit dem merkwürdig harmlosen Namen Tante Maja passte nicht mehr ins Bild.

     Zu seinem eigenen Vergnügen schrieb er in diesem Winter ein halbes Dutzend Prosaskizzen über Reisen in Franken und Schwaben, über Tage in den Bergen, über Menschen in den Bars der Großstadt, und in einem Text verdichtete er wesentliche Eindrücke von zwei längeren Reisen durch die Staaten.

     Um Weihnachten brachte Ingrid ihr Kind zur Welt, ein Mädchen. Er schickte den Eltern eine vorgedruckte Karte und legte für die kleine Stefanie eine Inhaberschuldverschreibung bei, einzulösen bei Fälligkeit in der Würzburger Filiale einer großen Bank. Der Betrag war ansehnlich, jedoch nicht unangemessen hoch, stellte man alles in Rechnung. Sie würden hoffentlich nicht auf den Einfall kommen, ihn zum Paten zu bitten. Diesen Fehler beging Ingrid nicht. Statt Danksagung kam eine vorgedruckte Karte.

     Olga verhandelte geschickt mit verschiedenen Interessenten. Für beide Objekte, die Sandgrube und die Villa in der Stadt, zeichneten sich Erlöse ab, die deutlich unter dem Verkehrswert lagen, aber noch hinnehmbar waren. Zufällig war sie mit beiden Käufern Ende Februar so weit, dass die Verträge in Kürze abgeschlossen werden konnten. Die Sandgrube erwarb nun doch jener Rechtsanwalt, die Villa ein Bauträger aus Nürnberg.

     Olga schlug vor, ihm die Vertragsentwürfe Anfang März persönlich nach Hamburg zu bringen. Sie würde am Freitagnachmittag eintreffen und bis Sonntagmittag bleiben. So hätten sie anderthalb Tage Zeit, die Verträge genau durchzugehen. In der Woche darauf wollte Manfred dann mit ihnen zum Notar gehen; von dort sollten sie unterschrieben an die Notare der Käufer zurückgesandt werden.

     Er solle sie im Hauptbahnhof abholen. Sie verabredeten, sich auf dem Bahnsteig zu treffen. Damit sie ihn leichter erkenne, wird er eine Rose in der Hand halten, eine rote natürlich. Bei ihren Verhältnissen, sagte er, wird das ganz unverfänglich sein. Beide lachten sie herzlich ins Telefon hinein.

8. Der Auftrag

Die Schultern hochgezogen, so dass sie eine lange, straffe Gerade bildeten, den Thorax gewölbt, die Lungen mit Luft vollgepumpt, den Oberkörper insgesamt nach vorn zur Windschutzscheibe gekippt: So saß Theo an diesem Donnerstagabend hinter dem Steuer seines Wagens und fuhr heim ins Dorf. So stemmt sich einer gegen den Sturmwind draußen. Aber das Wetter war ruhig, der Himmel bedeckt, und er saß breit und bequem im Wagen. Vielleicht wird es noch etwas Schneegriesel geben. Die Dämmerung war da, in letzter Zeit war er sonst früher nach Hause gefahren. Es gab jetzt viel weniger zu tun, seit dem letzten Sommer schon, und die meisten Gesellen waren entlassen.

     Die Glocken der Pfarrkirche läuteten zur Abendmesse, schienen den Verkehrsbrei zerhacken, diese zähe Marmelade umrühren zu wollen, so wie eine Latwerge von Zwetschgen im großen Kupferkessel von Frauen mit großen Holzlöffeln umgerührt wird. Das war ein Bild aus dem Heimatbuch, ein altes Foto zum Staunen: dass es so etwas einmal gegeben hat. Die Glocken drangen jetzt nicht durch, oder ihr Geläut verebbte vielmehr allmählich im Motorengebrumm, im Gehupe und dem sausenden Geräusch von Gummi auf Asphalt. Alle wollten sie nun rasch in ihre Dörfer oder zum Stadtrand wenigstens, alle hatten es eilig, er nicht. Beinahe wäre ihm hinten einer aufgefahren. Abstand halten, du Arsch, knirschte er und hob die geballte Faust zum Rückspiegel.

     Ingrid war telefonisch vorgewarnt. Familienrat mit Olga und dem Onkel. Sie wird wissen, um was es gegangen ist.

     Onkel Georg, du … Er versagte sich den erneuten Kraftausdruck, auch in Gedanken. Erst den Einzelkämpfer spielen und dann – hopp, hopp! – ab in die Kapitulation. Davor immer nur Sorgenfalten, gedrückte Stimmung. Er, Theo, hat es seit dem Konkurs der System-Tourist gewusst: Nichts wird es mit der GmbH, Essig ist es mit dem Meisterkurs. Leberechts sind in letzter Minute zurückgezuckt, obwohl Ingrid damals schon schwanger war. Die Nachricht von der Schwangerschaft war für ihn die letzte frohe Botschaft überhaupt. Die Geburt? Ach, nur ein Mädel, kein Bub, bloß ein Mädel. Das sollte man nicht einmal denken, aber es war doch zu fühlen. (Der Meistersohn will immer einen Meistersohn zeugen.)

     Es lief darauf hinaus, dass Onkel Georg ihm nichts zutraute. Er war eben doch nur sein Handlanger, kaufmännisch eine Null.

     Er rollte jetzt in einer Kolonne durch das breite Tal mit den Wiesen und dem nebligen Dunst. Immer war es hier dunstig, im Frühling und im Herbst, meistens auch im Winter und im Sommer sowieso. Am Rattern erkannte er, dass er jetzt über die Brücke fuhr. Den Fluss sah man aus dieser Perspektive nie. Das Dorf rückte näher ins Blickfeld. Er wird in drei Minuten zu Hause sein. Die Bungalows am Weinberg beherrschten das Dorf als mächtige weiße Putzbauten, sie strahlten weiß unter der elektrischen Straßenbeleuchtung. Die Abenddämmerung war wie ein vielfach zerrissener grauer Vorhang. Er musste scharf rechts abbiegen. Geradeaus der Weg hinauf zur Sandgrube, das war Olgas Weg, wenn sie zu dem leeren Haus fuhr, es war nicht sein Weg. Und nun ihre Idee, die alles wenden sollte in letzter Minute – er versprach sich nichts davon. Seine Verspannung nahm zu: Immer nur Manfred, seit dem Sommer schon.

     Er fand Ingrid in der Küche, sie bereitete das Abendessen zu. Sie begrüßten sich mit kurzem Hallo, wie es bei ihnen üblich war. Möglich, dass es ihm gelang, ein wenig mehr Wärme als sonst in seine Stimme zu legen, bei einem bloßen Zweisilber war das nicht einfach. Ingrid war sehr beschäftigt, sie erwiderte seinen Gruß nur zerstreut – oder war sie im Gegenteil schon auf schlechte Nachrichten gefasst?

     Auf dem Weg ins Bad sah er ins Schlafzimmer hinein, wo die Kleine in ihrer Wiege döste oder schlummerte. Er ging nicht zu ihr hin, gab nur von der Tür einen mehr für Ingrid bestimmten Necklaut von sich. Auch dies war Teil des Rituals, das bei seiner Heimkehr jetzt ablief.

     Seit Ingrid zu Hause war, begann ihre Kochkunst sich zu entwickeln. Heute gab es einen Nudelauflauf mit, wie er fand, viel Gemüse und wenig Schinken.

     Beim Essen kam die erwartete Frage, gespielt beiläufig oder tatsächlich nur noch der Form halber gestellt: „Nun? Etwas Besonderes vorgefallen?“

     „Allerdings. Onkel Georg will aufgeben. Er will es nicht bis zum Konkurs kommen lassen.“ Er sagte es möglichst sachlich. Aber es kam ihm doch ungeheuerlich vor.

     „Verständlich.“ Sie schien wenig berührt. Infolgedessen war er erst recht aus der Fassung gebracht. „Und wie denkt er es sich im Einzelnen?“

     Theo legte ihr den Plan des Onkels dar, von dem er erst seit einer Stunde wusste. Der Onkel und die Oma waren übereingekommen, den Schwarzen Bären, Grundstück wie Gebäude, der Bank zu verpfänden und über die Bank zum Verkauf anzubieten. In diesem Fall würde die Bank den Kredit verlängern und erweitern. „An Sozialversicherungsbeiträgen sind gut hunderttausend Mark rückständig. Die Pfändung lässt sich nur vermeiden, wenn in den nächsten zwei Wochen gezahlt wird.“ Und noch wesentlich höher lägen ja die Bankschulden. Dennoch hoffe der Onkel, dass nach Tilgung aller Forderungen genug übrig bleibe, um eine Wohnung für die Oma, Olga und sich selbst kaufen zu können, natürlich kein Neubau. Die Glaserei und der Gasthof würden zur Jahresmitte geschlossen.

     Es hätte nicht dazu kommen müssen. Der Onkel habe nach den Verlusten bei der System-Tourist ängstlich den Betrieb so sehr verkleinert, dass man nicht mehr imstande gewesen sei, aus den laufenden Einnahmen die alten Schulden zu bezahlen, das warf Theo ihm vor.

     Ingrid zeigte Verständnis für den Onkel: „Er will nicht ruiniert in seinen Ruhestand gehen.“

     „Und vernichtet damit meine Existenz, meine Zukunft. Man darf jetzt nicht aufgeben. Gemessen am früheren Umsatz sind die Schulden noch vertretbar.“

     Sie entgegnete nur „Hm?“, und er stutzte erst jetzt: Sie stand also nicht auf seiner Seite? Dann glaubte sie so wenig an ihn und seine  Zukunft wie der Onkel. Außer ihm war also nur noch Olga fürs Weitermachen, Olga mit ihrem speziellen Plan.

     Olga, eröffnete er Ingrid, wolle die Glaserei auch nicht aufgeben, auch sie sei für Expansion: mehr Gesellen, mehr Aufträge hereinholen, mehr Umsatz, mehr Gewinn. Allerdings halte Olga neues Kapital für notwendig, und sie wisse auch schon, wo es zu beschaffen sei …

     „ … von Manfred. Das hat sie mir auch schon angedeutet.“

     Also hat er selbst es wieder als Letzter erfahren! „Genau. Sie glaubt, er könne sich mit der Hälfte seiner Erbschaft an der Firma beteiligen. Onkel Georg hält das für Phantasterei. Wahrscheinlich hat er Recht. Wir müssen es auch so schaffen.“

     „Man kann es versuchen, die Sache mit Manfred, meine ich. Wahrscheinlich wird nichts draus.“

     Ihre Gelassenheit reizte ihn. „Wir werden es bald wissen. Onkel Georg will nur noch bis Mittwoch warten. Dann wird er bei der Bank unterschreiben. Die Verträge sind schon vorbereitet. Und wo soll ich mir dann Arbeit suchen? In Würzburg, in Nürnberg, in Frankfurt oder in München? Wo wäre es dir am liebsten?“

     Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. Es war Olga, die kurz zu ihnen kommen wollte.

     Theos Tante erschien bald darauf im schwarzen Abendmantel, darunter ein dunkelblaues Seidenkleid.

     „O, du hast dich umgezogen. Willst du nach Meiningen ins Theater?“

     „Nein, Theo.“

     „Dann bist du schon für die Reise morgen angezogen.“

     „Auch nicht, Theo. Ich habe alles noch einmal durchdacht, ich fahre morgen doch nicht nach Hamburg. Du wirst für mich fahren.“

     Theo war vollkommen perplex. Von Seiten Olgas war er mancherlei Kapriolen gewohnt, doch konnte er sich an nichts Vergleichbares erinnern.

     Ingrid sagte: „Davon war ja noch gar nicht die Rede.“

     Theo protestierte: „Davon kann auch gar nicht die Rede sein. Dieser Cousin geht mich nichts an.“

     „Er hat eine Million geerbt“, sagte Olga. „Damit kann er uns helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Es soll sein Schaden nicht sein. Das Geld bleibt ja in der Familie und arbeitet für ihn im Betrieb. Mir wird er nur die Provision geben, da vertraue ich ihm, aber was sind schon dreißigtausend Mark in unserer Lage …“

     „Ich bleibe dabei“, hielt Theo dagegen, „wir brauchen ihn nicht. Wir schaffen es auch so. Wir müssen nur wollen. Wir könnten doch die Bank wechseln. Oder einen Teilhaber suchen, nicht Manfred, irgendwen. Oder, ganz einfach: Onkel Georg verpfändet den Bären und der Betrieb läuft weiter. Wir sind dann ja wieder flüssig und mit mehr Aufträgen kommt auch mehr Geld herein.“

     „O, Theo, du begreifst die Lage nicht. Keine andere Bank wird uns helfen. Kein vernünftiger Mensch wird bei uns einsteigen, wie die Dinge liegen. Nur Manfred kann es sich leisten, er ist auf die Erträge nicht angewiesen. Nur wenn er einsteigt, wird sich mein Bruder zum Weitermachen bereit finden.“

     „Das heißt“, sagte Theo, „Manfred soll das Risiko mittragen, das Onkel Georg allein scheut.“

     Ingrid lachte: „Das hast du sehr schnell begriffen, gratuliere.“

     „Reize ihn nicht“, sagte Olga, „wir müssen ihm noch gut zureden. Also, Theo, du bist sein nächster Verwandter, du bist jetzt sogar sein einziger Verwandter. Niemand steht ihm so nahe wie du. Unterbrich mich nicht! Wenn er sterben sollte, würdest du ihn beerben, falls kein Testament da ist. Es ist deine Sache, die Dinge schon vorher in die Hand zu nehmen. Du musst es für dich und für uns tun.“

     Zum Erbschleicher habe er kein Talent, brauste Theo auf.

     Das sei der falsche Begriff, erwiderte Olga sanft. Im Übrigen sei Manfred ihnen jetzt auch verpflichtet. Er habe im Herbst so tief in der Tinte gesessen, nur in der Familie habe er so schnell Hilfe bekommen können.

     „Er ist dir verpflichtet, nicht uns, du hast alles erledigt.“

     „Nein, Theo, er ist auch in deiner Schuld. Er war dein Pate und hat sich nie um dich gekümmert. Denk an deine Konfirmation, er hat sich nicht einmal gemeldet. Und als du in Fischbek warst, wollte er auch nichts von dir wissen.“

     „Und jetzt soll ich mich ein drittes Mal anbiedern. Ich werde mich nicht so erniedrigen. Ich fahre nicht, du musst selbst hin.“

     „Theo, ich bin eine alte Frau, und du bist ein junger Mann. Auf manche Dinge verstehen sich junge Männer besser … Ja, wie soll ich’s dir denn beibringen, wenn du nicht von selbst darauf kommst … Es ist ja noch nichts erwiesen, aber Manfred lebt ohne Frau, man hat von Frauen nie etwas gehört … Es könnte sein, dass du als Mann ihm sympathischer bist.“

     „Also noch ein Grund für mich, hier zu bleiben. Das ist vielleicht eine Zumutung. Wofür haltet ihr mich?!“

     Ingrid legte ihm schnell ihre Hand auf den Arm. „Reg dich nicht auf, es ist doch nur eine vage Vermutung. Es ist ja auch gleichgültig, ganz gleichgültig, für dich spielt das keine Rolle.“

     Er war schon wieder friedlich, so schnell, wie er zornig geworden war. „Und was sagst du zu der Sache selbst?“ wollte er von Ingrid wissen.

     Olga bat Ingrid: „Zeig ihm die Kleine.“

     Ingrid ging schweigend hinaus. Olga nannte ihn „Nasenbär“. Das war sein Name bei ihr gewesen, als er noch klein war. Dann, nach dem Tod seiner Mutter, hatte sie ihn eine Zeitlang wieder so genannt. „Nasenbär, wenn es nicht klappt, werde ich dir keinen Vorwurf machen. Aber mein Gefühl sagt mir, wenn es einer erreichen kann, dann du.“

     Ingrid kam wieder herein, mit Stefanie auf dem Arm. Das Kind schlief, wie es das fast immer tat. Er begriff: die Hand an der Wiege! Die Hand wollte ihm den Weg weisen. Und damit er’s auch wirklich realisierte, sagte Ingrid noch: „Du müsstest dann nicht in Frankfurt Arbeit suchen. Oder in München.“ Und dann noch leise, fast flüsternd: „Take the money and run.

     Theo ließ sich, ohne selbst noch ein Wort zu sagen, von Olga die Mappe mit den Vertragsentwürfen geben, dann den Umschlag mit der Fahrkarte und den Platzreservierungen.

     „Dein Zug geht um sieben Uhr zwölf. In Würzburg umsteigen. Manfred ist am Zug, mit einer Rose. (Die Farbe unterschlug sie.) Viel Erfolg. Und ruf mich am Sonntag an, wenn du zurück bist.“ Während sie es sagte, streifte sie schon den Mantel über, den sie auf einem Sessel abgelegt hatte, und glitt hinaus.

     Ingrid riet ihm, den Cousin nicht mehr zu verständigen. Wenn man einen überrumpeln wolle, dürfe man ihm das nicht vorher ankündigen. Er bewunderte sie, sie war klug, die Tochter der Leberechts.

     Theo packte die Sachen, die man für zwei Tage braucht, in eine Reisetasche. Ingrid stillte unterdessen ihr Kind.

     Sie gingen früh zu Bett. Es sei erniedrigend, klagte Theo, all das nur wegen Geld.

     Er solle es sich nicht so nahe gehen lassen, es sei nur ein Geschäft. „Du bist auch ein Geschäftsmann. Ein Mann. Ein Geschäftsmann …“ Sie begann es, an seinen Rippen abzuzählen. „Nicht mehr ganz einfach bei dir, alle Rippen zu finden. Da, die zwölfte: ein Geschäftsmann.“

     „Nein, ein Mann. Du musst dich verzählt haben. Oder es geht andersherum: ein Geschäftsmann, ein Mann …“

     Sie war munter wie selten bei Tag. Sie war die Abend-Frau und er der Morgen-Mann. „Liebes, lass mich jetzt schlafen, ich muss früh raus. Ich spüre sonst morgen jede Viertelstunde. Bringst du mich zum Bahnhof?“

     Sein Einschlafen war wie ein Hinabtauchen. Er glitt unter die Oberfläche des Tages, entfernte sich mit wachsender Geschwindigkeit von allen Verhältnissen und Verpflichtungen der Realität. Er hatte nie Wachträume im Übergang zum Schlaf. Es war nur ein abgrundtiefes Behagen, das ihn erfüllte. Ganz bei sich sein, bewahrt vor der Zeit, vor allen Verlusten und Niederlagen. Er schlief  bald und schlief tief.

     Im Traum begegnete ihm einer, mit dem er vollkommen übereinstimmte. Es geschah dabei nichts. Sie sprachen nicht, sie sahen sich nicht an. Da war nur dieses Gefühl des Friedens. Sicher sein, daheim sein und nicht allein. Er erwachte kurzzeitig, Ingrid sah gerade nach dem Kind, um es erneut zu stillen. So viele Stunden waren schon um? Er wollte zur Uhr schauen, aber es gelang ihm nicht vor Benommenheit, vor Glück. Wer war im Schlaf um ihn gewesen? Ah, es war Lockenpeter, so nannte er ihn jetzt. Es hätte ein anderer Name sein können, das Glücksgefühl und die Schläfrigkeit waren so mächtig, dass es auf den Namen nicht ankam, an den jenes Gefühl sich heften konnte. Er versank wieder ins Tiefe und nahm den Namen mit hinab. Da sagte ihm Peter, er lebe jetzt in Stuttgart. Sie fuhren mit ihren Motorrädern dahin, über eine vollkommen leere Autobahn, über ein Tal hinweg. Peter fuhr voran, er wandte den Kopf halb nach ihm um und rief: Nach Stuttgart, nach Stuttgart!

9. Der Cousin

Er verwünschte den Einfall mit der Rose, eine übertriebene Geste, die ohnehin nicht zu ihm passte. Obwohl ihn auf dem Bahnsteig voller Menschen keiner beachtete, genierte er sich. Er hielt den Stiel verkehrt herum. Erst beim Einlaufen des Zuges wird er ihn umdrehen und hochhalten. Und auch noch Rot – man könnte es mit dem Zwielicht rechtfertigen, das hier unten herrschte. Das Kunstlicht aus starken Leuchtkörpern kämpfte mit dem natürlichen eines späten Märznachmittags, das ungefiltert vom hohen Glasdach herabflutete. Rot ist da die Farbe, die sich am besten durchsetzt.

     Er rekapitulierte: Olga war die Schwägerin seiner verstorbenen Tante, eine weitläufige Schwägerschaft, für ihn wenig verpflichtend. Sie ist, das fühlt er schon, jene entfernte ältere Verwandte, die die Distanz mit Munterkeit und gespielter Vertraulichkeit überbrückt; nicht aufhebt, bloß zeitweise überbrückt. Er kann sich beruhigt seiner natürlichen Passivität überlassen, für ihn wird es dennoch amüsant werden.

     Einige der Umstehenden erwarteten genau wie er Reisende aus dem nun einlaufenden Zug, dem sie die Hälse entgegenreckten. Die meisten hier aber wollten selbst mit dem nächsten Zug Richtung Süden fahren; er stand schon, aus Altona kommend, vor dem Hauptbahnhof und wartete auf das Freiwerden des Gleises. Unter diesen Reisenden war ein blonder Rekrut in NATO-Oliv mit einem viel zu großen Seesack, eine erregende Erscheinung. Manfred begann ihn fasziniert zu betrachten, vom markanten Schädel mit dem Stoppelhaarschnitt und den noch weichen Zügen des Gesichtes bis hinab zu den Springerstiefeln. Dabei störte ihn immer wieder das hin- und herwogende Gedränge um ihn herum und engte sein Blickfeld weiter ein. Zur visuellen trat nun noch eine akustische Ablenkung, denn neben ihm ließ sich  eine männlich-junge Stimme vernehmen:

     „Hallo, Entschuldigung, bist du Manfred?“

     Er hielt den Rosenstiel noch immer mit der Blüte nach unten und sah den unbekannten Frager irritiert an und dachte oder empfand ungefähr Folgendes zur selben Zeit: Der Rekrut. Die Rose. Olga. Und wer ist das?

     „Ich bin Theo aus Neustadt und komme anstelle von Olga.“

     Er begriff es nach ein paar Sekunden. Mit vierzig ist die Umstellung der Gedanken, der Vorstellung noch nicht merklich erschwert. Man stutzt kaum und versucht zu lächeln. Aber die Rose: Sollte er sie jetzt wirklich ihm überreichen? Er vermied die übertriebene Geste und ließ sie unauffällig, wie er hoffte, von der Rechten in die Linke wandern, denn mit der Rechten ergriff er nun Theos ausgestreckte Hand. Es kam ein fester, ja ein wenig übertrieben zupackender Griff, den er ruhig und fest zu erwidern sich bemühte. Sein Gegenüber erinnerte im Aussehen entfernt an den Motorradfahrer vom vergangenen Frühjahr.

     Was mit Olga passiert sei, war Manfreds erste Frage noch auf dem Bahnsteig, noch vorgestern habe er mit ihr telefoniert.

     Sie habe sich gestern Abend den Fuß verstaucht. Das war die in solchen Fällen naheliegende und gewöhnlich unglaubwürdige Antwort. Sie sei, ergänzte Theo auf Manfreds prompte Nachfrage, auf der Treppe hinauf zur Wohnung gestürzt, er sei nicht dabei gewesen. Unwille überzog bereits sein Gesicht, dessen frische Farbe sich käsig zu verfärben begann.

     „Und dann hat sie dich gebeten, nach Hamburg zu fahren …“

     „Ja, sie ist gleich zu uns herausgefahren. Die Verträge … ich habe sie bei mir.“

     „War sie denn nicht zuerst bei einem Arzt?“

     „Nein, vielleicht heute …“ Der Unwille materialisierte sich; wie an sehr warmen Tagen heiße Luft über Gegenständen als Lohe sichtbar wird, so umgab jetzt eine besondere Aura, vielleicht gewittergeladen, die wüste Fleckenlandschaft aus Röte und Blässe. Er, Manfred, musste dem Ende machen und sagte:

     „Ja, ja, ich weiß, bei Distorsionen wird es erst nach Stunden richtig schlimm. Oder am Tag darauf.“ In diesem Fall war die schnelle Aufgabe des Reiseplans natürlich erst recht nicht einzusehen. Er fand es selbst schlecht begründet, und Theo sah ihn nur groß und unbefriedigt an. Sie logen beide schlecht und wussten es jetzt auch einer vom anderen.

     „Wollen wir mit der U-Bahn zu mir fahren?“

     Der Hauptbahnhof war noch immer eine große Baustelle. Manfred lotste ihn über provisorische Stege und durch Engpässe. Die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn ließ er ihn als Ersten betreten. Nun stand er zwei Stufen weiter unten, halb umgewandt zur Reisetasche, die er zwischen ihnen abgestellt hatte und im Auge behielt. So ein großer Kerl, kräftig und hübsch, dachte Manfred, und macht jetzt einen mitleiderregenden Eindruck. Verwirrt, desorientiert. Es würde kein Wunder sein, wenn sich ihm die Haare sträubten, wie bei manchen kleinen, verwirrten Tieren. Sie haben ihn zu mir geschickt, freiwillig ist er nicht gekommen. Ein  letztes Aufgebot. Und wozu das alles? Es wird herauszufinden sein. Ein großes Wickelkind. Ich habe ihn einmal auf meinen Händen getragen.

     Manfred sah den Süchtigen schon von weitem. Hingekauert, den Rücken an der gekachelten Seitenwand, traf er mit allem Zubehör gerade die Vorbereitungen für seinen Schuss. Sie hatten die obere Rolltreppe verlassen und gingen nun den langen Zwischengang entlang, der an der früheren Sperre endet. Auch dieser da war an der Nadel. Den Faden brauchte sie, die Nadel, und nähte sich mit eigner Hand ihr Sterbehemde sonder Tadel. Richtig zitiert? Mit so etwas füllten sie in seiner Jugend die Schullesebücher. War es wirklich so schlechte Lyrik? Das Sterbehemde, warum sonder Tadel? Ein Seitenblick streifte Theo, dem der Vorgang im Gewühl der Passanten bisher offenbar entgangen war. Er sollte ihm den Anblick ersparen, er war fremd hier und verfügte gewiss nicht über den Schutzschirm der Erinnerungen, Analogien und des zitierfreudigen Ironisierens. Indem er aber die Seite wechselte, um die Sicht zu verdecken, bemerkte Theo alles auf einmal: den ungeschickten Versuch seines Cousins, etwas zu vertuschen, den Süchtigen und das Aufsetzen der Spritze. Er zuckte mit der rechten Schulter – die linke war vom Gewicht der Tasche belastet – und lächelte trüb.

     Die Bahn war gut besetzt. Sie fanden zwei Sitzplätze einander gegenüber. Theos breite Kniegelenke ragten bedrängend entgegen. Er hatte die Reisetasche auf den Oberschenkeln und hielt sie mit beiden Händen fest. Ihr wesentlicher Inhalt, die Verträge, sie waren bisher seine einzige Legitimation hier. Sie sprachen nicht miteinander. Die Bahn ratterte, es war laut im Wagen. Eingezwängt unter lauter fremden Menschen, verspürten sie keine Lust, ein Gespräch zu probieren. Worüber könnten sie miteinander reden? Sie sahen sich mit dem Ausdruck wohlwollender Neutralität an. Theo wirkte jetzt weniger gespannt.

     Nach ein oder zwei Stationen wurde es dem jungen Cousin zu warm. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke. Zu diesem Zweck stellte er die Tasche kurz auf dem Boden des schmalen Mittelgangs ab, um sie dann wieder auf den Oberschenkeln zu placieren. Schade, dachte Manfred, er wird sich die Hose beschmutzen, Staub oder noch Ärgeres. Er ist fremd hier, er hat es noch nicht gelernt, den allgegenwärtigen Schmutz zu meiden.

     Erst jetzt fiel es Manfred auf, dass sie beide sehr ähnliche Jacken trugen: grau, mittellang, wattiert. Sie waren beide angezogen, wie um die Vielfalt möglicher Grautöne vorzuführen. Theo trug dunkelgraue Jeans und einen anthrazitfarbenen Pullover, bei Manfred wiesen Cordhose und Pullover mittlere Grautöne auf. Der Kragen seines Hemdes, leuchtend rot-schwarz kariert, kontrastierte lebhaft: ein Hinweis, dass nicht auch noch das Unterfutter seiner Seele mausgrau war. Oder war es nur eine Reminiszenz an die viel buntere Vergangenheit? Theo hatte sich für ein Hemd von kräftigem Dunkelblau entschieden. Ihre Aufmachung war also ziemlich ähnlich, doch was bedeutete das? Manfred hatte sich auf die Begegnung mit einer älteren Verwandten eingestellt, eine falsche Annahme, wie sich gezeigt hatte. Und Theo? Er hatte gewusst, zu wem er reisen würde, und er hatte ebenfalls zu Grau gegriffen.

     In diese graue Farbtheorie platzten zwei Jammergestalten. Sie enterten den Wagen im letzten Augenblick, als eben die Türen geschlossen wurden. Sie würden für Musik sorgen. Der eine griff sogleich hastig in die Saiten seiner Gitarre mit Verstärker und presste dazu einige Töne aus seiner schon vielmals missbrauchten Kehle. Der andere präsentierte ohne Verzug das Leinensäckchen, das sich indessen nicht recht mit Münzen füllen wollte. Es war platteste Schrammelmusik, und sie ging großenteils im noch lauter werdenden Fahrgeräusch unter; denn die Bahn legte auf dem langen Abschnitt zum Schlump hin an Tempo noch einmal stark zu. Manfred schloss die Augen, um das Säckchen unkommentiert an sich vorbeitragen zu lassen. Als er sie doch einmal öffnete, sah er Theo unschlüssig in seiner Jackentasche kramen. Der Cousin sah fragend herüber. Ein kurzes Kopfschütteln genügte, ihm die Entscheidung abzunehmen. Und danach sah Theo erstmals seit seiner Ankunft beinahe zufrieden aus.

     Die Rose war ihm peinlich gewesen, er genierte sich jetzt auch wegen der Osterstraße. Es gab viel schlimmere Viertel, er müsste sie ihm zeigen. Dort, in jenen Vierteln, war alles am Zerfallen, die Häuser und die sozialen Beziehungen. Vermischt hatten sich dort nur Armut, Unwissenheit und Rassenhass und hingen wie eine einzige nicht mehr abziehende, verdüsternde Wolke über Billstedt zum Beispiel oder Wilhelmsburg oder Dulsberg. Eimsbüttel dagegen erstickte an seiner eigenen Beliebtheit, an seiner relativen kleinbürgerlichen Wohlhabenheit, es erstickte an der eigenen Lust am Immermehr. Eine Null ohne etwas davor, ohne jeden Nennwert also, träumte den Traum von der Selbstverwirklichung und wurde dabei groß und größer und war dem Zerplatzen nahe. Vielleicht aber würde vorher die Wolke aus Billstedt auch Eimsbüttel erreichen und den kurzatmigen Spaß gefrieren lassen.

     Die Straße war verstopft von Autos, die sich nur zeitweise in der Kolonne träge ein Stück weiterschoben. Es war nur ein unbedeutender Abschnitt des Staus, der um diese Zeit von der Lombardsbrücke bis in den Pinneberger Landkreis reichte. (Und es gab noch so viele andere Staus.) Auf den Gehwegen der Osterstraße konnten zwei Fußgänger in gleicher Richtung nur hintereinander vorwärtskommen. Manfred ging voran und warf in kurzen Abständen Blicke zurück: ob er noch da war. Einem sterbenden Baumriesen, letztes Überbleibsel einer bescheidenen Vorstadtallee, war eine Umwallung aus Bohlen und guter Komposterde verpasst worden, vergeblich in dieser Giftluft. Dieses Gebilde schnürte den Fußweg noch weiter ein. Den kühn verschwenkten Radweg kürzten hier jene quer durch die Menge der Fußgänger ab, die ohnehin auf der falschen Seite fuhren. Es war eine gefährliche Stelle. Einem älteren Polizisten, der als Fußstreife unterwegs war, kamen Erinnerungen an zivilisiertere Zeiten und Verkehrsformen. Er verlangte, dass man abstieg, er stellte zur Rede. Es war eine absurde und anachronistische Amtshandlung. Kaum war der Schutzmann fünf Schritte weitergegangen, saßen sie grinsend wieder auf und preschten – fast möchte man sagen: mit verhängtem Zügel – weiter, Kollisionen nicht fürchtend. Es galt, die verlorene Zeit der Belehrung einzuholen.

     Ein Schuhgeschäft hatte seine Bestände fast bis zum Straßenrand aufgebaut. Lieferwagen brachen aus Hinterhöfen aus, die Gesichter der Fahrer wutverzerrt oder angstentstellt. Dass zwei Blocks so lang sein konnten in Eimsbüttel. Theo ging verhältnismäßig langsam.

     „Wir sind gleich da.“ Aber vorher erlebten sie noch etwas.

     An der Ecke, an der sie abbiegen mussten, um die ruhigeren Gefilde zu erreichen, bog beim Wechsel der Ampelphase noch eine scharf um die Ecke und mitten in die vorrückende Kompanie Fußgänger hinein: kühne Amazone auf zwei Rädern, ungerührtes Gesicht einer starken Mittzwanzigerin. Immerhin stieg sie ab, um ihr Opfer zu betrachten. Die Gegnerin war wie eine gefällte Eiche, eine starke, resolute Dreißigerin, die man zunächst vergeblich aufzurichten versuchte.

     Theo schien Lust zu haben, stehen zu bleiben.

     „Komm, lass uns weitergehen. Es sind genug Zeugen da. Du wirst das Martinshorn gleich hören.“

     Sie konnten jetzt nebeneinander gehen. Was denn heute hier los sei, wollte Theo wissen.

     „Nichts Besonderes. So ist eben die alternative Ellenbogengesellschaft. Es ist nur der allgemeine Hass aller auf alle. Und es ist nicht immer so.“

     Sie betraten das Haus, in dem Manfred seit zehn Jahren lebte. Die Wohnung lag im Erdgeschoss.

     Manfred ließ ihn seine Tasche im Gästezimmer abstellen. Dann zeigte er ihm die Küche und das Sanitäre. Sie gingen am Schlafzimmer vorbei und betraten das Wohnzimmer. Theo besah sich alles wortlos, die Möbel, die Plakate, die Bücherreihen. Er war dabei voll verhaltener Unruhe. Er ging in dem großen Raum auf und ab und blieb schließlich am Fenster stehen, mit dem Rücken zu Manfred. Er sah zwei oder drei Minuten hinaus auf die Straße.

     Sein Verhalten jetzt erinnerte Manfred an dasjenige des getigerten Katers aus dem ersten Stock. Das Tier verbrachte seine Tage und Nächte großenteils auf der Straße. Eines Nachts, es ging gegen Morgen, war aber noch dunkel, hatte Manfred es frierend vor der Haustür gefunden, als beide von nächtlichen Streifzügen heimkehrten. Der Kater schoss an ihm vorbei und blieb dann auf einer der unteren Treppenstufen hocken. Mit professoraler Würde folgte sein wuchtiger Kopf den Bewegungen Manfreds, der seine Tür aufschloss. Das Tier ließ sich nicht lange bitten, eine Kopfbewegung vonseiten Manfreds und es huschte hinein in die Wohnung. Drinnen kratzte es an allen Zimmertüren. Manfred ließ es umherschweifen, erregt an den alten Möbeln riechen. Der Kater sprang auf die Küchenanrichte, kroch unter das Bett im Gästezimmer und bezog schließlich auf einer Fensterbank im Wohnzimmer Posten. Dies war auch bei späteren Besuchen sein liebster Platz, auf dem er zeitweise beinahe Ruhe fand. Er benagte dort nur die Grünpflanzen und begleitete das Geschehen auf der Straße mit synchronen Kopfbewegungen. Die Unruhe des Tieres war so groß, dass Manfred es nie länger als zehn Minuten in der Wohnung behielt.

     Theo seinerseits roch jetzt nicht an den wenigen alten Möbeln, die von den Großeltern übernommen waren. Ob er sie wieder erkannte, den sehr altertümlichen Ruhesessel und das Büffet aus Eiche von 1912?

     „Du hast gar keinen Fernseher“, sagte er endlich.

     „Nein, die Zeit ist mir hier auch so bisher nicht lang geworden.“

     Ob er mit ihm Kaffee trinken wolle, er habe auch Kuchen besorgt. Theo wollte nur Kaffee. Als der Kuchen dann aufgetischt war, sah er begehrlich zu ihm hinüber. Die Sache sei die, er habe in letzter Zeit zwei Kilo zugenommen. Sie einigten sich darauf, dass das Abendessen noch nicht unmittelbar bevorstehe; man werde erst später essen gehen, und Theo könne jetzt doch zulangen.

     Theo aß, trank und schwieg. Es war Manfreds Sache, das Gespräch in Gang zu bringen. Er hätte nach dem Verlauf der Reise, nach seinen Leuten in Neustadt fragen können. Aber er fühlte, all dies berührte nicht den Kern der Sache: Wie standen sie zueinander? Ließ sich die Reserve des Cousins überwinden?

     „Du hättest schon ein paar Jahre früher hier sitzen sollen. Es ist dazu nicht gekommen …“ Theo rückte vom Tisch ab, schlug ein Bein über das andere und nahm das gebeugte Knie in die Hände. Er starrte den Älteren an, voller Erwartung. „Es war meine Schuld. Ich habe dich damals nicht eingeladen. Es tut mir leid. Ich war zu sehr beschäftigt. Alles, was mit Neustadt zusammenhing, war mir damals gleichgültig.“

     Theo ließ das Knie los und rückte wieder an den Tisch heran. Er schob Teller und Tasse von sich weg und stützte die Ellenbogen auf. „Ja“, sagte er bewegt, „es war deine Schuld. Du wolltest mich nicht sehen. Und jetzt komme ich, weil Olga es so eingefädelt hat.“

     Ich habe noch nicht alles angesprochen, dachte Manfred, noch ist er nicht versöhnt. Und er sagte zu ihm: „Ich hätte mich auch davor schon um dich kümmern können, es ist wahr. Ich habe es nicht getan, warum? Vermutlich war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Es tut mir leid. Vergiss es, wenn du kannst.“ Und er übernahm im eigenen Inneren die Rolle des Cousins und hörte sich selbst als Theo sagen: Ja, Manfred, wir wollen es gut sein lassen. Das ist ja alles lange her, vorbei und vergessen.

     Stattdessen flegelte sich der wirkliche Cousin noch mehr über die Tischplatte und vertiefte das Schuldbekenntnis ungebeten lachend: „Du sagst es. Du hast dich überhaupt nicht mit mir abgeben wollen. Du hast mich nicht eingeladen. Du bist nicht zu uns gekommen. Es ist deine Schuld, deine Schuld!“ Er war laut geworden und lachte lauthals, wenn es überhaupt ein Lachen war; jedenfalls die Äußerung einer heftigen Gemütsbewegung, wie sie nicht zu erwarten gewesen war. Vertrug er keinen Kaffee? Oder sollte er im Kopf nicht ganz richtig sein? Es war fast schon eine hysterische Reaktion.

     In den Bars war Manfred ab und zu ähnlich heftigen Jünglingen begegnet, Sie waren immer um die zwanzig, und er kam mit ihnen nicht zurecht. Ihre kontrastreiche Art, sich zu geben, war das Widerspiel einer inneren Entwicklung, deren Gesetze ihm verborgen blieben. Es grenzte oft ans Widersinnig-Unheimliche. Auch Theo blieb nicht lange beim Thema und kam lachend auf Olga zurück:

     „Du musst wissen, sie hat drei Schränke voller Kleider. Edelklamotten, sage ich dir. Es hat nach der Scheidung damit angefangen. Dabei hat sie kaum Gelegenheit, die Sachen zu tragen. Jahrelang war sie damit höchstens mal zum Kaffeetrinken im Lamm. Seit die Grenze offen ist, fährt sie manchmal nach Meiningen ins Theater. Aber glaub bloß nicht, dass das Theater selbst sie interessiert. Alles nur Theater.“ Er wieherte.

     Manfred lachte mit. „Die gute Olga, deine Tante. Sie muss recht tüchtig sein. Ich glaube, sie weiß, was sie will.“

     „Ach, Olga … Sie war eine Art Schwester für mich. Sie ist es immer noch. Und Geschwister zanken sich nun mal oft. Gestern Abend war sie vielleicht angefummelt, sage ich dir. Langer schwarzer Mantel, vielleicht Seide, kenn mich da nicht so aus. Und blauer Samt drunter, bloß um mir zu sagen …“

     „ … dass du nach Hamburg fahren sollst.“

     Jetzt lachten sie beide unisono aus vollem Hals. Ja, man konnte es hysterisch nennen. Es tat ihnen fühlbar gut. Aber Manfred sagte sich wenig später, erst sein Schuldbekenntnis habe das gute Einvernehmen bewirkt. Seine Schuld ihm gegenüber war und blieb der Grund, auf dem sie gemeinsam standen. Stünde ich nicht in seiner Schuld, er würde mich vielleicht verachten …

     Theo händigte dem Cousin die beiden Kaufverträge aus. Er kenne den Inhalt nicht, Fragen müssten mit Olga am Telefon geklärt werden. Sie habe gewiss ihr Möglichstes getan. Den ganzen Winter sei sie mit den Sachen beschäftigt gewesen. Alles habe Hand und Fuß, dafür bürge er. Stolz und Befriedigung erschienen auf seinem runden Gesicht. Er schätzte seine Tante, ohne Zweifel, ihr Verhältnis schien gut. Also lag den abfälligen Bemerkungen vorhin ein besonderer Affekt zugrunde.

     Es sei gut, sagte Manfred, er werde vor dem Abendessen schon einmal in die Verträge hineinsehen. Es ergab sich dann, dass Theo duschen wollte. Die Dusche befand sich in der früheren Speisekammer. Man entkleidete sich gewöhnlich in der Küche und ging dann in das daneben gelegene Gelass. Die Glasfüllung der Küchentür würde vom Flur und sogar vom Wohnzimmer her einen Blick auf diese Vorgänge erlauben. Manfred nahm daher rasch die Verträge und ging mit ihnen zum Schreibtisch, der in seinem Schlafzimmer stand. Und er schloss auch die Tür des Zimmers, damit so jeder gut abgeschirmt seiner Tätigkeit nachgehen könne.

     Allerdings war dann am Schreibtisch das Geprassel des herabstürzenden Wassers deutlich zu hören. Zwischenwände leiteten den Schall. Manfred glaubte sogar die Spuren des Hohlraums, den Theos Körper dabei bildete, in diesem Klangteppich wahrnehmen zu können, als Störung und Ablenkung der sonst regelmäßig auftreffenden Wasserstrahlen. Die Generalpause des Einseifens – dann erneuter Schwall mit aufprallenden Wassergüssen, die geräuschvoll zur Wand abgeleitet wurden. Die abrupt eintretende Stille signalisierte das Abreiben und Massieren dieses kräftigen Körpers. Unmöglich, bei alledem in dem Konvolut des Neustädter Notars zu lesen. Jetzt war es schon längere Zeit still. Er wird ins Gästezimmer gegangen sein, liegt vielleicht auf dem Bett.

     Zum Schein blieb Manfred am Schreibtisch sitzen. Die Sprache der Juristen war seine nicht. Er war unfähig, einen Vertrag Paragraph für Paragraph durchzulesen, zu verstehen und dabei etwaige Falltüren zu entdecken. Im Übrigen verschleierte die Altertümlichkeit mancher Wendungen die begriffliche Dürre, die durchgehend und zwangsläufig herrschte. Alles musste ja so fixiert sein, dass ein späteres willkürliches Daranrücken oder -rühren durch die Parteien unmöglich war. Wörter wie Kaufgegenstand, Zwangsvollstreckung und Auflassungsvormerkung bezeichneten etwas Konkretes und im jeweiligen Fall Einmaliges. Es gab da nichts zu interpretieren. Oder wenn er das Wort Grundschuld nahm: es gab sie oder es gab sie nicht, und wenn es sie gab, dann bestand sie in exakt zu beziffernder Höhe. Diese Begriffswelt war starr und zuverlässig wie die tote Materie. Eine ganz andere Sache war es, wenn Theo von Schuld sprach: Daraus konnte noch etwas werden.

     Er schob die Verträge in ein Fach des Schreibtischs. Morgen wird er weiter in ihnen lesen. Er ging in die Küche, wo Theo auf einem Stuhl saß und in den Hof sah.

     Das Lokal an der Ecke war nach einer Insel Griechenlands benannt. Ja, griechisch essen, das wolle er sehr gern, hatte Theo gesagt. Aber als sie einen Platz suchten, sah er enttäuscht drein. Ein Mittelgang mit Vierertischen rechts und links, abgeteilt von halb hohen, mittelbraunen Holzwänden, alles ziemlich schmucklos, der Blick auf die Osterstraße unergiebig, da der Straßenausschnitt viel zu klein war: Theo verstand unter einem Griechen vielleicht etwas anderes. Sie zwängten sich in eine der Kojen. Manfred wurde sich bewusst, dass er all das nur von langer Gewohnheit abgestumpft wahrnahm. Das Essen war anspruchslos, ohne irgendeine Kritik herauszufordern. Nur der Wein sei besser als in Neustadt, sagte Theo.

     Auch hier hingen zwei Plakate mit Ansichten der Namen gebenden Insel. Dahin fliegen, Urlaub machen, sagte Theo, leider sei es jetzt nicht mehr möglich. Im vorigen Jahr habe er es auch schon nicht mehr geschafft. Er schwieg sich über die Gründe aus. Es fiel Manfred auf, dass er Ingrids Namen vermied, ebenso den des Kindes: als bestünde so ein schützender Bann um die kleine Familie.

     Aber er, der große Cousin, sei doch sicher viel weiter herumgekommen.

     „Früher schon“, sagte Manfred.

     „Bis nach Chicago?“ Er hatte auch das nicht vergessen.

     „Aber weiter nicht.“

     „Nur bis Chicago?“ Theo verbarg nicht, dass er wieder enttäuscht war. Für ihn beginne, nach seiner Vorstellung, das interessante Amerika erst am Mississippi. Der große Strom, die Prärie, die Gebirge des Westens, die Wüsten und dann Kalifornien. Es stellte sich heraus, dass er am liebsten wochenlang mit Motorrad und Zelt durch diese Landschaften fahren würde. Manfred dagegen kannte fast nur die großen Städte des Ostens, abgesehen von einigen Abschnitten der Atlantikküste. Theo nannte ihm die Namen von Fernsehserien, die in diesen Städten spielten. Aber er, der Cousin, habe ja kein Fernsehen.

     „Hast du sonst Reisen mit dem Motorrad gemacht?“

     Ja, Theo war früher wiederholt in den Alpen unterwegs gewesen; Manfred ergänzte bei sich: vor seiner Heirat. Sie kamen darauf, dass sie beide im selben Jahr, wenn auch vielleicht nicht genau zur gleichen Zeit, Urlaub in Graubünden gemacht hatten. Sie kannten dieselben Pässe. Allerdings hatte Manfred (in Maximins Begleitung, was er verschwieg) den Piz Umbrail bestiegen, und Theo war vom Umbrail-Pass über das Stilfser Joch nach Südtirol hinuntergefahren. Der Cousin hatte also tatsächlich einen Dreitausender bestiegen?

     „Ja, aber stell es dir nicht zu großartig vor. Die Aussicht ist natürlich enorm, vor allem zum Ortler hinüber. Aber mit der Leistung, der Bergbesteigung also, ist es nicht so weit her. Man fährt mit dem Postbus bis auf den Pass und hat dann nur noch fünfhundert Höhenmeter vor sich. Allerdings ist der Abstieg nach Santa Maria dann sehr lang.“

     „Und kann es nicht sein, dass wir uns dort begegnet sind? Ich habe auf dem Pass angehalten, auf dem Parkplatz.“

     „Das tun die meisten. Nein, ich erinnere mich zwar zufällig noch an einen Motorradfahrer, einen wuscheligen Lockenkopf mit rotem T-Shirt … Er fiel mir auf, weil er sich als erstes sehr intensiv kämmte. Er nahm den Helm ab und vertiefte sich sofort in seinen Anblick im Rückspiegel. Die Berge waren anscheinend Nebensache. Das fand ich sonderbar.“

     „“Einen Lockenkopf? Mit etwas Bauchansatz?“ Und als Manfred nickte: „Eine Tausender Kawa? Mit Stuttgarter Kennzeichen?“

     Das wisse er nun wirklich nicht, er habe nicht darauf geachtet. Übrigens habe er gar keinen Sinn für Motorräder, auch nicht für Fahrzeuge oder Maschinen anderer Art. „Ich habe ja nicht einmal einen Führerschein für Pkw.“ Theo sah ihn groß an, und Manfred versuchte sich zu rechtfertigen: „Es fehlt mir da die Neigung. Schon immer war es meine Art, mein Geld zusammenzuhalten. Möglichst keine teuren Maschinen kaufen, wenn es auch anders geht. Weißt du, in meinem Beruf verdient man nicht so sehr viel, auch mit Kunsthistorikern kannst du die Straßen pflastern. Für einen Handwerker in deiner Position sieht die Welt natürlich ganz anders aus. Das bisschen Wohlstand, das ich habe, beruht in erster Linie auf Sparen.“

     Es kam ihm gleich selbst dumm vor. Aber musste Theo derart verstimmt reagieren? Er erwiderte nichts mehr, und sie beendeten die Mahlzeit schweigend.

     Wollte Theo nach dem Essen noch einen kleinen Streifzug durch die Nachbarschaft unternehmen? Manfred hatte sich beim Essen überlegt, in welche nahe gelegenen Bierkneipen er ihn führen könne. Er selbst besuchte diese Lokale sonst nie, mit dem jungen Cousin dort zu sitzen und einige Stunden miteinander zu reden, zu trinken und zu schweigen, war ihm verlockend erschienen. Das abendliche Eimsbüttel reizte Theo jetzt wenig. Er meinte, er sei müde vom frühen Aufstehen, von der Reise, vom Essen und vom Wein. Dagegen ließ sich nichts sagen. Sie gingen auf dem direkten Weg nach Hause.

     Vielleicht bleibe ja am anderen Tag noch Zeit übrig, ihm dies und das zu zeigen, neben seiner Beschäftigung mit den Verträgen, sagte Theo gähnend. Es fiel ihm anscheinend schon schwer, verständlich zu artikulieren. Manfred schickte ihn schlafen, und gegen zehn Uhr erlosch der Lichtstreifen unter der Tür des Gästezimmers.

     Manfred ging vor dem Bücherschrank auf und ab. Es gab jetzt ein Bedürfnis nach Lektüre besonderer Art. Er brauchte einige Zeit, sich darüber klar zu werden, was er ungefähr suchte. Es sollte zu diesem unerwarteten, sehr willkommenen und doch auch wieder recht heiklen Besuch passen, seine eigene Einstellung zu dem Besucher klären und vertiefen. Also etwas Klares und Ruhiges, reine Anschauung, etwas Kontemplatives. Da standen die mehr oder weniger geliebten Autoren und verweigerten jetzt ihre Hilfe. Gab es in all dieser Desillusionsliteratur nicht doch Abschnitte ruhig-friedlicher Anschauung? Wo genau beugte sich in Prousts Riesenroman der Erzähler über die schlafende Albertine? Die halbe Nacht würde auf der Suche danach vergehen. Es fehlte eben ein Register der markanten Stellen. Oder waren Musils Atemzüge eines Sommertages das Richtige?  Für ein Kapitel war das eine wunderbare Überschrift, und an mehr erinnerte er sich jetzt nicht. Er fand den Text im Anhang zum Roman gleich in mehrfacher Version. Und da war auch die wundervolle Erfindung oder Beobachtung jenes ruhig gleitenden Zuges der Blütenpollen. Aber der Text vor und nach dieser Stelle enttäuschte ihn, er kam ihm jetzt nur noch wie ein mechanistisches Operieren mit Begriffen vor, es war die Mystik eines Operationssaales oder eines Rechenzentrums.

     Er ging ohne Buch hinüber ins Schlafzimmer und saß eine Weile am Schreibtisch und hing den stärksten Bildern des Tages nach: Theo, mutlos, verloren auf der Rolltreppe zur U 2, als ginge es wer weiß wo mit ihm hinab. Theo wie im Krampf über den Tisch lachend. Theo, den Wein genießend, beinahe wie die Verkörperung eines jungen Weingottes, offen redend, bis er ihm die Laune verdarb. In diesen Bildern lag die Wahrheit des Tages und sie war nicht auf die Bekräftigung durch Fundstellen angewiesen. Er ging leise schlafen, und sein Schlaf war traumlos  erquickend.

 

 

Der gute Schlaf war beiderseitig gewesen. Gegen halb neun saßen sie gut ausgeruht am Frühstückstisch. Es war der Esstisch, der an einem der beiden Wohnzimmerfenster stand. Über der Straßenschlucht, neben deren Grund sie saßen, war der Himmel rein blau wie seit Wochen nicht mehr. Einige Bewohner der Straße bepflanzten bereits die Blumenkästen ihrer Balkone, die wie Logen an den historistischen Fassaden klebten. Andere Nachbarn kamen mit Blumensträußen für die Vasen vom nahen Markt zurück, einer Überfülle von Tulpen und Narzissen in den verschiedensten Farben. Durfte man aus dem Grad des Bedürfnisses nach Ausschmückung auf die gewöhnliche Dürftigkeit des Auszuschmückenden schließen?

     Sie redeten über wenig Belangvolles, über das schöne Wetter, den guten Schlaf, was man zum Frühstück bevorzuge. Nachher saßen sie in zwei Winkeln des großen Zimmers und studierten – Manfred seine Verträge und Theo einen Bildband über das Engadin, den Manfred ihm herausgesucht hatte.

     Manfred fand, die Verträge zu beurteilen, sei schließlich Sache des Notars. Er wird sie am Montagmorgen in der Kanzlei abgeben. Für den späten Dienstagnachmittag war ein Termin zur Besprechung und wohl auch zum Unterschreiben angesetzt. Er sah gelegentlich zu Theo hinüber, der nicht hastig blätterte, sondern langsam genießend den Band durchsah. Ebenso bedächtig las er die Bildunterschriften.

     Theo rief ihn hinüber, er solle sich diesen Blick ins Puschlav ansehen. Er sei selbst vom Berninapass da hinuntergefahren. Manfred trat hinter ihn. Er hatte das Bild schon oft allein betrachtet, den langen grünen Talschlitz, der vor der Wand der Bergamasker Alpen zu enden schien. Es ging aber, in Italien, noch um die Ecke.

     „So schön kann Italien gar nicht sein, wie es hier zu werden verspricht“, sagte Manfred, „und ist es auch nicht.“ Ja, er sei wiederholt da gewesen und bis nach Syrakus gekommen.

     Sie sahen den Rest des Bandes gemeinsam durch. Danach ging Manfred ein letztes Mal zu den Verträgen hinüber, bevor er sie wegpacken würde. Sie waren immerhin der Grund für den Aufenthalt seines Cousins hier. Theo las jetzt, sich vor den Regalen verrenkend, die Titel auf den Rücken der Schallplatten. „Wie viele Platten du hast - und fast nur Klassik.“ Er sagte es sachlich, er hätte auch sagen können: Und natürlich nur Klassik. Oder er hätte es denken und dabei schweigen können. An diesem Morgen war er mild und nachsichtig. Ob er, Manfred, das tatsächlich alles gehört habe?

     „Ja, fast alles. Vieles nur ein- oder zweimal, anderes viele hundert Mal, je nach Vorliebe. Und die Vorlieben fallen im Leben nun mal sehr verschieden aus … “ Er unterbrach sich, es war ihm plötzlich etwas in den Sinn gekommen.

     „Ich suche manchmal im Plattenbestand nach einer ganz bestimmten Aufnahme“, fuhr er fort, „und ich kann sie nicht mehr finden. Es ist nicht einmal sicher, ob ich sie je besessen habe. Manchmal zweifle ich, ob das Stück überhaupt existiert. Es ist nur eine vage Erinnerung. Es müsste eine Sinfonie sein, am ehesten aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Tonale Musik, viele dissonante Klänge, farbig wie alte italienische Musik, gefühlvoll und lebhaft wie etwas aus dem slawischen Raum. Ist der Komponist Russe – ich weiß es nicht. Mir scheint, ich habe diese Platte vor Jahren gekauft, eine der letzten Langspielplatten oder eine der ersten kleinen Scheiben … Ich habe sie nur einmal angehört, ich habe die Musik aufregend schön und schwierig gefunden und mir vorgenommen, sie erneut mit größerer Konzentration anzuhören. Ich habe wiederholt daran gedacht, es zu tun, ich habe mich darauf gefreut – und ich finde keine Spur dieser wunderbaren Musik. Wahrscheinlich ist das Ganze nur ein Traum, der sich ab und zu wiederholt.“

     Theo schwieg zunächst, und Manfred dachte: Warum erzähle ich ihm das? Es fehlt nur, dass es so ausgeht wie voriges Mal bei dem Kleinen. Ich habe einen der Tänze von Philip Glass aufgelegt, und der Kleine hat gesagt, das sei doch schon ziemlich überholt und ob ich gar nichts von ABBA hätte …

     Manchmal sei es doch kein Traum gewesen, sondern Erinnerung, sagte Theo. In seiner Schulzeit sei ihm etwas Ähnliches vorgekommen. Immer wieder habe er sich an einen schönen Garten erinnern müssen, es sei mehr ein kleiner privater Park gewesen mit vielen Blumen, weitab in der freien Landschaft gelegen, an einem Berghang. Er habe einem älteren Mann gehört, der ihn gepflegt habe. Er, Theo, habe den Garten oft vor sich gesehen und doch nicht sagen könne, wo er liege und ob es ihn überhaupt gebe. „Eines Tages habe ich ihn durch Zufall wiedergefunden. Es war außerhalb von Neustadt, ein paar Kilometer. Vielleicht sind wir da früher einmal spazieren gegangen, meine Eltern mit mir oder Onkel Georg und Olga. Ich weiß davon gar nichts mehr, ich muss noch ziemlich klein gewesen sein.“

     „Wie alt warst du, als du dann  wieder dort warst?“

     „Vielleicht sechzehn. Es war im letzten Schuljahr, glaube ich.“

     „Warst du allein dort?“

     „Nein, zu zweit. Wir haben einen Tag lang die Schule geschwänzt und uns in Neustadt nicht sehen lassen wollen. Später bin ich dann nie mehr dort gewesen.“

     „Und der andere – oder die andere?“

     „Ist im Jahr darauf fortgezogen, nach Bremen. Oder nach Stuttgart, was weiß ich.“

     Das Fenster zur Vergangenheit schloss sich für ihn, es war ihm anzumerken. Manfred räumte die Verträge fort. Ob er Lust habe, jetzt mit ihm in die Stadt zu fahren, oder zum Hafen? Vielleicht stoße er dann ja wieder auf reale Spuren seiner Erinnerung.

     O ja, nur hinaus an die frische Luft. Das sei seine Sache nicht, den ganzen Tag im Haus zu verbringen.

     Sie verließen die U-Bahn am Gänsemarkt – bis dahin hatte es keine Zwischenfälle gegeben – und rollten hinauf und gingen über den leicht abfallenden, dreieckigen Platz.

     „Hier fangen die Passagen an. Kein Besucher kommt um sie herum. Warst du früher schon einmal hier?“ Theo verneinte. „Dann sieh es dir an und bilde dir selbst ein Urteil. Vielleicht gefällt es dir auch nicht.“

     Sie gingen auf die erste der Passagen zu, und Manfred, der seit langem keine von ihnen mehr betreten hatte, überließ sich selbst den Eindrücken, als wäre er zum ersten Mal hier.

     Dieses moderne Gängeviertel erstreckte sich von der Oper bis zum Thaliatheater und war einem zahlungskräftigen und zahlreichen Publikum vorbehalten. Am Eingang einer jeden Passage hockte zuverlässig eine elende Figur oder schlich demütig um die Passanten herum. Diese Gestalten waren grotesk zurechtgemacht, als hätten sie sich aus dem Kostümfundus der Theater bedient. Wurde hier Die Dreigroschenoper neonaturalistisch neu einstudiert? Die Sucht nach dieser oder jener Droge war der stärkste Erwerbstrieb überhaupt, eine Einpeitscherin zu Höchstleistungen der bettelnden Schauspielkunst. Natürlich gab es auch hier die verfilzten und verlausten Tiere eines angeblichen Privatzoos, dessen debil erscheinende Wärter den Obolus forderten. Ein schwierigeres Fach hatte die Romafrau gewählt, sie hockte inmitten bunter Röcke und Überröcke und hob das Kleinkind, das nicht das ihre und mit Schlafmohn sediert war, jedem Passanten entgegen und leierte den auf Orientalisch getrimmten Singsang: „Reicher Mann, bitte, bitte, du, reicher Mann …“ Eine Gebärde und Ansprache, die an tief verwurzelte Schuld- oder Überlegenheitskomplexe ethnischer Art appellierte. Der Kranz dagegen gebührte auch heute wieder jenem Dürren im verschmuddelten, bekotzten Berufsdress des kleinen Angestellten (entlassener Registrator vielleicht), der winselnd und sabbernd auf sein Opfer zuglitt und, um es herumscharwenzelnd, flehte: „Gnädiger Herr, eine milde Gabe, gnädiger Herr!“ Sentimentale Tierliebe, ethnischer Dünkel oder Schuldkomplex und nun noch Ekel und eine Prise Selbsthass (denn dieser da, der Registrator, kam einem auf unheimliche Weise nahe, so dass für einen Moment ein partieller Austausch der Identitäten erfolgte): Es war zu viel. Jeder wollte nur noch eines: Diese klug und perfid inszenierten Anblicke meiden und ins Innere der Passagen gelangen, beinahe um jeden Preis.

     Drinnen fielen als Erstes die vielen dicht umlagerten kleinen Stehtische ins Auge. Sie dienten der öffentlichen Konsumation von Delikatessen: Sektmarken mit großen Namen, Meeresgetier aus Zuchtfarmen. Aber die edlen Genüsse waren Nebensache. Das Publikum, gut gekleidet, gut gelaunt und überwiegend jüngeren Jahrgangs, verhielt sich wie Publikum in einer Theaterpause. Man plauderte, scherzte, lachte und warf hastige Seitenblicke: Wurde man gesehen?

     Welche Art Vorstellung wurde hier gegeben, wenn keine Pause war? Die Besucher waren zugleich die Akteure, die Passage war auch die Bühne eines Lebensausschnitts. Das Schreiten der gewöhnlichen Besucher erinnerte daran, dass Kultur von Kultus herkam. Die Ware war hier der weihevolle Gegenstand, und der Kultus entfaltete sein Ritual: die Schaufenster entlangflanieren, in Bann gezogen werden, die Präsentationen im Laden umschreiten, ehrfurchtsvolle Annäherung, dann das Verkaufsgespräch von beinahe religiösem Ernst oder olympischer Heiterkeit, je nach Veranlagung. Dass er würdig war, zu den Eingeweihten zählte, suchte der potentielle Käufer auszudrücken, würdig, das Sakrament zu empfangen.

     Alle waren auserwählt, herausgehoben. Es war der demokratisierte Luxus, elitär und massenhaft. In einer geschmackvoll-aristokratischen Architektur bot sich eine Warenwelt von großer Eintönigkeit dar. Alltagsbedarf war verpönt. Die Konfektion dominierte. Ein neuer kategorischer Imperativ forderte: Schmücke dein Heim. Unübersehbar die immergleichen Tiffanylampen.

     Die breite staats- und kulturtragende Mittelschicht kaufte. Viele waren auf der Suche nach Unikaten. Einige Unikate um sich zu haben, war ein Bedürfnis, so elementar wie das nach dem täglichen Brot oder dem täglichen Benzin. Zahlreiche kunstgewerbliche Läden sorgten für die eingebildete Befriedigung eines tatsächlichen Bedürfnisses.

     Theo ging unberührt neben ihm dahin. Er wirkte fremd, wie aus dem Mond gefallen. Er sagte schließlich, die Luft sei verbraucht.

     „Du langweilst dich, das ist dein gutes Recht. Mir geht es ebenso. Lass uns durch das Kaufhaus da drüben zum Jungfernstieg gehen.“

     Das Warenhaus war wieder einmal renoviert worden. Überall falscher Goldglanz von Messing, von Bronzespiegeln vervielfacht. Alles war nun weit, weich, warm glänzend, ein Bad, der Augenlust bereitet. Hineingreifen, darin aufgehen, eins werden. Man bot ihnen eine Parfümprobe an. Sie lehnten ab und bereuten rasch: Vor dem Kaufhaus fiel der Gestank der maroden Kanalisation sie an, dem sie nichts entgegenzusetzen hatten.

     Draußen lag auch Musik in der Luft. Kleine Pantomimen wurden gezeigt. Diesen Künstlern spendierte man freigebig. Es war etwas los in der Stadt, es war Leben, wie sie es verstanden. Die Sonntage, die Feiertage waren Schrecknisse. Das Geschäftsleben blühte als üppiges Dekorum vor dem Nichts, es bannte während der Geschäftszeiten den großen Horror vacui.

     Obwohl es gewöhnlich voll war auf allen Wegen und in allen Gängen, klagten die Geschäftsleute in den Zeitungen über sinkende Umsätze, zu wenig Parkplätze und zu viele Demonstrationen. Die Gegenwelt der Minderheiten wurde magisch angezogen vom herrschenden Theatrum mundi und blieb doch trotz aller Sprechchöre pantomimisch, erstarrte Bewegung, nichts mehr bewegend. Die rosarote Welt gehobenen Konsums schuf sich eine Gegenkultur, die ebenso beliebig und erinnerungsleer war. Vorgestanzt und massenhaft verbreitet diese Formeln ohne Bezug zum tatsächlichen Elend der realen Massen, unerheblich, folgenlos: Fleisch ist Mord und ungesund. NATO raus aus Kurdistan. Schwul - na und. Kein Frühstücksei aus Quälerei.

     „Also zur Elbe, zum Hafen?“

     Sie gingen rasch die Treppen zur S-Bahn hinunter. Es kam einer Flucht aus der City gleich. Manfred fühlte sich unfähig zum Stadtführer. Das war das Passagendebakel gewesen: Was sonst die Massen anzog, hatte sich bei Theo als wirkungslos erwiesen. Sprach es nicht für sich selbst? Gewiss lag auch seine, Manfreds, Mitschuld vor. Er konnte nicht verkaufen, woran er nicht teilnahm. Theo war keiner von jener Sorte junger Männer, die er um drei Uhr morgens aus einer Bar mit nach Hause nahm, mit denen er um zehn Uhr frühstückte und eine Stunde später am Jungfernstieg promenierte, wobei sich herausstellte, sie waren fast mittellos, doch vor den Auslagen der Juweliere voller Sachkunde und kaum mehr fortzubewegen. War Theo ein … ein Konsumidiot? Dieses Wort aus dem kurzfristigen Jargon seiner eigenen Jugendzeit meldete sich zurück und zur Stelle. Die Vokabel war längst außer Gebrauch, und er benutzte sie jetzt womöglich falsch: Vielleicht war ein Konsumidiot auch einer, der sich im Gegenteil außer aufs Konsumieren auf gar nichts verstand. Vielleicht war Theo einfach nur ein Idiot?

     Theo saß stumm neben ihm im Wagen, ungerührt wie ein Götzenbild. Die grundlegenden Merkmale seines Typs, des athletischen Typs, traten mit großer Klarheit zutage: die ungerührte, unansprechbare Kraft, die darauf wartet, zum gegebenen Zeitpunkt ihrer Bestimmung gemäß zu funktionieren. Kraftvolles Mannsbild, tüchtiger Familiensoldat, die nervöse Erregbarkeit begraben im Panzer aus Muskeln und Fleisch, wer so sein könnte … Einem wie ihm würde keine Musterungskommission Leistungsfunktionsstörung bescheinigen. Für ihn die Kasernen von Fischbek, in Neustadt Frau und Kind, der solide Meisterbetrieb. Recht so! Er war an seinem Platz und er, Manfred, an gar keinem. Es war richtig gewesen, ihn seinerzeit nicht einzuladen. Was sollte er bloß mit ihm anfangen? Das Wochenende dehnte sich vor ihnen voller Leere und Schrecken.

     Manfred unterließ es, an den Landungsbrücken das Zeichen zum Aussteigen zu geben. Als sie wieder im Tunnel dahinfuhren, sagte Theo – und es klang bedrückt, wenn nicht kummervoll -, er müsse demnächst telefonieren, zu Hause in Neustadt anrufen. Das sei inzwischen überfällig. Die Stimme passte nicht zu dem Eindruck des Statischen, schwer Erschütterbaren. Auch er litt anscheinend unter der Lage, von der zweifelhaft war, ob es ihre gemeinsame war, eher nicht.

     Eine Durchsage mit starkem Akzent: Nächster Halt Ree-perbahn. Manfred erklärte, sie würden in Altona aussteigen, dort könne er telefonieren.

     Die Passagen, der Hafen, die Reeperbahn: das war das Dreigestirn touristischer Zwangsvorstellungen, dahinter die infantilen Träume von enormem Luxus, weiter Ferne und schrankenlosem Genuss der Sinne, Träume von Omnipotenz auf pubertärem Niveau. Auch davon lebte die Stadt. Dabei war St. Pauli nur noch eine Gegend, eine vielfach verwandelte, verschandelte und sich selbst entfremdete Gegend, der am meisten missbrauchte Teil der Stadt. Hier aussteigen, durch die Urinseen im unterirdischen Bahnhof waten, um an der Oberfläche dem Charme einer Masthähnchenfabrik zu erliegen? Finanzstarke Kaufleute investierten aberwitzige Summen, die sich auch noch rentieren sollten. Ungeschickte Behörden intervenierten am falschen Ort und zur falschen Zeit mit ungeeigneten Mitteln. Das Entstellende nahm immer mehr zu. Die Kontrolle des kleinen und mittleren Geschäfts übernahmen die schnellsten und skrupellosesten Killer, die auf der Erde zu finden waren. Ihr freier Wettbewerb wurde in blutigen Kriegen entschieden. Hierher wird er Theo nicht führen.

     Aber der Ruf von St. Pauli war unzerstörbar. Als er sich die alten Möbel nach Hamburg liefern ließ, war ein Kleintransporter aus Neustadt gekommen. Fahrer und Beifahrer luden aus und fuhren sofort zurück. Für einen Bummel über die Reeperbahn reiche die Zeit leider nicht, sagte der Fahrer zum viel jüngeren Beifahrer, aber er werde auf dem Weg zur Autobahn einen Umweg über die Reeperbahn fahren: Damit du es wenigstens einmal gesehen hast.

     Früher war Manfred ab und zu mit Besuchern von auswärts durch die Herbertstraße oder die Kontakthöfe gezogen, mit keiner anderen Absicht, als jene einer Art Lackmustest zu unterziehen. Es erwies sich immer aufs Neue, dass es die männlichsten Homosexuellen waren, die dort die größten Hemmungen empfanden. Norman zum Beispiel, ein GI von der Mosel, griff nach Manfreds Jackenzipfel und ließ sich so durch das feindliche Terrain geleiten. Dagegen der kleine Page vom Berliner Kempinski, der im Palais d’Amour frech zurückschnurrte: Aber Schwester, wir sind doch Konkurrenten.

     Während Theo im Bahnhof von Altona von einem öffentlichen Apparat telefonierte, besorgte sich Manfred eine Zeitung in einem Laden abseits. Der Apparat war auch in dem Sinne öffentlich, dass ihn nur noch pro forma eine Plexiglasmuschel unvollständig umgab und jeder daneben mithören konnte. Hier zeichnete sich bereits der drohende Verlust des Privaten ab, den die Masse der Mobilfunker, seitdem er eingetreten ist, gar nicht mehr empfindet. Das private Wort durchdringt den öffentlichen Raum, und keiner schämt sich seiner Banalität. Umgekehrt verliert sich auch der Sinn für das Ungeheuerliche. Wer will, kann auf Bahnsteigen mitanhören, wie Intimstes breitgetreten wird. Ein Mann übt etwa telefonisch Druck auf eine Frau aus, sie solle abtreiben lassen, und ein Dutzend fremder Menschen hört  teilnahmslos zu.

     Als Manfred mit dem Blatt zurückkam, stand Theo schon neben der absurden Muschel; sie konnte hier, unter zwei Betondecken, nicht einmal Wind oder Regen abhalten. Theo war jetzt viel lockerer. Ein Athlet besteht nicht nur aus Muskeln und Fleisch, sondern auch aus Gelenken, deren kräftigen Bau er nun spielerisch vorführte. Er schien so etwas wie Auftrieb oder wenigstens Aufschub erhalten zu haben. Er belebte sich zusehends und setzte zu unvollendet bleibenden Bewegungen an, fast so als ob er Manfred umhalsen oder sich zumindest bei ihm unterhaken wolle.

     „Wohin führst du mich jetzt?“

     „Zum Balkon.“ Manfred sprach gern in Rätseln, er verrätselte oft das Banalste.

     „Balkon?“

     „Zum Altonaer Balkon. Es ist ein Aussichtspunkt über den Strom und den Hafen. Von dort siehst du alles, was du von früher kennst, und noch mehr.“

     Sie gingen zehn oder fünfzehn Minuten inmitten einer breiten Grünanlage dahin, den Krach der Großstadt rundum in den Ohren, und standen dann am oberen Rand des Steilhangs und schwiegen einige Zeit, gemeinsam hinunter und in die Ferne schauend.

     „Man kann Fischbek von hier aus doch nicht sehen“, stellte Theo fest.

     „Ja, es liegt weiter stromab und noch mehr im Hinterland. Hinter dem Containerhafen da drüben kannst du es ahnen. – Aber schau, die Harburger Berge, wie plastisch bei diesem Wetter heute. Vielleicht liegt ja dein Park in Wahrheit dort, dein Paradies?“

     „Bestimmt nicht. Diese Sandberge … Nachtübungen gab es da.“

     Theo sagte, indem er auf die Hafenanlagen wies, er habe noch nie so viel rostiges Metall auf einmal gesehen. Und die Gebäude da unten zu ihren Füßen sähen aus wie den Hang hinuntergerutscht.

     „Nett gesagt. Dabei bedeutet Altona: die hochgelegene Stadt. Man baut da unten jetzt viel. Ich war lange nicht hier. Sie wollen London imitieren, ohne Rücksicht auf den Steilhang. Oder Chicago. Aber ihre Goldküste ist noch etwas kümmerlich. Dafür machen sich die Slums hinter uns aber schon.“

     Von hier oben, fuhr er fort, könne man sehen, dass der Hafen sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter stromab verlagert habe, weg von dem Ort, an dem er so viele Jahrhunderte bestanden habe. Deshalb seien sie auch nicht an den Landungsbrücken ausgestiegen. Das sei nicht mehr der Hafen, nur noch etwas für Touristen, die es nicht besser wüssten. Die Aussicht lieferte ihm nachträglich die Begründung für etwas, das ohne Plan abgelaufen war.

     „Außerdem brauche ich dir von hier oben nicht so viel zu erklären. Frag mich nichts über Schiffe. Das Maritime ist mir in den fünfzehn Jahren fremd geblieben. Man sitzt in der Stadt im Büro und hört die Schiffe tuten. Das war’s auch schon … Aber durch einen Roman ist mir diese Welt neulich doch noch ein Stück näher gekommen. Da war alles drin, die ganze klassische Seefahrt einschließlich Liebe und Meuterei und Mord und schließlich Schiffsuntergang.“

     Er brach ab, ohne den Titel des Buches oder den Namen des Verfassers zu nennen. „Das bringt mich auf eine Idee. Lass uns noch weiter nach Westen fahren, in die Elbvororte.“

     Sie schwangen sich in einen Bus, der eben vom Strom heraufkam und sie im Nu zum Bahnhof zurückbrachte. Manfred dirigierte den Cousin dort noch einmal in den Untergrund, ihre S-Bahn rollte indessen sofort auf breiter Rampe zum Licht hinauf und bog dann scharf nach Westen ab, weg vom Stadtinneren. Mit jeder Station wurde es draußen weniger steinern, und als sie an der vierten ausstiegen, fanden sie sich in einem Vorort, in dem alte Villen in einem viele Meilen weiten Waldpark stille Straßen säumten, die oft nicht einmal Gehwege hatten. Sie schwiegen jetzt zumeist. Manfred verriet ihr nächstes Ziel noch nicht. Dann ließ er Theo durch ein Portal von der Straße abbiegen. Sie waren auf einem Friedhof angelangt.

     „Da uns die Stadt der Lebenden jetzt nicht besonders zusagt, habe ich dich auf einen Friedhof geführt. Es ist nicht der größte, auch nicht der berühmteste, aber der exquisiteste nach seiner Belegung. Hier liegen viele reiche Kaufleute, Reeder, Bankiers. Wer die Namen kennt, stößt auf die Gräber von berühmten Verlegern und Ärzten seiner Zeit.“

     Er führte ihn scheinbar planlos die Wege auf und ab und wies gelegentlich auf einzelne Namen hin: REEMTSMA – BAEDEKER – HAGENBECK. Das viele Immergrün, der märzblaue Himmel, die Pracht der Grabdenkmäler: All das rief den Eindruck eines leicht melancholischen ewigen Südens hervor.

     „Es war anfangs, vor zweihundert Jahren, vielleicht nur ein Dorffriedhof wie andere auch. Als aber der Geldadel der Stadt die Elbvororte besiedelte, wurde er zu einer prachtvollen Totenstadt. Ich finde sie etwas eng. Es ist aber kein Museum. Manche Grabstelle ist seit Generationen in den Händen derselben Familie. Die Familie, ist sie nicht unsterblich, Theo? Und der einzelne ist nur die Blüte, die rasch verwelkt. Macht nichts, immer neue Generationen, neue Blüten … Es gibt Familiengräber, die werden seit hundertfünfzig Jahren immer wieder neu belegt. Ich finde das erstaunlich.“

     Theo machte nicht den Versuch einer Erwiderung. Der große Cousin fuhr fort:

     „Das Normalgrab wendet sich immer an die, die vorbeigehen, das heißt der, dessen Reste drin liegen, will ihnen etwas mitteilen, der Mitwelt, der Nachwelt. Das Normalgrab ist  erstaunlich redselig. Es gibt Auskunft über Namen, Geschlecht, Geburts- und Todesjahr und den Beruf, falls der Tote es bei Lebzeiten zu etwas gebracht hat. Dann die trostreiche und manchmal auch trostlose Inschrift: UNVERGESSEN – GELIEBT BEWEINT – WARUM – ALLES VERGÄNGLICHE IST NUR EIN GLEICHNIS und so weiter und so fort. Hier wird die Wertschätzung des Verstorbenen und sein geistiger Zuschnitt, alles auf einen Kernbestand reduziert, öffentlich zu Protokoll gegeben. Die künstlerische Gestaltung verrät, welche ästhetische Mode man seinerzeit mitgemacht hat. Das Beieinanderliegen der Familienmitglieder gibt Auskunft über die Fruchtbarkeit der Familie, ihren Zusammenhalt, der Zustand des Grabes über ihr weiteres Schicksal. Die Gräber reden und reden und das an einem Ort, der ganz zu Unrecht Ort der Stille heißt. Jedes Grab spricht für ein totes Individuum: So war ich. Gedenke meiner. Ich wäre so gern geblieben … Diese Botschaften sind es, die in Wildfremden – uns zum Beispiel – nach hundert Jahren noch so etwas wie Rührung erzeugen. Verrückt.“

     Er hatte sich warm geredet wie noch nicht seit Theos Ankunft in der Stadt. Jetzt schien er etwas zu suchen. Sie bogen offenbar planlos um immer weitere Ecken. Er murmelte, beim letzten Mal sei es doch noch gelungen.

     „Ah, da drüben.“ Er wies nach links. Theo sah an einem Seitenweg eine Grabanlage, die von allen anderen rundum abstach – wodurch eigentlich? Das war von fern noch nicht genau zu erkennen. Sie bogen ein und standen davor. Es war ein hermetischer Block, jedoch nicht klobig, nicht gewaltig und völlig schmucklos. Eine kniehohe Ziegelsteinmauer, auf der behauene graue Granitsteine saßen, am Weg vorn eine Vertiefung als Einstieg, nur für den äußersten Fall. Dann ein Fleck Erde, mit niedrigem Immergrün dicht bewachsen, dahinter drei Grabsteinplatten.

     Da liege er, sagte Manfred, der größte Dichter, den Hamburg hervorgebracht habe. Die Oberen der Stadt hätten seine Bedeutung gekannt, es sei eine Straße nach ihm benannt worden. Das obwohl er ihre Eliten oft geschmäht habe, besonders die Kaufleute; habe vom Gestank ihrer Hauptbücher geschrieben. „Aber Kaufleute kennen auch den wahren Wert, nicht nur den Warenwert.“ Er sprach den Namen des Dichters nicht aus, er überließ es Theo, die noch lesbaren Großbuchstaben der mittleren Steintafel zu entziffern. Witterung und Flechten hatten die Namen auf den benachbarten schon zerstört.

     „Dieses Grab nun will nichts mitteilen, keine Lebensdaten, keine Dichterworte, keine Botschaften. Es gibt hier nichts Blühendes oder Tröstendes. Es ist nur ein Aufbewahrungsort für Knochen, die hier auf lange Zeit beieinander liegen sollen. Die Anlage ist so stabil wie möglich und nicht auf Außenwirkung bedacht. Nur wer es unbedingt aufsuchen will, findet das Grab. Die Gräber liegen hintereinander, nicht dem Besucher vis-à-vis, wie sonst üblich. Und die Toten blicken, wenn man so sagen darf, nach Osten.“

     „Es sind drei Erwachsenengräber“, stellte Theo fest.

     „Richtig. Drei in einer Gruft. Vor ihm liegt seine Frau und hinter ihm sein Freund; der ist zuerst gestorben. Eine ungewöhnliche Gesellschaft auf einem Friedhof, findest du? Er hatte auch bei Lebzeiten nicht den besten Ruf. Aber so wie man sagt: aller guten Dinge sind drei, so könnte man auch sagen: aller guten Verhältnisse sind drei.“

     „Und wo ist das dritte Verhältnis?“

     „Es ist das zu sich selbst. Das sollte jeder haben, aber nicht jeder hat es.“

     Sie verließen den Friedhof und gingen die Elbchaussee entlang weiter nach Westen.

     Sie atmeten auf, als nach einiger Zeit der Hirschpark sich zur Linken auftat und sie die vielbefahrene Chaussee verlassen konnten. Theo wies auf die Villen: „Feine Gegend hier. Und berühmt.“

     „Ja, auch so ein Ort, der sich in eine Legende verwandelt …“ Mehr wollte der Ältere dazu nicht sagen, sie gingen schon unter dem kahlen Geäst alter Laubbäume tiefer in den Park hinein. Die Wege lagen wie gebadet im hellen Mittagslicht, das auch die Wiesen überschwemmte.

     „Noble Ausstrahlung, noch immer. Und um diese Zeit ziemlich leer.“

     Jetzt kamen ihnen auf ihrem breiten Weg Herr und Hund entgegen, und es erwies sich, dass der Weg nicht breit genug war. Sie bildeten ein Gespann, der Mensch auf seinem Fahrrad und sein Tier, das er an langer Leine mitlaufen ließ. Der Hund, ein großer, kräftiger Mischling, genoss ihr sausendes Glück. Obwohl das Rad schon schnell dahinrollte, fand er in seinem Vorwärtsjagen noch Zeit, immer wieder am Herrn, der auf dem Rad schwankte, emporzuspringen. Er raste, er kreuzte den Weg hin und her und kam den Speichen des Vorderrades einmal sehr nahe. Ein Fußtritt und er trollte sich zum jenseitigen Wegrand. Dort ging Manfred jetzt hinter Theo dicht am Zaun entlang, voller Respekt. In der Sekunde ihrer Begegnung sprang ihn das Tier an, riss das Maul mit den fürchterlichen Zähnen auf und ließ schon von ihm ab, noch ehe es den Ruck der Leine verspürte. Theo hatte nur ein hechelndes, dann schnappendes Geräusch gehört. Er drehte sich um und sah den Cousin blass und erschrocken dastehen. Da brüllte er dem Radler hinterher:

     „Du, pass besser auf deinen Mistköter auf!“

     „Nichts passiert“, sagte Manfred rasch und leise, „reize ihn nicht, sonst lässt er ihn von der Leine.“ Herr und Hund entfernten sich schon, und der Artist auf dem Rad deutete seine Verachtung für sie kurz an, indem er sich mit der flachen Hand auf die eine Hinterbacke klatschte.

     Manfred sagte: „Hätte er mich gebissen, dann nur aus Versehen. Eine Übersprunghandlung.“

     Dann waren sie wieder allein im Park. Sie gingen durch eine prächtige Allee kahler, knorriger Veteranen und standen auf dem Platz zwischen den beiden weißen Gebäuden. Das eine ein zu klein geratenes Schloss, ein stattliches Palais immerhin, und das andere ein zu groß geratenes Dienerhaus. Es blieb offen, aus welchem Gebäude der Ausblick den Sinn für Proportionen weniger verletzte. Manfred führte den Cousin zur Rückwand des Dienerhauses.

     „Da, seine Büste.“

     „Ist er es?“

     „Ja, er hat hier lange gewohnt. Ich war später, nach seinem Tod, im Haus, wusste aber noch nichts von ihm. Es waren trübe Tage für mich.“

     Sie gingen weiter um das Haus herum. Bis dahin hatte Manfred sich und den Cousin absichtslos treiben lassen. Als er nun weitersprach, öffnete er sich ihm erstmals bewusst und gab sich zu einem Teil preis. Mochte daraus etwas werden oder nicht.

     „Ich war so alt wie du jetzt oder etwas jünger. Auch ich war damals zu Besuch in der Stadt. Jochen, ich glaube, er hieß Jochen, war … war mir nicht gleichgültig. Ich hatte ihn kurz vorher in Berlin eines Nachts kennengelernt. Ich fuhr ihm also nach. Wir redeten ein ganzes Wochenende lang miteinander, wir redeten ausschließlich. Er schleppte mich in dieses Café hier …“ Er wies auf das Lokal, das die Vorderfront des kleinen Hauses einnahm; es war um diese Zeit geschlossen.

     Theo hörte ruhig zu, ohne etwas zu sagen. Der Cousin fuhr fort: „Wir hatten hier keinen Tisch für uns. Das war bei unserer Art von Gesprächen sehr störend. Darüber war ich unglücklich, aber nicht nur darüber. Jochen – hieß er wirklich Jochen?  - war schön wie die Nacht und mir in allem entgegengesetzt, besonders in der Lebensauffassung. Als ich abreiste, empfand ich das wie einen schlimmen körperlichen Schmerz: den Eindruck seiner Schönheit und davon unlösbar den Eindruck eines Geistes, den ich recht hässlich fand.“

     Sie gingen immer weiter und näherten sich dem Parkausgang.

     „Vielleicht interessiert es dich oder auch nicht. Es gab damals, an jenem Wochenende, noch einen … Bewerber, will ich mal sagen.“

     „Jochen war auch ihm nicht gleichgültig …“

     „Sehr gut, Theo. Ihm nicht gleichgültig -  und zu mir war er dennoch ziemlich freundlich. Auch er war schön, wie ein etwas diesiger Morgen im Tiefland. Jochen war ärgerlich, weil er mit dem Motorrad und in Lederkluft zu ihm nach Othmarschen gekommen war. Dort hatte er eine Studentenbude bei einem spießigen Drachen von Vermieterin, vor dem er kuschte und zitterte. Der andere blieb ebenso erfolglos wie ich, jedenfalls gemessen an seinen Ansprüchen.“

     „Und was ist aus ihnen geworden? Leben sie noch hier?“

     „Jochen ist Arzt geworden, er hat die Stadt, glaube ich, schon lange verlassen. Wenn ich ihn später sah, in den Bars, kam er mir vor wie eine leckere Torte aus Pappmaché, wie sie manche Konditoreien ins Fenster stellen. Alles war ein großes Glück gewesen, für mich. Vielleicht ist er tot. Es sind so viele tot. Und der andere? Vielleicht habe ich alles nur seinetwegen erzählt. Oder deinetwegen?“ Er lächelte Theo zu, ohne ein Echo zu finden. „Der andere hat geheiratet, ist seriös geworden und ein schöner Mann geblieben. Er wurde früh grau. Schön wie ein Oktobermorgen bei Raureif. Wenn etwas Besonderes los war in der Stadt, suchte er die alten Kreise wieder auf. Wir grüßten uns von fern. Er wurde mir von Jahr zu Jahr sympathischer. Vielleicht ist auch er tot.“

     Theo schwieg sich aus. „Bist du schockiert?“ wollte Manfred wissen.

     „Nein, nur verblüfft. Und ich kann mich mit nichts revanchieren. Keine Geständnisse, nichts, was dich interessieren könnte.“ Er blieb gleichmütig im Ausdruck, nicht unfreundlich. Manfred fand ihn weniger überrascht als auf der Hut.

     Da Theo hungrig war, gingen sie in Blankenese in eine Bäckerei und aßen belegte Brötchen an einem Stehtisch. Auf dem Heimweg mit der S-Bahn roch Theo, wenn er sprach, aus dem Mund nach Mettwurst. Wie ein Schuljunge, dachte Manfred, der in der Pause die mitgegebene Stulle verzehrt hat und dann in der Stunde nach Mettwurst riecht. Ein sympathischer Geruch, es riecht nahrhaft, irgendwie gutmütig. Ich habe das damals immer gern gerochen. Und an das arme Schwein denkt man nicht.

     Ein Bus brachte sie von Altona zurück nach Eimsbüttel. Sie näherten sich dem Haus aus einer anderen Richtung als am Tag davor. Als sie den Platz, auf dem die Apostelkirche steht, überquerten, sagte Manfred:

     „Vor hundert Jahren stand die Kirche hier schon. Sie ist ein gutes Stück älter als die Wohnhäuser rundherum. Es muss wunderbar gewirkt haben, die Kirche ganz allein in den Wiesen. Es müsste wieder so sein.“

 

 

„Eine Rose, die Herren, eine Rose?“

     „Nein, danke, wir haben gerade keinen Bedarf.“ Manfred schickte den Pakistani weiter. Sie aßen an diesem Abend bei einem Italiener, wieder an der Osterstraße. Theo musste es ansprechender finden als beim Griechen. An der Ausstattung war hier nicht gespart worden. In den Gesprächspausen konnte man den Verkehr auf einer großen Kreuzung beobachten.

     Theo war erst nach Stunden aus seinem Zimmer zu ihm ins Wohnzimmer gekommen. Er sei so große Fußmärsche gar nicht gewohnt, hatte er gesagt.

     „Du arbeitest mit Glas, Theo. Was empfindet man dabei, was ist das für ein Gefühl?“

     „Nun, komische Frage, entschuldige. Vielleicht empfindet man gar nichts. Man schaut, ob die Gesellen ordentlich gearbeitet haben. Ob sie in der Zeit sind.“

     „Nein, entschuldige du, wenn ich solche Fragen stelle. Ist Glas nicht ein ganz besonderer Stoff, hart und zerbrechlich, spiegelnd und durchsichtig? Welchen Eindruck macht es auf dich, wenn eine Arbeit fertig ist? Denk dir den Betrieb weg. Was geht in dir vor? Phantasiere ein wenig.“

     „Nun, eine Glaswand also … Wir sind ja eine Bauglaserei. Die Wand ist durchsichtig, gehen wir davon aus, sie ist durchsichtig. Sie lässt Licht durch und ist doch eine Wand. Das gefällt mir, eine solide Sache, sauber und handfest.“

     „Meinst du, hinter einer Glaswand hat man alles unter Kontrolle, visuell, meine ich, und nichts trifft einen unvorbereitet? Ist es das?“

     „Ja, das gehört auch dazu … Aber weißt du, ich bin nicht in diesen Beruf gegangen, um unbedingt mit Glas zu arbeiten. Die Glaserei war schon vor mir da. Einer muss immer den Betrieb weiterführen.“

     „Ja, und so ist es auch richtig. Das ist gut so. Bist du auch zufrieden, Theo?“

     „Ich denke schon. Es war natürlich nicht immer leicht. Du weißt, als der Onkel und ich … so dastanden … damals … Es geht immer auf und ab … Und wieder hinauf. Wir werden auch wieder expandieren. Wir haben alles hineingesteckt. Arbeit. Zeit. Mein Erbteil von den Großeltern.“

     „Du hast es in den Betrieb gesteckt? Du hast ihn doch noch gar nicht auf dem Namen?“

     „Nein, es ist …“

     Er unterbrach sich, das Hauptgericht wurde serviert. Und dann kam eine junge Frau, die eine schwere Reisetasche mit sich schleppte. Sie entnahm ihr zwei lappige Stoffpuppen, fuhr ihnen von unten mit den Händen in die Eingeweide und sagte mit verstellter Stimme, Knabensoprane imitierend: „Wir heißen Hans und Franz und suchen ein neues Zuhause.“

     „Da sind aber noch viele Hänse und Fränze drin.“ Manfred wies auf die Tasche. Theo lachte laut heraus. Die junge Frau errötete. „Nein, danke. Wir nehmen nur Unikate.“ – „Können Sie bei dem Preis nicht erwarten.“ Sie ging zum nächsten Tisch.

     „Sie war lieblich im Erröten“, sagte Manfred, „doch patzig ihre Rede.“

     „Du bist so scharf heute Abend. Sie muss wohl davon leben.“

     „Ja, ich weiß. Es ist versteckte Arbeitslosigkeit. Geradeso wie die Beschäftigung mit Kunstgeschichte. Die Kunstgeschichte war auch schon vor mir da, genauer gesagt: seit Winckelmann. Aber ich bin freiwillig zu ihr gegangen. Das ist der Unterschied.“

     „Bist du denn zufrieden?“

     „Sie ist die Geschichte eines Verfalls, eines lang hingezogenen Verfalls. Über die Jahrhunderte hin hat das etwas Imponierendes. Die Kunst schreitet ständig fort in der Entsinnlichung, mindestens fünfhundert Jahre schon. Alles verschwindet, hat ein großer Maler gesagt. Was verschwindet? Das Sinnliche, das Seelische, der Gehalt schlechthin. Wir produzieren Kunstführer, Bildbände, Kalender. Mein Spezialgebiet ist Malerei um 1900. Das ist populär, weil es leicht fasslich und noch ziemlich sinnenhaft ist. Aber geh einmal in die Sempergalerie: was für ein Abstieg seitdem.“

     Er trank einen großen Schluck Wein und sprach noch lange. Er wusste, dass er mehr trank und redete als gewöhnlich. Während er ein kleines, wenig bekanntes Rubensbild in Dresden beschrieb, sagte ihm seine innere Unterstimme: Du bist enthemmt. So war es. Enthemmt und zwar seit dem Mittag schon. Es hatte zwischen Altona und Blankenese begonnen, aber er begriff nicht, welche Dynamik in ihm seitdem wirksam war. Es war lächerlich, solche Reden vor Theo zu führen. Er hatte sich sonst besser unter Kontrolle. Theo aß und trank weiter und sah ihn oft an. Er wird nicht viel verstehen, nur das eine: dass auch ich nicht glücklich bin.

     Zum Abschluss der Mahlzeit kam noch ein ambulanter Dichter an den Tisch. Diese Lyrik sei von ihm selbst. Ob man nicht einen Band kaufen wolle?

     Draußen wollte Manfred wissen: „Worauf hast du jetzt Lust?“

     „Weitertrinken und dich reden hören.“

     Mit Eimsbüttel wollten sie sich dann nicht zufrieden geben. Sie nahmen die U-Bahn zum Hauptbahnhof und installierten sich in einer Fensternische eines Bier- und Schnapslokales an der Kirchenallee.

     Es war auch Wein erhältlich, sie blieben bei einem trockenen aus Italien. Er lullte sie ein, er deckte vieles zu. Sie sprachen zunächst wenig und verfolgten, jeder für sich, mit den Augen Passanten, die draußen vorbeigingen.

     „Deine Wand aus Glas, Theo. Sitzen wir am Ende vor einem Aquarium riesiger Ausdehnung und beobachten Fischschwärme? Sie ziehen unterschiedliche Bahnen, ihre Bahnen kreuzen sich. Ziehen sie zum Laichen?“

     „Wenn es Lachse sind, muss es ein Fluss sein, kein Aquarium.“

     „Und wir zwei befinden uns in Wahrheit auf gegenüber liegenden Ufern, meinst du das?“

     „Nein, obwohl … Ich kann gar nicht mitreden. Ich bin tolerant. Ein Schulfreund von mir hat mal gesagt, es ist gleich, ob man eine Frau oder einen Mann fickt, von hinten jedenfalls. Nüchtern gesprochen.“

     „Oh, was für Schulweisheiten. Das ist eine Art Schulweisheit, mit der ich mich, glaube ich, nicht anfreunden kann.“

     Eine längere Pause entstand. Sie sahen einander nicht an, sie sahen hinaus.

     Da begann Manfred wieder: „Stell dir vor, dieser Fluss ist zwar ein Fluss, aber er hat gar keine Ufer. Hier, wo wir sind, ist nur eine Untiefe, die Glaswand in Wahrheit nur eine unbedeutende Barriere. Ein Schlag deiner Schwanzflosse und du erreichst das tiefere Wasser.“

     „Ich weiß. Ich kenne die Gegend hier. Ich war hier mal mit einer Nutte. Billige Absteige. Ekliges Loch.“

     „Mh, du warst in St. Georg, nicht auf der Reeperbahn, Nicht gut für die Gesundheit.“

     „Siehst du, ich bin auch offen zu dir. Wie du heute Mittag.“

     Sie schwiegen wieder für eine Weile. Der Strom der Passanten war jetzt sehr dicht.

     „Wohin gehen sie? Doch nicht alle zu Nutten?“

    „Sie gehen zum Essen oder kommen vom Essen. Sie kommen aus dem Theater. Oder aus dem Varieté. Sie bummeln. Sie gehen zu Nutten. Sie gehen zum Zug. Sie fahren von hier zum Flughafen. Sie füllen die Spielhallen. Sie brauchen Stoff. Sie dealen. Sie betrachten die Schaufenster. Vielleicht sind Lustmörder unter ihnen, die Opfer suchen.“

     „Sind Homosexuelle darunter?“

     „Unter den Lustmördern selten.“

     „Wenn du abends ausgehst, ist es hier in der Nähe?“

     „Meistens.“

     „Würdest du mich einmal mitnehmen? Würde es dir was ausmachen? Nur damit ich es einmal sehe … Es ist nur theoretisch.“

     „Theo – Retisch? Ah, theoretisch wie praktisch … Nein, das ist keine gute Idee. Ich wäre auch allein heute nicht ausgegangen.“

     „Dann vergiss es. Unwichtig, es ist ganz unwichtig. Ich muss ja auch morgen zurück.“

     „Nicht deshalb. Es ist … ich kann’s dir nicht mit ein paar Worten erklären. Man muss alles erlebt haben, durch Jahre und Jahre. Man kann niemand etwas erklären. Zahlen wir?“

     Nachdenkliche Fahrt mit der U-Bahn, so schien es. Tatsächlich tat der Wein seine Wirkung. Manfred sagte sich, er habe zu viel getrunken. Er vertrug nicht so viel wie der Cousin. Es war eine Frage des Körpervolumens, des Volumens an Blut, in dem das Gift des Alkohols sich verteilte. Vorhin war er plötzlich aus seinem Dusel gerissen worden, er hatte den letzten Rest Wachheit zusammenkratzen und reagieren müssen. Nun ließ er sich sinken.

     Theo sprach ihn auf der Osterstraße auf die junge Frau an, die vor ihnen herging.

     „Sie war mit uns in der U-Bahn. Sie hat versucht, mich anzumachen.“

     „Muss mir entgangen sein.“

     „Sieht nicht schlecht aus, was?“

     „Sie wohnt im Haus gegenüber. Du kannst sie oft auf ihrem Balkon sehen. Da präsentiert sie auch ihre Liebhaber. Sie hat einen hohen Verschleiß.“

     „Das soll mich wohl etwas abkühlen, he?“

 

 

Am Sonntagmorgen fühlten sich beide schlecht. Das Kausalitätsbedürfnis gab dem Wein die Schuld. Manfred hatte überaus tief geschlafen. Er war etwas taumelig. Er sagte, sein Kreislauf liege noch im Bett, er wolle einen besonders starken Kaffee brühen.

     Theo litt unter Kopfschmerzen. Er hatte wenig geschlafen. Schuld daran war die ausgedehnte Nachmittagsruhe, die er sonst nicht kannte. Es war auch spät erst ruhig geworden im Haus. Der Nachbar hatte bis nach Mitternacht jenseits der dünnen Trennwand auf seiner Gitarre geklimpert und dazu gebrummt.

     Es war kein guter Tag zum Reisen. Um elf würde er zur U-Bahn gehen müssen.

     Ob er nicht noch drei Tage bleiben könne, bis die Verträge unterschrieben seien? Denkbar sei der Fall, dass der Notar Einwände erheben könnte. Vielleicht würde man ihn als Kurier benötigen, um schriftlich Formuliertes nach Franken zu bringen.

     Theo war sogleich einverstanden. Ein paar Tage Urlaub würden ihm gut tun. Manfred dachte: Er ist also jetzt in Neustadt abkömmlich.

     „Sehr schön. Wir werden ausgiebig und in aller Ruhe früh-stücken. Später können wir an die frische Luft gehen. Willst du in Neustadt anrufen?“

     Theo wollte es sofort erledigen. Manfred ging in die Küche und schloss die Tür zum Flur. Er ließ Wasser ins Spülbecken laufen. Theo redete laut ins Telefon. Was aber die Tür mit der Glasfüllung noch durchließ, das Geräusch des fließenden Wassers deckte es zu, löschte es aus.

10. Man muss es versuchen

Eine Turmuhr schlug in der Nähe. Ihre Klänge drangen nur schwer über die alten Mauern, in die Höfe hinab und durch den Spalt des geöffneten Fensters zu ihm herein. Theo versuchte, die Schläge zu zählen. War es acht oder neun Uhr? War es die Kirche, die früher allein in den Wiesen gestanden hatte? Mit dem Klang stimmte etwas nicht. Wenn man erkältet war, wenn ein Ohr verstopft war, dann klang es ähnlich: unsicher, unrein. War es ein neuer Schlag oder der Nachklang eines früheren? Eins floss ins andere und mit dem unsichtbaren Dreck in der Luft zusammen. Er kam zu keinem Ergebnis.

     Ein Blick auf die Armbanduhr brachte Klarheit, es war erst acht Uhr.

     Er hat Manfred vor einer Viertelstunde weggehen hören. Er hat nicht hereingesehen. So war es auch verabredet worden, gestern Abend. Du kannst weiterschlafen, solange du willst, hatte er ihm gesagt. Am Abend erst werden sie sich hier in der Wohnung wieder treffen. Dann werden sie essen gehen und über den Tag reden. Er könne sich weiter in der Stadt umsehen oder sonst tun, wozu er Lust habe.

     Ja, reden. Und hoffentlich mit mehr Ergebnis. Insoweit war der Tag gestern verloren. Sie waren schon weiter gewesen, am Samstagabend nämlich. Da hat er dem großen Cousin schon angedeutet, dass es in Neustadt nicht gut steht. Noch ein Schritt weiter und es hätte ihm klar werden müssen, dass von ihm Hilfe erwartet wird. Dann aber ist über anderes geredet worden. So, in diesem Stadium, kann er gar nicht heimfahren. Gut, dass der Vorschlag, noch zu bleiben, von Manfred gekommen ist. Sonst hätte er selbst den Mund auftun müssen. Was die eigene Position weiter geschwächt haben würde.

     Gestern Morgen waren sie beide erleichtert. Saßen lange am Tisch, am Fenster. Leute gingen vorbei, wurden von Manfred bespöttelt. Er sah es gern, dass der Besuch noch blieb, es war ihm anzumerken. Beim Abräumen des Frühstückstisches half er ihm, und als er, Theo, sich vom Kühlschrank aufrichtete und umdrehte, hing Manfreds Blick merkwürdig versonnen an ihm. Begehrte ihn der Große Cousin? Wenn er ihn Großer Cousin nannte, war das ein erstes Zeichen verwandtschaftlicher Ironie. Manfred war um einen halben Kopf kleiner und viel schmaler. Theo fand ihn beweglicher als sich selbst, aber er stellte es ohne Neid, ohne Sehnsucht fest. Der Große Cousin war, fand er, für sein Alter noch ziemlich jugendlich. Und doch war er auch wunderlich, in gewisser Weise uralt. Ein verrücktes Huhn, dachte Theo jetzt wörtlich.

     Sie waren gestern Nachmittag stundenlang am Stadtrand herumgestreunt, zwischen letzten Villen, ersten Wäldchen, Sandhügeln. Sie folgten heckengesäumten Feldwegen, Manfred nannte die Hecken Knicks. Und abends bei einem Chinesen, schon wieder an der Osterstraße. Es war alles verschoben worden.

     Theo kroch aus dem Bett. Beim Duschen dachte er an Ingrid. Es war eine naheliegende Gedankenverbindung. Er könnte mal wieder … Ja, er war noch jung, voller Saft. Wenn dieser Mist nur nicht wäre – Geldsachen! Irgendwie wird es schon klappen. Es hat am Schluss immer alles geklappt. So voller Saft und Kraft  … Nein, nicht jetzt … nicht. Ah, das kalte Wasser … Er trocknete sich ab und stellte fest, dass er keine saubere Wäsche mehr hatte. Er zog das Hemd von gestern noch einmal an.

     Er holte Brötchen aus einer Bäckerei in der Nähe und brühte Kaffee. Zum Frühstück stellte er das Radio an, er wechselte den eingestellten Sender. Keine Klassik, keine Opern oder so etwas.

     Er kaute und schluckte. Ingrid war am Telefon voller Verständnis gewesen. Man kann so einen Coup nicht über Nacht landen. Ich brauche noch etwas Zeit … Sie war aber doch etwas unruhig, es war zu spüren. Liebes, ich kann es dir jetzt nicht so genau schildern … Ja, im Wohnzimmer. Es gibt Fortschritte. Die Aussichten sind, glaube ich, nicht schlecht. Noch zwei, drei Tage, dann werden wir sehen …

     Eine nachdrücklich meckernde männliche Stimme unterbrach das fröhliche Stakkato im Radio: „Und jetzt noch eine wichtige Meldung vom Verkehrsservice. Infolge einer Brückenreparatur bleibt die Anschlussstelle Othmarschen der A 7 bis Mittwoch gesperrt. In fünf Sekunden die Nachrichten …“ 

     Er schaltete das Gerät aus. Othmarschen, auch so ein Ort, schon mal gehört, irgendwann. Und am Mittwoch fällt die Klappe: Der Onkel unterschreibt ja doch. Es ist alles umsonst.

     Er geriet in Panik, schwitzte plötzlich stark. Er ließ alles stehen und machte, dass er hinauskam, ins Freie. Draußen ging es ihm bald besser. Er wurde ruhiger.

     An der Ecke der Osterstraße schlug er den Weg zur U-Bahn ein, der ihm bereits der geläufigste hier war. Dann stand er auf dem Bahnsteig, von dem aus die Züge in die Innenstadt abfahren, und stieg ein, ohne im Zentrum ein Ziel zu haben. Es war wie ein Reflex, er fuhr dahin, wohin man meistens mit der U-Bahn fährt, wenn man gar nichts zu besorgen hat und nur voll ungewisser Erwartung ist – in die Stadt. Dann geh in die Stadt – Downtown.

     Die Stationen zogen gleichmäßig an ihm vorbei. Er kam auf den Gedanken, den Inhalt seiner Brieftasche zu überprüfen. Die Höhe der restlichen Barschaft war ihm schon ungefähr bekannt, daher kramte er in den Seitenfächern und fand da die Rückfahrkarte der Eisenbahn und den Reservierungsschein für den gestrigen Zug. Er sollte sich einen neuen Platz reservieren lassen, fiel ihm ein. Dann müsste er auch die genaue Abfahrtszeit festlegen. Er fühlte, seine Lage hier war ins Rutschen gekommen. Also stieg er am Hauptbahnhof aus.

     Es war schnell erledigt. Mit einer neuen Reservierung in der Brieftasche – die alte zerriss er sofort – war ein vorläufiger Halt gefunden. Er wird am Mittwoch früh in diesen Zug steigen. Und von dieser in ihm zunehmend fester werdenden Annahme ging eine Zuversicht aus, die ihn erst wirklich umstimmte. Eine Frist gesetzt, ein Ziel vor Augen, der kurze Weg dahin nicht zu verfehlen.

     Wer um diese Zeit mit dem Zug ankam, wollte fast immer zur Mönckebergstraße, nicht zur Kirchenallee. Er ließ sich mittreiben und fühlte sich wie dahingetragen. Da war auch die Treppe zu jenem Bahnsteig, auf dem er vor drei Tagen angekommen war. Manfred hätte sich seine Bekenntnisse im Hirschpark sparen können – hier hatte er schon seine Visitenkarte abgegeben. Der Rekrut war auch ihm, Theo, gleich nach dem Aussteigen aufgefallen, und fast im selben Augenblick entdeckte er dann den faszinierten Cousin. Das Rätsel war schon am Anfang keines mehr. Es war Nackttanz, gewissermaßen. Doch war es gut, dass Manfred sich ihm öffnete, ihm immer mehr vertraute. Er soll ihm noch aus der Hand fressen, dieser komische Vogel von Cousin.

     Er ging die Mönckebergstraße hinunter. Ihr leichtes Gefälle machte seinen Schritt federnd, den Gang beschwingt. Nah war das Ziel und leicht zu erreichen. Die Kaufhäuser standen wie große, halb geöffnete Geschenkschachteln am Weg. Vor einer Frischluftschleuse zögerte er, ließ sich von ihr ansaugen und drang ins Innere vor. Bei den Wühltischen fiel ihm ein, er hatte keine saubere Wäsche mehr, und er griff nach zwei Garnituren Unterzeug. Er packte zwei Paar Socken darauf. Dann fehlte nur noch ein Hemd. Er stand vor den Sonderangeboten und hielt drei verpackte Oberhemden gegeneinander. Welches würde am besten zu ihm passen?

     „He, ist mein Arsch schon so verfettet, oder was?!“

     Die laute und empörte Stimme eines jungen Mannes kam aus der nahen Umkleidekabine. Es blieb unklar, an wen sie sich richtete, an Begleitung in der Nähe oder an Gott und die Welt. Theo fühlte sich mitangesprochen. Man müsste einmal fühlen, die Festigkeit des eigenen Gewebes prüfen. Er kann sich hier doch nicht selbst betasten! Zerstreut greift er nach allen Artikeln, die er herausgesucht hat, auch nach den drei Hemden, und sucht die nächste Kasse. Unterwegs kommt er an einem verspiegelten Pfeiler vorbei und begegnet der eigenen Silhouette. Markant, das ist sein erster Eindruck. Er bleibt noch einige Sekunden stehen. Da ist alles glatt und fest. Und der Gesamteindruck, die Ausstrahlung? Er nimmt sich jetzt erst im Ganzen wahr und wundert sich, ja erschrickt beinahe: Sie sind nicht identisch, er und sein Spiegelbild. Er ist doch unruhig, innerlich unsicher und voller Zweifel, das ist ihm bewusst. Es würde ihn weniger überraschen, sich selbst als dem Halbwüchsigen mit Pickeln und schlechten Manieren zu begegnen, der er einmal gewesen sein muss. Aber der andere da ist, verdammtnochmal, ein hübscher Kerl und kräftig und gesund. Strahlt er nicht sogar etwas wie Frieden aus? Ein altmodisches Wort drängt sich auf: Segen. Liegt Segen auf ihm?

     Er ließ die Füße laufen, wie sie wollten. Die Bergstraße abwärts, über die Alster, über den Jungfernstieg. Eine prachtvolle Fassade aus rotem Sandstein zog ihn an. Er trat ins Innere und stand in einer weiteren Passage, die zum Bersten gefüllt war mit übereinandergestapelten Ebenen, Treppen und Rolltreppen, Marmorstein und Plexiglas, Geschäften und Geschäftchen und Menschen: Frauen und Männern.

     Wenn er attraktiv ist, hier im Gewühl muss es sich zeigen, denkt er. Zwar sind die anderen hier besser gekleidet als er selbst, geschmackvoller, individueller, teurer. Nur wenige sehen abgerissen aus, aus Not oder da sie vielleicht Geschmack daran finden. Doch wer hier jetzt unterwegs ist, ist physisch nur Durchschnitt oder noch weniger. Schöne Menschen sind nicht darunter, findet er. Muss er da nicht angenehm auffallen? Leider ist kein Spiegel in der Nähe. Aber niemand dreht sich nach ihm um oder sieht ihn auch nur an. Er bleibt stehen, um besser beobachten zu können. Er stellt fest, sie ignorieren sich auch untereinander. Wie ein Körper dem anderen, ein Blick dem anderen ausweicht, sie betreiben es ernsthaft, wie einen Sport, wie Tischtennis zum Beispiel.

    Er lehnt seinen Rücken gegen eine Brüstung. Zwei Mädchen, vielleicht sechzehn, bestimmt noch Schulmädchen, pressen sich in seiner Nähe an die hüfthohe Wand aus Plexiglas. Sie rutschen allmählich zu ihm hin. Himmeln sie ihn an? Großer Gott, auch ein Erfolg! Er will weiter, vorher etwas sagen, ein kleiner Spaß, aber seinen Akzent würden sie komisch finden.

     „Na, geschenkt, der ist mir zu zäh.“ Sie kichern ein letztes Mal und stieben davon. Irgendwann steht er auf dem Gänsemarkt und geht eine Kleinigkeit essen.

     Danach fuhr er, schon um die Kaufhaustüte nicht länger herumtragen zu müssen, zurück nach Eimsbüttel. Beim Auspacken musste er sich sagen, dass er über den Bedarf der nächsten zwei Tage eingekauft hatte. Er nahm es hin. Er ging daran, das neue kupferrote Hemd auszupacken und anzuprobieren. Es sitzt gut, die Farbe steht ihm gut. Seine Hände, die eben noch das Hemd zurechtgezupft haben, finden wie von selbst den Weg am Rumpf hinab, ohne Befehl oder Vermittlung des Hirns. Seine Augen sehen, wie diese Hände die Hose, statt sie über das Hemd hochzuziehen und zuzuknöpfen, weiter zurückstreifen. Er beginnt nachzuholen, was er sich im Kaufhaus versagt hat: sich zu betasten. Allerdings ist es bald kein kritisches Sichvergewissern mehr, das Gehirn ist schon angenehm blutleer, er genießt sich selbst noch immer staunend. Die Sache nimmt ihren natürlichen Verlauf.

     Atmung und Kreislauf des Blutes beschleunigen sich rapide. Die Stoßwellen erhitzten Blutes reizen sein Gehirn zu abrupten und ihn selbst überraschenden Formulierungen. Es sind jetzt keine Bilder mehr wie sonst, die ihn stimulieren, sondern Be-griffe, die ihn herausfordern und an denen er sich misst. Zuerst: Verhältnis zu sich selbst! Er besitzt es, und es ist gut, hervorragend gut. Kein studierter Cousin muss einen darauf erst bringen. Die nächste Welle spült den ordinären Spruch aus der Umkleidekabine heran: Ist mein Arsch schon so verfettet? Er hört genau den Tonfall des jungen Mannes: vulgär, empört und aufreizend. Er genießt sich im Echo der Stimme eines Mannes, den er für weniger männlich hält als sich selbst. Ist dein Arsch schon so verfettet, ist sein Echo auf dieses Echo.

     Nachher lag er vollkommen ruhig auf dem Bett. Er wusste nicht, dass etwas mit ihm geschehen war, dass anstelle von gewohnten und abgenutzten Bildern erstmals Wörter, neuartige Begriffe und Vorstellungen getreten waren.

     Es war sehr angenehm, zu ungewohnter Stunde allein in einem fremden Bett zu liegen, ohne zu schlafen, ohne zu denken. Diese matte Gleichgültigkeit – ist sie nicht schon Glückseligkeit? Das Fenster war jetzt geschlossen, und im Haus war es um diese Zeit fast still. Er genoss die Stunde, in der er nichts tat, nichts dachte und nur wenig empfand.

       Er stand noch rechtzeitig auf, um den Frühstückstisch vor Manfreds Rückkehr abzuräumen. Dann ging er hinaus und warf die Reste der Verpackung seines neuen Hemdes in die Mülltonne. Dabei kam Manfred die Straße herauf und hielt ihm die Haustür offen, bis er die Müllcontainertür verschlossen hatte und auch hereingekommen war. Theo seinerseits wartete im Hausflur, während sein Cousin dicht neben ihm den Briefkasten leerte. So nahe waren sie sich bisher noch nicht gekommen, sie berührten sich fast. Der Große Cousin wirkte gegenüber den Vortagen ein wenig verwandelt, vielleicht noch angespannt von der Berufsarbeit. Er erinnerte Theo an ein eingespanntes, geduldiges Pferd. Er besah die Absender der drei Briefe, und das Berufs- oder Erwerbsgesicht, das er aus der Stadt mitgebracht hatte und das sich schon zu lockern begann, straffte sich noch einmal. Es war beinahe ein fremder Mensch, der da neben ihm stand.

     In diesem Augenblick kam ein älteres Ehepaar die Treppe herunter. Man grüßte allseits. Es fiel Theo auf, dass der Mann seiner Frau einen möglicherweise bedeutungsvollen Blick zuwarf, indem er gleichzeitig mit einer seitlichen Bewegung seiner Augäpfel auf ihn, Theo, hinzuweisen schien. Hinter der Wohnungstür sagte Manfred, das sei das Hausmeisterehepaar gewesen.

     Sie saßen einige Minuten im Wohnzimmer beisammen. Manfred ließ sich berichten, wie Theo den Tag verbracht hatte. Er war nicht bei der Sache, lobte zerstreut Theos neues Hemd und griff nach seinen Briefen. Er überflog sie und sagte, er müsse einen davon sofort beantworten. Er überließ Theo seine Morgenzeitung und verschwand im Schlafzimmer. Bald vernahm Theo das Hacken und Rattern der Schreibmaschine: als ob geschossen würde. Es schien ein ziemlich langer Brief zu werden.

     Nachher sollte er sofort zur Post gebracht werden. Sie beschlossen, dann auch essen zu gehen. Theo ging mit ihm hinaus. Im Hausflur sagte Manfred, der Hausmeister habe ihn vorhin vermutlich für seinen neuesten Liebhaber gehalten.

     „Diesmal bist du aber doch schockiert. Man sieht es dir an. Aber es ist ja Unsinn. Nachbarn sehen vieles, wissen gar nichts und erklären sich alles falsch.“

     Sie aßen an diesem Abend wieder bei dem Griechen an der nächsten Ecke. Theo schwieg zumeist. Während Manfred über ganz andere Dinge sprach, quälte sich Theo mit der Deutung des hausmeisterlichen Mienenspiels durch den Cousin. Er selbst hat ja auch den vielsagend verächtlichen Blick bemerkt und ihn auf sich bezogen. Dass ausgerechnet er ein eindeutiges Verhältnis zu seinem Cousin haben soll, ist eine absurde und kränkende Vorstellung, eine große Zumutung für ihn, aber für die Menschen in Manfreds Umgebung offenbar das Naheliegende und Wahrscheinliche. Schlimmer noch: Hat nicht schon Olga von Anziehungskräften und Wirkungen der fraglichen Art geredet, ja sie rechnet sogar damit: was es bringen und ob es den Betrieb retten kann. Die Liebe von Homosexuellen zu Geld machen, ihn, Theo, als Lockvogel zu missbrauchen! Er gerät schon jetzt in ein fatales Licht. Wäre es nicht Manfred, er müsste sofort abreisen.

     Manfred kam selbst noch einmal auf die kleine Szene im Hausflur zurück: „Es war unverschämt, dieser Blick und Seitenblick vorhin. Aber ich darf mich nicht wundern, ich habe sie oft brüskiert. Ich bin nie zu ihren Hausfesten gegangen. Sie haben dann abends im Hof Tische und Bänke aufgebaut, gleich hinter meiner Küche … Einmal hätte ich tatsächlich nicht hingehen können. Es war Besuch aus Hannover da, wir waren ein paar Monate liiert, es ist lange her. Wir kochten zusammen, wir kamen uns dabei nahe, immer wieder. Der Vorhang war nicht zugezogen, ich ließ es dabei. Die anderen saßen draußen auf ihren Bänken, wie Zuschauer vor einer Bühne. Oder wie Voyeure. So etwas bleibt hängen.“

     „Du hast viele Liebhaber gehabt, vermute ich. Mehr als die Frau im Haus gegenüber?“

     „Man kann es nicht vergleichen. Man darf es gar nicht.“

     Sie trennten sich an diesem Abend früh, beide ein wenig verstimmt. Er hat mir nicht einmal gesagt, ob er die Verträge beim Notar abgegeben hat, dachte Theo.

 

Dienstagmorgen. Theo lag bis zehn Uhr im Halbschlaf. Er war am Abend davor wieder nur schwer eingeschlafen, die Folge ausgedehnter unüblicher Nachmittagsruhe. Alles kam aus seiner Ordnung, alles misslang. Wenn es so weitergeht, wird er demnächst den Tag verschlafen und nachts aktiv werden. Nein, nein, in vierundzwanzig Stunden wird er abreisen, so oder so.

     Beim Frühstück sah er klar wie selten: Er, Theo, sollte über Geld und Vermögen und Gewinne reden und bekam seinen Mund nicht auf. Jeder Anlauf ging ihm daneben. Er schien Vorwände zu suchen, um sich gekränkt fühlen und schweigen zu können. Manfred dagegen empfand offenbar ein perverses Vergnügen, Themen breitzutreten, die ihm hätten peinlich sein müssen. Er schleppte ihn auf den Friedhof, er, dessen Eltern ohne ihn verscharrt worden waren. Er, der gar kein Elterngrab besaß, zeigte ihm prächtige Grabanlagen. Er, selbst ohne Frau und Kinder, faselte von der ewigen Familie! Dann der tote Schriftsteller, der bisexuelle. Und immer wieder Bekenntnisse: dass er in seiner Schuld stehe. Und ließ kurze Zeit später durchblicken, er halte ihn für wohlhabender als sich selbst! Und die vielen Männergeschichten. Was ging ihn, Theo, der ganze Homoquark eigentlich an?! Es ging da auch immer nur um Geld oder Liebe.

     Theo zerbiss sich die Unterlippe. Manfred räumt eben alles ein, er räumt jedes Feld, er stellt sich nie. Er hat ihn nicht einmal in eine Bar mitnehmen wollen. Er soll ihn nicht länger zum Narren halten. Es darf so nicht weitergehen.

     Panischer Aufbruch wie am Vortag.

     Dann stand er im Bahnhof Jungfernstieg. Er war eben aus einem Zug der U 2 gestiegen, hatte eine Netzkarte für den ganzen Tag und wusste nicht, wie er die Zeit bis zum Abend herumbringen sollte. Er starrte auf die Tafel zwischen den Gleisen – das war der Netzplan. Einen Plan muss man haben, ein Schema im Kopf. Erst die Strategie, dann die Taktik.

     Die U-Bahn-Linie 1 ist die längste in der Stadt. Er wird so lange mit ihr hin- und herfahren, bis ihm genügend gegen den Cousin eingefallen ist, bis er sich ihm gewachsen fühlt. Er wird an jeder Station einen neuen Anlauf nehmen. Er muss jetzt trainieren wie ein Boxer am Sandsack. (Theo, du machst Fortschritte, hätten wir dir, ehrlich gesagt, gar nicht zugetraut. Weiter so.)

     Die nächste Bahn fuhr nach Ohlstedt. Das war ganz im Nordosten, hin und zurück anderthalb Stunden. Theo stieg ein. Er bekam einen Fensterplatz. Mit dem Gesicht zur Tunnelwand begann er sich für den Abend vorzubereiten. Er formulierte langsam, stockend, als läse er von der Tunnelwand ab. Oder als läse er die Bildunterschriften in einem von Manfreds Büchern. Und er las auch die Namen der Stationen von der Wand ab, als wären es Kreuzwegstationen von Katholiken.

     Also Glückwunsch, Manfred, jetzt bist du eine Million reicher. Wie fühlt man sich da? – Jetzt kommt der da, dieses Subjekt. Wird mich anbetteln. Ich mach es wie Manfred: Augen zu. Und was sag ich dann? Schon den Faden verloren. –HAUPTBAHNHOF NORD – Manfred, jetzt bist du eine Million reicher. Weißt du schon, was du mit dem Geld anfängst? Das will gut überlegt sein. Du wirst es sicher gut anlegen wollen. Da muss man vorsichtig sein, heutzutage. Man kann auf einmal große Verluste erleiden. – Idiot! – LOHMÜHLENSTRASSE – Manfred, ich will ja nicht aufdringlich sein, aber ich hätte da einen Vorschlag, der dich interessieren dürfte. – Oh, so geht’s schon gar nicht! – LÜBECKER STRASSE – Glückwunsch, Manfred. Jetzt brauchst du einen Vermögensberater. Es liegt mir ganz fern, dir Ratschläge geben zu wollen, aber Olga hat da so eine Idee. Olga, sie ist die klügste von uns. Sie hat einen Plan entwickelt. Es war natürlich alles von ihr eingefädelt, von Anfang an, das weißt du schon. – WARTENAU – Du hast Glück gehabt. Wieso? Es hätte doch auch anders kommen können. Denk an den Pächter. Wir haben eine Zeitlang gedacht, du wärst enterbt. Na, das Pflichtteil wär dir ja geblieben, also die Hälfte. Und wegen dieser Hälfte hätte ich dir einen Vorschlag zu machen. Oder wegen der anderen Hälfte, wie man’s nimmt. Genau genommen ist es natürlich nicht mein Vorschlag, sondern der von Olga. Sie ist sehr klug, du hast es selbst gesagt. – Oh, quatsch dich nicht fest! – RITTERSTRASSE – Manfred, das ist nun der letzte Abend. Schade, dass ich morgen schon zurück muss. Eine Sache wollte ich noch ansprechen. Hättest du nicht Interesse, bei uns zu investieren? Ich habe dir neulich schon gesagt, wir wollen das Geschäft wieder aufbauen, nein, ausbauen. Es ist nicht schwer, Aufträge hereinzuholen, Aufträge hereinzuholen …Und wie weiter? – WANDSBEKER CHAUSSEE – Ich habe dir eines verschwiegen bisher. Es geht uns schlecht, natürlich nicht uns persönlich, dem Betrieb eben. Wir haben Verluste gemacht. Was heißt Verluste – ein Großkunde hat Pleite gemacht und uns mitgerissen. Auf einen Schlag hatten wir ein Riesenproblem. Dabei ist das Unternehmen sonst gesund. Aber jetzt sind wir praktisch pleite und brauchen frisches Kapital. – Oh, das ist ja Nackttanz! – WANDSBEK MARKT – Ist das hier ein Raus und Rein, ein Geschiebe. Ich setze mal eine Station aus, bis es ruhiger geworden ist. – STRASSBURGER STRASSE – Glückwunsch, Olga, eh, Manfred, eine Million! Musst du viel an Erbschaftssteuern zahlen? Wie viel bleibt dann noch übrig? Und wie willst du das anlegen? Wir in Neustadt haben da einen Vorschlag für dich, wenn es dich interessiert. Wir suchen einen Teilhaber, und einer wie du wäre uns am liebsten. Einer aus der Familie. – ALTER TEICHWEG – Oh, das war gut. Also ungefähr so: Morgen muss ich leider endgültig zurück. Definitiv. Und vorher wollte ich noch etwas Geschäftliches mit dir besprechen. Wir in Neustadt haben dir einen Vorschlag zu machen – oh, es wird hell, er fährt ans Licht, es geht immer höher. Jetzt weiß ich, warum es Hochbahn heißt.

     Der Ausblick überwältigte ihn. Rechts und links ein grün gesprenkelter Riesenteppich aus Eigenheimen, Wohnblocks, Hochhäusern, Bürogebäuden, Einkaufsmeilen, Lagerhallen, Schulen, Fabriken, Schornsteinen, Kränen, Straßen, Brücken, Drähten und Schienen. Es war ein Teppich ohne Muster, ohne Maß, an dessen weiterer Ausdehnung und Verdichtung überall unablässig gearbeitet wurde. Bald wird er alles Land zwischen den Meeren bedecken. Theo kam jetzt aus einem langen, engen Tunnel und rollte plötzlich durch die monotonen und monströsen Weiten dieser unendlichen und unaufhörlich pulsierenden Stadt. Ihm war, als wäre er mit einemmal in eine permanente Explosion hineingestoßen worden und würde fortgerissen, in kleinste Teile zerrissen und seine pulverisierten Partikel würden über die weite Ebene geschleudert. Es war ihm unmöglich, sich noch einmal zu sammeln. Er begriff jetzt das Wesen dieser Stadt, ohne es so formulieren zu können, es war richtungslose Ausdehnung. Es gab keinen Kern und keinen Rand, keine Zwecke und kein Ziel, nur diese unaufhörliche Expansion. Ein Gefühl der Vernichtung überfiel ihn. Er stieg schon in Volksdorf aus und fuhr mit der nächsten Bahn zurück.

     Woher kam sein tiefes Erschrecken? Er war kein Großstädter. Er hatte immer in der Kleinstadt und auf dem Dorf gelebt. Er hatte von dieser Stadt bisher nur Kulissen kennengelernt, die Fassaden der inneren Stadt, die Passagen, die Elbufer. Was kannte er sonst von der Welt: Baustellen, die die Sicht verstellten, Pässe zwischen hohen Bergen, kleinere Küstenabschnitte des Südens. Jenseits dieser Orte fing die Welt in ihrer wahren Breite und Tiefe erst an. Von alldem besaß er nur eine Ahnung, aber er spürte schon das Drohende wie das Verlockende dieser größeren Welt.

     Nun ging es wieder im Tunnel dahin. Das Verwirrende fiel von ihm ab. Er war imstande, die Bausteine von vorhin zu einem zweckmäßigen Ganzen zu fügen. Zuerst würde er ihm gratulieren. Dann sein Bedauern ausdrücken, dass er schon fort musste. Dann war der Vorschlag der Familie an der Reihe. Sie wollen den Betrieb vergrößern und suchen einen Teilhaber. Sie wenden sich zuerst an ihn, da er zur Familie gehört. Und nichts von Verlusten, nur von Gewinnen, die zu erwarten sind. So wird’s gehen.

     Der Zug kam früher als vermutet wieder ans Licht, schon an der Kellinghusenstraße. Er wollte alles noch einmal durchgehen wie einen Prüfungsstoff, und das ging da unten im Dunkeln besser. Er wechselte erneut den Bahnsteig und fuhr zurück. Aber gleich hinter dem Klosterstern geriet er aus seinem Text. Es war eine Gedankenblockade. Wenn er es in Gedanken nicht flüssig abspulen kann, dann auch nicht mit Worten. So wird er den Cousin nicht überzeugen. Er hat Skrupel, das ist es. Man kann auch lügen, indem man etwas verschweigt. Vielleicht würde Manfred nicht einmal die Bücher prüfen und sich auf ihn verlassen. Es ist Lüge, ihm den wahren Stand der Geschäfte zu verheimlichen. Hat Manfred das verdient? Keine Bank wird uns noch Kredite geben, niemand sonst wird sich beteiligen. Es ist ein Risiko. Wir suchen Risikokapital.

     Er kam nicht darüber hinweg. Das Dunkel war ihm jetzt lästig. Er wollte sich noch nicht entscheiden. Besser ans Licht zurückkehren und in den schon vertrauten Vierteln der Stadt herumbummeln. Er stieg am Meßberg aus und ging den Hügel zur Mönckebergstraße hinauf.

     Er aß eine Kleinigkeit. Er lief durch die Straßen, nahm vieles wahr und vergaß es sofort. Später fuhr er zurück nach Eimsbüttel und warf sich aufs Bett und wartete auf Manfred, nicht wachend, nicht schlafend.

 

Es klopfte. Manfred trat ins dunkle Zimmer. Vor einiger Zeit waren sieben undeutliche Schläge von der Apostelkirche herübergeklungen.

     „Du schläfst nicht? Darf ich Licht machen? Ich war bis eben beim Notar. Es ist alles unterschrieben.“ Es sei wie üblich alles vorgelesen worden, deshalb sei es so spät geworden. Nein, Einwände habe es nicht gegeben. Und nun lade er ihn zum Essen ein. Er schlug ein Lokal in Eppendorf vor, das man ihm empfohlen hatte. Er kannte es selbst noch nicht.

     Eine halbe Stunde später saßen sie dort am Tisch. Dieser Jugoslawe war nicht, wie sonst jetzt in ersten Fällen dieser Art, zum Kroaten mutiert, sondern firmierte neuerdings unter dalmatinischer Küche, vielleicht um das Preisniveau zu rechtfertigen. Es war auffallend leer, nur ein weiterer Tisch besetzt.

     „Schlechtes Zeichen“, murmelte Manfred.

     Als sie den Aperitif tranken, brachte Theo den schon etwas angewärmten Glückwunsch an.

     „Ja“, sagte Manfred, „wünsch mir Glück, dass das Geld tatsächlich kommt. Die Beträge liegen, bei meinen bescheidenen Verhältnissen, in einer Größenordnung, die schon wieder etwas Abstraktes hat.“ Er vertiefte sich in die Speisekarte.

     Sie bestellten. Manfred begann, Geschichten von Notaren und Anwälten zu erzählen. Theo fand vorerst nicht die Gelegenheit, im eigenen Programm fortzufahren. Die Übergänge im Gespräch mussten natürlich wirken, sonst war alles von Anfang an verdorben.

     Indessen ließ die Suppe beträchtlich auf sich warten.

     „Wir sitzen bald eine Stunde hier“, sagte Manfred.

     „Bis morgen früh müssen wir mit dem Essen fertig sein, dann muss ich nämlich zum Bahnhof. Leider.“

     „Musst du wirklich? Ich glaube, du musst vor dem Wochenende noch nicht zurück. Wir könnten noch so viel miteinander reden.“

     „An sich könnte ich schon. Jetzt im Winter ist gerade etwas weniger zu tun. Und ich wollte auch noch etwas mit dir besprechen.“

     Manfred sah ihn bereitwillig an – aber da kam das Essen, und zwar nicht die erwartete Suppe, sondern die Platten des Hauptganges. Theo bekam einen Wink, nicht auf dem Vergessenen zu bestehen.

     Sie begannen mit Appetit zu essen. Manfred monierte, Fleisch und Gemüse seien nur lauwarm. „Sollen wir es zurückgehen lassen? Kostet noch einmal Zeit, und aufgewärmt schmeckt es weniger gut. Die Qualität scheint mir an sich nicht schlecht. Nehmen wir es hin! – Du hast etwas auf dem Herzen?“

     „Ich, nein wir, wir alle in Neustadt haben einen Vorschlag …“

     „Ich kann’s mir schon denken. Ihr wollt mich einladen. Ja, ich werde bald kommen. Sag Olga, dass ich sehr bald kommen werde. Noch bevor die Sandgrube übergeben wird. Wir müssen die Räumung organisieren. Und vieles andere auch noch.“

     War das ein Zipfel, nach dem er greifen konnte? Es kam nicht mehr dazu. Sie erschraken auf einmal, Theo mehr als Manfred. Da war plötzlich ein bösartiges Zischen wie von einer gereizten Schlange: Wasserdampf quoll aus dem Heizkörper neben ihnen.

     „Er hängt ja schief“, sagte Theo.

     „Sieht richtig gefährlich aus.“

     Die Dampfwolke vergrößerte sich. Sie riefen den Kellner. Sie wurden in einen Nebenraum evakuiert, dann begannen am Tresen lange Telefonate auf Serbokroatisch. Während des Umzugs waren die Speisen weiter abgekühlt. Sie brachten den Rest der Mahlzeit so rasch wie möglich hinter sich.

     Manfred hatte schon die Rechnung beglichen, auch das Trinkgeld gegeben, als ihm plötzlich Bedenken kamen.

     „Sie haben doch nicht die Suppen auf die Rechnung gesetzt?“

     „Doch zwei Suppen für die Herren.“ Er blieb trotz aller Proteste bei seiner Auffassung, zwei Suppen seien auf den Tisch gekommen. Seine Deutschkenntnisse nahmen rapide ab. Der Geschäftsführer war wegen der Leckage weggegangen, um Hilfe zu holen. Sie erreichten nichts, gingen fort und lachten draußen ärgerlich.

     Es bleibe dabei, sagte Manfred in der U-Bahn, vor dem Wochenende reise er nicht ab. Theo nickte. Manfred versprach, am kommenden Tag früher nach Hause zu kommen. Dann könnten sie noch an die Elbe fahren oder an die Alster.

     „Stadt Hamburg an der Elbe Auen“, intonierte er, leise und falsch klingend. Eigentlich sei die Moldau der größere Zufluss. Aber derselbe Doppelvokal zweimal hintereinander, das sei schon schwer zu sprechen und unmöglich zu singen.

     Theo brütete vor sich hin, als sie später zu Hause Wein tranken. Auf Manfreds Frage sagte er, er sei den halben Tag mit der U-Bahn herumgefahren, die eigentlich eine Hochbahn sei. Er habe viel im Vorbeifahren gesehen.

     „Willst du heute noch in Neustadt anrufen?“

     „Nein, ich erledige es morgen früh.“

     Theo wusste, er würde bis in ferne Zeiten Abend für Abend mit Manfred essen gehen. Es gab noch so viele Restaurants in der Stadt. Und Manfred würde jeden Abend bereitwillig – zurückweichen.

 

Ingrid war aufgebracht. Warum er nicht schon gestern Abend angerufen habe? Theo sagte, es tue ihm leid, Manfred sei erst um acht vom Notar zurückgekommen. Dann sei er mit ihm essen gegangen und sie hätten stundenlang über die offenen Fragen geredet.

     Was geredet bedeute? Sei er einverstanden?

     Noch nicht, aber sie seien ein Stück vorangekommen. Manfred wolle nach Neustadt fahren, demnächst. Aber vielleicht würden sie schon jetzt, in diesen Tagen, zu einer Einigung kommen. Er müsse noch bis zum Wochenende in Hamburg bleiben.

     Seltsamerweise nahm sie das erneute Hinausschieben seiner Heimreise zunächst unkommentiert hin. Dagegen bestand sie darauf, er hätte schon gestern Abend anrufen und Bescheid geben müssen. War das nicht typisch: eine Nebensächlichkeit zur Hauptsache zu machen?

     Er habe das Kind so spät am Abend nicht wecken wollen.

     Dafür habe Olga wiederholt bis Mitternacht bei ihr angerufen. Nun sei alles entschieden. Bestimmt sei der Onkel heute Morgen zur Bank gegangen, um zu unterschreiben. Er sei vielleicht schon zurück. Sie habe bis jetzt, halb elf, noch keine Verbindung zum Schwarzen Bären bekommen.

     „Ruf im Bären an, und falls er unterschrieben hat, dann soll er alles noch geheim halten. Keine weiteren Schritte unternehmen. Vielleicht wendet sich alles noch mal. Wenn das Geld da ist, müssen die Verträge rückgängig gemacht werden.“

     Sie glaube es nicht, und sie glaube auch nicht, dass er überhaupt etwas erreichen werde. Es sei an der Zeit, die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich seien. Er müsse die eigene Existenz neu aufbauen. Wann sei er spätestens wieder in Neustadt?

     „Am Samstagnachmittag“, sagte er.

     Gut, er brauche vorher nicht mehr anzurufen, nur heimkommen. Und wenn sie nur wüsste, was ihn gehindert habe, gestern Abend zu telefonieren.

     „Ich weiß es selbst nicht. Nichts.“

     Er frühstückte und wollte nicht weiter über das Gespräch nachdenken. Das fehlt noch, dass er sich schuldig fühlt, nur weil sein Anruf einige Stunden auf sich hat warten lassen. Er wird vielleicht mit leeren Händen zurückkommen, dann kann sie sich bestätigt fühlen, jetzt noch nicht. Er kam nicht auf den Gedanken, selbst Olga anzurufen. Er dachte gar nicht an sie. Schon am gestrigen Abend war es ihm gelungen, Neustadt, die Glaserei und die Familie so gut wie vollständig zu vergessen. Er hatte sich bloß die Restaurants, die er mit Manfred besucht hatte, zu vergegenwärtigen brauchen, ihre Einrichtung, ihr Personal, die Gäste und die häufigen Zwischenfälle.

     Spät am Vormittag verließ er das Haus. Er trottete zur U-Bahn. Er hatte kein Ziel, von Strategie konnte keine Rede mehr sein. Er wird abwarten, was auf ihn zukommt. Ein seltsamer Instinkt ließ ihn zur stadtauswärts fahrenden Bahn hinuntergehen. Er fuhr bis zur Endstation in Niendorf. Da standen die üblichen Wohnblocks, aus Fertigteilen oder mit Backsteinfassaden. Doch sah es hier wirklich einmal nach Stadtrand aus. Die städtische Betriebsamkeit nahm rasch ab, je weiter er nach Norden ging. Er war schon in der Zone kleiner Straßen mit neuen Eigenheimen. Es waren viel zu große Gebäude für die kleinen Grundstücke. Dann überquerte er, fast unter Lebensgefahr, eine Hauptstraße, eine Art Tangente, die Niendorf umging. Und jetzt stand er in der offenen Landschaft und musste pissen.

     Er bog in einen schlammigen Weg ein, der tiefer in ein Gebüsch führte. Während er sich erleichterte, blickte er zwischen den Stämmen kahler Birken und Weiden hindurch. Das Gehölz umfasste ein Anwesen, das ihn auf vertraute Weise ansprach. Es war nicht die Baracke oder was es sonst war, es war der große Garten, der eigentlich ein kleiner Park war. Er erinnerte in seiner Blumenseligkeit an jenen Garten seiner Kindheit in Neustadt. Das sogenannte Paradies, wie Manfred ihn ironisch getauft hatte. Krokusse in großen Flecken, nach Farben geordnet. Rechtecke mit Wildtulpen, die auch schon blühten. Beete mit Stiefmütterchen. Und das war offensichtlich erst der Anfang des Gartenjahres. Stauden trieben frisch grün auf weiteren Rabatten aus. Noch waren die Rosen gegen den Frost ummantelt. Wer machte sich so viel Mühe? Wer fand sonst den Weg hierher?

     Er ging weiter und stand in der Einfahrt. Die Baracke war vielleicht einmal eine Gaststätte gewesen. Es gab noch die Bierreklame über der Glasveranda, aber das Schild mit dem Namen der Einkehr war abmontiert worden; ein helles Rechteck auf den sonst nachgedunkelten Bohlen zeigte es an. Auf dem Sandplatz vor der Hütte parkte ein Mercedes von auswärts. Wofür stand HEI?

     „Gehen Sie weiter, gehen Sie zurück. Sie haben doch nicht angerufen. Es ist jetzt nicht frei.“ Ein Junge von acht oder neun Jahren stand vor ihm, erbittert.

     „Schickt dich deine Mama?“

     „Sie ist jetzt nicht frei. Ich will, dass Sie weitergehen, hören Sie.“

     Theo kehrte um und ging den Weg langsam zurück. Vertrieben, aus dem Paradies vertrieben!

     Die Blumen waren gleich verdächtig gewesen, Blumen sind immer verdächtig. Ihr Geruch soll etwas überdecken. Daher die Blumen auf den Friedhöfen, in den Leichenhallen. Übrigens, dachte er, die Sandgrube war früher voller Blumen. Es ist ja auch dort nicht gut gegangen. Auch in Eimsbüttel auffallend viele Blumen und Pflanzen in den Fenstern. Wo viele Blumen sind, riecht es nach Verwesung. So wie jetzt hier.

     Es war aber der moorige Geruch aus der Landschaft, in die er weiter hineinging. Sein Weg führte an noch kahlen Hecken entlang, Knicks nannte man das. Er war aus dem Paradies vertrieben worden – und mit einemmal war die Erinnerung wieder da.

     Sie waren in den verwilderten Blumengarten eingedrungen. Der Jägerzaun stand nur noch zur Hälfte. Das dunkle Grün der Brennnesseln und das hellere der Wiesengräser mischten sich mit dem Rot und Gelb später Sommerblumen. Die Sandwege waren noch begehbar und zielten auf einen länglichen Platz am oberen Ende des Gartens, wo eine Steinbank und ein Steintisch standen, beide bemoost und von Flechten bewachsen.

     „Ich war hier schon mal, vor langer Zeit“, sagte Theo. „Also gibt es diesen Garten wirklich, nicht bloß in meiner Phantasie. Hätte ich gar nicht gedacht.“ Der alte Mann war vielleicht tot. In diesem Jahr hatte sich hier noch keine Hand gerührt.

     „Komm, setz dich auch“, sagte Peter, der schon auf der Bank saß und eben die Lambruscoflasche aus dem Rucksack hervorholte. „Das bekommt uns besser als die Scheiß-Mathearbeit. Vergiss morgen die Entschuldigung nicht, den Zettel. Du unterschreibst doch für deinen Vater? Ich mach es immer so. Es vereinfacht die Sache.“

     Theo setzte sich neben ihn. Sie tranken abwechselnd aus der Flasche und wischten den Hals nicht ab. So war es üblich bei ihnen. Wenn Theo ihm die Flasche hinüberreichte, drehte Peter sie so lange, bis seine Lippen dieselbe Stelle des Flaschenhalses berühren konnten, an der Theo beim Trinken angesetzt hatte. Dieses kleine Manöver war Theo schon früher aufgefallen. Sie legten die Beine hoch, auf den Tisch, und schoben den Rucksack mit den Füßen ein Stück fort. Die Flasche stand zwischen ihnen auf der Bank. Es wurde bald unbequem. Um noch lässiger daliegen zu können und doch Halt aneinander zu haben, legte jeder einen Arm um die Schulter des anderen. Das war nichts Besonderes.

     Die Blicke verloren sich über grüne Hügel.

     „Hier verfällt alles. Es war mal sehr hübsch hier, es ist immer noch schön. Wie alles so durcheinander wächst …“

     „Es wuchert nur so. Es ist geil. Ganz toll blühen, sich befruchten lassen, Samen bilden. Geil sein.“ Peter nahm einen großen Schluck aus der Flasche, ohne ihn gleich hinabgurgeln zu lassen. Indessen reichte er Theo die Flasche jetzt nicht, er stellte sie auf dem Tisch ab.

     „Gib mir auch wieder vom Wein.“

     Da beugte sich Peter zu ihm herüber, kam ihm nahe, senkte seine Lippen auf Theos Mund. Theo öffnete seine Lippen und ließ es herüberströmen. Aber dann konnte er die Lippen nicht sogleich wieder schließen und den säuerlichen Roten hinunterschlucken, der so wohl tat, denn Peter schob etwas Weiches und doch Fleischig-Festes hinterher: seine Zunge. Er badete sie in Theos Mund wie in einem Tümpel. Der Wein sickerte in dünnen Fäden hinaus.

     Theo empfand staunend, dass sein eigener Arm von der oberen Kante der Steinbank herabgerutscht und der Bewegung des anderen Körpers gefolgt war. Das war einfach so geschehen. Sein Arm lag nicht mehr auf Peters knochigen Schultern, sondern er drückte jetzt ins weichere Fleisch des Rückens. Peters Rücken. Peter, der unsportlich war und dabei lebhaft wie Quecksilber. Es war weich und lebendig, es war an sich sehr angenehm – aber Quecksilber? Damit konnte man sich vergiften. Er sah sich plötzlich in der Klasse neben Peter sitzen und nicht mehr von allen beneidet, sondern gemieden, verachtet. Sie mussten ihn ja verachten. Warm und weich. Vergiftet. Quecksilber. Er zog den Mund mit einem Ruck zurück und schluckte den im Mund verbliebenen Rest Wein herunter.

     „Da hat er sich besudelt, der Kleine“, lachte Peter. „Verlassen wir diesen Ort.“

     Sie gingen im Wald bergan. Peter summte unablässig irgendeine Melodie. Theo schwieg und versuchte an gar nichts zu denken, worin er eine gewisse Übung besaß. Dann waren sie beim Aussichtsturm angelangt und stiegen hinauf. Sie ließen sich oben auf der Plattform nieder, mit dem Rücken gegen die Innenwand gelehnt, einer dem anderen gegenüber. Theo nahm sich die BILD-Zeitung aus Peters Rucksack und las darin. Peter faltete die ausgelesenen Seiten zu Papierfliegern und ließ sie über die Brüstung segeln. Sie verfingen sich in den Kronen der Buchen unter ihnen. Am Nachmittag gingen sie heimwärts. Sie sprachen kaum miteinander.

     In den folgenden Wochen und Monaten war alles unverändert zwischen ihnen. Im Grunde war nichts geschehen.

     Theo hatte seit der Schulzeit nicht mehr daran gedacht. Er spürte jetzt, wie das weiche Fleisch des Rückens unter dem Gewicht seines Armes erst nachgegeben und sich dann gegen den Arm gedrückt hatte, wie ein Aufbäumen. Verdammt viel Zeit vergangen seitdem. Und es war jetzt Zeit, zur U-Bahn zu gehen und zum Cousin zu fahren.

     Manfred war schon zu Hause. Er wollte nun doch nicht mit ihm zur Elbe oder zur Alster. Das sei das Gewöhnliche, diese Ufer seien dadurch gewöhnlich geworden, dass jeder sie zwanghaft aufsuche, die Fremden und die Einheimischen. Lächerlich diese Lokalpatrioten, die den Blick von der Lombardsbrücke an der Wand ihres Büros oder Wohnzimmers befestigten. Er, Manfred, habe einen anderen Ehrgeiz: sein Führer durch ein unbekanntes Hamburg zu sein. Als er erfuhr, Theo habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, schob er ihm eine angebrochene Tafel Schokolade hin. Theo steckte sie in die Jackentasche.

     Sie verließen das Haus. Manfred schlug eine neue Richtung ein.

     „Wohin führst du mich diesmal?“

     „Sozusagen auf eine Insel.“

     Nach ein paar Minuten kamen sie in eine noch trübseligere Gegend. Mickerige Häuser wechselten mit Freiflächen, die ungenutzt verkamen. Langenfelde sei der Hinterhof von Eimsbüttel, sagte Manfred. „Es ist die zerrissenste Gegend der Stadt. Hier begann die Bombardierung. Sie kamen von Westen und übten erst noch. Daher ist hier nicht alles verbrannt wie in Barmbek oder Hammerbrook. Du findest immer noch Häuser, die hundert Jahre und älter sind – aber ohne die Würde des Alters. Insofern passen sie zu all dem Schäbigen aus der Nachkriegszeit. Die Gegend hat sich nie mehr erholt.“

     Am S-Bahnhof nahmen sie einen Zug, der stadtauswärts fuhr. Sie stiegen bereits an der nächsten Station aus. Es war nicht zu erkennen, was sie hier sollten. Kaum hatten sie die lange, finstere Unterführung unter den Bahngleisen verlassen, als sie schon der nächste Tunnel verschluckte. Da oben sei die Autobahn, sagte Manfred. Endlich wurde es heller. Ein breiter asphaltierter Fußweg schlängelte sich zwischen Zäunen und Hecken. Dahinter wurden Fabriken sichtbar. Ein leises Dröhnen erfüllte die Luft. Sie gingen allmählich bergan. Das Geräusch nahm zu.

     „Da drüben“, sagte Manfred und wies auf einen vielgliedrigen, hohen Koloss, „das ist unsere Müllverbrennungsanlage.“

     Ihr Weg überquerte auf steil ansteigenden Rampen nacheinander zwei Autostraßen. Dahinter begann zu Theos Erstaunen ein großer Park, dessen Ausdehnung er nicht abschätzen konnte. Seine Hügel waren bewaldet. Manfred schlug gleich einen nach links aufwärtsführenden Pfad ein. Es fiel Theo nicht leicht, Schritt zu halten. Sie sprachen nicht miteinander. Dann erklommen sie lange Treppen und standen auf dem oberen Plateau eines offenbar künstlich angelegten Hügels; er war wie eine Pyramide geformt. Oben angekommen, hielt Manfred den Vortrag, an dem er unterwegs gefeilt hatte. Oder hatte er diese Führung schon wiederholt gemacht?

     „Wir sind hier im Volkspark Altona und zwar noch ziemlich am Rand. Man hat kaum Aussicht, die Bäume sind zu hoch geworden. Manches wächst doch in den Himmel. Der Park ist einzigartig durch seine Lage. Die großen Parks anderer Städte: Englischer Garten in München, Tiergarten in Berlin, Central Park in New York, der Bois in Paris – sie öffnen sich zu den Wohnvierteln rundum. Diese Gärten sind große Oasen innerhalb der bebauten Stadt. Ganz anders dieser Park hier. Er soll für die Menschen in Altona und Eimsbüttel da sein, aber ihre Wohnviertel liegen weitab. Er ist schwer zu erreichen. Er hat etwas Insulares. Die Autobahn, die Bahngleise, Ausfallstraßen - sie klemmen ihn ab. Um ihn liegt ein geschlossener Gürtel zweckmäßiger Scheußlichkeiten. Der Dichter Doderer hat solche Bezirke Ernstfallgegenden genannt. Da ist die Müllverbrennungsanlage, die ihre Dioxine nach Eimsbüttel bläst. Passend daneben die Kläranlage. Dann die reizenden Fabriken von Eidelstedt, teils stillgelegt. Weiter geht es mit dem Stadion, wenigstens ein Ort des Vergnügens, ich gebe es zu, aber was für eines … Gleich daneben der Hauptfriedhof von Altona. Dann kommt noch die Pferderennbahn – auch ein anrüchiger Ort – und das Elektronensynchrotron. Weißt du, was das ist?“

     „Nein.“ Theo aß jetzt die Schokolade auf.

     Es hat etwas mit Teilchenbeschleunigung zu tun. Alles klar? Der Schriftsteller Holthaus hat sich darüber lustig gemacht, indem er von Schleunchenbeteiligern sprach … Im Süden hast du wieder die Autobahn. Und dann sind da auch noch Friedhöfe … Mir gefällt dieser Park. Er lebt vom Kontrast zu seiner hässlichen Umgebung, eine Insel im Meer des Abscheulichen. Man kommt schwer zu ihm hin und verlässt ihn immer nur ungern.“

     Theo versuchte sich all das vorzustellen, denn man konnte von hier oben nichts davon sehen. Was könnte er dem Großen Cousin auf all seine Gescheitheiten antworten? Es fiel ihm nichts ein. Vermutlich würde Manfred erst damit aufhören und endlich schweigen, wenn ihm einer den Arm um die Schultern legte.

     Sie gingen die andere Seite des Hügels hinunter und tiefer in den Park hinein. Um etwas zum Gespräch beizutragen, berichtete Theo vom Niendorfer Blumengarten und seinen Bewohnern. Manfred lachte. Er versuchte, eine Anzeige zu formulieren: „Es erwartet Sie in idyllischer Umgebung … sehr frauliche Erscheinung … ganz für Sie allein … Schönheit, weißt du, ist ja ein Versprechen auf Glück – das gewöhnlich nicht gehalten wird. Das Glück hat viele Masken – oder sollte man besser sagen: Fratzen?“

     Sie kamen auf eine Lichtung. Da stand ein Landhaus niederdeutschen Typs. Die Gaststätte war geschlossen. „Früher hat hier jedes Jahr im August eine Riesenparty stattgefunden, im Haus und in der Umgebung. Die Gäste kamen aus vielen Ländern. Es war ein Termin, der nicht in der Zeitung stand. Doch alle kamen, die es anging, Tausend oder mehr.“

     „Und jetzt nicht mehr?“

     „Sie haben es auf ein altes Schiff verlegt, das ständig im Hafen liegt, an den Landungsbrücken. Es ist noch besser als hier, zugleich intimer und großartiger. Allerdings kann es dir passieren, dass du überfallen wirst, wenn du nachts von Bord gehst, und man dir die Lederjacke wegreißt mit allem, was drin ist.“

     Sie schlenderten lange wie ziellos durch den Park, der ein Wald war. Die Stimmung zwischen ihnen war eine andere als an den Vortagen. An der Trabrennbahn nahmen sie einen Bus nach Altona und aßen italienisch in Ottensen. Es war ein kleines, fast intimes Lokal, stark vergilbt die Wände und die Einrichtung, doch mit guter Küche und gutem Wein. Es kam zu keinerlei Zwischenfällen. Sie sprachen wenig und wenn, dann kaum Belangvolles.

     Theo dachte: Läuft es wirklich darauf hinaus, doch noch? Ich will nicht geküsst werden und alles Übrige auch nicht.

 

Der milde Vorfrühling war zu Ende. Über Nacht schlug das Wetter um. Er bemerkte es erst, als er gegen elf Uhr aufstand und die Vorhänge zurückzog. Er hatte schon Stunden teils wach, teils im Halbschlaf dagelegen. Er wollte nichts entscheiden. Die Bettwärme entschuldigte alles. Jetzt lag, unter einem grauen Himmel, aus dem es strähnig regnete, eine poröse weiße Schicht auf dem Rasen hinter dem Haus. Von den Ästen und Zweigen der Stadtbäume tropfte der schon tauende Schnee. Er musste in ungeheuren Mengen gefallen sein, nutzlos, sinnlos.

     Er kippte das Fenster. Sofort strömte feuchte, eiskalte Luft ins Zimmer, und er fror. Er war nackt und sah an sich hinab. Er wurde richtig fett, es war eine Schande. Du musst die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, du musst dir eine neue Existenz aufbauen. Sie hatte Recht. Er durfte nicht länger hier herumlungern. Abend für Abend fressen und Wein saufen und bis Mittag schlafen. Dann ein Verdauungsspaziergang, mehr war es nicht, und er saß wieder am Tisch, dem Cousin gegenüber, der ihn nur einlullte, mit ihm spielte und gar nichts bezweckte. Mit Daumen und Zeigefinger prüfte Theo die Fleischwülste über den Hüftknochen: Wirklich, er hatte weiter zugenommen. Seine Erregung nahm immer mehr zu, vom Seelischen ging sie aufs Körperliche über, und in einem Anfall von Selbsthass befriedigte er sich rasch.

     Nachher fühlte er sich ausgeleert, bis auf einen Rest Ekel. Das Herz pumpte noch gewaltig. Noch einmal hinlegen? Nein! Er streifte die Kleider über und ging ins Bad. Duschen, rasieren – entfällt. Er befeuchtete die Stirn, die Wangen und kehrte ins Zimmer zurück und raffte alles, was ihm gehörte, zusammen. Er presste es in die Reisetasche, zog noch im Flur Schuhe und Jacke an und war schon auf der Straße. Es regnete und war windig. Auf den Straßen und Wegen lag schon kein Schnee mehr. Vor den Gullys staute sich das gurgelnde Schmelzwasser.

     In der U-Bahn vermochte er an gar nichts zu denken. Er starrte die anderen Fahrgäste an und nahm nichts von ihnen wahr. Als wären die Nervenbahnen zwischen dem Sinnesorgan und dem Gehirn sämtlich gekappt.

     Er war schon viel ruhiger, als er die Rolltreppe der U 2 zur Fernbahn hinauffuhr, die Reisetasche auf der Stufe vor sich. Er registrierte die gegenläufige Bewegung der abwärts rollenden Treppe. Sie löste etwas in ihm aus. Sie war leer bis auf einen Mann weiter unten, nach dem er sich umdrehen musste, um ihn wahrzunehmen. Vor sechs Tagen also war er mit Manfred hier hinuntergefahren. Es war eine sehr gleichmäßige Art der Beförderung, sanft, ohne Rütteln. Man wurde automatisch auf eine andere Ebene geschoben. Manfred wird sich wundern, wenn er gegen Abend heimkommt. Er muss ihn dann sofort anrufen und eine Ausrede haben, die ihn nicht kränkt. Es war eine Eselei, dieser plötzliche Aufbruch.

     Er ging statt zum Bahnsteig in ein Restaurant und frühstückte mäßig. Als er beim Zahlen in der Innentasche seiner Jacke nach Münzen suchte, gerieten ihm Manfreds Schlüssel in die Finger. Er lachte leise in sich hinein: Schluss mit dem Theater. Übermorgen fährst du und bis dahin: Abwarten, ob noch etwas passiert.

     Als er über die Osterstraße zurückging, regnete es nicht mehr. Die Stauseen in den Rinnsteinen hatten sich verlaufen. Im Hausflur begegnete ihm niemand. Drinnen fand er am Garderobenspiegel einen großen Zettel mit Manfreds Handschrift:

 

     ‚Lieber Theo-Cousin, du bist wohl schon wieder unterwegs. Ich sehe hier nur kurz herein, um dir zu sagen, d.h. jetzt zu schreiben, dass ich heute Abend noch einen Termin in der Stadt habe und es spät werden dürfte. Warte bitte mit dem Essen nicht auf mich. Du kommst doch zurecht? Wir sehen uns spätestens morgen. M.’

 

     Theo nahm das Blatt herunter. Hätte er nicht doch nach Hause fahren sollen? Manfred schien nicht bemerkt zu haben, dass er, Theo, zwischenzeitlich mitsamt seinem Gepäck weggegangen war. Umso besser, wenn es so war. Er faltete den Zettel und steckte ihn in die Brusttasche seines Hemdes.

     Am Nachmittag wagte er es nicht, die Wohnung erneut zu verlassen. Vielleicht würde Manfred noch einmal vor dem Abend hereinkommen. Er rasierte sich und duschte. Dann stand er lange am Fenster seines Wohnzimmers und sah auf die Straße, auf die allzu nahen Fassaden der gegenüberliegenden Häuser. Um ihre Dachkanten zu sehen, muss man den Kopf in den Nacken legen. Nein, es reizt ihn jetzt nicht, noch mehr von der Stadt zu sehen. Alles in allem ist sie eine Enttäuschung gewesen. Was sich für ihn noch ereignen kann, muss in dieser Wohnung geschehen. Man muss es versuchen.

     Er ging an den Bücherregalen auf und ab. Wozu braucht ein Mensch so viel Gedrucktes? Hier und da las er die Aufschrift eines Buchrückens. Aber er nahm keinen der Bände heraus, um in ihm zu lesen.

     Die Zeit verging nur langsam. Er legte sich auf das Sofa, sah zur Decke hinauf und war irgendwann eingenickt. Als er erwachte, war es Abend. Die Straßenbeleuchtung erhellte das Zimmer schwach. Draußen riss der Strom derjenigen nicht ab, die von der Arbeit oder anderen Geschäften heimkehrten. Die Haustür fiel wiederholt hörbar ins Schloss. Er stand endlich auf und ging allein essen. Er saß bei dem Chinesen an der übernächsten Ecke, den er schon kannte. Er trank nicht einmal Wein, nur Bier, das bitterer als im Süden schmeckte.

     Nachher stellte er das Radio an, fand keine Musik nach seinem Geschmack und ging um zehn ins Bett. Er schlief noch nicht, als Manfred heimkam. In der ganzen Wohnung war es dunkel, auch hier bei ihm im Zimmer. Manfred knipste im Flur Licht an und klopfte sofort an seiner Tür.

     Dann saß der Große Cousin auf seiner Bettkante, das hatte er noch nie getan. Aber er saß halb abgewandt da und schlug ein Bein über das andere, wobei er das Knie in die Hände nahm. Gleich am Morgen, sagte Manfred, habe ein guter Freund ihn im Büro angerufen. Er habe mit ihm essen gehen und vieles besprechen müssen, halb privat, halb geschäftlich. Er wurde nicht deutlicher.

     „Du hast deine Sachen schon gepackt?“ Er wies auf die Reisetasche, der Theo seit seiner Rückkehr bisher nur das Rasierzeug und die Zahnbürste entnommen hatte.

     „Ja, es muss nicht alles so herumliegen.“

     Manfred stand auf und ging im Zimmer auf und ab, bis er ihm Gute Nacht sagte. Sie vereinbarten, am kommenden Tag nachmittags zu Hause Kaffee zu trinken. Für den letzten Abend lud Theo Manfred zum Abendessen ein. Manfred versprach, darüber nachzudenken, wohin sie gehen könnten. Dann verließ er das Zimmer. Es wurde wieder ruhig in der Wohnung und bald auch wieder dunkel.

 

Am Freitag stand Theo erst gegen Mittag auf. Zum Frühstück aß er von den Vorräten, die noch in der Wohnung vorhanden waren. Offenbar hatte Manfred einmal in seiner Abwesenheit eingekauft, ohne dass er es bisher bemerkt hätte. Das Brot war nicht älter als zwei Tage.

     Theo verließ die Wohnung nicht mehr, bis Manfred zurückkam. Er blätterte in den Bildbänden, von denen es viele in den Regalen gab. Die meisten standen in der untersten Reihe. Er ließ die Kunstbände stehen und nahm nacheinander einige über Länder oder Städte heraus: SIZILIEN – DIE STEIERMARK – AMSTERDAM – NEW YORK – DIE SOWJETUNION. War Manfred auch noch Kommunist? Er blätterte einige Zeit in den Büchern und las die Bildunterschriften langsam, bevor er jedes Bild noch einmal ansah und dann umblätterte.

      Das Wetter hatte sich beruhigt. Es war kühl geblieben. Im Haus war es um diese Zeit ziemlich still. Auch er selbst war jetzt ruhig.

 

 

 

 

 

11. Jupiter am Himmel

Die Hochbahn schickte einen Kurzzug über die Strecke und das am Freitagnachmittag zur Stunde, da die Büros sich früher leeren und die Angestellten den Freuden des Wochenendes entgegenfiebern. Manfred schob sich am Jungfernstieg in den gut besetzten Wagen der U 2. Zwar stand er ohnehin lieber in der Bahn, als dass er saß – aber musste es derart eng sein? Am Gänsemarkt griffen weitere Hände nach seiner Haltestange, und ein Körper benutzte sie sogar als Sofa. Manfred zog die eigene Hand unter dem fremden Rücken heraus und suchte weiter oben an der Stange neuen Halt.

     Er wollte noch beim Bäcker Kuchen besorgen. Für das Abendessen wird er den Portugiesen an den Landungsbrücken vorschlagen. Es sprach einiges dafür, dass Theo jetzt über mehr Zeit als Geld verfügte. Er wird hoffentlich nicht wieder, wie gestern Mittag, scheinbar vorzeitig abgereist sein. Sein eigener Verstand hatte sich geweigert, diesen Schluss zu ziehen, obwohl alles ihn nahelegte: der Cousin, die Tasche und ihr vorher in Zimmer und Bad verteilter Inhalt waren sämtlich verschwunden, ohne Nachricht oder Spur. Die Vernunft hatte darauf bestanden, die vorgesehene Notiz zu hinterlassen, und hatte Recht behalten. Am Abend lag Theo überaus friedlich in seinem Bett, die gepackte Tasche stand in der Nähe. Es blieb unaufgeklärt.

     Bei Stefans Anruf gestern Morgen hatte er sehr gern für den Abend zugesagt, aber die anderthalb Stunden in jenem Lokal wurden zur Qual. Entweder sah er die eigene Wohnung im Geist vor sich: leer – oder er sah sich selbst in seiner Umgebung und fand sich da einfach nur deplaciert. Sah so heute ein Künstlerlokal aus?

     Das einzig Reelle dort waren die Preise. Beim Film verdienen sie nicht besonders viel. Die meisten sahen trotzdem zufrieden aus. Aber wie konnte man sich in jenem Raum wohl fühlen, schmucklos, schlecht belüftet und schlecht proportioniert, wie er war? Es gab nicht einmal die Klarheit und Schönheit einfacher und dauerhafter Materialien. Hatte Ästhetik nichts mehr mit den Sinnen zu tun? Aber Abgrenzung vom Bürgerlichen tat immer Not, und da alles, was die Sinne auf angenehme Weise anspricht, schon einmal da gewesen war, warf man sich in eine Gegenwelt aus Müll und Askese. Dieses Hässliche war nicht einmal interessant.

     Und die Gäste? Die Männer waren so unscheinbar, dass sich ihm kein einziges Gesicht einprägte. Unter den Frauen gab es nur zwei Ausnahmen, eine hinreißend verrückte junge Person mit einem krummen Rücken und einer aufgelösten Frisur wie ein in Unordnung geratenes Wollknäuel; und eine andere, die wie ein Mann aussah, aber nicht wie ein Transvestit, sondern wie eine richtige Frau, die zu ihrem Leidwesen sehr herbe männliche Züge aufweist. Sie protestierte vernehmlich gegen dieses Unrecht, das ihr die Natur angetan hatte, indem sie riesige runde Ohrringe trug, was die Sache noch beträchtlich verschlimmerte.

    Übrigens wirkte das müllästhetische Gehabe nicht einmal überzeugend. Die Speisekarte war wohl überlegt zusammengestellt, und die protzige Art, wie  der bekannte Sekt in vielerlei Variationen angepriesen wurde, machte deutlich, an welche Art von Publikum man sich wandte, an die wahren, echten Genießer, die auf ihr verkanntes Genießertum auch noch stolz sind.

     Das Gute, Wahre, Echte musste es sein. Als Stefan das Eis so gut schmeckte, konnte es doch nur hausgemacht sein; nach dieser Lebenskunstideologie schmeckte hausgemachtes Eis eben stets besser als industriell hergestelltes. Diese Auffassung kam Manfred bekannt vor, ohne dass er jetzt darauf kam, woher und seit wann. Leider kam das Eis doch aus der Fabrik, wie Stefan auf Nachfrage von der Bedienung erfuhr. Aber das war noch kein Unglück: So war es eben viel besser als das von jener anderen Firma, woran der Pöbel im Hanseviertel sich delektierte; das sei bloß fett. Als ob der Geschmack am Rahmigen nicht mehr erlaubt wäre. Die Bedienung pflichtete mit beinahe religiös anmutender Inbrunst bei: Sie finde jenes Eis einfach furchtbar, wie gut, dass einer den Unterschied noch merke.

     Sonst hatte ihn diese Überbetonung von letztlich belanglosen Geschmackswertungen meist amüsiert, diesmal ärgerte sie ihn. Er hatte sich vom Abend mit Stefan etwas erhofft: wieder etwas mehr Abstand zu Theo. Die freundschaftlich-verwandtschaftliche Distanz zu ihm sollte nicht weiter schrumpfen, sie war bedroht, er fühlte es seit dem Mittwoch spätestens. Aber jetzt vergrößerte sich nur der Abstand zu Stefans Welt. Stefans Beiträge zur Unterhaltung waren wieder etwas zerfasert, es gelang ihm nicht, lange bei einer Sache zu bleiben. Sie berührten ihre Lieblingsgegenstände, die Werke von Nietzsche, Sibelius oder Rodin, und waren danach um keine Spur klüger oder auch nur ihrer eigenen Meinung gewisser.

     Theo war für Stefan kein Thema. Er selbst besaß einen Bruder und fand es im Grunde nicht der Rede wert, dass da ein Cousin aus dem Nichts aufgetaucht war, in das er nach kurzem wieder verschwinden würde.

     Wohl nur aus Höflichkeit fragte er: „Ist dieser Theo noch bei dir, wenn Maximin eintrifft?“

     „Nein, Theo ist dann schon ein paar Stunden fort. Ich habe Max gebeten, nicht vor Samstagmittag zu kommen. Er wollte an sich schon morgen eintreffen.“

     „Theo fährt am Sonnabend? Man bekommt ihn nicht zu Gesicht? Du könntest morgen Abend noch mit ihm weggehen.“

     „Nein, das will ich niemand antun.“

     „So? Aber dafür zeigt sich dann ja Maximin.“

     „Zweifellos wird er das tun.“

     „Ich bin ihm vor Monaten tagsüber in den Passagen begegnet. Es war im Hanseviertel, nachmittags. Er trug da eine Lederhose und schwere Schaftstiefel, eine groteske Erscheinung. Früher sah man ihn nie so.“

     „Es ist seine erste Lederhose. Er hat sie sich zu seinem Vierzigsten selbst geschenkt. Und die Stiefel sind ein Erbstück, jedenfalls in gewissem Sinn. Das Material stammt von einem Großvater, der Schuster war. Ob es nun am Alter des Materials liegt oder ob ein Verarbeitungsfehler schuld ist: Sie knarren und quietschen ganz furchtbar, wenn er darin auftritt. Von diesem humoristischen Effekt hört man in den Bars zum Glück nichts. Die laute Musik überdeckt ihn.“ Er sagte ihm nicht, dass für Max die Zeit schneller ablief als für sie beide zum Beispiel.

     Als er jetzt an seinem Wohnzimmer vorbeiging, sah er Theo drinnen am Tisch sitzen. Eine halbe Minute später begrüßten sie sich in diesem Raum. Theo klappte den Bildband zu. Es war DIE SOWJETUNION. Er sagte: „Alles verschwindet, auch das da.“

     „Ja, aber man kann noch hinfahren und jetzt leichter dort reisen als früher. Ich bin allerdings nie da gewesen.“

     „Es sind schöne Bilder drin. Alles neu für mich. So fremd. Ja, die Welt ist größer, als man denkt.“

     Beim Kaffee schnitt Manfred das Geschäftliche an. Er werde Olga den vereinbarten Satz überweisen, sobald die erste Rate aus den Kaufsummen eingetroffen sei. Damit sei noch im Laufe des Monats zu rechnen. Und er sei bereit, ihre Provision auf fünfzigtausend zu erhöhen, wenn sie auch die Räumung der Sandgrube organisiere und überwache.

     „Das wird sie bestimmt tun. Aber du kommst doch selbst nach Neustadt?“

     „Ja, natürlich, sehr bald schon. Aber ich kann nur ein paar Tage bleiben. Einer muss sich weiter bis zum Schluss um alles kümmern. – Aber nun zu dir. Wie kann ich dir vergüten, was du für mich aufgewendet hast?“

     „Es ist nicht der Rede wert. Die Fahrkarte hat Olga bezahlt.“

     „Aber du hast dir eine Woche Zeit genommen, um hier … zur Verfügung zu stehen.“

     Theo winkte ab. Vielleicht wollte er etwas sagen, aber Manfred bekam nichts zu hören.

     „Habt ihr so wenig zu tun jetzt?“

     Theo nickte. „Es sieht nicht gut aus. Es braucht nicht von Dauer zu sein … Vielleicht könntest du … Wann wirst du kommen?“

     „Innerhalb von drei Wochen. Ich muss sehen, wie schnell ich hier ein paar Tage frei bekomme.“

     „Wohin gehen wir heute Abend? Ich lade dich trotzdem ein.“ Er wirkte gelöst jetzt, wie einer Last ledig, fast heiter.

     „Zu einem Portugiesen in der Nähe der Landungsbrücken.“

     „Dahin, wo nur Touristen hinkommen? Und wo man überfallen wird?“

     „Nur wenn man nachts allein unterwegs ist.“

    Theo packte endgültig, soweit es noch etwas zu packen gab. Dann duschte er und rasierte sich. Manfred lag eine Stunde auf dem Bett und hörte eine Zeitlang dem Geräusch fließenden Wassers zu, Wasser, das auf einen Körper trifft und ihn im Kopf des Zuhörers abbildet.

     Sie verließen die U-Bahn am Baumwall. Der Blick auf den abendlichen Hafen, einer Milchstraße mitten im Fluss ähnlich, ließ Theo zögern und innehalten. Offenbar wollte er nicht sofort weitergehen. Vielleicht war er unsicher, ob er zeigen sollte, dass ihm der Anblick gefiel. Sie hätten schon an einem früheren Abend herfahren sollen. Sie überquerten die Hafenrandstraße, und der Viadukt der Hochbahn schob sich vor den Fluss. Er verdeckte auch die Cap San Diego.

      Mit Mühe fanden sie im Lokal eine Ecke für sich. Um sie herum saßen fast nur Portugiesen, vorwiegend Männer - Bauarbeiter, Handwerker, Industriearbeiter. Manfred sagte leise, er verspüre wieder einmal Skrupel, hier eingedrungen zu sein. Er empfinde sich als einen Fremdkörper. Theo verstand ihn nicht.

     „Sie sind auf so etwas angewiesen. Es ist ihre Welt, einfach und authentisch. Man sollte es nicht verändern, auch nicht die Preise hochtreiben … Tun wir ja auch nicht“, schloss er verlegen. Es gelang Manfred nicht, es Theo begreiflich zu machen. Er bemerkte, bis auf die Sprache, keinen Unterschied zwischen sich und den übrigen Gästen. Umso besser, sagte sich Manfred und griff zur Speisekarte.

     Sie beschäftigten sich an diesem letzten Abend fast nur mit dem Essen, das einfach und dabei vorzüglich war. Eine schmackhafte Gemüsesuppe. Gekochtes, unverfälschtes Rindfleisch  mit verschiedenen Beilagen. Sie tranken einen fruchtigen Rosé.

     „Dein Besuch war mir sehr angenehm“, sagte Manfred. „Wenn man so zu zweit durch die Stadt geht, sieht man das meiste noch einmal mit frischen Augen. Man fühlt sich verjüngt. Ich danke dir für deinen Besuch. Komm irgendwann wieder.“

     Theo schwieg und sah ihn groß an. Es war ein Leuchten um ihn.

     Manfred fuhr fort: „Wenn du mich in Neustadt brauchen solltest, dann lass es mich wissen. Wenn du einmal Hilfe brauchst …“

     „Du wirst ja kommen.“ Der Cousin strahlte sanft, vielleicht geschmeichelt, auch in einer Art Vorfreude, wie es schien. Der Zustand hielt sichtbar an, ohne dass sie noch viel sprachen.

     Sie gingen nach dem Essen eine Weile auf der Promenade auf und ab. Manfred verzichtete, mangels maritimer Kompetenz, auf die üblichen Erläuterungen. Er versuchte, in Gedanken der seltsam harmonischen Ausstrahlung des Vetters auf den Grund zu kommen. War die Bilanz seines Besuchs für ihn nun doch noch positiv? Es blieb aber vorerst offen, ob er in Neustadt etwas retten konnte. So war er, Theo, halt endlich anerkannt und als naher Verwandter angenommen worden. Und es muss mehr sein, eine Art Erwartung vielleicht – dass er’s nicht eher begriffen hat: Er fährt ja heim zu seiner Familie. Hat sich gut geschlagen. Er freut sich auf Ingrid, das ist es. Morgen um diese Zeit ist er mit Ingrid zusammen. Ich muss mir sein Bild einprägen, es ist so schön. Freude und Mut und Kraft.

     Sie trennten sich früh und gingen in ihre Zimmer. Manfred war nach Musik zumute. Er wählte nicht lange aus, er war sich der Wirkung sicher und griff zu der kleinen silbernen Scheibe mit Karol Szymanowskis Lied von der Nacht. Schon im Bett liegend, streifte er die Kopfhörer über und lieferte sich aus.

     Die Nachttischlampe brannte noch. Er schloss die Augen und sah in diesen Nachthimmel über einem arabischen Sizilien, über Algerien mit seinen Wüsten, seinen Oasen. Das war der Orient gewesen, den der Komponist 1914 für sich entdeckte. Er vertonte dann Verse des persischen Sufismus; ins Polnische übersetzt, klangen sie gesungen unerhört weich und sehr ausdrucksvoll. Die Klangpracht der Orchestermusik war der Debussys vergleichbar. Es war eine mystisch verzückte Musik vom ersten Ton an. Ließ man sich darauf ein, erlebte man ein Einschwingen und Mitschwingen, das fortschreitend immer herrlichere Himmelsweiten eröffnete.

 

Die Musik des Einswerdens, der göttlichen Anschauung war doch verklungen. Manfred griff nach der Textbeilage. Die Verse Dschalal-ad-din Rumis waren von Hans Bethge ins Deutsche übertragen worden. Diese Fassung las er jetzt wieder einmal durch und verweilte beim Lesen jeweils auf den Stellen, die er besonders liebte:

 

     Schlaf nicht, Gefährte, diese Nacht …

 

     Du bist Jupiter am Himmel …

 

     Ich und Gott, wir sind allein diese Nacht …

 

     Geht das Glück auf?

 

     Schlaf nicht, Gefährte …

 

     Schweigen bindet mir die Zunge,

 

     Dennoch red ich ohne Zunge diese Nacht.

 

 

 Als die Tür aufging, erschrak er. Theo hatte nicht angeklopft. Da stand er nun, der Gefährte dieser Nacht, in Slip und T-Shirt, beide weiß, die Arme und Schenkel wie helle Bronze. Auf seinem Gesicht: Erregung, Scham, Verwirrung, Ärger. Er sah aus, als wolle er es rasch hinter sich bringen.

     „Tut mir leid, ich kann drüben nicht schlafen. Der mit der Gitarre klimpert wieder ab und zu. Vielleicht könnte ich … Dein Bett ist so breit … Es wird nichts passieren.“

     Manfred versuchte zu lächeln. „Was mich betrifft, so habe ich ja keine Angst vor dir. Leg dich nur gleich hin. Ich wollte das Licht gerade ausmachen.“

     Er rückte etwas zur Wand und räumte ihm die vordere Hälfte des Lagers ein. Theo schwang sich unter die Decke und knipste das Licht sofort aus. „Gute Nacht.“ – „Schlaf gut.“

     Unter einer Decke! Sie lagen beide auf der rechten Seite, Theo mit dem Gesicht zur Tür. Sein Cousin sah die höhere Silhouette wie einen Hügelkamm im Dunkeln daliegen. Der Berg atmete hörbar, und Manfred hätte am liebsten die Luft angehalten.

     Das Bewusstsein neuer eigener Schuld war sogleich zur Stelle. Dieses Ergebnis war durch ihn selbst provoziert worden, nicht durch Handeln, sondern durch häufiges leichtfertiges Reden. Er hat den Anschein eines noch regen erotischen Lebenswandels erweckt. Dabei sind die zurückliegenden Jahre von Enttäuschung und Verzicht bestimmt gewesen. Man kann auch mit Worten verführen … Immer schon ist er selbstkritisch bis zur Selbstanklage gewesen. Nur die Konsequenzen sind nie gezogen worden. Auf Bewährung in die Freiheit entlassen und neues Unheil angerichtet. Wozu hat er eine Fassade errichtet, die den Cousin in die Irre führen musste? Eben dazu, vermutlich. Und den Erfolg quittiert er nun mit Erschrecken.

     Er sucht nur ein Abbild, nicht das Urbild, nicht dessen Nähe und Berührung. Theo kann nur ein Idol sei. Ein Wiederanschluss an die Familie auf diese Weise kommt für ihn nicht in Frage. Die Vorstellung von Ingrid findet er jetzt abscheulich. Er kann einen Mann allenfalls mit einem Mann, nie mit einer Frau teilen. Und dann erträgt er keine Verquickung erotischer mit materiellen Interessen. Er glaubt es ihm nicht, dass ein Bedürfnis nach seiner Nähe ihn in sein Schlafzimmer geführt hätte. Theo ist bedürftig, aber nicht auf diese Weise. Ein Missverständnis liegt seiner Aktion zugrunde, schlimmer: eine falsche Berechnung. Der Altersunterschied spielt die geringste Rolle. Es gibt im Grunde nur junge und alte Männer, und er, Manfred, gehört bis auf weiteres zur ersten Gruppe.

     Sie lagen still nebeneinander, schliefen nicht und wussten es einer vom anderen.

     Er ist physisch sehr verlockend, bei Nacht nicht weniger als am Tag. Er ist gesund, schlechthin gesund. Er riecht sogar gesund. Da ist ein Überschuss an Vitalität, wie es ihn selten gibt. Vom Hoch zum Tief: Ist das nicht ein Gesetz der Meteorologie?

     Es war nicht wirklich dunkel im Zimmer, die Vorhänge ließen viel von dem Licht des entzündeten Großstadthimmels herein. Nun lag er, Manfred, im Schatten dieser Schulterblätter, es waren mächtige Schaufeln. In diesem Schatten zu ruhen, ist angenehm, besänftigend. Man könnte sich ergeben, es bedarf nur einer Geste. Ist das der Grund von allem: der Wunsch nach Überwältigung? Will er, dass die eigene Vernunft überwunden wird? Aber was ist er dann noch? Eine Null, ein Nichts, dem ein kleines Vermögen zugefallen ist. Wenn das sein Fehler ist: zu viel Vernunft und zu wenig Mut zur Sinnlichkeit, so will er gerade so akzeptiert werden.

     Einer musste doch etwas sagen, und so brach er das Schweigen zwischen ihnen:

     „Theo, wenn du mich wirklich brauchst, jetzt oder später, dann lass es mich wissen.“

     Der Cousin setzte sich auf. Er schwieg noch kurze Zeit, ihm den Rücken zukehrend. Dann sagte er „Gut“, stand auf und ging hinüber.

     Manfred dachte: Er wollte mir angenehm sein.

 

Er ist blamiert. Verschmäht. Woran fehlt es ihm denn? Theo warf sich aufs eigene Bett. Er zitterte vor Wut. Eine ganze Woche vertan. Er ist schon viel weiter gewesen. Es ist schlimmer, es ist eine Schande. Das sieht nun so aus, als sei er durchschaut. Manfred irrt sich: Er braucht ihn nicht, er kommt allein zurecht.

     Das Geschäft und das Gefühl, man hätte es nicht verquicken dürfen. Olga ist schuld. Sie hat ihm diesen Weg gezeigt, der an kein Ziel führt. Es ist eine Sackgasse. Und Ingrid ist mit im Spiel gewesen, sie haben es gemeinsam ausgeheckt. Hätten ihm die Frauen nicht die Richtung gewiesen, würde er jetzt nicht so dastehen.

     Manfred hätte anders mit ihm umgehen können. Es hätte ganz anders ablaufen können. Er, der Ältere, hätte nicht so lange schweigen dürfen. Ihm fehlen doch sonst die Worte nicht. Warum musste es so peinlich werden? Ist man sich nicht näher gekommen diese Woche? Wenn man sich sympathisch ist, kann es doch nicht so schwer sein, ein Wort zu sagen, einen Witz zu machen. Er, Theo, hätte ihn dann zwischen die Rippen geboxt. Man hätte es sogar amüsant finden können. Es brauchte nichts zu passieren, das lag ihm wirklich fern. Nur zeigen, dass man sich versteht. Er hätte auch noch den Arm um den Cousin gelegt. Wahrscheinlich braucht er das sogar. Aber der Cousin war, wie er immer gewesen war: unbegreiflich. Man bekommt ihn nicht zu fassen.

     Und was wäre schließlich dabei gewesen? Es gehört auch einmal dazu. Alles andere wäre besser, als jetzt so dazuliegen, allein, überreizt, überwach. Er begann, an seiner Situation Geschmack zu finden, wusste es aber noch nicht.

     Er sollte vielleicht noch einmal hinübergehen. Alles besprechen. Seinetwegen auch wieder zusammen schweigen. Alles wäre besser, als jetzt so allein dazuliegen. Vielleicht wird Manfred noch einmal herüberkommen. Nein, er wird es nicht tun. Dazu müsste er ein Mann sein, so einer wie er selbst, Theo, ein Mann und kein Neutrum.

     Oh, es war doch gut, so allein dazuliegen. Auf niemand angewiesen, auf niemand … Sie verließen ihn, Manfred, Olga, Ingrid. Niemand war schuld. Er fand den Ausweg, indem er sich selbst genoss. Es war zum Staunen.

     Nachher war alle Unruhe fort. Es war gar nichts passiert. Er war sicher vor Manfred. Bei diesem Cousin war er sicher. Es war ihm nichts geschehen. Er dachte noch: Ich kann kommen und gehen, wie es mir passt. Kommen und gehen, gehen und kommen … Er schlief endlich doch noch ein.

 

Am nächsten Morgen verhielt Manfred sich ihm gegenüber nicht anders als an den vorangegangenen Tagen. Er sprach viel und lächelte vorsichtig. Erst als sie am Frühstückstisch saßen, erschien er ruhiger. Auch das kannte Theo schon an ihm. Theo aß schweigend und beobachtete ihn weiter. Er zog seine Schlüsse. Manfred war freundlich und gutwillig – und erwartete nichts von ihm. Eine Bewegung war zum Stillstand gekommen. Ihr Verhältnis war, bis auf weiteres, geklärt. Es war Friede, nichts als Friede zwischen ihnen. Heftige Gefühle, körperliche Annäherung, nachfolgende Erschöpfung: Es hätte nicht diesen Frieden bewirken können.

     Vielleicht waren sie zu ernst geworden. Um ihr Verhältnis im Gleichgewicht zu erhalten, beugte Theo sich über den Tisch und gab Manfred mit der Faust einen leichten Schlag gegen Schulter und Oberarm. „Sei doch froh. Du kannst aufatmen. Bald bist du mich los.“

     Da stand Manfred vom Tisch auf, trat hinter ihn und berührte ihn mit der Hand am Nacken. Die Kante seiner rechten Hand folgte der Linie des Hinterkopfes aufwärts und bürstete ihm dabei die kurzen schwarzen Haare gegen den Strich. „Ja, fort musst du, zurück. Es ist gut so. Alles ist gut, Kleiner … Großer.“

     Dann begann er, den Tisch abzuräumen. Theo blieb noch sitzen.

     Das Fiasko der vergangenen Nacht war gar keines gewesen. Er, Theo, konnte beruhigt sein: Manfred mochte ihn, es war deutlich zu spüren. Alles erschien nun in einem anderen Licht. Um ihn zu schonen, war er nicht auf ihn eingegangen. Manfred schätzte ihn zu hoch, als dass er ihn irgendwo eingereiht hätte, wo er nicht hingehörte. Er war nicht zu baldigem Verbrauch bestimmt. Dass Manfred nicht auf sein Angebot eingegangen war, erschien ihm nun wie eine Auszeichnung: Dafür bin ich ihm zu gut. Und so verwandelte sich für Theo ihre negative Liebesnacht in die Basis einer vielversprechenden Freundschaft.

     „Wenn du den nächsten Zug nach Würzburg nehmen willst, müssen wir bald zur U-Bahn gehen.“ Manfred stand in der Zimmertür.

     „Bringst du mich zum Bahnhof?“ Theo stand endlich vom Tisch auf.

     „Ja, ich muss ohnehin in die Stadt. Ein Buch abholen.“

     Die Osterstraße war jetzt, mitten am Samstagvormittag, belebter als je. Manfred ging zügig vor ihm her. Theo hatte Mühe, ihm zu folgen. Der Cousin blickte sich ab und zu um: ob er noch da war. Die Leute vom Schuhgeschäft an der übernächsten Ecke rückten ihre Verkaufsständer auf den Gehweg. Ein Lastwagen hupte anhaltend, um sich den Weg vom Hinterhof auf die Straße zu bahnen. Radfahrer klingelten wütend. Ein Polizist schritt würdevoll auf und ab. Er, Theo, wird dieses Tohuwabohu doch ein wenig vermissen – und in einer Woche vergessen haben.

     Am Schlump enterten zwei im letzten Augenblick ihren U-Bahnwagen. Einer war als Osterhase verkleidet. Sie würden für Musik sorgen, sagte der Hase mit amerikanischem Akzent. Sein Begleiter trug das Leinensäckchen herum. Es füllte sich hörbar mit Münzen. Am Samstagmorgen war man spendabel, wenn man zum Einkaufen in die Stadt fuhr, Downtown. Ostern stand vor der Tür. Macht hoch die TürMorgen, Kinder, wird’s was geben.

     Die Rolltreppen funktionierten. Manfred ließ ihn voranfahren. Es waren keine Süchtigen unterwegs. Die Menschen strömten zur Mönckebergstraße. Sie standen dann unter dem hohen Hallendach, von dem das Licht eines hellen, kühlen Märzvormittages herabflutete; grell im Kontrast dazu das Kunstlicht hier unten auf dem Bahnsteig. Manfred brauchte keine Rose verschwinden zu lassen.

     „Diesmal hast du keine Reservierung, du brauchst auch keine um diese Zeit.“ Manfred erzählte ihm von einem, der hier vor Jahren als Begleiter eingestiegen war, nur für einen Moment, und der dann, als der Zug schon die Halle verließ, ungläubig fragte: Ja, fahren wir denn schon? Und der Schaffner habe gesagt: Allerdings, und halten nicht vor Hannover. Mein Kollege wird sich ihrer gleich annehmen.

     Manfred stieg nicht mit ihm ein. Theo sah ihn noch draußen auf dem Bahnsteig unsicher lächeln, als der Zug anrollte. Er winkte nicht. Es fiel ihm ein, dass die Scheibe getönt war und Manfred ihn jetzt viel weniger deutlich sah als er ihn. In diesem Wagen ließ sich kein Fenster öffnen. Und dann war er auch schon zurückgeblieben – wie ausgestrichen.

     Zwischen schwarzbraunen Stützmauern, zwischen grauweißen und graugelben Kuben verlief der Schienenstrang auf den Fluss zu. Der Zug überquerte den ersten Kanal und fuhr dann auf einer Insel mit Hafen- und Gleisanlagen dahin. Theo saß am Fenster mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Da oben auf ihrem Hügel blieb die innere Stadt mit ihren Türmen zurück, dem Rathaus, den Kirchen und den wenigen ziemlich niedrigen Hochhäusern. Der Zug bog in langer Kurve beinahe im rechten Winkel nach Osten ab, und das Stadtzentrum verschwand ebenso rasch und endgültig wie vorhin der Cousin.

     Es war nicht einmal ein richtiger Abschied gewesen, alles war im Nu vorbei gewesen. Allerdings gab es auch nichts mehr zu bereden. Ob Manfred überhaupt nach Neustadt kommen wird? Und wenn er kommen sollte, was kann er noch ausrichten, wenn alles schon entschieden ist? An ihm selbst hat es nicht gelegen. Umsonst, umsonst … Die Fahrt beschleunigte sich. Die Autos da unten neben dem Viadukt fielen zurück.

     Da nahm der Zug eine Rechtskurve, fuhr wieder nach Süden und mit einemmal war die Stadt wieder da, zugleich entfernter und deutlicher als beim ersten Blick zurück. War das ein Zeichen? Es blieb nicht so. Sie rollten schon über die Norder-elbbrücke, und das dichte Ornament ihrer Träger überlagerte und durchkreuzte den Anblick der immer kleiner werdenden Stadt. Was konnte das bedeuten, wenn man etwas herauslesen wollte? Es war ein Blick wie aus einem Gefängnis auf das Leben in Freiheit, das sich entfernte.

     Er gab es auf und schloss die Augen, erschöpft von acht Tagen Verwirrung und Unordnung.

12. Eine reife Beziehung

Die Osterstraße lag beinahe verlassen da. Jetzt am Spätnachmittag war das Straßentheater von heute Morgen durch eine Spielpause unterbrochen. Regieanweisung: Alle ab. Die Akteure, die auch Zuschauer waren, hatten sich in ihre Garderoben zurückgezogen. Erst am Abend werden sie wieder auftreten.

     Manfred eilte zur U-Bahn. Es war ein Vergnügen, hier einmal so rasch vorwärtszukommen, es war sein einziges Vergnügen jetzt. Maximin vom Zug abzuholen, wenn er zweimal im Jahr vom Hessischen heraufkam, war dagegen Tradition. Wie es ablaufen würde, war nie vorauszusagen. Wenn es gut geht, wird es diesmal anästhesierend wirken. Er vermisst schon die Gegenwart des Cousins, an den er sich gewöhnt hat. Die Betäubung durch die Abreise mit ihren näheren Umständen ist bereits verflogen. Hat er ihn nicht geradezu zum raschen Wegfahren gedrängt? Da es nicht zu vermeiden war, sich von ihm zu trennen, musste es schnell gehen. Er wollte es bald hinter sich haben – ein schlechtes Zeichen.

     Der U-Bahnwagen war fast leer. Nur für ihn und  noch zwei weitab sitzende Fahrgäste griff der Gitarre spielende Osterhase nun in die Saiten. Der Verstärker wäre jetzt nicht nötig gewesen, der banale Bassbariton war ohnehin durchdringend. Niemand erbarmte sich bei der Kollekte. So waren es halt vom Schlump bis zu den Messehallen drei Übungsminuten gewesen. Immer das Positive sehen, immer den Gewinn im Auge behalten.

     Und immerzu fährt man irgendwohin. Er wird sehr bald nach Neustadt fahren müssen. In welchem Zustand werden die Geschäfte dort sein? Ist es zu verantworten, sich zu beteiligen – denn das erwarten sie doch wohl von ihm? Worin liegt Theos Interesse, sein wohlverstandenes Interesse? Er, Manfred, wird auch das bedenken müssen. Er war es ihm schuldig. Sie sind sich näher gekommen, und er hat ihm nichts geben können. Jemandem etwas bedeuten: was besagte be-deuten? Hat das Grundwort deuten nicht den Sinn von zeigen, weisen, erklären? Ein Zusammenhang mit Geld war nicht ohne weiteres zu erkennen.

     Er war zu früh auf dem Bahnhof und Maxims Zug hatte zehn Minuten Verspätung. Manfred ging daher noch nicht auf den Bahnsteig hinunter. Er drehte eine Runde durch die Hallen und über die Stege. Dabei versuchte er, natürlich wie immer vergeblich, so unbeteiligt auszusehen, wie er es tatsächlich war. Für ihn war der Bahnhof kein Ort des Suchens und des Verweilens. An der Ecke da drüben stand Hans, er war dicker geworden; älter und dicker, aber noch immer nicht ohne Reiz. Er sah aus wie ein älter gewordener Junge. Sie grüßten sich nicht. Manfred dachte: Ich bedeute ihm nichts. Er ging lieber schon auf den Bahnsteig hinunter, auch wenn es da zog.

     Wenig später lief der Zug ohne weitere Umstände ein, und da war er auch schon in Sichtweite, die wenigen Stufen wegen des vielen Gepäcks sehr vorsichtig herabsteigend: Maxim, der Kreisrat, Maximin, der Amtsvormund. Vielleicht kam ihm dieser letztere Titel nach gültiger Nomenklatur nicht einmal zu, aber soviel war doch richtig, dass er seit dem letzten Sommer an drei Tagen in der Woche Klienten des städtischen Jugendamtes betreute; womit eine zehnjährige Odyssee durch Erziehungsheime, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen ihr hoffentlich endgültiges Ziel erreicht hatte. Meistens war er arbeitslos gewesen.

     Noch immer saß er im Kreistag und zwar für jene neue kleine Partei, die, wie Max selbst, mittlerweile in die Jahre gekommen war, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Er war zunächst nur Ersatzmann auf der Liste gewesen, indessen wirkte ein als scherzhaft deklarierter Bittgang zu einer Marienwallfahrtstätte überraschend schnell Wunder. Drei Kreisrätinnen seiner Partei wurden kurz hintereinander schwanger, und zwei davon schieden aus dem Rat aus, eine machte Platz für ihn. Er sah sich rasch verwickelt in jene unendlichen Intrigen um lokale Projekte und lokales Ansehen, um Pöstchen, Einladungen, Reisen, Sitzungsgelder und Nebeneinkünfte. Der Segen amtlicher Unterstützung ergoss sich, wenn auch oft nur in dünnem Strahl, über die Bedürftigen, und als ihr Organisator, Fürsprecher und professioneller Betreuer ging er dabei nicht vollkommen leer aus. So überstand er die Jahre und war bald über den Landkreis hinaus bekannt. Er schrieb Artikel, gab Interviews und wurde von den eigenen Leuten befehdet. Er konnte sich im Kreis nicht wirklich installieren und musste den Schwarzen und Gelben in der Großstadt dankbar sein, dass er beruflich dort unterkam. Sie sprachen ihn auf die politische Differenz an und erklärten ihm, als wäre es ihm etwas Neues, sie lebten in einer Demokratie. Ja, doch. Aber er fuhr noch immer mit dem Fahrrad oder der Ente in die Kreisstadt, den sperrigen Weidenkorb über dem Arm, wenn er das Kreishaus betrat, wie früher, doch neuerdings im Wechsel mit einem wirklich edlen Aktenköfferchen, und saß dann strickend im Plenum oder im Gesundheitsausschuss.

     Er kam auf ihn zu, wie üblich beladen mit einer Vielzahl kleiner Gepäckstücke, von denen Manfred sogleich zwei ergriff. Dann musste er eines davon kurz abstellen, denn Max gab ihm nun an lang ausgestrecktem Arm die Hand. Seine Haltung hatte, trotz des vielen Gepäcks, etwas Unbeschwertes, nur sein Lächeln war unsicher und bittend. Er sagte Guten Tag und dass er sich freue, auf Hamburg, auf die Tage hier und mit ihm. Er sprach jetzt natürlich Hochdeutsch, doch mit merklichem Akzent. Sie traten den Weg zur U-Bahn an. Wer sie bei ihrer Begrüßung beobachtet hätte, Manfred, den emigrierten Franken, und Maximin, den nicht emigrierten Hessen, er würde nicht erraten haben, dass sie seit fünfzehn Jahren befreundet waren.

     Seine Aufmachung verriet wieder einmal, welchen Reiz das Disparate auf ihn ausübte. Die schwarze, kantige Lederjacke entsprach dem Geschmack, wie er in den Bars herrschte, in denen er den Männerfang betrieb. Nur oberflächlich gesehen, passten dazu die alten zerbeult-verwaschenen Jeans. Hier war eben nicht Jacke wie Hose. Das streng wirkende Oberteil appellierte in Material und Schnitt an die Instinkte und Bedürfnisse von Sadomasochisten, während das Beinkleid, burschikos und salopp, von Wandertagen in den Alpen erzählte. Die braunen Halbstiefel konnten im Ausverkauf einer Frankfurter Boutique erstanden sein. Der weite Pullover aus leuchtend hellblauer Seide, ein wirklich schönes Stück, war selbstgestrickt. Und über allem das geliebte alte Palästinensertuch, mit dem Muster wie gewürfelter Schinkenspeck.

     Max hüstelte immer wieder.

     Manfred fragte, wie er die Reise verkraftet habe.

     „Danke, gut. Ich habe fast die ganze Zeit gelesen. Einen wirklich tollen Roman. Etwas über die Frankfurter Gesellschaft, die Proms,meine ich. Also, es geht vor allem um die Typen, die unter Wallmann hochgekommen sind. Sie tragen andere Namen, aber ich habe sie fast alle wiedererkannt. Schließlich bin ich selbst vor Ort Politiker.“

     Was Manfred aufhorchen ließ, war allein der Ausdruck vor Ort, mit dem er seinen Jargon  seit dem letzten Besuch hier bereichert haben musste. Er stand, wie seine verschiedenen Kleidungsstücke zueinander, in einem gewissen Gegensatz zum Rest der Rede. Die neue Vokabel hieß übersetzt etwa so viel wie Volksnähe und sollte das empfindliche Gleichgewicht bewahren helfen.

     „Ein Schlüsselroman also, Und mit welcher Absicht geschrieben?“

     „Es ist rein satirisch. Ein Buch aus dem innersten Kreis, für Insider.“ Max lächelte hochbefriedigt. Es war ein etwas süßliches Lächeln, und es erschien erst seit wenigen Jahren gelegentlich auf seinem Gesicht. Es enthielt das Bewusstsein aller je erlittenen eigenen Niederlagen und ein Gefühl beinahe transzendenter Satisfaktion. Das Lächeln besagte zumindest folgendes: Dass ich die Anspielungen verstehe, beglückt mich geradezu. Ich habe viel gelitten, aber alles verstehen, heißt alles verzeihen, ja, denn ich bin einer von euch.

     Natürlich drückte Maxim das im Gespräch etwas anders aus: „Richtig toll fand ich noch, wie sie alle auf einer Vernissage auftreten und sozusagen ihre Visitenkarte abgeben. Ihre kleinen Macken werden beschrieben, man sieht sie vor sich wie fotografiert. Verstehst du, wenn der Intendant die Gattin vom mächtigen XY schneidet und das von zwei anderen Lokalgrößen bemerkt wird und sie sich darüber mit nur einem Blick verständigen … Unnachahmlich.“ Er war jetzt wirklich beglückt. Er war, Doderer zu zitieren, in seinem Jenseits im Diesseits angelangt. Es war zuviel Diesseits in diesem Jenseits. Aber chacun à son goût.

     Er hüstelte anhaltend und sagte auf Manfreds Nachfrage, es sei schon seit einigen Tagen wieder so, aber ohne Nachtschweiß. Darüber kam die U 2. Sie stiegen ein und hingen ihren sehr verschiedenen Gedanken nach.

     Sie hatten sich auch in Hamburg kennengelernt, sehr konventionell bei einer Dampferfahrt über die Alster und die Kanäle von Winterhude. Es war im August, bei einem dieser Massenauftriebe. Manfred kam von Berlin her, Max war noch Student und unterwegs in die Ferien, die er in Skandinavien verbringen wollte. Es waren nur Männer an Bord und unter ihnen ein hübscher, sehr junger Rheinländer, der im Schlachthof von Düsseldorf arbeitete und später Drogen aus Holland verschob. Damals waren sie alle noch sehr jung. Der Schlachthofbursche turnte wie ein verliebter Kater auf dem Deck herum, er kletterte aufs Bootsdach und legte sich flach hin, wenn eine der vielen niedrigen Brücken herankam. Er allein inmitten von so viel sexualisierter Männlichkeit gefiel Manfred oder dem, der er damals noch war. Plötzlich legte Manfred den Arm um Max. Als stud. psych. hätte der ihm erklären können, was eine Übersprunghandlung ist, aber Manfred begriff es ohnehin rasch und zog den Arm zurück. Diese ersten Minuten enthielten bereits den Kern ihrer gesamten späteren Geschichte. Ohne es genau bestimmen zu können, registrierte Manfred sehr Heterogenes, das sich zu einem für seinen Geschmack wenig Erfreulichen verband. Max war, wie er später herausfand, sehr verletzlich, schwach, ehrgeizig und zum Kämpfen bereit. Er selbst, Manfred, suchte reine Eindrücke in sich aufzunehmen. Der eine wollte sich eine Position in der Welt, der andere ein Bild von ihr verschaffen.

     Als sie wieder an Land waren, lud Manfred ihn zum Essen ein. Später nahm er ihn mit in sein kleines, abscheuliches Hotel in St. Georg. Beide wollten sie die Nacht im Volkspark Altona verbringen. Um Geld zu sparen, hatte Max kein Zimmer genommen. Er legte sich einige Stunden mit auf Manfreds Bett und ruhte schon einmal für die kommende lange Nacht. Beide wuschen sich dann umständlich am Waschbecken. Eine Dusche hätten sie nicht, dafür seien sie billig, hatte der Wirt gleich nach der Ankunft gesagt.

     Er fand Max gescheit und mit Sinn für Ironie begabt. Max verstand seine Scherze und erlaubte sich nur selten eigene. Vielleicht war es eine Art von versteckter Grausamkeit, die Manfred besonders aufmerksam sein ließ. Ihre geistreiche Unterhaltung war auch eine Art von Ersatz, ein Charakter, der umso deutlicher hervortrat, je produktiver ihr Verkehr wurde. Max besuchte ihn wiederholt in Berlin, Manfred lernte die kleine Stadt bei Frankfurt kennen. Sie wanderten wochenlang in Süddeutschland oder in den Schweizer Alpen.

      Der Briefwechsel florierte. Max schrieb ihm nach einigen Jahren, er erlebe die eigene Persönlichkeit als stark verändert, er sei bösartiger geworden, verbissen kämpferisch. Er könne sich nicht mehr verlieren. Die Eierschalen waren von anderen zerbrochen worden. Als Heimerzieher war er zu schwach, aber er war nicht schwach genug: Als die Burschen ihn fragten, ob er andersherum sei, wollte er es nicht abstreiten und wurde infolgedessen entlassen. Er hatte vorübergehend viel freie Zeit. Später schrieb er, sein Verbrauch an Männern habe damals pro Jahr bei etwa hundert Exemplaren gelegen.

     Er infizierte sich mit dem womöglich todbringenden Virus und erfuhr es früh genug. Er lebte ein Jahr abstinent und ging in die Politik. Ein Heißhunger auf Leben trieb ihn in immer neue Aktivitäten. Da waren die Partei, der Kreistag, die Ausschüsse, Ehrenämter und bezahlte Hilfstätigkeiten. Jahrelange Arbeit an einer Dissertation, die dann liegenblieb. Er kämpfte für die Rechte der Frauen, der Schwulen, der Flüchtlinge und der Gefangenen; für die Umwelt sowieso. Man sah ihn ab und zu im Fernsehen. Er kochte gern, buk sein Brot selbst und lernte die Taubstummensprache und dann auch noch Schwedisch: falls er einmal emigrieren müsste. Er besuchte Ausstellungen, die Oper, das Ballett. Er las, was man gelesen haben musste, Gödel Escher Bach und The Leatherman’s Guide. Er hatte häufig Besuch und reiste selbst sehr viel. Er webte, strickte, schrieb Märchen, sang in einem Chor und malte in Öl. Er hing an seiner Familie und war zweimal Pate. Die Sucht nach Männern ließ sich nicht dauernd zurückdrängen. Er überfraß sich fortlaufend an neuen Eindrücken und kotzte sie schnell wieder aus. Er vergaß alles, selbst den Besuch, den man ihm vor kurzem gemacht hatte. Obwohl ständig getrieben und gehetzt, war er noch immer ziemlich gesund, bis auf diese umfassende Bulimie. Der Tod kam nicht näher, so schien es. Nur wenige hatten so viele Jahre überlebt.

     Die Orte, von denen sie hergekommen waren, lagen nicht weit auseinander. Aber es schien jetzt nur so, als säßen sie nebeneinander in einer U-Bahn nach Eimsbüttel. In Wahrheit hockten sie auf zwei verschiedenen Sternen (immerhin derselben Galaxie) und entfernten sich mit zunehmender Geschwindigkeit voneinander. Noch gestikulierten sie, ohne sich dabei mitteilen zu können. Sollte das alles allein das Werk des Virus sein, hatte es zwei Lebenslinien so radikal auseinander streben lassen? Es war nur schwer vorstellbar, und eine andere Versuchsanordnung war nicht mehr möglich.

     Zu Hause hörte er von ihm den üblichen Scherz:

     „Ah, ich habe wieder mein altes Zimmer.“ Max tat immer so, als wäre er bei ihm in einer Pension abgestiegen. Er fügte diesmal jedoch hinzu: „Ich hätte ja auch im Wohnzimmer schlafen können. Dein Brief hat mich eben noch rechtzeitig erreicht. Ich bin zwei Tage auf Dienstreise gewesen und habe ihn erst vorgestern Abend bekommen.“

     „Es wäre vielleicht doch etwas eng geworden. Und ich weiß auch nicht, wie Theo mit dir harmoniert hätte …“

     „Was für ein Mensch ist dieser Cousin? Dein Brief enthält ja ein paar Andeutungen, die mich dann doch neugierig gemacht haben.“

     Tatsächlich hatte Manfred sich im Brief dazu verleiten lassen, den jungen Verwandten als „sehr attraktiven jungen Mann von hellenistischem Typ mit schwer ergründbarer Impulsivität“ zu charakterisieren. Es war ihm jetzt etwas peinlich. Wenn er Briefe an Max schrieb, schilderte er seine Begegnungen mit Menschen, die Max nicht kannte, gern mit allen Details. Die Pose des anspruchsvollen, geistreichen Briefschreibers war in dieser Korrespondenz für ihn unwiderstehlich. Alle Hemmungen seines direkten Umganges mit anderen waren dann wie fortgeblasen. Er erlag fast immer der Versuchung, die geheimsten Winkel einer neuen mehr oder weniger schönen Seele mit scharfem Intellekt und brillantem Stil auszuleuchten. Für wen waren diese Briefe eigentlich bestimmt? Vielleicht für eine imaginierte Nachwelt oder einen Bruder im Geist, der Maxim eben nicht war. Ihn als Psychologen um Rat zu fragen, hatte wiederholt zu recht mageren Ergebnissen geführt. Seine Wissenschaft, seine professionellen Ratschläge liefen meist auf eine reizlose Vernünftigkeit, eine Rationalität im Umgang mit anderen hinaus, die einem jede Lust auf diesen Umgang verleiden konnte. Max verstand die jeweilige Problematik auf eine Weise, die schlimmer als Unverständnis war. Auch hier lag jetzt ein Missverständnis vor: Der Adressat seines Briefes vom Montag und der reale Max auf dem Sofa waren nicht identisch. Manfred wollte es nicht vertiefen und bog das Gespräch ins Unverbindliche um:

     „Er ist mir ein Rätsel. Ich kann nichts Definitives über ihn sagen. Allerdings habe ich bald Gelegenheit, ihn weiter zu studieren. Ich fahre in Kürze nach Neustadt. Es wird dort nun alles aufgelöst.“

     „Ach ja, die Häuser sind ja verkauft. Tut es dir gar nicht leid?“

     „Ich bin nur erleichtert.“

     Max schwieg und warf ihm einen Blick zu, in dem unverkennbar Skepsis und viel Distanz lagen. Manfred musste an die eigene Mutter denken, die nicht einmal den Ortsteil hatte wechseln wollen. Du bist ohne Heimat, hatte sie ihm zuletzt noch vorgeworfen. Sie konnte es nicht mehr tun, vielleicht war er auch deshalb erleichtert. Allerdings vertrat dieser Max, Maxim, Maximin noch den mütterlichen Erdgeist. Würde es nicht so lächerlich sein, man könnte ihn dafür hassen, zumindest jetzt sehr verstimmt sein. Aber er war doch nicht Theo! Maxens ganze Familie hing nun einmal am Ererbten. Obwohl sie in dritter Generation im Tiefland lebten, verkauften sie die Kate im Vogelsberg noch immer nicht, das alte Haus mit dem Gebüsch dahinter und der langen sauren Wiese davor. Wenn Schnee lag, fuhr Max gern hinauf und versuchte, dort Ski zu laufen.

     Ein Themenwechsel war angebracht. Manfred schlug für das Abendessen den Griechen an der Ecke vor. „Was soll’n wir reden, gehn wir ins Eden – es ist das Praktischste, wenn du nachher noch ausgehen und dich davor umziehen willst.“ Er versprach ihm, mit in die Bars zu kommen. Eine Stunde später saßen sie zwischen den Bretterwänden.

     Während sie aufs Essen warteten, lieferte die Arbeit von Max den Gesprächsstoff. Er sagte, er habe jetzt seinen ersten Neonazi als Betreuungsfall übernommen. Zunächst habe er sich erkundigt, ob unter den Vorstrafen auch Überfälle auf Schwule seien. Zum Glück sei das nicht der Fall gewesen, und so habe er ihn kommen lassen, und es sei erträglich verlaufen. Er wolle sehen, wie der Bursche sich weiter entwickele.

     Gefahr drohe jetzt vielleicht von anderer Seite. Vor zwei Wochen habe er türkischen Eltern ankündigen müssen, dass ihr Sohn demnächst beobachtungsweise in ein Heim eingewiesen werde. Am Tag darauf sei er vom Vater des Jungen am Telefon massiv beschimpft und bedroht worden. Er habe nun Angst und lasse sein Telefon überwachen. Das nächste persönliche Gespräch in der Sache werde er nur unter Polizeischutz führen.

     Max erreichte mit diesen Bemerkungen, dass Manfred ihn für eine Weile wieder ernst nahm. Man musste gerecht sein und anerkennen, dass er ein nützlicher Mensch war. Er war körperlich schwach und setzte sich im Beruf Gefahren aus, die schwer kalkulierbar waren. Er konnte noch der Heilige Sebastian der Jugendämter werden. Man sollte nicht spotten, seine Arbeit war gesellschaftlich wertvoll. Allerdings durfte man der Versuchung nicht nachgeben, sich in die Rolle der Betreuten zu versetzen. Sobald er dies tat und sich als Neonazi oder türkischer Vater auf dem Besucherstuhl sah, war der Nimbus schon wieder dahin, und er nahm innerlich Partei gegen die Behörde und den Beamten.

     Max aß außerordentlich langsam. Manfred bemühte sich, das eigene Tempo beim Essen herabzusetzen. Er war hier nicht in der Kantine. Dennoch legte er sein Besteck schon beiseite, als Manfred noch lange nicht fertig war. Er bestellte ein zweites Viertel Rotwein in dem Bewusstsein, dass daraus nichts Gutes entstehen konnte, abgesehen von dieser vorübergehenden Euphorie.

     Max kam auf ein Geständnis zurück, das Manfred auch nur in euphorischem Zustand hatte entschlüpft sein können. Vielleicht hatte er zu viel Tee getrunken, als er ihm vor Monaten schrieb, er sei dabei, eine Reihe von Prosaskizzen zu verfassen. Darüber zu sprechen war ihm nun peinlich, wie über eine schlechte Gewohnheit. Er teilte sie mit vielen. So manche Schublade quoll über, man wusste es. Man behielt es besser für sich.

     Max bat darum, ihn die bereits fertigen Texte lesen zu lassen. Es blieb nichts anders übrig, als es zu versprechen. Der Wein tat um diese Zeit seine größtmögliche aufhellende Wirkung. So beließ er es nicht dabei, von seinen Produkten dissimulierend als bloßen Fingerübungen zu sprechen, sondern entwickelte ihm im Widerspruch dazu beredt seine Theorie einer wirklich zeitgemäßen Prosa. Er bekannte sich zur Tradition des psychologischen Realismus, der erneuerungsfähig sei. Sein Stil sei vorwiegend analytisch im Wechsel von Beobachtung, Dialog und Erinnerung. Der Tonfall sei gelegentlich ironisch, ein Wechsel der Tonart bis ins Satirische oder Melancholische komme vor. Groteskes werde nicht immer vermieden. Die Struktur seiner Texte zeige oft einen Wechsel der Perspektive: Der Erzähler richte von außen den Blick auf die Hauptfiguren und nehme dann an deren Blick auf Umwelt und Innenwelt teil; hieraus resultiere eine Mehrstimmigkeit des Textes bei durchaus konservativer Form.

     Er griff zum Glas und kam nach einem tüchtigen Schluck nun zur Sache selbst: Es gehe bei ihm um Familienleben und Alterseinsamkeit, um Zeitgeschichtliches aus dreißig Jahren, um Menschen auf Reisen und in der Fremde, um Homosexualität, Promiskuität und Sadomasochismus. Allgemein gesprochen gehe es um den Einzelnen in prekärer Lage und um Grenzerfahrungen, wie sie der Alltag bereithalte oder wie sie drei Schritte seitwärts mitunter bereitlägen. Es komme ihm vor allem auf die fehlenden Schnittstellen zwischen sozialer Wirklichkeit und subjektivem Empfinden an – und die Differenz aus beidem führe zu einem meist vergeblichen Streben nach Harmonie und Identität.

     „Da bin ich aber wirklich neugierig“, sagte dieser Maximilian.

     Die Selbstanalyse, wiewohl im Kopf längst bereitliegend, hatte ihn erschöpft. Er hatte vielleicht den Mund zu voll genommen, ja gewiss war es so. Daran war der Wein schuld. Auch begann er sich bereits müde zu fühlen.

     Max war endlich fertig, sie zahlten und gingen nach Hause. In der Wohnung sagte Manfred, er sei nicht mehr frisch genug, um in die Bars mitzukommen. Er wolle ihn allein losziehen lassen.

     „Ja, ja, der Wein und der Cousin“, äußerte Max gleichmütig. Dann ging er daran, sich zu rasieren und zu duschen. Er tat es ebenso umständlich wie er aß. Fassen wir es als eine Geduldsübung auf, sagte sich Manfred.

 

Es kam der Sonntagmorgen. Draußen klatschten Regengüsse gegen die vorspringende Hauswand. Wind aus Nordwesten pfiff um die Ecken. Eimsbüttel wurde wieder einmal aufs gründlichste gewaschen und durchgelüftet. Manfred, der noch im Bett lag, erfasste die Lage, ohne die Vorhänge aufzuziehen: Wie es sich anhörte, war es einer dieser trübseligen arbeitsfreien Tage, an denen die Geschäfte stillstanden und die durch die Ruhe erzwungene Besinnung wie eine Strafarbeit erschien, die einem das Leben diktierte.

     Er wusste, dass Max nicht allein war. Er hatte die beiden sehr spät in der Nacht durch den Flur schleichen hören. Ein Wispern und Flüstern in der vollkommen stillen Wohnung, dann zweimal das Getöse der Wasserspülung, endlich nur noch der winzige Lichtstreifen, der seinen Weg durch die Milchglasscheiben der einen und unter der Ritze der anderen Tür bis zu ihm fand. Dieses schmale, matt leuchtende Band blieb über Stunden unverändert. Manfred wechselte mehrmals vom Halbschlaf in waches Dämmern oder in wirre Träume hinüber.

     Es würde erst spät Frühstück geben. Übrigens war es ihm gleichgültig, was drüben vorging. Die Morgendämmerung löschte den Lichtstreifen unter der Tür. Vielleicht hatten sie auch die Lampe ausgeknipst.

     Wider Erwarten wurde es schon kurz nach neun in der Wohnung lebendig. Manfred wartete ab, ob sich die Geräusche noch einmal legen würden. Aber die Vorzeichen mehrten sich: Fließen von Wasser, Aufziehen von Schubladen, Geschirrklappern. Offenbar deckte Maxim den Frühstückstisch im Wohnzimmer. Er konnte auch aufstehen.

     Die zwei waren beide schon angekleidet. Max stellte ihm im Flur Michael vor, aus Heidelberg. Der neue Gast war ein schlanker Mann, um die dreißig vielleicht, es war schwer einzuschätzen. Er war eines jener alterslos alternden Wesen, die wahrscheinlich nie lachen. Er trug ausgebleichte Jeans und ein Hemd aus demselben Stoff, und an der Flurgarderobe hing die passende Jacke dazu. Seine ganze Erscheinung hatte dieses Ausgebleichte. Das dünne, strähnige Haar war aschblond, die Stirn gerunzelt. Er schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. Vielleicht hatte er Fürchterliches erlebt, hoffentlich nicht in der vergangenen Nacht. Ab und zu starrte er Manfred an.

     Er war weder hübsch noch geradezu hässlich, nur erbarmungswürdig. Einem Verlierer wie ihm näher zu kommen, war eine aufwühlende Vorstellung. Als Manfred ihn am Frühstückstisch in ein Gespräch ziehen wollte, reagierte er panisch und brach sofort auf. Er hatte noch keinen Bissen gegessen, nur eine halbe Tasse Kaffee getrunken.

     „Nanu, habe ich ihn so erschreckt? Wodurch denn? Wir kennen uns ja gar nicht.“

     „Es ist so eine Sache mit ihm. Er öffnet sich nur schwer.“ Mehr wollte Max dazu nicht sagen. Das Frühstück verlief in gedrückter Stimmung. Max sagte, es sei in den Bars nicht so toll gewesen. „Du hast nichts verpasst.“

     Bei diesem Wetter wollte Max noch nicht vor die Tür. Er nahm den halbfertigen Pullover zur Hand, an dem er seit Wochen strickte, das hellgraue Wollknäuel und die Stricknadeln. Es sollte ein Geschenk für Manfred werden. Darüber war schon oft gesprochen worden. Zum ersten Mal sah Manfred nun die im Entstehen begriffene Handarbeit des Kreisrates und musste sie sich an den Leib halten und anmessen lassen. So nah wie heute war Max ihm in fünfzehn Jahren noch nicht gekommen. Er tippte ihm wiederholt mit spitzen Fingern gegen die Rippen. Manfred spürte die körperliche Reserve, wenn nicht Aversion, eines normalen Mannes gegen einen Geschlechtsgenossen in sich aufsteigen. Er war also doch normaler Gefühle fähig, allerdings nur in ihrer negativen Ausformung.

     Man hätte sich vielleicht während der Strickstunde unterhalten können. Es erwies sich aber, dass Max jetzt fortwährend Maschen zählen musste. In diesem Stadium seiner Arbeit war ein Gespräch unmöglich.

     Um die Mittagszeit brach er ohne Manfred auf. Er werde vielleicht die Sonderausstellung in der Kunsthalle besuchen oder das Völkerkundemuseum oder auch beides. Später wolle er noch ins Tuc-tuc. Manfred sagte nicht, er wolle mitkommen. Sie würden sich dann am Abend sehen.

     Solange er allein war, hörte Manfred Respighi und las Italo Svevo. Max kam erst in der Dämmerung zurück. Die Ausstellung habe ihm nicht so sehr zugesagt, vom Tuc-tuc habe er sich auch mehr versprochen; nur im Völkerkundemuseum sei er auf seine Kosten gekommen. Insgesamt erschien er immer noch unzufrieden. Er sei sehr müde und wolle sich vor dem Essen noch eine Stunde hinlegen. Manfred las weiter im Zeno Cosini.

     Sie aßen an diesem Abend bei dem Chinesen an der Ecke. Sie saßen in einem verschwiegenen Winkel. Die Bedienung sprach und verstand wenig Deutsch. Von der Küche her quäkte ein Fernsehapparat. Da fragte Manfred, wie es jetzt um die Gesundheit bestellt sei. Dem Bulletin, das nun folgte, konnte er wie üblich nur streckenweise folgen. Er behielt nie, was es mit Leukozyten und Lymphozyten und dem Verhältnis T 1 zu T 4 auf sich hatte. Maxims Werte waren in letzter Zeit erst deutlich gesunken, um sich dann wieder zu erholen. Es ähnelte den Kursverläufen an der Börse. Wie dort gab es auch hier Bangen und Hoffen, Interpretation, Psychologie und viel Spekulation. Zudem war eine Skala von Werten in jüngster Zeit umgestellt worden. Es lief darauf hinaus, dass er sich bis auf weiteres als gesund betrachten durfte.

     Und wenn er jetzt viel hustete und oft müde war, so lag es eher am Wintersmog und am Schlafdefizit. Mit diesen Begriffen suchte er einen Rest von Beunruhigung zu bannen. Vielleicht würde er über Ostern zum Vogelsberg fahren, viel spazieren gehen, viel schlafen und sich zu entspannen suchen. Entspannung war für ihn nur eine Frage des Willens und der Technik. Heute Abend allerdings werde er noch einmal ausgehen, er müsse doch die Tage hier nutzen.

     Es gab also einen Maßstab für die Stärke der eigenen Abwehrkräfte, wie Manfred vom Kreisrat erfuhr, einen Quotienten, der sich gewöhnlich auf einskommavier belief, der aber bei Homosexuellen meist nur einskommanull betrug; bei Infizierten lag er jeweils um weitere Zehntelpunkte darunter. Manfred empörte sich geradezu: Wie könne man bereits den gesunden Homosexuellen im Vergleich zur Normalbevölkerung als geschwächt und gefährdet hinstellen!

     „Wenn es nun aber so ist … Das intensive Leben hat seinen Preis. Du kannst den Stress der Anpassung an immer neue fremde Individuen im Blut ablesen.“

     „Haben nicht manche bis vor kurzem geglaubt, Vitalität lasse sich rektal injizieren?“

     „Die haben wohl falsch gelegen.“

     Ausgerechnet er musste nun das Gegenteil von dem behaupten, was früher für ihn gültig gewesen war. Revisionist, Renegat! Manfred war so gereizt, dass er ihm sagte, mit Kondomen sei es für sein Gefühl nur eine halbe Sache. Nach seinem Be-griff gehöre zur Vereinigung der Leiber auch die Biochemie, die Vermischung der Säfte.

     „Ein leichtfertiger Standpunkt. Und bei dir doch wohl auch nur theoretisch. Meist übst du doch Verzicht, wenn ich es richtig sehe, und versteigst dich jetzt nur in der Theorie zu maximalen Forderungen. Deine Praxis ist Rückzug und Verzicht. Dafür stehst du dann gesellschaftlich links von allem.“ Das war nicht ganz falsch, doch wäre es besser ungesagt geblieben.

     Der Kreisrat fuhr fort: „Und da wir schon bei diese Thema sind, will ich dir noch ein bedrückendes Erlebnis aus Paris schildern. Ich war ja vor drei Wochen dort. Ich war mit einem Mann aus der Provinz zusammen. Er wollte es erst ohne Kondom machen, streifte es dann aber doch über. Und am Tag darauf … fand ich das Ding in meinem eigenen Stuhl. Du verstehst, es war ihm lästig, er kam damit nicht zurecht – und es war ihm auch egal. Ich denke nicht gern daran, aber du hast mich jetzt darauf gebracht. In Paris einen Pariser geschissen.“ Er zog es nun doch ins Ordinäre und Ridiküle, um den Vorgang harmloser erscheinen zu lassen. Beide lachten sie sogar, erstmals seit seiner Ankunft lachten sie wieder einmal gemeinsam über eine Sache.

     „In Berlin einen Berliner vernascht, in Paris … Schluss damit, das ist doch kein Tischgespräch.“ Manfred wusste freilich, dass für Max Ekel nur eine anerzogene Regung war, die man einem auch abtrainieren konnte.

     Auf dem Weg zurück zur Wohnung erinnerte ihn Max an die versprochenen Texte. Manfred gab ihm zu Hause endlich die grünen Mappen. Eigentlich hätten sie rot sein müssen: sein Herzblut.

     Es verstand sich von selbst, da morgen Werktag war, dass Manfred ihn auch an diesem Abend allein nach St. Georg fahren ließ.

 

Montagnachmittag. Manfred aß allein in der großen Kantine, die verschiedenen Firmen der inneren Stadt offen stand. Vielleicht sollte er öfter mit Kollegen essen gehen. Aber eine Vermischung der Sphären war nicht nach seinem Geschmack. Da gab es das warnende Beispiel eines Kollegen, er war beliebt und tüchtig und wurde dennoch hinterrücks übel verklatscht. Seine junge Frau sei, man denke, noch unberührt in die Ehe getreten. Der Kollege sei mit der Entjungferung nicht zurechtgekommen und habe einen Studenten um Hilfe bitten müssen …

     Ihm selbst lag auch nichts an Karriere. Er wusste, er war ein Mensch aus der ersten Jahrhunderthälfte, nach dem Geburtsjahr zwar nur gerade eben noch, dafür im Geist umso entschiedener. Seine einzige Existenzgrundlage war individuelle Leistung. Er glaubte nicht an die Steigerung von Qualität und Effizienz durch ununterbrochenen Austausch; die neuere Entwicklung von Staat und Gesellschaft bewies das Gegenteil. Allerdings stand man mit solcher Einstellung recht isoliert da, heutzutage. Nicht dass man allein gewesen wäre, doch ohnmächtig und zum Schweigen verurteilt in einer Welt, die vom Getöse der Reklame widerhallte. Im Wesentlichen war es nur noch Reklame für die Reklame, so war jetzt der Entwicklungsstand. Er war sich darüber im Klaren, dass diese Entwicklung zwangsläufig über ihn hinweggehen würde. Es hieß, einfach nur weiter zu leben. Jeder Blödsinn musste sich erst totlaufen.

     Übrigens ist dieser Gemüseteller hier für ihn heute die Hauptmahlzeit. Er wird am Abend nicht mit Max essen gehen. Sie haben darüber nichts vereinbart. Es ist auch gesünder so, in jeder Hinsicht. Er zieht das Schweigen einer Kommunikation vor, die darauf hinausläuft, dem anderen die Maske der Schonung vom Gesicht zu reißen. Es gibt ein Recht auf Verstummen. Und vor allem fürchtet er jetzt die fällige literarische Kritik. Während der Bürostunden quält ihn schon die Frage, welche seiner kleinen Erzählungen der Kreisrat zur Lektüre ausgewählt hat.

     Seine Figuren waren alle mehr oder weniger nach der Natur gearbeitet. Zwangsläufig hatte auch Maximin Züge für sie geliefert. Allerdings unterschied sich das Mischungsverhältnis von Authentizität und Fiktionalität von Fall zu Fall. Das Prinzip der Montage erlaubte es im Übrigen, in Bezug auf die Zeit, den Ort oder die Person entfernte Elemente neu zusammenzustellen, wenn es nur einem inneren Gesetz der Übereinstimmung entsprach. Maxim würde sich also ans Entschlüsseln machen, und das Entschlüsselte würde ihm weniger Vergnügen bereiten als jener Frankfurter Roman.

     Wenn nur der Anonyme Brief nicht sein Interesse weckt. Darin trieb ein Trio loser Vögel einen geradezu bösartigen Scherz mit der Eitelkeit eines alternden Schriftstellers. Dieser Pauli war an sich recht unbedeutend. Nicht Max hatte für ihn Modell gestanden. Aber er hatte ihm ein wörtliches Zitat von Max in den Mund gelegt, und eben dieses Zitat wurde zum Angelpunkt des üblen Scherzes. Für Pauli endete die Geschichte mit einem Anflug von Ekel und Selbsthass. Würde Maxim sich partiell in ihm wiederfinden? Denn es ging ja doch um einen Typ schlechthin.

     Bei seiner Heimkehr fand er Max im Wohnzimmer, wieder strickend. Die grünen Mappen lagen auf dem Tisch vor ihm, wohl schon eingesehen und wieder zugeklappt. Er sprach sie noch nicht an. Es erstaunte ihn, dass er allein essen gehen solle. Dann werde er sich in einem Imbiss in der Nähe verköstigen. Nachher könnten sie über seine Eindrücke beim Lesen sprechen. Er wies auf die Mappen und lächelte. Er habe sich einzelne Gedanken notiert.

     Er brach bald auf. Manfred schnitt in der Küche eine Scheibe Brot und etwas Käse für sich ab. Weintrauben standen noch da. Das würde für heute genügen. Unterdessen kam der Kreisrat schon wieder herein mit einem Paket, das Schauderhaftes enthielt: ein Brathuhn! Er wickelte es in der Küche aus dem Papier und rückte einen Stuhl zurecht, um es sofort zu verzehren. Er konnte nicht wissen, dass er das einzige Lebensmittel ausgesucht hatte, das bei Manfred entschiedenen Ekel auslöste. Der penetrante Geruch nach warmem Hühnerfett, das Auseinanderbrechen der Knochen und Knöchelchen, das zwangsläufige Schmatzen: Er hasste all das mit der Kraft wahrer Idiosynkrasie. (Sein Vater hatte Huhn auf Reis sehr geliebt.) Während Max aß, stand er am Fenster und blickte, Brot und Käse verzehrend, hinaus in den Garten. Dann verließen sie die olfaktorisch verpestete Küche und nahmen die Weintrauben mit ins Wohnzimmer.

     Max lobte zunächst die Sprache seiner Prosa, den reichen Wortschatz, die ungewohnten Assoziationen, die Einfälle bezüglich der Handlung und den überall durchscheinenden Fundus an Bildung, die seine eigene weit übertreffe. (Er bemühte sich wirklich um Objektivität.) Oft habe er sich beim Lesen an Orte versetzt gefühlt, die sie gemeinsam besucht hätten, es sei da ein Gefühl der Vertrautheit mit dem Ort da gewesen, ohne ihn eindeutig identifizieren zu können. Dagegen hätten ihn die häufigen Rückblenden ziemlich kalt gelassen, er habe meist ihre Funktion nicht verstanden. Und direkt unangenehm sei ihm die Neigung des Autors zur Abrechnung mit anderen gewesen. Müsse das denn sein, zum Beispiel im Anonymen Brief?

     „Du bist nicht das Modell für Pauli gewesen. Auch wenn ich ihm ein Zitat von dir in den Mund gelegt habe …“

     „Ach, welches denn? Das muss mir entgangen sein.“

     „Pauli sagt doch bei seinem Fernsehauftritt: ‚Hören wir doch endlich damit auf,  Sexualkonsum zu betreiben.’ Erinnerst du dich nicht?“

     „Es will mir jetzt nicht einfallen. Das soll ich gesagt haben?“

     „Ja, bei deiner Rede damals auf dem Römerberg.“ Manfred war damals gerade bei ihm und unter den Zuhörern gewesen.

     Max überlegte eine Zeitlang, Ratlosigkeit auf dem Gesicht. Er erinnerte sich wirklich nicht. Er wolle den Text seiner Rede zu Hause nachlesen, um sich zu vergewissern. Er schwieg dann eine Weile, nachdenklich, wie es schien.

     Die Römerbergrede, war sie nicht der erste Höhepunkt seiner politischen Karriere gewesen, so musste es ihm doch im Rückblick erscheinen. Bald darauf war er nominiert worden. Und damals hatte er sich öffentlich derart lust- und konsumfeindlich geäußert? Er erkannte sich nicht wieder. Es musste mit der ein Jahr durchgehaltenen Abstinenz zusammenhängen. Er begriff den kritischen Kern und sagte endlich:

     „Vielleicht sollte ich mich – auch ohne gemeint gewesen zu sein – als mit Pauli teilweise identisch betrachten? Erwartet man das von mir? Vielleicht sollte ich ein wenig zerknirscht sein, wie Pauli? Nun, davon bin ich noch ein gutes Stück entfernt.“

     Wie um zu bekräftigen, dass die eigene Position in keiner Weise unterminiert sei, ließ er ihn einige Minuten später wissen, er wolle bei der nächsten Landtagswahl kandidieren. Zwar seien es bis dahin noch etwa drei Jahre, er führe jedoch schon Vorgespräche, um die eigene Position langfristig aufzubauen. Natürlich sei es völlig offen, ob er auf dem Landesparteitag dann tatsächlich nominiert werde, aber er sei da keineswegs pessimistisch, falls ihn nicht bis dahin eine Seuche hinweggerafft haben sollte. Er habe Lust, sich auch in Wiesbaden auszuprobieren. (Er hatte diese modische Wendung neuerdings in seinen Sprachgebrauch aufgenommen. Ähnlich begründete er, warum er Fleisch verzehre: Ich esse Fleisch, weil es mir schmeckt.) Er würde dann der erste Landtagsabgeordnete sein, den seine Familie stellte. Einen Kreisrat hätten sie ja schon in Gestalt eines Onkels in den Fünfzigern gehabt.

     Manfred fragte, wie der vergangene Abend verlaufen sei.

     „Nicht schlecht. Ich habe diesmal in Eppendorf übernachtet, bei einem Richter. Nun ja, er treibt einen etwas ungewöhnlichen Kult mit seinem Bad. Wir frühstückten sogar in seiner Prunkwanne. Er heißt …“

     „Nein, ich kenne gar keine Leute aus Eppendorf. Und wie hast du den Tag heute verbracht?“

     Er war von Eppendorf in die Innenstadt gefahren und längere Zeit durch die Passagen gebummelt. Er habe die Auslagen von Herrenausstattern betrachtet, um sich für seine kommenden Einkäufe anregen zu lassen. Es gebe da jetzt das Bedürfnis, die eigene Garderobe mit Höherwertigem zu ergänzen. Dann habe er sich sehr müde gefühlt und sei nach Eimsbüttel zurückgefahren. „Hier habe ich mich dann geistig anregen lassen.“ Er lächelte, seiner selbst gewiss und gleichzeitig auch wieder bittend. Es war wie ein Friedensangebot.

     An diesem letzten Abend blieb er in der Wohnung. Er habe anderntags am frühen Nachmittag eine Besprechung im Jugendamt. Er bat darum, die grünen Mappen mit in sein Zimmer nehmen zu dürfen. Jedoch erlosch der Lichtstreifen unter seinem Türspalt früh.

     Am anderen Morgen ließ Manfred ihn schlafen, als er das Haus verließ. Es war so abgemacht. Sie hatten sich schon am Abend verabschiedet.

     Sein Besuch war wieder einmal überstanden. Es war mehr oder weniger gut gegangen. Es war nicht viel anders verlaufen als gewöhnlich in den letzten Jahren – und das hieß, sie waren dem endgültigen Bruch wieder ein kleines Stück näher gekommen.

13. Schwerelos

Er saß mitten auf dem Neustädter Marktplatz, auf einer Bank, und sah den Passanten zu. Er wusste, sie hatten alle was zu tun. Sie kamen vom Gericht oder aus einer der beiden Kirchen. Sie gingen ins Café oder in die Sprechstunden der Ärzte und Zahnärzte. Sie wollten Bankgeschäfte erledigen oder schleppten Waren, die sie gekauft hatten, zum geparkten Wagen. Schüler zogen ihre ganz eigenen Kreise quer über den Platz.

     Es war früher Nachmittag und eigentlich zu kühl, um hier länger zu sitzen. Theo hatte die Werkstatt vor einer Viertelstunde verlassen, ohne Ziel, nur aus Überdruss. Die letzten zwei Gesellen räumten auf, das heißt, sie nahmen alles auseinander und stellten die Teile zum Abtransport in den Hof. Wie Onkel Georg es haben will. Was geht  ihn das noch an, seine Arbeit hier ist getan. Alle Aufträge sind erledigt, neue nehmen sie nicht mehr an. In einigen Wochen wird die Werkstatt verschlossen sein und nur noch aufgesperrt werden, wenn Interessenten für die Gebäude kommen. Wahrscheinlich wird ja doch alles abgerissen. Die Firma hat dann dreiundvierzig Jahre bestanden, der Gasthof noch länger. Im Schwarzen Bären wird der Betrieb bis zum letzten Tag wie üblich weitergehen. Der letzte Tag, das ist der 30. Juni. So lange wird er hier nicht mehr bleiben.

     Er saß da, beide Ellenbogen auf die Oberschenkel aufgestützt, die Knie weit auseinander. Er sah einfach nur geradeaus. Ab und zu gingen Leute über den Platz, die er kannte. Einige grüßten von weitem, er nickte ihnen bloß zu. Sie sollen ihn in Ruhe lassen. Er weiß, wie er jetzt wirkt: gleichgültig. Und ist er es nicht auch wirklich? Seit hier alles zu Ende geht, fühlt er sich viel besser, fast schon mit sich selbst im Reinen. Die Abwicklung, sie haben es so haben wollen. Er hat noch getan, was ihm möglich war. Übrigens hat Manfred sich in den zwei Wochen noch nicht gemeldet. Er wird vielleicht bald kommen – wozu noch?

     Es fiel ihm auf, dass der Marktplatz ähnlich wie der Gänsemarkt gelegen war. Zwar waren die Häuser hier viel niedriger als in Hamburg, aber beide Plätze lagen mitten in der Stadt und grenzten an eine viel befahrene Straße. Und beide stiegen sie leicht an. Allerdings konnte man am oberen Ende des Gänsemarktes dann die Treppen zur U-Bahn hinuntergehen oder –fahren. Das war ziemlich merkwürdig: einen Platz erst hinaufzugehen, um plötzlich tief in der Erde zu verschwinden. Er dachte, so ein Loch müsste es auch hier geben, in dem alles verschwinden könnte, was keine Bedeutung mehr hatte.

     Es schlug drei Uhr. Immer mehr bekannte Gesichter tauchten in der Nähe auf, es wurde ihm lästig. Es war in der Stadt schon bekannt, dass die Firma Gebrüder Aufwind dabei war, ihre Tätigkeit einzustellen. Er stand auf und ging den Platz hinauf. In der Nähe der Pfarrkirche ging er auf die Stadtmauer, um ihr ein Stück zu folgen, Opa Mälzers Lieblingsgang, doch war er jetzt sicher vor ihm; werktags war der Opa nur morgens hier unterwegs.

     Für die Familie ist er tatsächlich nur ein Leichtgewicht. Alle lassen es ihn spüren, jeder auf seine Art. Ingrid hat auf die Nachricht von Manfreds bevorstehendem Besuch zunächst betont gleichgültig reagiert. Sie könne diese vagen Absichten und Aussichten nicht mehr ernst nehmen, hat sie gesagt. Im Gegensatz zu früher scheint sie nun auf den Cousin in keiner Weise mehr neugierig zu sein. Wenn er auf die Tage in Hamburg zurückkam, bemerkte er bald, dass er sie langweilte. Und das war noch das Geringste. Sobald er Manfreds Namen nannte, erschienen auf ihrem Gesicht die ihm inzwischen sattsam bekannten Anzeichen von Verdruss und Abneigung.

     Er fragte sie einmal geradezu, was sie ihm denn vorwerfe. Er habe schließlich das ihm Mögliche getan.

     „Eben das“, sagte sie darauf – und klang es nicht enttäuscht und gereizt, ja beinahe schon gehässig -, „das dir Mögliche. Es war zu wenig und zu viel. Du hättest gar nicht fahren dürfen, wenn du dich nicht durchsetzen kannst. Und du hättest nicht so lange bleiben dürfen, wo du doch nichts erreicht hast. Aber du bist so leicht zu beeinflussen, du lässt dich hin- und  herschieben. Du lässt dich benutzen. Kann man etwas Schlimmeres von einem Mann sagen?“

     „Du weißt nicht, wie viel es mich gekostet hat.“ Noch blieb er ruhig. Er dachte daran, was er ihr alles verschwieg. Den Inhalt seiner Gespräche mit Manfred behielt er zum größten Teil für sich und auch, wie sie sich allmählich nähergekommen waren bis zu jener letzten Nacht. So erfuhr Ingrid nicht, was genau und wie es geschehen war. Sie spürte nur, dass seine Einstellung zu Manfred sich vollständig umgekehrt hatte. Es war jetzt unverkennbar Sympathie im Spiel. Aber ein Nutzen für sie hier in Neustadt sprang dabei nicht heraus, darüber war sie sich im Klaren.

     „Umso schlimmer. Denn hier heißt es ja wohl wieder einmal: Außer Spesen …“

     „Das kannst du gar nicht beurteilen.“

     „Natürlich nicht. Ich nicht, deine Frau. Wenn du es nur genossen hast!“ Sie war laut geworden.

     „Noch ein Wort“, brüllte er. Der Lärm, den sie plötzlich machten, drang durch die offen stehenden Türen und weckte Stefanie auf. Sie begann zu wimmern. Ingrid fing dann auch an zu weinen, und er nahm sie in die Arme. Ein besseres Argument konnte es jetzt nicht geben.

     „Liebes“, sagte er, „wir reden nur Blödsinn. Es hat gar keine Bedeutung, es ist nicht wichtig. Es ist nichts, gar nichts.“

     Sie schliefen miteinander, es war das erste Mal seit seiner Rückkehr. Es war am Sonntagnachmittag, und störend war dabei nur, dass das Kind weiter wimmerte, bis Ingrid zu ihm ging, um es zu beruhigen.

     Nachher sagte sie, er müsse sich jetzt schon nach neuer Arbeit umsehen, auch wenn der Betrieb noch drei Monate weiterlaufe.

     „Aber wenn Manfred doch …“

     „Nichts mehr von Manfred.“

     Und dabei blieb es. Er erwähnte den Cousin nicht mehr. Hamburg war zur Tabuzone geworden.

 

Und Olga? Mit Olga war es eine andere Sache – oder vielmehr war es das Gleiche, nur kam es bei ihr anders heraus. Sie beschuldigte sich selbst, dass sie ihn zur Reise nach Hamburg gedrängt hatte. Ich hätte dich nicht fahren lassen dürfen, sagte sie ihm. Mein Bruder hat Recht gehabt, es konnte nichts Gutes dabei herauskommen.

     Wieder einmal war eines ihrer großen Vorhaben gescheitert. Er war ohne Kapital heimgekehrt, und sein Verhältnis zu Ingrid war nicht mehr so gut wie vorher. Nun musste er sie trösten, wie ein Bruder die Schwester, die alles verloren hat, außer dem Bruder. Aufwinds neigten nun einmal zu abrupten Umschwüngen. Aber so war es doch nicht. Sie konnte sogar fünfzigtausend verdienen, und das wollte sie auch, allerdings. In den zwei Wochen seit seiner Rückkehr – um genau zu sein: in diesen zwölf Tagen – fasste sie allmählich wieder Mut. Dass Manfred die Firma noch einmal zum Leben erwecken könnte, war auch für sie ausgeschlossen. Ihr Bruder hatte es ausgeschlossen, mit guten Gründen. Aber ihre Mittel, das Geld von Manfred inbegriffen, würden es ihr nun ermöglichen, für sich selbst eine eigene kleine Wohnung zu kaufen. Schön für sie.

     „Und wovon willst du leben?“ fragte er sie.

     Zunächst bekomme sie ihr Geld vom Arbeitsamt, sie sei so gut versichert gewesen wie die Gesellen. Und wenn es kein Arbeitslosengeld mehr gebe, würden der Onkel und die Oma sie bezahlen. Sie würde ihnen nämlich den Haushalt führen; vorerst, solange das Arbeitsamt zahlte, unentgeltlich.

     Olga wird sich also durchwursteln. Aber was wird aus ihm?

     Heute Morgen war er mit seinem Onkel aneinandergeraten. Der Onkel hatte nach der Reise jeden Versuch, mit ihm über die Rettung der Firma zu reden, torpediert. Er lachte immer nur ärgerlich und schlug auch schon mal die Bürotür hinter sich zu. Heute kamen sie doch noch ins Gespräch über die Sachen. Er, Theo, könne die Zeit natürlich auch dazu nutzen, eine neue Stellung zu suchen, sagte ihm der Onkel. Sein bisheriges Arbeitsverhältnis ende erst, wenn er etwas gefunden habe, spätestens aber zum 30. Juni. Das Gehalt laufe bis dahin weiter. Er, der Onkel, könne sich vorstellen, dass er öfter herumfahren müsse, bis er etwas erreicht habe. Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich werde es weiter weg sein. Es müsse ja nicht gerade in Hamburg sein …

     Wieso Hamburg? Daran habe er nicht im Traum gedacht.

     „Du hast dort nicht auch nach Arbeit gesucht?“

     „Wieso? Ich sollte Manfred dazu bringen, hier einzusteigen.“

     „Du hast wirklich an diesen Unsinn geglaubt? Bist du so naiv? Jetzt erkläre mir nicht, dass Manfred noch kommen wird und alles weiterlaufen kann. Selbst wenn es möglich wäre, wäre es unverantwortlich. Aber es lässt sich – zum Glück, ja, zum Glück – nichts mehr rückgängig machen. Sieh mich nicht so an! Auch Manfreds Erbe wäre nicht groß genug, dem Betrieb die solide Basis zu verschaffen. Man braucht heute ganz andere Kapitalien. Oder wir wären sehr klein, klein und immer gefährdet … Wie sollten wir davon alle existieren?“

     „Warum hast du mir das nicht früher so klar gesagt? Bevor ich gefahren bin.“

     „Mein Junge, du solltest doch gar nicht fahren. Von Olga war immer die Rede – und dann bist du plötzlich an ihrer Stelle gefahren. Aber ich war dann auch neugierig, wie es ablaufen würde. Und siehe da: Ich hatte mich nicht in dir getäuscht. Du hast bloß Zeit verschwendet. Was hast du eigentlich die ganze Zeit dort oben getrieben?“

     „Jeden Tag mit Manfred über alles Mögliche geredet. Wir sind viel spazieren gegangen, essen gegangen. Allmählich hat er sich mit dem Gedanken angefreundet, uns zu helfen.“

     „Und dafür hast du eine Woche gebraucht? Wenn du zum Geschäftsmann taugen würdest, hätte dir ein Tag gereicht. Versuche nicht, Geschäfte mit Manfreds Geld zu machen. Lass die Finger davon. Mein Junge, du kannst gut arbeiten, kein Wunder bei deiner Statur. Du kannst auch mit den Männern umgehen. Du hast da so etwas, was den guten Vorarbeiter ausmacht, unbestritten. Dein Vater hatte es auch. Mir liegt es weniger. Du siehst, ich bin offen zu dir. Du hast ein paar Qualitäten, aber nicht genug. Spiel besser nicht den Selbständigen, hörst du, dazu taugst du nicht. Du bist ja noch nicht einmal Meister.“

     Er macht mich herunter, dachte Theo, er will etwas vertuschen. Und er fragte ihn, ob er sein Erbteil, das von den Großeltern, zurückbekomme. Das war nicht beabsichtigt. Das kleine Kapital war im Betriebsvermögen aufgegangen und mit diesem untergegangen. Sie stritten sich eine Weile, wie es dazu hatte kommen können. Theo war noch minderjährig und der Onkel sein Vormund gewesen. Sie brauchten damals jede Mark für den Betrieb. Er werde ihm doch nicht im Nachhinein mit mündelsicherer Anlage kommen wollen, sagte der Onkel scharf. Dann müsste er mit seinem Privatvermögen haften, und das würde sich im Falle weiterer Erbschaft sehr ungünstig für ihn auswirken.

     Theo verließ das Büro, um in die Werkstatt zurückzugehen. Aber der Onkel rief ihn gleich noch einmal hinein.

     Es war noch nicht alles gewesen. Der Onkel warf ihm noch einen großen Knochen hin, den er seitdem wieder und wieder benagte. Es schien aber kein Mark darin zu sein, überhaupt nichts Verwertbares, buchstäblich nichts. Und doch scheuerte er in Gedanken immer weiter daran herum. Irgendeine Lust war mit der Vorstellung verbunden, dass alles auseinanderfällt, dass zehn, zwölf Jahre Arbeit sich in nichts auflösen. Dass er von vorn anfangen muss. Sein Vater im Irrenhaus und die Mutter eine Selbstmörderin, so hat es angefangen, sein Dasein als Erwachsener. Ist alles umsonst gewesen?

     Theo war zu erregt, um noch weiter auf der alten, schön herausgeputzten Mauer zu promenieren. Er musste hinaus ins Freie, ins wirklich Freie. Er nahm den nächsten Treppenabgang und war mit hundert raschen Schritten auf dem Parkplatz des Schwarzen Bären. Er riss die Tür seines Wagens auf, ließ sich hineinfallen, die Tür zufallen und startete sofort. Er lenkte den Wagen aus der Stadt hinaus. Es war die Richtung nach Norden.

     Die Sache sei die, hatte ihm Onkel Georg erklärt, dass sein Vater sie laufend stark belaste. Habe Theo das nicht gewusst? Theos Vater habe nicht viel in die Rentenkasse eingezahlt, und  seine Invalidenrente decke bei weitem nicht die Kosten der Unterbringung. Solange der Betrieb viel abgeworfen habe, sei diese Last leicht zu schultern gewesen. In Zukunft aber müsse der Fehlbetrag aus den Zinsen des restlichen Kapitals aufgebracht werden. Also stehe ein großer Teil dieses Kapitals für andere Zwecke nicht zur Verfügung. Nur damit er sich keine falschen Vorstellungen mache, sage er ihm das jetzt.

     Und dann sei da noch die Sache mit dem Haus, dem Bungalow draußen. Er gehöre allein Theos Vater. Theo habe ihn nutzen dürfen, und sie hätten das als Bestandteil seines Lohnes betrachtet. So sei es auch über die Bücher gelaufen. Was folge daraus? Dass er, Onkel Georg, als Vormund seines Bruders in Zukunft Miete von ihm verlangen müsse. Es sei auch deshalb für ihn sehr wichtig, sich nach einer anderen gut bezahlten Arbeit umzusehen. Er solle es auch mit Ingrid bereden. Theo nickte und ging in die Werkstatt zurück.

     Er hat all das nicht so genau gewusst, oder er hat es gewusst und nicht oft daran gedacht. Es ist der materielle Hintergrund. Es ist leicht zu begreifen, der Onkel ist im Recht. Theo begann sich weitere Fragen zu stellen. Hätte das Erbteil nicht doch aus der verfügbaren  Masse ausgezahlt werden müssen? Was ist überhaupt eine Familie? Manfred hat sie unsterblich genannt, ganz falsch! Es ist eine Gemeinschaft, in der man produziert und konsumiert, alles auf gemeinsame Rechnung. Wird nichts mehr erwirtschaftet, dann gibt es nichts mehr zu verteilen, und der Verband zerfällt in seine Bestandteile. Dann heißt es: Berede es mit Ingrid.

     Welche Art Verwandter, welche Sorte Mensch ist eigentlich dieser Onkel Georg? Ein kinderloser Witwer mit einer langen Vorgeschichte, die er, Theo, nicht sehr gut kennt. Auf irgendeine Weise muss der Onkel so geworden sein, wie er nun ist. Die Vorgeschichte ist schuld. An ihr ist nichts mehr zu ändern und am Onkel also auch nicht. Was geht er ihn noch an? Sie haben nebeneinander hergelebt, um miteinander zu wirtschaften. Jetzt ist alles verwirtschaftet. Solche Gedanken sind ihm früher nie gekommen.

     Er parkte den Wagen an der Einmündung eines Feldweges und folgte dem Weg zu Fuß. Es war einige Kilometer außerhalb der Stadt. Er kam sonst nicht hierher. Er ging den Hügel hinauf. Die Wintersaat spross dicht und leuchtend grün. Die Frühlingswiesen dampften. Sie waren gesprenkelt von den gelben Büscheln zahlloser Schlüsselblumen. Es war fruchtbare Erde hier. Die Wiesen erinnerten ihn an den Blumenschmuck der Hochzeitstafel bei Leberechts. Es waren noch andere Farben als nur gelb dabei gewesen, doch wirkte das Ganze ebenso natürlich; war aber in Wahrheit bis ins Detail arrangiert. Sie mochten ihn dort nicht und sollten Recht behalten. Ein hübscher Luftikus, als Ernährer der Tochter ungeeignet; die hatte sich blenden lassen. Inzwischen ertrug Ingrid ihn nur noch, so kam es ihm oft vor. Sie hatte in Stefanie ein Kind von ihm bekommen, das einmal hübsch werden konnte. Es würde dann vielleicht auf ihn herauskommen, wie die alten Leute sagten. Davon war allerdings bis jetzt noch nichts zu bemerken. Es hatte jämmerlich lange gedauert, bis dieses Kind da war, und es war zu befürchten, dass wieder Jahre vergehen konnten, bis Ingrid erneut schwanger würde. Vielleicht lag es an ihm. Dazu passte auch die Formulierung in dem Arbeitszeugnis, das sein Chef und Onkel ihm ausstellte: Er hatte gewisse Qualitäten, aber sie reichten nicht aus. Theo lachte in sich hinein.

     Er fand die Stelle, die er suchte, zuerst nicht wieder. Es musste hier gewesen sein, aber der Garten war verschwunden. Er lokalisierte schließlich seinen früheren Ort aus der Entfernung zum Waldrand. Der Jägerzaun war durch Maschendraht ersetzt, und anstelle des Blumengartens, des kleinen Privatparks, war eine Christbaumkultur angelegt worden, lauter kleine Weihnachtsbäume in Reih und Glied. Es war sicher profitabel, es war abscheulich. Besser, er fuhr jetzt heim und besprach alles mit Ingrid. Er ging zum Wagen zurück.

     Er fuhr noch zwei Stunden sinnlos herum, über die Hügel, von Dorf zu Dorf. Dann näherte er sich dem eigenen Dorf aus einer anderen Richtung als sonst, wenn er von der Werkstatt heimkam. Es war keine Ordnung mehr in den Sachen.

     Er kam wieder einmal zu spät. Das warme Abendessen stand schon lange bereit. Ingrid enthielt sich heute jeder Kritik und tischte sofort auf. Daraus schloss er, dass sie etwas bei ihm erreichen wolle. Vielleicht war heute ein entscheidender Tag. Er wird ihr zuvorkommen, die Partie eröffnen. Es gab schon wieder einen Auflauf. Der Broccoli darin war zu etwas Braunem, Zundertrockenem zusammengeschnurrt.

     „Ich glaube, ich fange morgen doch damit an, mich nach anderer Arbeit umzusehen. Es wird allmählich Zeit. Was meinst du dazu?“

     „Sehr gut. Ich war schon längst dafür.“

     Er sah ihr ins Gesicht. Freudig überrascht wirkte sie nicht gerade, eher irritiert. Es ging ihr also um etwas anderes. Er müsste es wissen, bevor sie damit anfing. Er wollte sich nicht überrumpeln lassen, dann fiel ihm womöglich keine passende Antwort ein. Um Zeit zu gewinnen, rapportierte er das Gespräch mit dem Onkel. Die Sache mit der Miete verschwieg er zunächst noch.

     „Ich glaube, er will mich los sein. Dass es so ausgeht, lässt ihn doch nicht kalt. Also muss ich bald fort. Und dann hat er auch Angst, ich könnte Forderungen stellen.“

     Sie fragte, ob er hier zum Arbeitsamt gehen wolle.

     „Natürlich nicht. Den Arbeitmarkt hier kenne ich ja. Ich will doch nicht bei der einzigen Konkurrenzfirma anfangen. Falls die mich überhaupt nehmen würden. Nein, weißt du, morgen ist Freitag … Vielleicht fahre ich morgen nach Würzburg und kaufe am Bahnhof alles, was ich an Zeitungen bekomme.“

     Sie sagte, der Stellenmarkt erscheine doch am Samstag. Er blieb dabei, es könne Ausnahmen geben. Er wolle den Markt systematisch studieren. Die Samstagausgaben könne er sich ja später auch noch besorgen.

     „Worauf soll das hinauslaufen? Willst du wirklich nach Frankfurt oder nach München? Wäre es nicht gescheiter, erst beim Arbeitsamt in Würzburg zu fragen, wenn du schon dort bist?“

     Er wolle sich nicht vermitteln lassen, er wolle selbst suchen. Er sei doch nicht der Mann, der sich hin- und herschieben lasse. Er sah sie finster an, sie wich seinem Blick aus. Er erklärte ihr noch, der Stellenmarkt in ganz Nordbayern sei überlaufen. „Es kommen zu viele von drüben. Die stehen morgens um drei auf, damit sie um sieben in Nürnberg anfangen können.“ Gutes Geld verdiene man nur südlich der Donau. Und Frankfurt passe ihm gar nicht.

     Er brauche dort dann ja auch eine Unterkunft, warf sie ein.

     Vielleicht biete ihm die neue Firma etwas an. Manche seien übrigens im Osten stark engagiert, in Leipzig oder in Berlin. Dann müssten sie dort für die Unterkunft sorgen. „Jedenfalls muss ich mehr verdienen als bisher, schon um das Haus hier halten zu können.“

     Sie legte die Gabel beiseite, nur selten benutzte sie ein Messer. Sie sah ihn gespannt an. Das war es also, er wusste es nun. Es ging ihr ums Wohnen. Wo würden sie in Zukunft wohnen?

     „Ich habe über das Problem auch schon nachgedacht.“

     „So, hast du? Während wir gegessen haben? Worin besteht denn das Problem?“

     „Das ist dir ja bekannt. Eben in der Miete, die wir zahlen müssten. Übrigens hat dein Onkel über Olga bei mir vorgefühlt, während du in Hamburg warst. Ob wir hier bleiben wollten.“

     „So, alles schon abgesprochen? Abgekartet, wie? Und wie üblich hinter meinem Rücken! Mich hat er erst heute darauf angesprochen. Es ist wirklich zum …“ Es fiel ihm nichts ein.

     Sie ließ ihn stöhnen, dann sagte sie: „Es versteht sich ja von selbst, dass wir in Zukunft nicht umsonst hier wohnen können. Übrigens kannst du dich abregen. Nichts ist abgekartet. Ich bin sogar der Meinung, wir können auf Dauer hier nicht bleiben. Es wird zu teuer. Wir müssen uns einschränken.“

     Dann begannen sie zu rechnen und konnten sich auf kein Ergebnis einigen. Ihrer Meinung nach setzte er seinen möglichen Verdienst, zum Beispiel in München, zu hoch an und die Kosten für den doppelten Haushalt zu niedrig. Schließlich kam sie mit dem Vorschlag heraus, in die Gartenstadt zu ziehen. Ihre Eltern seien bereit, das Dachgeschoss für sie auszubauen.

     „Ins Dachjuchhe?!“

     Das also war die Überraschung, die sie für ihn vorbereitet hatte.

     Er war gar nicht imstande, sich noch einmal groß aufzuregen. Er blieb äußerlich ruhig und sagte nur: „Mit mir nicht.“ Vor seinem inneren Auge erschien die grauenvolle Vision eines immerwährenden Muttertages. Ihre weitere Diskussion verlief entlang der Front, die am vorjährigen Tag der Mütter eröffnet worden war. Sie begaben sich wieder in den alten Schützengraben.

     Ingrid sagte, später werde sie wieder die Büroarbeit für das Malergeschäft machen. Und Stefanie bleibe dann tagsüber bei ihrer Mutter. Da sei es doch praktisch, im gleichen Haus zu wohnen.

     Theo wiederholte: „Mit mir nicht.“

     Sie fing wieder an zu rechnen. Sie könnten in der Gartenstadt faktisch umsonst wohnen. Man lasse nur eine geringe Miete als Arbeitsentgelt pro forma über die Bücher laufen.

     Theo psalmodierte, schon eine Tonlage höher: „Mit mir nicht!“

     Worauf sie ihm vorhielt, sie habe sich vieles, ja beinahe alles anders vorgestellt. Es sei alles anders gekommen als erhofft.

     „Mit mir nicht.“

     Und wenn der Mann seine Existenz verloren habe und keine Vernunft annehmen wolle, dann sei ihre Zuflucht im Hause ihrer Eltern.

     „Mit mir nicht!“ Er erreichte einen bei ihm sehr ungewöhnlichen Diskant. Dann, in normaler Stimmlage: „Schluss! Ich bleibe hier oder gehe ganz weg. Halb muss ich ja sowieso.“

     „Lass uns morgen oder übermorgen noch einmal über alles reden.“ Sie begann abzuräumen.

     Er schaltete den Fernseher ein. Da flimmerte etwas sehr Komisches, ein Spielfilm oder eine Show. Er begriff nichts davon. Äußerlich war er ruhig, aber die innere Raserei und Konfusion zerrissen ihn fast. Er konnte nicht mehr klar denken, es war überhaupt kein Denken mehr, nur noch ein Durcheinander grauenvoller und beleidigender Vorstellungen. Er holte aus der Küche eine Flasche von dem schweren Roten aus Spanien, der für solche Fälle bereit stand. Er leerte sie innerhalb einer Stunde und sank dann auf dem Sofa im Wohnzimmer in einen sehr tiefen, sehr trüben Schlaf.

 

Er war schon einige Zeit wach, als das Geläut einsetzte, das die Katholiken zur Frühmesse rief. Die Terrassentür war gekippt, und er lag unter einer Wolldecke. Also muss er in der Nacht aufgestanden sein. Oder hat Ingrid für ihn gesorgt, noch einmal, bevor er aufsteht und wegfährt? Sie versorgt Stefanie und sieht auch nach ihm. Aber er will nicht mehr betreut werden, es wird ihm lästig. Er rollte die Decke ein Stück zurück und fühlte den sanften, kühlen Luftstrom an den nackten Armen entlangstreichen. Wie nachts bei ihm üblich, trug er nur ein weißes T-Shirt und sonst gar nichts. Nur bei Manfred hatte er den Slip anbehalten. Er muss sich also noch entkleidet haben, bevor er sich niedergelegt hat. Oder sollte Ingrid …? Wie auch immer, er hat also zum ersten Mal im Wohnzimmer übernachtet.

     Obwohl es noch März war, war die Nacht mild gewesen. Sie ging zu Ende, es war schon ziemlich hell draußen. In ihm hatte das Trübe sich, während er schlief, abgesetzt, darüber nun Klarheit, ein klarer Wille. Er muss vieles ändern, er muss woanders neu anfangen. Wenn dieser Anfang gemacht ist,  kann er zurück und hier die Dinge in Ordnung bringen. Er möchte das Haus behalten. Stirbt sein Vater irgendwann, bekommt er es ohnehin – es sei denn, der Onkel verkauft es vorher. Es soll nicht verkauft und auch nicht vermietet werden. Er ins Dachjuchhe, zu Leberechts? Nie! Um hier bleiben zu können, wird er heute nach Würzburg fahren und anfangen, sich umzusehen. Wahrscheinlich wird er noch ein Stück weiterfahren, nach München zum Beispiel. Er muss sich darauf einrichten, dass er ein paar Tage unterwegs ist. Aufbrechen und dann heimkommen, ins Haus des Vaters.

     Er stand rasch auf und stand mitten im Wohnzimmer, wach, ausgeschlafen, sich kräftig fühlend. Die Wolldecke war zu Boden geglitten, er ließ sie liegen.

     Er ging ins Bad. Beim Duschen kam wieder die Lust am eigenen Körper. Es hing vielleicht mit dem Einseifen zusammen. Diese ölig-glatte Schicht verschönte und liebkoste das Fleisch. Er fasste sich dann gern an. Heute sprach er sich selbst an: Ein richtiger Brocken. Im gleichen Augenblick war der Gedanke ans Motorradfahren da. Er hatte die Maschine gleich nach der Rückkehr aus Hamburg wieder angemeldet und am vorigen Wochenende schon eingefahren. Ja, er wird mit dem Motorrad wegfahren. Ingrid braucht den Wagen, wenn er einige Tage lang fort ist.

     Wie an einem normalen Arbeitstag kippte er heißes Wasser über das lösliche Kaffeepulver und bestrich zwei Scheiben Toastbrot dick mit Nougatcreme. Er aß heute im Stehen, er hatte es eilig. Ingrid stand gewöhnlich zwischen sieben und halb acht auf. Er wollte nichts mehr erklären, es war alles gesagt. Doch musste er einmal ins Schlafzimmer hinein, um etwas Wäsche zu holen. Die graue Jeans und der Anthrazitpullover wurden auch noch zusammengerollt, damit sie in die Packtaschen passten. Er trug schon die schwarz-lederne Motorradhose und den schwarzen Rollkragenpulli.

     Ingrid schlief anscheinend noch, wie gewöhnlich um diese Zeit. Er hörte sie flach atmen. Das Kind in seinem Bettchen strampelte hörbar. Er zwang sich, nicht mehr nach ihm zu sehen. Er musste rasch fort und überprüfte den Inhalt der Brieftasche: Bargeld, die Scheckkarte, Ausweise, Telefonnummern.

     Er war schon in den Stiefeln und kam noch auf den Gedanken, Ingrid einige Zeilen zu hinterlassen. So schrieb er mit seiner Handschrift eines Sechzehnjährigen, die noch nicht abgenutzt war, die noch klar, sauber, gut lesbar und ohne die Narben einer verwickelten Biographie war:

 

Liebes! Ich fahr nach Würzburg (vorerst). Wie besprochen. Dann bei Bedarf noch woandershin. Bin vielleicht ein paar Tage weg. Ich melde mich. Bis dann. T.

 

     Als er aus der Garage fuhr, kam ihm in den Sinn, dass er die meisten Jahre hier allein gewohnt hatte. Tatsächlich, so war es. Erst sollte sich mit dem Haus nichts ändern, da sie nach dem Tod seiner Mutter immer noch hofften, sein Vater könnte die Anstalt doch einmal verlassen. Später sagte Onkel Georg: Bleib da wohnen, du heiratest ja doch bald.

     Er brauste um zwei, drei Ecken, und sein Dorf lag schon hinter ihm. Er schoss durch die Flussniederung, über die Brücke; bog am Rand der Stadt scharf nach Süden ab und glitt nun sausend, zischend auf der großen Bundesstraße dahin. Auf seiner Maschine war er schnell, unheimlich schnell, das sagte er oft. Das Unheimliche war sonst nur eine Redensart, diesmal streifte ihn eine Ahnung, wie seltsam dieses Vor- und Weiterpreschen war, bei dem alles Begegnende – Orte, Menschen, Sachen – geisterhaft zurückschnellte ins Ausgelöschtsein. Die Gegenwart verwandelte sich dabei rasend und präzise in verbrauchte, erledigte Zeit. Man konnte es sehen, wie die Zeit dahinflog und als verlassener, aufgegebener Ort hinter einem zurückblieb. Das war erregend, schaudererregend und schon etwas unheimlich.

     Viele tausend Mal war er vom Dorf in die Stadt gefahren, ohne dass es ihn tiefer berührt hätte. Man kam mit dem Motorrad schneller voran als mit dem Auto, man beschleunigte rascher und häufiger, überholte leichter und hatte Hindernissen gegenüber eine Einstellung, die leicht geringschätzig war. Das Ziel war denkbar unwichtig, vielleicht hatte er dies nicht immer so klar erkannt. Man kam irgendwo an, stiefelte aufgekratzt oder gelangweilt kurze Zeit herum und schüttelte dann alles wieder ab, indem man kurz entschlossen wegfuhr. Woher diese Lust am Ortswechsel, an der extremen Beschleunigung, wenn einem die Ziele gar nichts bedeuteten? Hier von Flucht zu reden, war falsch – ein Kerl wie er flieht nicht, er entzieht sich: Das hat etwas von List und Tücke, es ist auch eine Frage von Macht. Diese Ideen erwärmten ihn, er fühlte sich mutig, kräftig und fuhr verwegener.

     Übrigens waren diese Vorstellungen in ihm weniger klar formulierte Gedanken als vielmehr Stimmungen, die sozusagen der Fahrtwind heranwehte, die sich dann wie Nebelbänke durch sein Bewusstsein schoben und die schließlich von dem Gebrause um ihn zerfetzt wurden und sich in Nichts auflösten. Die rasante äußere Bewegung riss den sonst weniger mobilen Geist mit sich und zwang ihm ihre abenteuerlichen Ideen auf, die voller Lust waren: von Allmacht und Allgegenwart.

     Der Gegenverkehr war stark. Die Pendler schoben sich um diese Zeit in die Kreisstadt hinein, der er selbst jetzt entkam. Seine Richtung war frei, abgesehen von diesem oder jenem Lastwagen, der von Thüringen herunterkam und den er überholte, sobald es nur möglich war.

     Da war Münnerstadt – schon vorbei. Er näherte sich jetzt der Verzweigung der großen Chaussee. Man kam in jedem Fall zur Autobahn, welche der beiden Straßen man auch wählte. Die Strecke durch das Flusstal mit den vielen Kurven und Ortsdurchfahrten erreichte die Autobahn eher als die gerade Fernstraße. Es kam im Ergebnis auf dasselbe hinaus, wenn man nach Süden wollte. Dennoch wurde Theo unruhig: als hinge viel davon ab, ob er den rechten oder den linken Weg nahm. Er konnte es sich nicht erklären und lenkte instinktiv auf die Talstraße.

     Sein Ziel, Würzburg nämlich, war in der Tat unsicher und fragwürdig. Wozu dort einen Haufen Zeitungen kaufen, in dem er aller Voraussicht nach nichts Brauchbares finden wird? Vielleicht sollte er selbst inserieren? Kommt es ihm auf gutes Geld an, muss er Franken verlassen. Wenn er jetzt sofort nach München fährt und eine Anzeige aufgibt, wird sie doch nicht vor Mittwoch erscheinen. Und dann ist es tatsächlich so, dass man eher etwas über das Arbeitsamt findet – nur hat er es Ingrid gegenüber nicht zugeben wollen. Alles hätte vorher besser überlegt werden müssen.

     Da fiel ihm plötzlich Stuttgart ein – merkwürdig, an Stuttgart hatte er noch gar nicht gedacht. Es war nicht gerade logisch zwingend, doch hinter Kissingen beschloss er, den Schwierigkeiten mit Würzburg und München dadurch auszuweichen, dass er stattdessen nach Stuttgart fuhr. Nicht nach München, nicht nach Süden, dachte er verbissen, als die Autobahn herankam, unbedingt die Auffahrt nach München, die er gut kannte, vermeiden. Er fuhr also schon vorher hinauf und begriff erst nach dem Einfädeln, dass es nun nach Norden ging. Er schoss schon mit hundertvierzig Kilometern in der Stunde über den Fluss, donnernd ging es in die Berge der Rhön hinein. Es ging hinauf in die Berge und hinauf nach Norden: FULDA – KASSEL – HANNOVER. Wie hatte ihm das passieren können? Er wusste doch, wo Stuttgart tatsächlich lag, irgendwo im Südwesten. Doch war es nun einmal geschehen, und er nahm es hin wie einen Befehl, den er sich selbst gegeben hätte. Das wird niemand von ihm erfahren, wie er die Richtungen verwechselt hat.

     Es ging also nach Hamburg. Er hätte es sich eher sagen können. Er hätte sich nicht erst vom Onkel darauf bringen lassen müssen. Wenn Manfred nicht nach Neustadt kommt, muss er zu ihm nach Hamburg. Das war nur konsequent. Es hatte so kommen müssen. Man kann etwas wollen, ohne es zu denken.

     Die lange Fahrt nach Norden war zuerst nur ein Stück Arbeit, das er bald hinter sich bringen wollte. Noch rollte der Verkehr, doch wird sein Strom heute am Freitag mit jeder Stunde anschwellen und allmählich zähflüssiger werden. Die Autobahn nach Norden war wie ein Fluss, der in den Bergen der Mitte entspringt und später zum Strom des Tieflands wird, der sich träge dem Meer entgegenwälzt. Noch war es nicht so weit, noch kam er rasch voran, indem er die Lücken in den Kolonnen der Lastwagen ausnutzte. Die Lastwagen enthielten alles, was das Land produzierte. Vielleicht war das Land in Wahrheit nur eine einzige Fabrik und die Autobahnen ihre Transportbänder.

     Er fuhr sehr konzentriert. Die Bilder von jenseits der Piste verblassten zunehmend. Der Problemwust war beiseite geschoben. Dies verstärkte das Gefühl, er sei letzten Endes doch auf den richtigen Weg geraten. Hier gab es jetzt nur diesen unablässigen Wechsel des Agierens und Reagierens. Alles bestand in unausweichlichen, jedoch lösbaren Aufgaben, alles war absolut konkret und gegenwärtig. Er fand wieder einmal Geschmack am Autobahnfahren. Man kam durch, und es blieb kein ungelöster Rest übrig.

     Er tankte am Kirchheimer Dreieck; trank einen Becher Kaffee, aß zwei belegte Brötchen und vertrat sich die Beine. Eine Stunde später hatte er schon Kassel hinter sich. Als er vor Göttingen ins breite Leinetal hinunterdröhnte, überkam ihn mit der veränderten Landschaft eine Ahnung, worauf er sich eingelassen hatte: Norddeutschland, das war die Ebene mit ihren Städten. Er war schon jenseits der Wasserscheide. Dann kamen wieder Hügel und verwischten den Eindruck. Doch das Tiefland kehrte zurück, diesmal ohne Begrenzung. Bei Hannover kam er nur noch langsam voran. Dann ging es wieder zügiger, und die A 7 überquerte das Allertal. Das Land war weit, flach, feucht und grün. Es war ohne Konturen. Wie man hier leben konnte: Es kam ihm so öde vor. Sein Magen war wieder leer, er parkte an der Raststätte und nahm die Packtaschen mit hinein.

     Drinnen steuerte er einen Tisch an, an dem ein junger Schnauzbart saß. Er trug ein rotkariertes Hemd und sah neugierig auf die Packtaschen. Er sagte:

     „So früh im Jahr schon unterwegs?“

     „Ja, ich muss dringend nach Hamburg.“ Theo wollte nichts weiter erklären, doch war es angenehm, hier zu sitzen, neben dem anderen. Er schlang seine Spaghetti hinunter und fühlte sich beim Essen beobachtet. Es war wie eine Aufforderung, doch noch aus sich herauszugehen. Wollte ihm da einer tragen helfen?

     „O, Mann“, sagte Theo, „weißt du, was ich heute getan habe – ich habe meine Frau verlassen.“

     Doch nur verlegenes Schweigen war die Antwort, und Theo fühlte sich erst jetzt wirklich elend.

 

14. Das Bandelier

Und wenn er es wäre? Unsinn, es ist vielleicht nur der Neffe vom Hausmeister.

     Manfred war gerade um die Ecke seiner kleinen Straße gebogen. Vor seinem Haus, achtzig Meter von ihm entfernt, war ein Motorrad auf dem Gehweg geparkt, das Nummernschild noch nicht zu entziffern. Der Fahrer hockte breit auf dem niedrigen Eisengitter des Vorgartens, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln aufgestützt, die weit auseinander gestellten Füße auf dem Steinsockel des Gitters. Sein Profil war nur schwer zu erkennen, denn er hatte sich im Sitzen halb umgedreht und betrachtete die Fassade des Hauses schräg gegenüber. Der breite Rücken war etwas gebeugt, wie unter einer Last. Wer war dieser Rodinsche Melancholiker? Er trug nur schwarze Sachen, die glänzende Ledermontur schwarz, die hohen, schweren Stiefel schwarz, sogar das Halstuch schwarz und auch der Helm, den er auf dem Sockel deponiert hatte, zwischen den beiden Stiefeln. Und rot lackiert war die schwere Maschine aus Japan.

     Der Unbekannte wandte sich mit einem Ruck zu ihm um, als wäre er gerufen worden. Theo, also doch. Der Körper des Cousins straffte und belebte sich sichtlich, und Manfred nahm eben noch wahr, wie ein düsterer Ausdruck blitzschnell vom Gesicht verschwand. Jetzt hob er den Arm, winkte ihm zu und lachte schon. Dann war Manfred bei ihm und Theo rutschte vom Geländer.

     „Du hast dich bestimmt gerade furchtbar erschrocken. Aber ich bin’s wirklich. Ich bin schon wieder da.“ Er legte ihm die rechte Pranke auf die linke Schulter.

     „Schön, ich freu mich drüber. Du, ich freu mich wirklich. Aber perplex bin ich eigentlich nicht … Ich habe vorhin in Neustadt angerufen.“

     „So, was haben sie dir gesagt?“ Theo schien begierig, das Allerneueste aus Neustadt zu erfahren. Manfred zog ihn in den Hausflur hinein. Hat er ihn beim vorigen Besuch irgendwann einmal angefasst? Theos Arm war durch die massive Polsterung des Jackenärmels nicht zu fühlen.

     „Ich fahre nächste Woche nach Neustadt, am Mittwoch. Ich habe zuerst Olga angerufen. Sie hat sich für die dreißigtausend bedankt und dann gesagt, alles sei ein großes Unglück. Ich solle bei Ingrid anrufen … Was ist bei euch los?“

     „Du hast mit Ingrid gesprochen, gerade eben?“

     „Gerade eben. Sie hat nicht viel erzählt. Dass du heute früh weggefahren bist, irgendwohin, wahrscheinlich nach München.“ Manfred öffnete den Briefkasten, der heute leer war. Er spürte den Cousin dicht hinter sich. Theo sagte:

     „Nicht nach München, natürlich nicht. Ich wollte doch hierher. Aber sie brauchte es nicht von Anfang an zu wissen. Später …“

     Manfred schloss die Wohnungstür auf und fuhr dabei fort: „Sie war nicht besonders guter Laune – sagen wir es mal so. Sie war ziemlich kühl zu mir. Dazu, dass ich nach Neustadt fahre, hat sie gar nichts gesagt. Weiß sie nicht Bescheid?“

     „Doch. Hat sie dich eingeladen, bei uns zu wohnen?“

     „Nein, ich bin ohnehin bei Olga, das heißt im Gasthof. Es ist praktischer, wenn man kein Auto hat.“

     „Nein, du wohnst bei uns. Ich bestimme immer noch, wer zu uns eingeladen wird.“

     Sie betraten die Wohnung. Manfred sagte, er solle lieber die Packtaschen hereinholen. Theo ging gleich wieder auf die Straße und kam mit ihnen zurück. Er brachte sie unaufgefordert ins Gästezimmer. Es war sein Zimmer, er ging einfach hinein. Er schien nur kurze Zeit fort gewesen zu sein, und nun war er wieder da.

     Nein, er wolle keinen Kaffee, sagte Theo, als er ins Wohnzimmer kam. Es war heute auch kein Kuchen da. Er würde sich gern lang ausstrecken, er sei früh aufgestanden und bis auf zwei kleine Pausen durchgefahren. Er zog die Stiefel aus. Er saß dabei auf dem Sofa und warf sich dann zurück und verschränkte im Liegen die Hände hinter dem Nacken. Er werde ihm jetzt alles erklären. Stattdessen sah er bloß weiter zur Decke und sagte längere Zeit nichts mehr.

     Manfred ging, während der Cousin noch immer schwieg, langsam im Zimmer auf und ab. Er blieb dann am Büffet stehen, lehnte den Rücken dagegen und wartete. Er stand jetzt schräg hinter dem Cousin. Endlich begann Theo:

     „Bleib da stehen, das ist gut so. Und sag gar nichts, bis ich fertig bin. Es geht schnell. Zuerst das: Diesmal hat mich niemand geschickt. Ich bin von selbst darauf gekommen …“ Dann sagte er ihm alles, was es zu sagen gab. Dass die Glaserei und der Gasthof geschlossen und die Immobilien verkauft würden. Dass er Arbeit suchen wolle, und zwar weit weg von Neustadt. Dass Ingrid mit dem Kind zu ihren Eltern zurückgehen wolle … Nun legte er eine Pause ein, die länger dauern konnte.

     Manfred hatte ihn beim vorigen Besuch nie so reden hören. Er entwickelte da seine eigene Geschichte, und es war eine Handlung, bei der eines aus dem anderen folgte, eine Freude für jeden Logiker. Und so erfreulich ging es auch weiter. Er sagte jetzt, er wolle es zuerst in Hamburg versuchen. Ob er vorübergehend bei ihm wohnen dürfe? Er werde sich bald etwas Eigenes suchen.

     Ja, natürlich, sagte Manfred, er könne bleiben, solange er wolle. Das Zimmer sei ja frei. Er dachte: Gestrandet. Da liegt er, gestrandet. Ich bin aber kein Strandräuber. Er ist das schöne Bild. Es wird auch wieder verschwinden. Bis dahin: Hinter ihm stehen, ihn betrachten, etwas auf ihn aufpassen, aber nicht zu sehr. Er wird sich wieder freischwimmen.

     Er fragte ihn, was mit dem Haus geschehen solle. – Das sei ein Problem, sagte Theo. Er würde es gern behalten, doch der Onkel verlange in Zukunft Miete. Vielleicht müsse es an Fremde vermietet werden.

     Er schlage vor, sagte Manfred, heute über all das nicht mehr nachzudenken. Sie könnten jetzt nicht alles übersehen. Er solle sich einfach entspannen, erst einmal von der Fahrt erholen. „Morgen machen wir dann einen Plan, wie wir alles in den Griff kriegen. Wir werden auch telefonieren müssen. Ich erledige es, wenn es dir recht ist. Ich fahre am Mittwoch nicht nach Neustadt, jetzt natürlich nicht mehr.“ Auch das war eine Konsequenz.

     Manfred ging kurz darauf zum Supermarkt, um für sie einzukaufen, allein, ohne Theo. Er solle sich von seiner Gewalttour erholen. Er könne ihm später noch oft genug helfen.

     Abends saßen sie wieder beim Griechen an der Ecke. Manfred nannte ihn ihre persönliche Traditionsgaststätte. Theo erschien ihm schlanker als zuletzt, schmaler im Gesicht. Der Cousin hatte sich inzwischen umgezogen. Er war ernst und sprach wenig. Der Schub des Wiedersehens war schon verbraucht. Wie macht man das, fragte sich Manfred, einen jungen Ehemann aufheitern, der eben seine Frau verlassen hat? Die Situation ist neu für mich und für ihn auch. Es müsste etwas passieren, das ihn ablenkt.

     Beim zweiten Glas Wein fand Theo die Sprache wieder. Es gab da noch etwas zu erklären. Bei ihm, Manfred, fühle er sich sicher. „Du wirst mich nicht benutzen. Du weißt, wovon ich spreche?“

     „Ich glaube schon. Die Nacht, in der eine Gitarre dich nicht schlafen ließ …“

     „Ja, die verdammte Gitarre …“ Theo nickte. Er lächelte verlegen, das stand ihm gar nicht. Er war doch eine Kraftnatur, er konnte lachen oder wütend sein oder stoisch – nur nicht hilflos verlegen. Er war dann nicht mehr attraktiv. Theo sagte: „Ich dachte, du erwartest es.“

     „Nein, ich könnte gar nicht. Dabei bist du durchaus mein Typ. Du wirst es noch sehen, wenn du länger bei mir lebst. Aber in deinem Fall … würde für mich beinahe etwas wie Blutschande daran hängen. Nein, das ist übertrieben, sogar ein falscher Begriff. Aber sieh, du warst einmal so klein“, - er wies auf die Weinflasche – „seitdem bist du um einiges gewachsen, ich aber nicht mehr. Deshalb würde es mir irgendwie verkehrt erscheinen.“  

     Vielleicht spielte das tatsächlich eine Rolle, doch war es dann von allen Skrupeln der geringfügigste. Die übrigen verschwieg er ihm, dessen war er sich bewusst. War er auf seine Art nicht auch ein Falschmünzer? Er verbarg ihm die wahren und wesentlichen Motive. Er verbarg sich selbst: wie er war und wie er es geworden war.

     Theo sagte, es mache nichts. „Es war ein Irrtum meinerseits. Du hast damit nichts zu tun. Ich wollte dich nicht testen, aber du hast den Test bestanden. Und für mich ist es so auch am besten, keine Frage. Das Thema ist damit erledigt.“

     Indessen kam er kurz darauf erneut auf dieses Thema aller Themen zurück. Er wolle doch von ihm mitgenommen werden, in ein spezielles Lokal nämlich. Er versuchte, es ihm zu erklären und sprach dabei viel mehr und viel schneller als sonst. „Siehst du, ich meine, man soll doch alles einmal kennenlernen. Nicht mitmachen, nur gesehen haben. Es ist für mich natürlich nur theoretisch, davon bin ich überzeugt. Aber es gehört nun einmal zu dir, da muss ich doch wissen, mit wem du sonst verkehrst. Ich weiß nichts über deine Freunde. Du lebst ziemlich einsam, ja? Und du musst mich vor allem aus einem Grund mitnehmen: Nur so kann ich dir doch beweisen, dass es mich kalt lässt. Dann ist bewiesen, dass ich nur aus Versehen unter deine Decke geschlüpft bin. Und wenn es bewiesen ist, können wir die besten Kumpels werden.“

     Diese krause Logik war gar nicht so leicht zu widerlegen, fand Manfred. Er würde ihm irgendein harmloses Café zeigen. Er sagte: „Ja, du sollst deinen Willen haben. Vielleicht morgen schon.“

 

Beim Frühstück wirkte Theo noch gedämpfter als am Abend des Ankunftstages. Er sprach nur wenig, er war auffallend still und in sich gekehrt. Manfred hatte ihn nie so sanft erlebt. Er vermied jeden Blick hinaus auf die Straße. Mit seinem Besteck hantierte er vorsichtig, als wäre das eine denkbar schwierige Aufgabe. Meist sah er nur vor sich auf den Teller. Da nun der Wirbel der Ankunft vorüber war und er sich offenbar gut ausgeschlafen hatte, stand die Bedeutung des Tages klar vor ihm: Es war der erste Tag einer neuen Existenz. Er war nicht mehr nur auf Besuch gekommen, er wollte für eine unbestimmt lange Zeit bleiben und sich damit einrichten. Vielleicht würde er gleich sagen, er habe sich geirrt, er wolle heimfahren und im Süden Arbeit suchen. Doch gab es ein Indiz, dass er es nicht tun würde: Wenn er vom Tisch aufsah, blickte er geradewegs ihn an, den Cousin, und schien ihm etwas vom Gesicht ablesen zu wollen. Was mochte es sein? Es war vermutlich keine bestimmte Antwort oder Aussage. Er wartete eben, dass es mit ihm weiterging. Er hatte noch kein Wort zur Zukunft gesagt.

     Nein, er sollte jetzt nicht mehr umkehren. Er war aus seiner früheren Bahn geschleudert worden und an einem Ort aufgeschlagen, der allem Bisherigen denkbar fern lag. Nun würde es sich zeigen, ob er einen festen Kern besaß oder nur eine gallertartige Masse wie so viele. Geben wir ihm Hilfestellung, dachte Manfred.

     Gegen Ende der Mahlzeit nahm er ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber und fing an:

     „Wie richten wir nun alles ein? Gehen wir doch einmal systematisch vor. Was sind die grundlegenden Bedürfnisse?“ Und er schrieb und las laut mit:

     „NAHRUNG – KLEIDUNG – WOHNUNG!“

     Theo begann zu grinsen. Der Große Cousin ließ sich nicht anstecken und fuhr im gleichen Kathederton fort:

     „Zuerst die Nahrung. Momentan sind wir satt. Der Kühlschrank ist noch gefüllt. Wenn er leer ist, gehen wir zum Supermarkt. Ich glaube, wir wollen nicht kochen, oder? Also besuchen wir die Gasthäuser, von denen wir schon einige kennen. Und so lautet unser Resümee: Für Nahrung ist gesorgt – abhaken.“ Er machte tatsächlich ein Häkchen hinter dem Wort.

     Theo wieherte und bekam den Anfang der Fortsetzung nicht mit:

     „ … sind wir wohl überstürzt aufgebrochen und haben fast alles zurückgelassen. Komplette Neuanschaffung wäre unwirtschaftlich. Wir sollten uns an eine Vertrauensperson wenden. An wen?“

     „Olga wird es machen, wenn ich sie darum bitte. Sie kann hinausfahren und es Ingrid beibringen, und dann werden sie meine Sachen packen.“

     „Ich halte also fest: Olga anrufen.“ Auf dem Papier wies ein Pfeil zum rechten Blattrand mit der entsprechenden Notiz.

     „Wohnen. Das ist sehr einfach. Wir bleiben, solange der Cousin bleibt und wir bei ihm bleiben wollen. Also ein Haken. Das war das Fundament.“

     „Ist nicht die Arbeit das Fundament, das Einkommen?“

     „Sekundär, aber nicht unwichtig. Also zweiter Kreis: GELD – ARBEIT – LIEBE USW.“

     „Geld habe ich noch. Von dem, was auf dem Konto ist, kann ich noch ein paar Monate leben. Mach einen Haken.“

     „Und von der Arbeit gleich einen Pfeil?“

     „Ja, ich gehe nächste Woche zum Arbeitsamt. Lohnt es sich, den Stellenmarkt in der Zeitung zu studieren?“

     „Ist herauszufinden. Also tragen wir ein: ABENDBLATT und darunter in Klammern (ARBEITSAMT). Du siehst, der größte Wechsel schrumpft auf einige Kernpunkte zusammen. Aber was machen wir aus LIEBE USW? Wenn man nur wüsste …“

     „Muss ich mich denn jetzt schon festlegen? Auf eine Strategie?“

     „Nicht unbedingt. Machen wir eben ein Fragezeichen. Aber das bleibt dann das einzige in unserem Konzept. Selbstverständlich können wir Damenbekanntschaften mitbringen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

     „Herrenbekanntschaften nicht?“ Theo feixte.

     „Doch, auch, diesen unwahrscheinlichen Fall einmal angenommen, rein theoretisch nur. – Wollen wir einmal Zwischenbilanz ziehen: OLGA – ABENDBLATT – (ARBEITSAMT), das ist ein Pensum für heute und den Anfang der nächsten Woche.“

     „Und sonst? Ist das schon alles?“

     „Nein, bedauerlicherweise sind wir nicht nur Individuen, sondern auch noch soziale Wesen. Das bringt einige Verpflichtungen mit sich. Du musst dich ummelden, vielleicht am Anfang nur mit Nebenwohnsitz. Siehst du, das ist der dritte Komplex. Ich nenne ihn mal: DER STAAT UND ICH.“

     „Olga muss mir alle Papiere schicken, nicht nur die Sachen zum Anziehen.“

     „Richtig, ich vermerke es. Und wenn wir sie hier haben, machen wir insoweit eine neue Aufstellung. Doch trage ich hier schon mal BEZIRKSAMT EIMSBÜTTEL ein. Mein Rat: Nicht zuerst hingehen.“

     „???“

     „Es könnte dich sonst entmutigen. Es ist eine Hölle eigener Art. Dante kannte unser Bezirksamt nicht, sonst hätte er es auch besungen. Schon der Warteraum kann Empfindsame davon abhalten, sich in Eimsbüttel anzumelden. Eine kleine Halle mit viel zu dicken Pfeilern, nur Kunstlicht, viele Türen mit ständig nachwachsenden Schlangen davor, ein Querschnitt durch unsere großstädtische Bevölkerung – und was für einer: Theo, die Wahrheit ist nicht schön.“

     Theo nahm ihm jetzt das Blatt aus der Hand. Es sah ungefähr so aus:

 

 

NAHRUNG v

KLEIDUNG / PAPIERE --------------OLGA

WOHNUNG v

 

GELD v

ARBEIT ---- ABENDBLATT - (ARBEITSAMT)

LIEBE USW. ?

 

DER STAAT UND ICH -----------------BEZIRKSAMT

 

     Während sie den Tisch abräumten, schlug Manfred vor, jetzt gleich Olga anzurufen. Er, Manfred, sei ja gewissermaßen neutral, wenn auch von wohlwollender Neutralität in Bezug auf die eine Seite. Wenn er, der Hamburger Cousin, also an seiner Stelle in Neustadt anrufe, dürften die Reaktionen zumindest am Telefon glimpflicher ausfallen. Er teile einfach nur mit, wie die Dinge lägen und was jetzt noch getan werden müsse. Er werde es Olga überlassen, sich zu ereifern. Dabei könne es taktisch von Vorteil sein, wenn Theo gar nicht ans Telefon gerufen werden könne. Er könne die Zeitung besorgen und sich dabei viel Zeit lassen.

     Das war Theo mehr als recht. Er schraubte sich in die Stiefel, warf die Lederjacke über und verließ die Wohnung.

     Was er mit Theo gemacht habe? Olgas Stimme war verändert, es war ihm gestern schon aufgefallen. Er hatte Olga nun seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte sich ihre viel gerühmte Jugendlichkeit im Lauf der Zeit allmählich in diese Stimme zurückgezogen. Die Stimme war unmittelbarer Ausdruck einer Seele gewesen, die nicht altern wollte. Da nun ihre großen Pläne sämtlich gescheitert waren und sie sich mit wenigem zufrieden geben musste, holten Seele und Stimme in einigen Wochen nach, was den anderen Organen im Verlauf der Jahre längst widerfahren war: Sie ermüdeten und verwitterten.

     Sein Anruf war hochgradig unwillkommen, es war ihrer Stimme anzuhören. Dabei sagte sie kein unfreundliches Wort. Sie nahm die Dinge hin, wie sie nun lagen. Sie habe so etwas geahnt. Hinter der Idee, nach München zu gehen, habe etwas anderes stecken müssen. München sei doch nur das Deckwort gewesen. Er hätte auch in Unterfranken bleiben und dort Arbeit finden können. Nach seiner Rückkehr aus Hamburg habe sie ihn sehr verändert gefunden. Was sei dort nur mit ihm geschehen?

     Manfred sagte, er wisse es auch nicht. Er habe ihn erst in den letzten drei Wochen wirklich kennengelernt. Diese Zeitspanne sei zu kurz, um eine tiefgehende Veränderung feststellen zu können. Das war eine geschickte Verteidigung, und er ging gleich zum Angriff über. Er vermute, Theo habe den Untergang der Firma nicht verkraftet, den Verlust seiner Existenz, seiner Zukunft. Er habe versucht, damit fertig zu werden … Sie wisse doch, wie er sei, sie kenne doch seine überschießende Art. Und dann denke er, Manfred, auch, sie hätten ihm mit der ersten Reise nach Hamburg, genauer: dem damit verbundenen Auftrag, zu viel aufgeladen, zu viel Verantwortung nämlich. Theo sei noch sehr jung, jünger als er seinen Jahren nach sein dürfte.

     Draußen ging der Cousin bereits mit der Zeitung auf und ab und sah ins Zimmer herein. Da er bemerkte, dass Manfred noch telefonierte, kam er nicht ins Haus. Er ging zum Motorrad.

     Ja, das sei leider wahr, was er sage. Sie hätten Theo nicht nach Hamburg schicken dürfen. Olga seufzte ins Telefon. Nun müsse er ein Auge auf ihn haben.

     Manfred sah ihn an der Maschine hantieren und sagte, er sei vielleicht nur vorübergehend hier, er gehe vielleicht auch wieder zurück.

      Ob sie ihn jetzt sprechen könne?

     Nein, er sei weggegangen, um Verschiedenes zu besorgen, und sei noch nicht zurückgekommen. In seiner Gegenwart hätte er nicht so frei über ihn sprechen können.

     Dann war das Gespräch fast schon zu Ende. Selbstverständlich übernahm Olga den Auftrag, Kleidung, Schuhe und Wäsche zusammenzupacken und nach Hamburg zu schicken. Auch die wichtigsten Dokumente würden mitgehen. Sie fand sich auch damit ab, dass Manfred seinen eigenen Besuch weiter hinausschob. Ja, sie verstehe es, Theo müsse sich erst bei ihm einleben, da könne er nicht gleich fort. Sie werde die Sandgrube jetzt räumen lassen. Man werde telefonisch in Verbindung bleiben. Sie legte auf.

     Sich immerzu mit etwas abfinden müssen, ist das nicht Olgas Part, fragte sich Manfred unmittelbar danach. Diese Geduld, die fast schon Ergebung ist – müsste man sich nicht ein Gewissen daraus machen, all das anzunehmen?

     „Eine famose Frau, deine Tante, man kann sich auf sie verlassen“, rief er Theo zu, der gerade hereinkam. „Du bekommst alles, was dir fehlt.“ Manfred wird versuchen, an Theo gut zu machen, was vielleicht an Olga und auch an Ingrid gefehlt worden ist.

     Theo antwortete, er brauche jetzt schon ein Paar Schuhe sowie einen Pullover und eine Hose zum Wechseln.

    „Dann fahren wir heute Mittag in die Innenstadt.“

 

„Ah, noch eine Passage“, sagte Theo einige Stunden später, und sein Ausdruck schwankte zwischen starker Neugier und dem sicheren Vorgefühl baldiger Enttäuschung.

     „Nein, eigentlich keine Passage, der Gang führt sonst nirgendwohin.“ Rechts befand sich ein Golfausrüster, links ein Herrenausstatter, dessen Sortiment im höheren Preissegment angesiedelt war. Beide Läden waren schon geschlossen, damals begann der Sabbat am Samstag noch um zwei Uhr nachmittags. Sie schleppten eine Menge Kaufhaustüten mit sich, eine von ihnen von den Ecken einer Schuhschachtel aufgespießt.

     „Ich denke, ich ziehe im Café die Stiefel aus und die Schuhe an. Ich komme mir vor wie der Gestiefelte Kater.“ In der Tat zogen die Stiefel die Jeans vorn und hinten stramm und bildeten alle Formen sehr plastisch ab.

     „Der Kater ist eine Märchenfigur. Man wird dich allenfalls märchenhaft finden und nichts an dir bemängeln können. Zieh aber die Stiefel nur aus, wenn dich die Hose kneift.“ Theo sah ihn unsicher an: wie das wohl gemeint war.

     Sie gelangten in einen Hof, der ein Glasdach über sich hatte und bis auf zwei Kübel mit verfrühtem Oleander leer war. Hinter den fensterlosen Mauern vor und neben ihnen ahnte man ein Parkhaus. Sie drehten sich einmal um und standen vor der dunkel getönten Glasfassade des Cafés Hintereingang.

     Im Namen erschöpfte sich schon der Witz, der vulgär kontrastierte zu Glas, Chrom und Nickel, zu Mahagoni, Palisander und den schönen, sicheren, geschmackvollen jungen Männern. Theo würde sich hier ebenso langweilen wie in den Einkaufspassagen, deren letzter Ausläufer das Café war. Man kam jetzt nur hierher, da die Läden allzu früh schlossen und man den Nachmittag nicht mit sich allein verbringen wollte. Er selbst, Manfred, verkehrte hier sonst nie. Das Publikum würde sich bemühen, von Theo nur heimlich Notiz zu nehmen, denn sie würden ihn sofort unvereinbar mit sich und ihrer Welt finden: zu bunt – das war keine Frage der Farbe der Kleidung -, zu vital, zu normal oder im Gegenteil – und hier irrten sie natürlich, verführt von der Pracht der Stiefel und der Hose – auf penetrante Weise schwul. So würde es ablaufen, und eben deshalb war Manfred jetzt mit dem Cousin und den Kaufhaustüten hierher gekommen.

     Doch diese Rechnung ging nicht auf. Zwar senkten sich sofort fünfzig Augenpaare, als hätten sie nichts gesehen, zwar verlängerten sich, während sie einen freien Tisch suchten, Theos Züge mit fast jeder Sekunde – doch in einer Ecke ganz hinten ruderte und winkte ein sehr langer Arm, zu dem auch noch ein fleischloser Totenkopfschädel gehörte: Stefan. Seit wann zählte er hier zum Publikum? Doch war er wohl in zwei Welten zu Hause.

     Sie gingen zu ihm, und Manfred stellte sie einander vor.

     „Ah, so.“ Stefan war zu höflich, sich sofort deutlicher zu erklären, und zu aufrichtig, seine Bewunderung durch Niederschlagen der Augen zu verbergen. Er wandte also den Blick nicht ab und fragte: „War er nicht schon nach Hause gefahren?“

     „Allerdings. Er ist gestern wiedergekommen.“

     „Ihr habt eingekauft?“

     „Theo ist mit dem Motorrad und ganz wenig Gepäck gekommen. Wir mussten einiges besorgen, Schuhe vor allem. Es ist vielleicht noch nie vorgekommen, aber es ist die Wahrheit: Wir sind nur hereingekommen, damit er die Stiefel gegen die Schuhe vertauschen kann.“

     „Oho, ein ganz neuer Fall: unfreiwillig overdressed.“

     „Wir wollten auch etwas essen und trinken. Ich jedenfalls bin ziemlich hungrig“, sagte Theo. Er bestellte eine Gulaschsuppe.

     Ihr Gespräch schlief vorübergehend ein.

     Manfred ließ die typischen Geräusche eines Cafés auf sich wirken. Die akustische Kulisse war sehr verschieden von derjenigen der Bars. Es war im Vergleich reine Polyphonie. Sie spielten zwar die gleichen Titel wie in den Bars, nur wesentlich leiser. Die Verständigung an den Tischen war ohne weiteres möglich, die Gespräche wurden von der Musik noch stimuliert. Das Geräusch aus so vielen menschlichen Stimmen war der Musik gleichwertig. Musik und Stimmen verwoben sich vielfältig zu einem komplexen Klangteppich, in dem kein Element dominierte. Alle äußerten sich, alle nahmen teil, doch niemand drang durch.

     Ähnlich zivilisiert und domestiziert wie die Stimmen waren die Blicke. Zwar waren die Augen in ständiger Bewegung, doch sie streiften nur die Gestalten, die Konturen, die fremden Bewegungen, sie blieben nirgendwo hängen.

     Der typische Gast trug Modisch-Sportliches in guter bis sehr guter Qualität. Man vermied das Extravagante und das Schrille und den Ramsch sowieso. Sie konnten sich alle sehen lassen, ohne Anstoß oder Aufsehen zu erregen.

     Auch Theo sah in die Runde. Stefan wollte von ihm wissen, welchen Eindruck er habe.

     „Na ja, nicht schlecht, nur sehen die meisten aus wie die Typen im Werbefernsehen.“

     „Oh, nicht alle sind Verkäufer oder Friseure, das ist nur ein Vorurteil. Es sind auch interessante Berufe vertreten. Siehst du den Schwarzhaarigen mit dem Schnauzer da drüben? Er erzählt den anderen gerade, dass er Düsenjägerpilot ist.“ Eine Corona gut aussehender junger Männer saß um ihn herum und hörte ihm fast mit Andacht zu.

     „Ja“, schaltete Manfred sich ein, „das wenigstens ist typisch hier, dass sie interessante Berufe lieben, besonders wenn sie den eigenen nicht mögen. Wenn es von einem heißt, er sei Maler, dann darfst du nicht glauben, er verschönere Zimmer oder Häuser. Das kann sehr übel aufgenommen werden, wenn du ihn für einen Anstreicher hältst. Theo ist übrigens selbst so ein seltenes Exemplar. Wahrscheinlich ist er der einzige Handwerker im ganzen Café.“

     „Was machst du? Bist du Maler?“

     „Nein, Glaser.“

     „Ah, Glas … Ein faszinierendes Material, auch dann noch, wenn man es nur als Baustoff verwendet.“

     „Ich bin Bauglaser, kein Kunstglaser.“

     „Oh, sorry!“

     Theo sagte, er wolle jetzt die Stiefel ausziehen und die Schuhe anziehen. Man werde ihn deshalb nicht gleich steinigen. Er geriet dabei ins Schwitzen. Die Stiefel ließen sich nur schwer in einer Plastiktüte unterbringen. Die Schuhschachtel schob er einfach unter den Tisch. Nun ruhten doch einige Blicke auf ihnen. Sie wollten ohnehin gehen.

     Manfred übernahm es, am Tresen für sie gemeinsam zu zahlen. Theo war mit Stefan schon zum Ausgang unterwegs. Dass er, Manfred, zu ihnen gehörte, war dem Trio neben ihm wohl entgangen. Man sprach über Theo. Die öffentliche Meinung verließ ihre Deckung.

     „Nein, schau dir das an, schleppt alles in Tüten mit sich, wie eine Bag Lady.“

     „Na, für eine Lady ist er doch etwas zu männlich.“

     „Müsste man testen“, sagte der Dritte. „Aber ich sage auch, der hat kein Zuhause.“

     „ … würdest ihm wohl gern Asyl gewähren?“

     Theo gehörte offenbar zu den Menschen, um die sich vom ersten Auftreten an Legenden bilden. Kaum wenden sie den Rücken, setzt eine Art Nachruhm bei Lebzeiten ein. Manfred würde ihn nicht weiterverbreiten.

     Als er die beiden in der Tür einholte, erfuhr er von Stefan, Theo wolle ihn ins Café Licht begleiten. Es blieb ihm nur übrig, sich anzuschließen.

     Sie gingen langsam die Ferdinandstraße entlang, ein Viertel von atemberaubender Kommerzialität. Eng geschnürt und reich verziert standen die Kontorhäuser dicht beisammen, wie die Paläste Genuas, und zwischen den Blocks erschien schlitzweise das wässerige Blau der Binnenalster. Die Kunsthalle tauchte drohend vor ihnen auf, eine Zitadelle des Schönen. Sie gingen über die Brücke, die die vielen Bahngleise überspannt, und betraten die Vorstadt, St. Georg. Theo hatte also seinen Willen durchgesetzt.

     Stefan unterhielt den Cousin, indem er ihm Fragen stellte, auf die Manfred nicht gekommen wäre. Die Höchstgeschwindigkeit seiner Maschine? Ob er Sport treibe? Wie schwer er sei? Wie gefährlich es sei, täglich mit Glas zu arbeiten, ob man sich oft verletze? Theo antwortete bereitwillig, mit Gleichmut. Diesem Verhör, das sich harmlos gab, lag ein Raster zugrunde, über das Manfred nicht verfügte. Der Frager erhielt so ein Bild des Kandidaten, in dem Manfred ihn nur schwer wiedererkannt haben würde.

     Das Café Licht war erst schwach frequentiert. Sie ließen sich an einem Tisch mitten im Lokal nieder.

     Manfred verkehrte auch hier nur selten. Er hatte das Café schon in dessen früherer Erscheinungsform gekannt (denn auch Lokale erleben ihre Metamorphosen), in den Zeiten seiner staubig-fettigen Aura, als der Konditormeister Licht oder dessen Witwe hier noch das Szepter führte, als noch die Matronen des Viertels sich und die Brut ihrer Töchter an dubiosen Schnitten und Torten labten. Vom alten Mobiliar hatten die neuen Betreiber viel übernommen; gereinigt und aufpoliert erschien es nun wie geschändet. Die alten Stücke waren zu armselig wie die Räume zu eng für das angestrebte Ideal wienerisch-pariserischer Kaffeehauskultur. Immerhin hatte sich die Qualität des Gebotenen bedeutend verbessert, wie auch das Publikum vollkommen gewandelt. Gemischt war es nur in dem Sinn, dass neben den Discos und den Cafés der Passagen auch die Leder-Bars ihre Abgesandten schickten. Man vertrug sich wie auf neutralem Terrain und vermied alles Aufsehen in der Aufmachung wie im Benehmen. So genoss man, was es zu genießen gab, und überließ das Zelebrieren und Repräsentieren einem überforderten Personal.

     Der Kellner, nervös und dabei noch streng auf die eigene Würde bedacht, erinnerte an Zerberus, nachdem er Karriere gemacht hatte. Vielleicht war er früher Türsteher in einem Tanzclub für Senioren gewesen. Stefan bestellte sein Bircher-Müesli bei ihm und verhandelte lange über die Komposition: nur Früchte der Saison (derjenigen Israels oder Zyperns), kein Tropfen Alkohol in den Zutaten und der Joghurt in keinem Fall wärmebehandelt. Manfred, mit „Hast du auch gewählt“ angeherrscht, entschied sich für eine laut Karte exquisite Teeköstlichkeit, und Theo bestellte ein Bier, wegen der Gulaschsuppe.

     Theo wollte wissen, was der Alkohol im Müsli zu suchen habe.

     „Nichts, absolut nichts“, erwiderte Stefan heftig. Doch sei man nirgends vor ihm sicher, nicht einmal bei Suppen oder Soßen. Überall verwendeten sie ihn als Lockstoff.

     „Lockstoff?“

     Eine äußerst minimale Menge genüge schon, den Rückfall zu provozieren. Er habe schon zu viel von ihm für dieses ganze Leben genossen. Also müsse er ihn überall aufspüren, um vor ihm sicher zu sein.

     Warum, fragte sich Manfred, warum nannten sie sich Anonyme Alkoholiker, wenn sie dann eine Frage der persönlichen Ehre daraus machten? Stefan verbrachte jede Woche eisern einen Abend im Kreis gleichgesinnter Kämpfer – denn zur Gesinnung aufgeblasen war diese Diät ja ohne Zweifel. Ihm, Manfred, kam es so vor, als hätten sie sich nur von einer Abhängigkeit in die andere geflüchtet. Stefan beteiligte sich an Anti-Tagen und Anti-Wochen und widmete dem Thema ein Viertel seiner freien Zeit: je ein Viertel den Männern, dem Sportstudio, dem Kunstgenuss und dem Feind Alkohol. Vielleicht waren das alles gleichermaßen Süchte oder nur Spielarten der einen großen Sucht: sich anfällig zu fühlen, zum Verfall bestimmt, eben defekt …

     Theo ließ sich erklären, was es mit dem Typ des Anfälligen auf sich habe. Wer die Bereitschaft mitbringe, sagte Stefan, wer sie ererbt oder erworben habe, für den enthalte ein Tropfen Gift schon den Untergang.

     Von wem die Klaviermusik sei, die sie da schon die ganze Zeit spielten, unterbrach Manfred sie in ihrem fatalen Thema.

     Von Satie natürlich, sagte Stefan. Das sei doch nicht zu verkennen, dieses Leichte und dabei doch Anspruchsvolle … Er unterbrach sich jetzt selbst und starrte den neuen Gast an, der eben hereinkam und am Nebentisch Platz nahm. Er saß dann dort allein und nickte Stefan andeutungsweise zu. Stefan grüßte stumm und gravitätisch mit der erhobenen Rechten. Dann senkte er Kopf und Stimme und sagte leise zu Manfred:

     „Ich hätte Heino beinahe nicht erkannt. Wie kann er nur so aufgezäumt hierher kommen?“

     Manfred kannte ihn bisher nur vom Wegsehen. Er war noch sehr jung, nicht mehr als zwei- oder dreiundzwanzig, und erst seit kurzem zu sehen. Wenn Manfred im Village auf der kleinen Treppe stand, seinem Logenplatz seit fast zehn Jahren, ging er öfter als nötig unten an ihm vorüber und brachte mit den Augen den unerwünschten Tribut dar, schüchtern und zugleich selbst fordernd. Manfred hatte ihn vollkommen reizlos gefunden.

     Nun musste er sich gehäutet haben, vielleicht erst heute, in diesen Stunden. Das Reizlose lag irgendwo als alte, vertrocknende Schlangenhaut, das Perfekte darunter kam zum Vorschein. Er verdankte dies offensichtlich drei Einrichtungen: einem guten Friseur, einem sehr guten Lederschneider und einer gesunden und regelmäßigen Ernährung. Vielleicht kam er gerade erst vom Schneider oder vom Friseur. Die junge Schlangenhaut schimmerte noch vor Neuheit. Man konnte ihn nicht mehr ignorieren.

     Er hieß also Heino. War die Mutter dieses stumpfnäsigen Knaben mit dem kurzen Haar von mattem Braun eine Adeptin des blonden Barden gewesen? Stefan kannte Heino flüchtig, so wie er fast jeden kannte. Er habe bisher vergeblich in der Szene Fuß zu fassen versucht. Er erinnere sich noch, wie Heino ihn vor Wochen auf seine Kontaktanzeige angesprochen habe: Hast du mein Inserat im Oxmox gelesen? Es habe nur noch gefehlt, dass er Kopien davon im Village verteilt hätte. Soweit jetzt Stefan.

     Eben kam ein neuer Schwung Gäste von draußen. Sie gehörten nicht alle zusammen, sie waren zufällig gemeinsam hereingekommen. Ein Einzelner löste sich rasch aus der Gruppe, auch er ein junger Mann in schwarzem Leder. Nicht einmal Stefan kannte ihn. Er sah sich kurz um und steuerte dann Heinos Tisch an. Sie hörten ihn sagen:

     „Grüß Gott, Heino? Ich bin der Hartmut.“

     Hört, hört, sagte sich Manfred, er sagt Grüß Gott und das hier im Café Licht. Und klang es dann nicht wie ‚I bin d’ Hartmuet’?

     Stefan und Manfred wandten die Köpfe nach dem interessanten Paar. Theo hatte sie ohnehin fortwährend im Blickfeld. Der zweite war Mitte oder Ende zwanzig. Sehr kurzes blondes Haar. Er trug eine ärmellose Lederweste und ließ kräftige Oberarme und sehr kräftige Schultern sehen.

     „Er hat viel trainiert“, sagte Stefan leise, „und dann aufgehört. Ist schon etwas aus dem Leim gegangen. Aber imposant.“

     Geradezu hübsch waren beide nicht, genau genommen, jedoch kräftig und gesund, wie es schien. Sie maskierten die Wachheit des Fleisches mit der Schläfrigkeit ihres Geistes, wenn man es richtig sah.

     Jetzt erklang das berühmte Je te veux von Satie.

     „Das ist ja perfekte Choreographie“, wunderte sich Stefan, „als ob er’s bestellt hätte.“ Vielleicht war ja tatsächlich alles inszeniert.

     Heino? klimperte, noch ein wenig zaghaft zu Beginn, das Klavier. Und dann klang’s mutiger, kräftiger: I bin d’ Hartmuet. Sie sahen sich an. Und schon schossen sie auf der gut geölten Rutschbahn jungen Liebesglücks dahin. Die Musik war eine einzige Bejahung, ganz unironisch, so kam es ihnen sicher vor, und sie separierte sie von allen, sie schuf ein akustisches Chambre séparée. Die Gäste an den anderen Tischen verschwammen – bedeutungslose Schemen. Je te veux.

     Sie redeten einige Minuten miteinander. Man verstand nichts.

     Das Je te veux war noch nicht verklungen, da küssten sie sich schon. Es war ein kleiner Skandal.

     Worin bestand eigentlich der Skandal? Von Theo abgesehen, waren hier alle homosexuell und an den Anblick sich küssender Männer gewöhnt. Alle hatten hoffentlich selbst schon geküsst. Indessen war hier schon befremdlich, dass zwei Kerle, die ausstaffiert waren wie die Stars einer Wrestling-Show, auf Anhieb derart innig miteinander umgingen. Skandalös war jedoch erst der Grad an Selbstvergessenheit, der an den Tag kam. Nicht nur das gesamte Café für sie offenbar im Nichts verschwunden, vergessen auch die eigene virile Aufmachung, die kräftigen Arme, die Körper überhaupt. Man sah, sie bestanden füreinander nur noch aus zwei Mündern, die sich küssten. Sie umarmten sich nicht einmal, sie beugten bloß die Köpfe gegeneinander vor. Es waren gar nicht die Münder, die Berührung der Handflächen würde ebenso genügt haben. Sie teilten sich unendlich viel mit.

     Eine gewisse Unruhe machte sich im Café breit. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das war kein Küssen, wie man es kannte. Außerdem dauerte es viel zu lange. Theo sah ihnen schweigend zu, unbewegt, wie es schien. Stefan und Manfred besprachen den Fall.

     „Dieses Reklameküssen will nie aufhören“, sagte Stefan. „Man sieht gar keine Entwicklung.“

     „Ihre Seelen schauen einander jetzt an, wie kannst du da von Entwicklung reden.“

     „Die Vorlust hat ihre Zeit, das übrige seine auch.“

     „Sie haben es geschafft, ich hoffe es wenigstens. In diesem Zustand gibt es für sie weder Zukunft noch Vergangenheit mehr, nur noch immerwährende Gegenwart. Sie sind eins mit sich selbst.“

     „Fast. Und die kleine Differenz ist der Antrieb zur Vereinigung der Leiber. Wer dabei nur ein wenig stärker ist, wird den anderen überwältigen.“

     „Vielleicht wird keiner überwältigt. Sie lieben sich zu sehr. Übrigens gibt es andere Techniken.“

     Theo mischte sich ein: „Hört doch damit auf. Sie verstehen sich, und ihr streitet darüber. Was sie machen, ist ihre Sache.“

     Sie beugten sich dem Spruch des Unparteiischen und brachen die Diskussion ab. Am Nebentisch ging es weiter wie bisher. Manfred fühlte sich dennoch im Recht: Dieses zugleich vorsichtige und innige Küssen war mehr seelischer als körperlicher Natur. Es war eine moderne Allegorie oder ein lebendes Bild: die Kraft und die Zärtlichkeit. Es war ein schönes Bild und für ihn noch anziehender als jene andere Vorstellung: sich von einem sanften Mann quälen zu lassen.

     Jetzt kam ein alter Mann mit einem Bund roter Rosen herein. Er schlurfte auf Plattfüßen von Tisch zu Tisch und bot seine Rosen zum Verkauf an. Sein Anblick war Manfred vertraut. In den Bars setzte er nur selten etwas ab, dabei war er beliebt, ein stiller, freundlicher Alter, fast schon devot, doch dabei mit Gefühl für die eigene Würde.

     Das Gemurmel von Angebot und Ablehnung drang bis zu den zwei Entrückten. Heino löste sich zögernd von Hartmut. Dann hörte man ihn laut und verärgert sagen: „Muss dieser Penner hier auch aufkreuzen!“

     Darauf war niemand vorbereitet. Der Alte selbst fing sich am ehesten. Er ließ den Tisch, von dem aus Heino ihm unwillig entgegensah, nicht aus. Er hielt ihm seinen Strauß entgegen. Für eine Rose müssten sie nur ein paar Mark zahlen; verliebten jungen Leuten biete er sie gern an, das sei ihm ein Vergnügen. Die Mahnung gebe er ihm jetzt umsonst, und er tue es ungern: Sich die rasch fliehende Jugend nicht mit der üblen Laune alter Leute selbst zu vergiften. Die Kraft und die Schönheit der Jugend vertrügen sich nicht mit hässlichen Gedanken und Worten  …

     Hartmut unterbrach ihn kalt, doch mit Genuss: „Schleich di.“

     Der Rosenhändler ließ Kopf und Strauß hängen und zog verstört zum nächsten Tisch. Die kleine Szene hatte noch weitere Zeugen gehabt, die sich verstimmt abwandten. Mehrere Rosen wurden dann bloß aus Protest gekauft.

     Verstört war auch Stefan: „Das war dumm und brutal. Mir fällt weiter nichts dazu ein. Brutal und dumm.“

     Manfred versuchte, etwas tiefer zu schürfen: „Es scheint, dass sich bei ihnen jetzt jedes Gefühl in den oberen Hautschichten konzentriert hat. Auf diese Weise verschaffen sie sich ungeheure Sensationen. Außerhalb der erogenen Zonen wird nichts mehr wahrgenommen. Für andere Regungen, Rücksicht oder Mitleid, bleibt sozusagen keine emotionale Kapazität mehr frei.“

     Ungefragt gab auch Theo seine Ansicht zu Protokoll: „Vielleicht müssen sie jetzt so reagieren, auf die Umgebung, meine ich …“

     Sie stutzten: „Wieso, wer oder was zwingt sie?“

    „Sie halten es sonst vielleicht nicht aus.“

    „Was denn?“

    Theos Gesicht überzog sich mit Röte und Unwillen. Er stieß hervor: „Ihr Gefühl eben.“

    Womit er sie also entschuldigte, es war eine Art nervöser Theorie, nach der moralischen oder physiologischen seiner Begleiter schüchtern von ihm vorgebracht. Man hätte ihm das gar nicht zugetraut. Alle drei schwiegen nun. Manfred wurde sich bewusst, dass der Cousin sich hier im Café schon zum zweiten Mal eine abweichende Meinung gebildet hatte. Sympathisierte er jetzt nicht geradezu mit der Asozialität? Vielleicht hätte er, Manfred, ihn besser im Auge behalten sollen. Das fragwürdige Pärchen hatte ihn eine Weile abgelenkt. Er sah Theo genauer an. Mit dem Cousin ging etwas vor, ohne Zweifel. Er war sehr ernst, alle Muskeln im Gesicht waren angespannt, die Kiefergelenke arbeiteten. Qual lag auf seinen Zügen.

     Als Heino und Hartmut bald darauf zusammen weggingen, nahm Theo keine Rücksicht mehr auf sich selbst. Er gab sich keine Mühe, die Faszination zu verbergen, die die beiden auf ihn ausübten. Er drehte seinen Stuhl vom Tisch weg, um sich besser umwenden und ihnen nachblicken zu können, den Schutzgeistern seiner Initiation, bis sie auf der Straße verschwunden waren.

     Stefan ergriff die günstige Gelegenheit zum Proselytenmachen. Er sagte: „Du kannst sie heute Abend im Village wiedersehen. Heino wird es sich nicht nehmen lassen, seinen Fang dort zu präsentieren. Trotz der Blamage eben.“

     „Ich kann es mir ja ansehen“, sagte Theo mit künstlicher Ruhe. „Manfred kann mir den Weg zeigen.“

     Der Große Cousin widersprach nicht. Auch die letzte noch übrige Konsequenz musste gezogen werden.

 

Sie saßen beim Chinesen und taten beide zuerst so, als wäre es ein Abendessen wie sonst auch. Es war schon halb zehn, sie hatten noch eine verspätete Siesta gehalten. Theo sagte, um den Stellenmarkt in der Zeitung werde er sich morgen kümmern. Er sah ausgeruht aus, vielleicht hatte er sogar etwas geschlafen. Manfred nickte und sah auf den Druck an der Wand: Landschaft mit Fluss und Berg und Klause.

     Für das Motorrad brauche er eine Garage, auch daraufhin werde er die Zeitung durchsehen.

     In den Hinterhöfen finde er früher oder später schon etwas, versicherte Manfred.

     Sie beschäftigten sich mit dem Essen und schwiegen. Unter gewöhnlichen Umständen hätte es angenehm sein können, zusammen zu schweigen.

     Theo sagte: „Du hast mich zurückhalten wollen, nicht? Aber ich muss es jetzt herausfinden, ich muss.“

     „Ich weiß“, sagte Manfred. „Und die Cafés?“

     „Das ist nichts. Das war ziemlich öde. Dein Freund …“

     „Stefan?“

     „Ja, mit dem kann man reden. Der fällt auch aus dem Rahmen, wie du.“

     „Oh, danke.“

     „Na, ein hässlicher Vogel ist er natürlich. Glaubst du, er will was von mir?“

     „Er wird dich in Ruhe lassen, wenn du es willst. Er ist sehr höflich, macht keinen Ärger.“

     „Was er über den Tropfen Gift gesagt hat, geht mir nicht aus dem Kopf. Wenn man anfällig ist, für irgendetwas, genügt schon eine winzige Menge und man kippt um. Wenn es nur Alkohol wäre …“

     „Du musst das nicht auf dich beziehen. Nicht auf deine Situation. Ehrlich, ich glaube nicht, dass du so instabil bist. Es kann noch allerhand passieren, aber du bleibst der, der du vorher auch schon warst. Du gehst deinen Weg, das ist keine Schande.“

     „Das klingt gut, was du sagst. Aber warum hast du mich dann stoppen wollen?“

     „Weil es am Anfang noch nicht ernst war. Und weil dir dann einiges bevorsteht. Mir wär’s jetzt zu viel. Aber du bist ja noch jung.“

     Als Theo zum Duschen ging, sagte ihm sein Cousin, er solle nachher die Ledersachen anziehen. „Dann fällst du unter den anderen nicht auf und kannst in Ruhe beobachten. Und zu dir passt es ja auch.“

     „Ja, nicht?“ Er konnte sich noch naiv über sich selbst freuen. Nachher lachte er, als Manfred fertig angezogen im Zimmer stand: „Du auch, ich fasse es nicht. Jetzt bist du mir viel ähnlicher als sonst.“

     „Für Zwillinge wird man uns trotzdem nicht halten.“

     „Nein, für Zwillinge nicht. Aber endlich einmal für Cousins? Oder sogar für Brüder?“

     Brüder gab’s gar manche, Manfred unterdrückte es.

     Solange die U-Bahn stadteinwärts rollte, sprachen sie nicht miteinander. Sie saßen einander gegenüber und sahen im Wagen umher. Ab und zu streiften ihre Blicke auch das Gesicht oder den Körper des Verwandten. Theo hat sich eine finstere Maske zurechtgemacht. Sie verdeckt die Skrupel, die Unsicherheit, die Ungewissheiten. Er sieht sehr überzeugend aus. Wer sadomasochistisch empfindet, wird ihn unwiderstehlich finden. Sie wollen den Stiefel auch im Gesicht des anderen sehen. In diesem Sinn ist er zu attraktiv. Er kann fortgerissen werden zu Handlungen und Einstellungen, die bis jetzt für ihn noch unvorstellbar sind. Doch ist es zu spät, jetzt noch einen Damm errichten zu wollen. Manfred will ihm nichts mehr nahelegen. Er ist fast achtundzwanzig und hat – nicht nur körperlich – eine Statur, die jeden Versuch einer Gängelung lächerlich erscheinen lässt. Zwar hat es Manfred Olga gestern noch anders dargestellt, aber das war eben gestern und vielleicht schon damals nicht vollkommen aufrichtig. Er hat beruflich seinen Mann gestanden und zu Hause Frau und Kind. Und doch muss dieser Weg vorgezeichnet gewesen sein. Jetzt wird er ihn zu Ende gehen. Er ist ein Einzelner, allein unter hunderttausend. Er ist kein Beispiel für irgendeinen. Seine Geschichte beweist nichts. Zufällig sind sie Vettern. Er, Manfred, wird sich in der Nähe bereithalten.

     Sie gingen den Steindamm entlang. Es war halb eins, und die Gehwege waren voller Menschen, die im Grunde alle wissen wollten, wozu sie gezeugt waren. Ja, wer das wüsste.

     Um Theo aufzulockern, berichtete Manfred, außer dem Village gebe es noch das Bronx. Das Village sei zwar nicht größer, doch älter und besser besucht. Die Leder-Bars hätten fast immer englische Namen, in ihnen folge alles amerikanischen Mustern. Wenn die Lokale hier nach New Yorker Stadtteilen benannt seien, sei das mehr als nur symbolisch, man könne darin etwas wie umgekehrte Kolonisation sehen. Hamburg sei eine Kleinstadt im Staate New York, und das in doppeltem Sinn.

     Und dann hätten sie noch ein drittes Lokal dieser Art, aber es sei nicht viel mehr als ein Museum. „Und diese Museums-Bar lässt sich im Winter schlecht heizen. Sie besteht nur noch, um vorzuführen, wie es vor zwölf, vor fünfzehn Jahren einmal gewesen ist. Ihre Gäste sind selbst in die Jahre gekommen und haben vor allem eines im Sinn: den einmal eroberten Platz am Heizkörper zu verteidigen. Sie überlassen dir eher ihren Lover als ihren Platz an der Heizung.“

     Theo lachte nun doch. Im Glanz guter Laune ging er hinter Manfred die Treppe zum Village hinunter.

     Diese nur mäßig breite, doch auffallend hell erleuchtete Kellertreppe hatte sonst erwiesenermaßen eine sowohl verjüngende wie vermännlichende Wirkung. Aus der offen stehenden Tür unten quollen dem Ankömmling Discolärm und Nikotinschwaden in hoher Konzentration entgegen und aktivierten infolge wer weiß welcher hormoneller Ausschüttungen in seinem Hirn den Mythos einer Leder-Bar. Sofort strafften sich seine Züge, seine Glieder, er ging federnder und ging nun erst in der selbst gewählten Rolle auf. Während er die zwölf oder fünfzehn Stufen zu seiner Kellerbühne hinunterging, wurde so aus matt agil, aus schwächlich stark, ja, Fälle plötzlicher Heilung waren beobachtet worden. Depressionen verflüchtigten sich wie die Symptome körperlicher Leiden. Davon konnte man sich überzeugen, folgte man einem dieser Rekonvaleszenten: Oben hinkte er noch, um am Fuß der Treppe flott aufzutreten.

     Sie mussten zwei oder drei Minuten auf der Treppe anstehen. Philipp saß wieder auf seinem Stuhl neben der Tür, kassierte fünf Mark von jedem und verpasste ihm dafür den Stempelabdruck mit dem blauen V auf den Handrücken. Als Manfred an der Reihe war, schob Philipp ihm wie üblich das Geld zurück und gab ihm den Stempel gratis. Es war Manfred immer noch peinlich, auf diese Weise bevorzugt zu werden. Wie die Götter hatten auch die Mächtigen der Unterwelt ihre Lieblinge, und er war zu seinem Verdruss einer von ihnen. Es sei auch für ihn, sagte Manfred und wies mit einer Kopfbewegung auf Theo. Erneutes Hin- und Herschieben des Zehn-Mark-Scheines. Philipp stempelte auch den Cousin ab und sah ihm dann auf die Hose und erst am Schluss ins Gesicht. Im Weitergehen nahm Manfred aus einem Augenwinkel noch wahr, wie der Türhüter stutzte und Mund und Augen aufriss. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte Manfred ausgefragt. Zum Glück ließ der starke Andrang das jetzt nicht zu.

 

Theo folgte dem Cousin. Sie betraten einen langen, schmalen Raum, er war gut beleuchtet und voller Menschen. Es waren nur Männer da, keine einzige Frau darunter, und die Wände waren schwarz getüncht. Die Männer in Leder- oder Jeanskleidung standen herum oder gingen auf und ab; im letzteren Fall verschwanden sie meist in einem Durchgang zu weiteren Räumen oder kamen von dort zurück. An der Längswand befand sich eine Bar. Zwei Barkeeper bedienten die Gäste, die sich ihre Getränke selbst vom Tresen holten. Einige saßen dort auch auf Barhockern.

     Manfred fragte ihn, ob er auch ein Bier wolle. Da Theo nickte, trat er zwischen zwei Männer, die an der Bar saßen und tranken. Er kam nicht gleich an die Reihe, es war jetzt viel zu tun.

     Theo fand kaum Platz, um hinter dem Cousin auf diesen und das Bier zu warten. Die Reihe der Männer am Tresen vor ihm und die andere hinter ihm entlang der Parallelwand ließ nur einen schmalen Zwischenraum frei, in dem ständig Einzelne zirkulierten. Er wurde immer wieder gestreift und versuchte vergeblich, sich dünn zu machen. Niemand entschuldigte sich. Es war ein Gedränge, so dicht wie auf einer Kirmes.

     Noch bekam er keinen von vorn zu sehen, nur die zwei Barkeeper. Der eine war klein, schwarzhaarig und flink im Bedienen, der andere größer, blond und meist im Gespräch mit einzelnen Gästen. Der Kleine sagte ihm mehr zu. Die Männer vor ihm hatten breitere oder schmalere Schultern. Die meisten Köpfe waren kurz geschoren, zwei Glatzen und einige Grauköpfe waren auch darunter. Die Barkeeper hatten die Kisten mit den Flaschen hinter sich auf dem Boden. Fast jeder hier trank aus der Flasche. Über den Kisten hingen Drucke von großformatigen Zeichnungen junger Männer in Lederuniform, einzeln oder paarweise, in eindeutigen Posen. Unnatürlich große Geschlechtsteile zeichneten sich durch den Hosenstoff ab. Ihre Gesichter erinnerten Theo an etwas. Einmal hatten sie in einer Kantine Glaswände eingebaut, dort hingen Reklametafeln vergangener Zeiten, Emailschilder mit Kindergesichtern, pausbäckig, nichtssagend und vielversprechend. Man sollte ihnen den guten Malzkaffee geben, dann würden sie prächtig gedeihen.

     Der Ledermann links von ihm auf dem Hocker roch stark nach etwas Scharfem, Unbekanntem. Theo sog den Geruch, der eher ein Gestank war, stärker mit der Nase ein und fühlte sogleich, wie sein Blut zu brausen und zu wallen begann. War eine Droge im Spiel? Indessen kam jetzt Manfred mit dem Bier. Später erfuhr er, es sei Amylnitrit gewesen, Poppers genannt.

     Sein Cousin dirigierte ihn vor sich her in Richtung auf den Nachbarraum. Doch bevor sie ihn erreichten, hielt er ihn plötzlich am Oberarm fest: Die Treppe sei frei geworden. Es waren nur drei oder vier Stufen vor einer dunklen, verschlossenen Tür. Manfred ging sie hinauf und stand dann auf der obersten, eine tiefer stellte sich Theo auf. Hier tranken sie ihr Bier, nachdem sie mit den Flaschen angestoßen hatten. Leicht erhöht konnten sie gut beobachten und wurden auch selbst von vielen beäugt. In der Nähe hing ein Lautsprecher. Die Musik war ansprechend und hier so laut, dass ein Gespräch zwischen ihnen jetzt kaum möglich gewesen wäre.

     Zuerst war es für ihn nur ein Haufen glänzend schwarz gekleideter Männer, die sich durch die Räume der Bar treiben ließen oder sich paarweise oder in kleinen Gruppen unterhielten. Es war kein alltägliches Bild, es hatte etwas festlich Arrangiertes, wie eine Hochzeit in Schwarz, eine Hochzeit ohne Frauen und ohne Blumen. Allmählich nahm er die unterschiedlichsten Typen wahr, die hier vertreten waren: Harte, Kernige und Zarte, Sensible; Hagere, Asketische und Weichliche, Üppige. Die Uniformierung ließ erst bei näherem Hinsehen die individuellen Merkmale scharf hervortreten. Dann gab es noch zahlreiche Mischformen, diese machten eigentlich die Mehrheit aus. Dem Alter nach waren die meisten zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Vierzig.

     Viele trugen farbige Tücher um den Hals, oder sie ließen sie ein Stück aus einer Gesäßtasche lugen: blau, rot oder gelb. Das hatte sicher eine Bedeutung. Er musste es sich einmal von Manfred erklären lassen.

     Er begriff, dass viele hier auf der Jagd waren. Er hatte es Manfreds Nähe zu verdanken, dass er zwar oft gemustert wurde, doch niemand ihm zu nahe kam. Im Ganzen waren sie ihm gleichgültig, das sah er schon. Er war keiner von ihnen.

     Jetzt kam ein jüngerer Brünetter herein, der einen Motorradhelm in der Hand trug. Er gab ihn einem der Barkeeper und bekam ein Mineralwasser. Dann durchquerte er zügig den Raum, wobei er aufmerksame Blicke in jeden Winkel warf. Das hatte etwas von einem schnürenden Fuchs. Er schien die Gesichter zu sortieren, das von Theo blieb im Sieb hängen. Er verlangsamte seine Schritte und sah ihn im Weitergehen prüfend an. Doch blieb er nicht stehen. Theo sah ihn im Nachbarraum weiter Haken schlagen und Fährten verfolgen und dann um eine Ecke verschwinden. Er war eigentlich ein recht hübscher Fuchs oder vielleicht auch ein Hase.

     Manfred war plötzlich an seinem Ohr: „Er prüft noch, ob er deinen Fall übernehmen soll. Ich schätze, er wird es nicht tun. Er wird das Mandat ablehnen.“

     „Was für ein Fall, wieso bin ich ein Fall?“

     „Wie jeder potentiell hier für ihn. Er ist Rechtsanwalt. Aber im Ernst: Für seinen Geschmack bist du ein zu massiver Brocken.“

     „So? Zärtliche Gefühle erregt er in mir auch nicht gerade.“

     Ein kleiner Tumult entstand weiter vorn. Sieben oder acht Männer verschiedenen Alters kamen kurz hintereinander herein und blieben als auffällige Gruppe beisammen. Nur einer löste sich aus ihrem Block, kam mühsam, mit langen Armen rudernd bis zu ihnen: Stefan.

     Es seien Dänen, sagte er, alle gerade aus Kopenhagen eingetroffen, ein wahrer Kindergarten. Sie holten sich ihr Bier am Tresen und schütteten es schnell in sich hinein. Dann drangen sie gemeinsam, wie an einem unsichtbaren Leitseil, ins Innere der Bar vor.

     Ob man Heino und seinen Bräutigam schon entdeckt habe? Nein, sie hätten sich also noch nicht umgesehen? Dann werde er es für sie tun. Offenbar war er froh, einen Grund gefunden zu haben, um weitergehen zu können. Theo fand ihn gegenüber dem Nachmittag deutlich verändert. Stefan sah ihn kaum noch an und wandte sich im Gespräch nur an Manfred. Vielleicht ertrug er es nicht, so vor dem Durchgang zu stehen und sich fortlaufend beiseite schieben zu lassen.

     Theos erste intensivere Regung in dieser Nacht war Abscheu. Dicht vor ihm stand jetzt einer und blickte ihn mit kalkweißem Gesicht von unten herauf an, bittend, fordernd. Er war schon aufdringlich nahe herangekommen. Seine Schulterklappen berührten wiederholt Theos Ellenbogen, wenn er sich tänzelnd einige Schritte hin- und herbewegte. Dabei fixierte er ihn unaufhörlich. Theo fand den Ausweg, ebenso starr über ihn hinwegzusehen. Der andere bezog dann Posten im Durchgang und peilte ihn weiter an.

     Manfred lächelte säuerlich. „Er wird dir noch oft lästig fallen. Es kann Monate, wenn nicht Jahre dauern. Er ist hartnäckig, der kleine Präsident, ein Politiker eben …“

     „Ein richtiger Politiker und traut sich hierher?“

     „Ich weiß nicht, was er wirklich macht. Ich glaube, er ist Kaufmann. Vielleicht verkauft er Klobürsten und denkt, Männer wären etwas Ähnliches.“ Theo hatte ihn noch nie so reden hören. Der Große Cousin konnte also auch ordinär sein, wenn er es wollte.

     „ … Präsident von einem Leder-Club, den er selbst gegründet hat. Er sieht schon ein künftiges Mitglied in dir, und er selbst ist die Mutprobe vor der Aufnahme. Nur über seine Weichteile führt der Weg.“

     Theo sagte, er finde ihn ekelhaft und weibisch.

     Das sei die normale Reaktion des Anfängers, entgegnete Manfred, des Anfängers, der sich gründlich irre. Gerade im Bett dominiere der kleine Präsident, da sei er ein Autokrat. Theo verstand nur ungefähr, was damit gemeint war.

     Die Dänen kamen schnatternd zurück. Sie hatten drinnen ein oder zwei Mann verloren.

     Theo fragte, wo man hier pissen könne, und war froh, als Manfred mitkam. Sie durchquerten den mittleren Raum, in den er so lange hineingesehen hatte. Sein Grundriss war annähernd quadratisch. Die Hälfte des Raumes nahm ein immenser kreisrunder Tisch mit vielfach gekerbter Holzplatte ein. Später sah er, es war eine alte Kabeltrommel. Am Tisch lehnte etwa ein Dutzend Männer, zweimal so viele verteilten sich stehend in den vier Ecken des Raumes. Es gab außer dem Durchgang, den sie eben passiert hatten, noch zwei weitere in Seitenräume, in deren Tiefen das schon gedämpfte Licht des mittleren sich verlor; sie selbst schienen unbeleuchtet. Unaufhörlich fluteten Gäste vom vorderen durch den Zentralraum in diese geräumigen Seitenkammern hinein und wieder zurück. Oder sie schlenderten durch eine offenstehende Tür ins Sanitäre hinüber. Dort ging es durch einen kleinen Vorraum, an dessen Längswänden wieder Männer beobachtend aufgereiht standen, zum Pissoir und von ihm rechts um die Ecke zu den Kabinen. Und auch hier überall dicht gedrängt Männer in immer derselben Aufmachung, die Flasche in der Hand oder die Zigarette oder beides. Intensiv musterten sie jeden, der ihnen entgegenkam, sie begrüßten laufend alte Freunde und palaverten mit ihnen, oder sie umarmten neue und vertrieben sich die Wartezeit mit Zärtlichkeiten oder Wildheiten, bis wieder eine Kabine frei war. Es war ein Treiben wie auf einem Markt, es war hier ihr Fleischmarkt. Er hatte nicht gedacht, dass es so viele von ihnen gäbe.

     Die Pissbecken waren um eine voluminöse Säule angeordnet. Sie beide fanden jetzt zum Glück zwei freie nebeneinander. Links von Theo drückte ein schlanker junger Ledermann, in dem er einen der Dänen wiedererkannte, sein Gesäß gegen den Knopf der Wasserspülung und ließ es unaufhörlich unter sich gurgeln und rauschen. Dazu trank er in hastigen Zügen seine Bierflasche leer und starrte Theo von der Seite an. Theo begriff nicht, was dieses Wasserspiel bezweckte, und musterte ihn fragend. Der andere verschlang ihn mit Blicken und wartete. Doch Theo hatte hier schon genug gesehen und folgte Manfred hinaus – wenn hinaus noch etwas bedeutete, denn man war hier ja überall mitten unter ihnen. Sie waren kurios. Er murmelte: Verrückt, verrückt, und verstand seinen Cousin, der ihre erhöhten Plätze auf der kleinen Treppe zurückhaben wollte. Doch sie waren schon wieder besetzt.

     Manfred sagte: „Gehen wir halt zum Speisetisch“, womit er die Kabeltrommel meinte. Auf der Platte standen schon Hunderte von geleerten Flaschen. Abgeräumt werde erst nach Lokalschluss, erklärte Manfred. Der Zeitpunkt sei ungewiss, es gebe keine Sperrstunde.

     „Wo ist Stefan?“

     „Im Dunkelraum.“

     „Was macht er dort?“ Die Frage kam ihm gleich dumm vor.

     „Starrt ins Dunkle. Wartet. Ist beschäftigt. Du hast ja gesehen, was auf der Toilette los ist. Das genügt für den Anfang, für die erste Lektion.“

     Es verdross Theo, dass Manfred ihn hier schon als Stammgast sah. Er sagte: „Fraglich, ob ich noch einmal hierherkomme. Meine Welt ist das nicht.“

     „Dann können wir ja gehen. Nach Hause fahren. Oder?“

     „Es hat keine Eile. Als Bierkneipe ist es nicht schlecht. Ich könnte noch etwas vertragen.“ Er war zu träge oder noch zu befangen hier, um den Cousin jetzt selbst einzuladen, und ließ es zu, dass Manfred zum Tresen ging, um neues Bier zu holen.

     Kaum war er allein, bezog der kleine Präsident auf der anderen Seite des Tisches Posten und fing erneut an, ihn unablässig zu fixieren. Sollte er nun behext werden? Theo wandte sich brüsk um und lehnte die eigene Rundung gegen die der Tischkante, wobei er das Gewicht des Oberkörpers auf die seitlich aufgestützten Unterarme verlagerte und den entlasteten Unterleib ein wenig vorschob. Das war jetzt sehr angenehm.

     Und dann nahm er ihn auch schon wahr, ihn, der nur einen Meter entfernt von ihm stand, ohne sich anzulehnen. Er stand da auf zwei freitragenden Beinen und hatte vielleicht schon seit einiger Zeit darauf gewartet, dass Theo sich umdrehen würde. Als Theo ihn ansah, ging ein kleiner Ruck durch den anderen, und er sah auf Anhieb froh und erwartungsvoll aus.

     Hübsch, dachte Theo sofort, aber der da ist ja wirklich hübsch.

     Der andere fiel dadurch stark auf, dass er nur Leder und nackte weiße Haut trug. Die Hose steckte in hohen Schaftstiefeln, und der Oberkörper war so gut wie nackt. Nur zog sich vom Bund der Hose mit dem breiten schwarzen Gürtel ein noch breiterer Lederriemen schräg aufwärts wie eine Banderole, ließ den Bauchnabel und eine Brustwarze frei und verlief über die eine Schulter, die alles trug.

     Er war noch sehr jung, vielleicht dreiundzwanzig, und sah abwechselnd Theo ins Gesicht und sich selbst auf die Hose oder die Stiefel. Dabei wirkte er auf unverschämte Weise entspannt. Er genoss sich selbst und die eigene Situation sichtlich, und zugleich schien er unsicher und sich selbst fragwürdig. Die Unsicherheit steigerte noch den Genuss. Er dachte vielleicht: Ich gefalle ihm hoffentlich, so wie ich bin – und wenn nicht: wennschon! Alles an ihm drückte dieses Wennschon aus, die gelockten, kurzen braunen Haare, die regelmäßigen, noch ziemlich weichen jungmännlichen Züge, der ein wenig buschige Schnurrbart über den vollen Lippen; auch die Art, wie er herübersah: verlockend genießerisch und über wer weiß was entrüstet; die stattlichen, doch ein wenig hängenden Schultern, der mehr fleischig als muskulös bepackte, ansehnliche Brustkorb mit der fast weißen Haut, die schmalen Hüften mit der deutlichen Ansammlung von weichem Fett dazwischen – doch war es der ein wenig unregelmäßige Bauch eines jungen Mannes, nicht der einer Frau -, die düster umspannten, massiven Schenkel in ihrer locker-spielerischen Haltung, jedes war Stand- und Spielbein zugleich. Und der Schulterriemen hielt all das zusammen, an ihm lag es, an ihm hing es, auch für Theo jetzt.

     Er, Theo, hätte es im Einzelnen so nicht beschreiben und benennen können – Spitzfindigkeiten waren nun einmal seine Sache nicht -, dafür erlag er sofort dem Reiz eines weichen jungen Mannes, der sich einem Mann anbot und dabei doch ein Mann blieb. Eben mit dem Schulterriemen hing das für Theo zusammen, der den anderen umfasste, der ein wenig in das weiche Fleisch schnitt, der wie ein fremder, schwerer Arm auf ihm lastete – umarmen müsste man ihn jetzt gleich -, der ihn nieder bog und gegen den er sich stemmte. Man müsste da etwas zu Ende bringen, empfand Theo, bis an ein Ende gehen. Er spürte, wie erregt er schon war.

     Manfred stand schweigend schon seit einiger Zeit wieder neben ihm. Ohne miteinander zu reden, tranken sie ihr Bier und sahen hinüber.

     „Geh jetzt zu ihm“, hörte er Manfred leise sagen. „Er wartet auf dich.“

     Er erinnerte sich später nur ungenau. Er war empfangen worden. Ein nackter Arm legte sich um seinen Hals und zog und drückte seinen Kopf gegen den Hals des noch fremden jungen Tieres. Das unbekannte Fleisch atmete, pulsierte. Die Wärme ihrer Körper vermischte sich, wurde zu einer Glocke, unter sie gemeinsam lagerten, aneinander hingen. Er wurde geküsst. Er ließ es geschehen, es war nichts Fremdes dabei, nichts, was die Gewebe voneinander abstieß.

     Der andere begann, mit ihm zu ringen. Es überraschte ihn. Natürlich war er selbst kräftiger und überwand ihn. Er hielt ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn. Der andere keuchte und lachte ihn mit den Augen an. Nun stand Theo einem, der vorbeigehen wollte, im Weg und sank, um auszuweichen, zurück auf den Kleinen, der nur einen halben Kopf kürzer war. Es war wie eine Rückkehr ins schon angenehm Vertraute, es war deutlich zu spüren. Er wiederholte den Vorgang bewusst: sich lösen, um zurückzukehren, sich lösen, um sich wiederzufinden … Die erneute Berührung der rasch vertrauter werdenden Haut war von Mal zu Mal lustvoller. Und das zwischenzeitliche Sichlösen war auch Lust, eine Lust eigener Art: Darin war auch eine Spur Schmerz. Seine Haut war glatter und reiner als die eigene. Theo schob seine Hand unter das Bandelier und spürte den Herzschlag.

     Der andere fragte – mit einem noch unbekannten Akzent, es klang ein wenig knapp und hart -, wie er heiße. Als nächstes sagte er:

     „Theo? Das ist auch ein Name in Holland. Ich heiße Mark, wie dein Geld.“ Er war aus Amsterdam und zum ersten Mal in Hamburg.

     Sie sprachen in der Bar noch nicht viel miteinander. Theo vermutete, dass sie beobachtet wurden. Er vermied es, sich zu vergewissern. Sie konnten rundherum nichts dabei finden, vielleicht wurden sie sogar beneidet. Auch den Cousin wollte er jetzt nicht ansehen.

     Später stand er neben Mark, beide an die Wand gelehnt, und hatte den Arm um seine Schultern gelegt, wie einen Querbalken. Und was nun? Er sah Manfred drüben, halb abgewandt von ihnen, am Tisch stehen und mit einem stämmigen blonden Enddreißiger reden. In diesem Augenblick gingen die Zwei von heute Nachmittag an ihnen vorbei. Heino hieß der eine, der Name des anderen war ihm in der Zwischenzeit entfallen. Sie kamen von irgendwoher und gingen zurück an die Bar vorne.

     „Dein Freund hat auch jemand gefunden“ sagte Mark und stieß ihn hart mit dem Knie an. Theo sah, wie Manfred und der Blonde sich küssten.

     „Es ist mein Cousin.“

     Kurz darauf kam Manfred zu ihnen herüber und lud sie ein, mit ihm und dem Blonden heimzufahren. Er sei aus Berlin und mit dem Auto da. Sie brachen schnell auf. Mark holte noch seine Jacke aus dem eigenen Wagen, und dann saßen er und Theo hinter dem Berliner, dem Manfred vom Beifahrersitz aus den Weg nach Eimsbüttel wies.

     Theo konnte sich später nur schwer an Einzelheiten der Fahrt erinnern. Sicher, sie küssten und streichelten sich weiter. Sogar auf dem Rücksitz versuchte Mark, mit ihm zu ringen. Theo fühlte sich merkwürdig benommen, als hätte er zu viel getrunken, was doch nicht der Fall war. Als wäre er neben sich selbst getreten, er selbst und dann noch ein anderer.

     In Manfreds Wohnung trennte man sich sogleich paarweise, wortlos fast, wie Verschwörer, die rasch ans Werk gehen wollen.

     Er war nun in seinem Zimmer allein mit Mark. Diese Tatsache drang durch und hellte sein dämmerndes Bewusstsein mit einemmal auf. Selten war es so geschärft gewesen wie jetzt. Auch das Zimmer weitete sich enorm. Er hatte sich zu zweit nie so allein gefühlt. Sie waren gemeinsam allein.

     Mark war auch ernst, gar nicht mehr mutwillig. Er sah zu ihm auf wie in einen hohen Himmel hinein. War da nicht etwas Unterwürfiges an ihm? Mehr als das: Er hatte sich ihm ausgeliefert. Theo berührte ihn spontan, wie er eine Frau berührt haben würde. Er umfing ihn zärtlich, streichelte seine Schultern. Das Bandelier war ein Fremdkörper unter seinen Händen, mit der einen glitt er tiefer hinab. Da war ein kleines Stück Stoff über dem Leder der Hose.

     Mark sagte: „Hast du vorhin mein Tuch gesehen? Vielleicht hast du es nicht gesehen.“  Er löste sich und drehte sich um und ließ den Kopf tief hängen, so dass der weiße Nacken einen langen Bogen beschrieb. Das Tuch in der rechten Gesäßtasche war schwarz.

     Theo erwiderte: „Nein, ich habe es nicht gesehen. Es ist ja schwarz, wie die Hose.“ Er küsste den weißen Nacken.

     Mark hob den Kopf und ließ ihn ein wenig kreisen. Er wollte nicht nur Theos Lippen und seine Zunge im Nacken spüren, sondern auch Theos Zähne. Das begriff Theo.

     „Es macht gar nichts“, sagte Mark. „Ich bin ja flexibel. Du gefällst mir sehr.“

     Theo nahm die Kugeln von Marks Schultergelenken in seine großen Hände und presste sich von hinten an ihn. Er dachte: Ich will ihn jetzt, unbedingt – und hörte Mark nüchtern fragen:

     „Hast du ein Kondom dabei?“

     „Nein. Weißt du, ich bin gerade erst umgezogen. Die Dinger liegen noch daheim.“

     „Und meine liegen im Auto. Das ist dumm.“

     Mark fragte nicht, ob sie ein Kondom von Manfred haben könnten. Theo schloss daraus, Mark wolle vielleicht gar nicht gefickt werden. Er war unschlüssig, was er nun tun oder vorschlagen solle. Vielleicht sollte er ihm erst einmal die Montur ausziehen. Ihre Jacken waren schon zu Boden geflogen, als sie kaum im Zimmer waren. Er begann, Mark die Hose aufzuknöpfen. Aber das Bandelier? Um Zeit zu gewinnen, lockerte er die eigene Gürtelschnalle. Mark würde vielleicht etwas arrangieren, er war sicher erfahrener.

     Doch Mark legte die eine seiner Hände auf die Hand, die ihn weiter entkleiden wollte, und öffnete ihnen mit der anderen nacheinander die beiden Reißverschlüsse. Er sagte dabei mit ziemlich rauer Stimme: „Bleib so. Ich gefalle dir ja auch so.“

     Sie waren beide schon stark erregt. Sie spielten miteinander, wie Schüler es tun. Die Befriedigung war dieselbe, sie war, wie gewöhnlich, vollkommen.

     Nachher ruhten sie nebeneinander auf dem Bett, den Kopf auf der Schulter oder der Brust des anderen.

     Theo fühlte sich mehrfach erleichtert. Es war eigentlich nichts Großes geschehen, abgesehen davon, dass man sich jetzt sehr wohl fühlte. So etwas war ihm auch früher schon passiert. Er dachte: Es ist nicht weiter schlimm. Ich habe ihn nicht wie eine Frau behandelt. Er ist ein netter Kerl, und ich bin ein ziemlich normaler Mann.

     Er schlief noch vor Mark ein.

 

Als er einige Stunden später erwachte, war es schon lange hell. Die Glocken der Apostelkirche riefen mit dumpfem Geläut zum Gottesdienst, davon war er erwacht. Beide lagen sie noch immer halb nackt auf dem Bett. Eigentlich sollte man nicht mit den Stiefeln ins Bett gehen. Er wird das in Ordnung bringen müssen …

     Er merkte, Mark lag nur noch im Halbschlaf da. Er hatte sich auf die ihm zugewandte Seite gerollt. Sein Bandelier war verrutscht. Sie hatten keine Decke über sich, doch Mark fror offenbar nicht. Die Wärme, die von Theos Körper ausstrahlte, genügte ihm jetzt. Er war ein hübscher Junge und ging mit Kerlen ins Bett – pfui Teufel! Und die Scham darüber erregt ihn noch, fuhr Theo in seinen Überlegungen fort, und mich erregt es, dass es ihn erregt. Er sah jetzt viel klarer als in der Nacht. Das Geläut wurde heftiger, beinahe ein Grollen.

     Um ihn auf die Probe zu stellen, legte er ihm eine Hand um die Kehle und drückte ein wenig zu, sanft. Mark fing gleich an zu stöhnen, und so wiederholten sie ihr knabenhaftes Spiel. Die Glocken hörten ziemlich abrupt auf.

     Nach einigem Ausatmen und Schweigen sagte Mark: „Du bist anders als die anderen. Du bist viel gefühlvoller. Du genießt es mehr.“

     Theo hätte sich gern ein, zwei Stunden mit ihm im Bett unterhalten. Er wollte ihm gerade von Ingrid erzählen, als es zum Glück an der Zimmertür klopfte. Manfred rief, das Frühstück sei fertig, komplett fertig. Tatsächlich hatten sie hier drinnen die eindeutigen Geräusche aus der übrigen Wohnung schon seit längerem mit Absicht überhört.

     Sie mussten aufstehen und stolperten verklebt und verschwitzt zum Frühstückstisch, wo tatsächlich alles bereitstand. Der Kaffee roch sicher besser als sie selbst, und die beiden anderen sahen frisch gebadet und jedenfalls auch ziemlich zufrieden aus.

     War das nun das Glück? Alle fühlten übereinstimmend, dass Erfreuliches mit ihnen geschehen war, und so gaben sie sich jetzt auch. Sie fühlten sich gesund, stark und noch ein wenig müde. Vier befriedigte Männer also, still in ihrem Nachgenuss und jetzt einmal ganz unaggressiv, und einer davon war sein Cousin.

     Manfred spaßte schon wieder: Sie säßen hier zusammen wie in einem Hotel für Flitterwöchner.

     Theo versuchte vergeblich herauszufinden, inwiefern er selbst und dieser Blonde aus Berlin demselben Typ entsprächen, wie Manfred es vorgestern vorausgesagt hatte.

     Die Unterhaltung ging allmählich mehr auf Kosten anderer. Der Berliner erzählte von einem Freund, der Schriftsteller war und ein Buch über einen anderen Schriftsteller geschrieben hatte; er war schon lange tot, und Theo konnte sich seinen Namen nicht merken. Sein Buch sei ein Erfolg, die großen Zeitungen hätten es gelobt. Doch müsse man gesehen haben, mit welchen Kreaturen er sich privat umgebe. Offenbar nahm der Blonde sich selbst davon aus. Es seien immer die gleichen asiatischen Knaben, fuhr er nämlich fort, träge, stupide, ungebildet; willige Spielzeuge nur, die bei Komplikationen schnell ausgetauscht würden.

     Die Stimmung begann schon etwas zu sinken. Der Berliner nahm Mark dann in seinem Auto mit nach St. Georg. Vorher tauschten beide Paare untereinander ihre Adressen aus. Man lud sich auch gegenseitig ein. War das ernst gemeint?

     Theo ging duschen. Nachher sagte er, er brauche frische Luft. Er fuhr mit dem Motorrad elbabwärts, er fuhr den ganzen Nachmittag über die Deiche und dachte an so gut wie nichts. Manfred hatte nicht mitkommen wollen, er müsse Schlaf nachholen. Als Theo nach Hause kam, brachen sie bald zum Essen auf. Theo nahm die Zeitung mit, um endlich den Stellenmarkt zu studieren, während sie auf das Essen warteten.

15. Blau

Einige Wochen danach lag Manfred im Bett und haderte mit Max, der nicht einmal anwesend war; nur ein Brief von ihm war heute eingetroffen und hatte ihm den Nachmittagsschlaf verdorben. Es war jetzt Abenddämmerung. Die Vorhänge waren aufgezogen, der Blick ging hinaus in den verschatteten Garten. Wäre sein Blick nicht wie meistens vorwiegend nach innen gerichtet gewesen, dann würde er staunend wahrgenommen haben, wie gerade ein letzter Widerschein der Sonne in den Fenstern des ersten Stockwerks auf die weißen Blütenkerzen der Rosskastanie fiel und sie in dem sich entwickelnden Blattdickicht des alten Riesenbaumes aufleuchten ließ. Auch die Blütenstände waren noch nicht vollkommen ausgebildet. Der Frühling strebte nur langsam seinem Höhe- und Wendepunkt zu. Immerhin ist heute endlich wieder einmal ein sonniger und warmer Tag gewesen. Die Nacht wird lau werden. Wenn Theo nachher aus Schwerin zurückkommt, wird er mit ihm nach St. Georg fahren.

     Es war gar kein regulärer Brief, es waren nur einige Zeilen von Max, mit denen er ihm einen Zeitungsausschnitt übersandte. Maxens Konterfei war eingerückt, er lächelte klug und faltenlos. Eine gewisse Ähnlichkeit war noch vorhanden. Schönheit war nun einmal eine Frage von Beleuchtung oder in diesem Fall von Belichtung. Max hatte zu keiner Zeit seines vielleicht bald zu Ende gehenden Lebens wie auf diesem Foto ausgesehen. Als er noch jünger gewesen war – so jung, wie das Bild ihn erscheinen ließ -, hatte es ihm durchaus an jenem Selbstbewusstsein gefehlt, von dem er nach diesem Bild und in seiner Jetztzeit tatsächlich einen beträchtlichen Überschuss besaß. Dafür schien er eine zweckmäßige Verwendung zu suchen und schrieb also neuerdings Artikel. Auch deren Stil war, wie sein Antlitz auf dem Foto, geglättet, die Sprache flüssiger und die Argumente beim ersten Durchlesen noch scheinbar stichhaltiger, als Manfred es von ihm gewohnt war. Hatte ein Redakteur retuschierend eingegriffen?

     Wenn er einmal tot ist, dachte Manfred, wird dieser Ausschnitt ein Dokument sein. So hat er ausgesehen, zu seiner Zeit, so hat er gedacht, geschrieben, für ein Projekt gekämpft.

     Ein Projekt - das war in jenen Jahren das kommende Wort. Es gibt kommende Wörter wie es kommende Männer und Frauen gibt. Eine der Theaterfiguren Heinrich Manns sagt einmal: „Wir haben nichts, was eine Sache ist, aber wir haben Sachlichkeit.“ Leute wie Max hatten ein Projekt. Nur einige Jahre später wurde einer aus seinem Polit-Milieu sogar Minister. Sein langjähriges Projekt war allein gewesen – eben Minister zu werden. Es kam dann auch, mangels anderer Projekte, bald zu einem Krieg, der alle sehr verblüffte. Der Minister gebrauchte das geliebte Wort Projekt weiterhin derart häufig, dass kluge und faltenlose Leute wie Max es dann nicht mehr benutzen wollten: Es war bereits ein Wort von gestern. Indessen kopierte man nun die zweite Spezialität des Ministers, und die war sein schwer nachzuahmender, staatsmännisch besorgter Faltenwurf des Gesichts. Die Lage war in der Tat noch nie so ernst.

     Man hätte gewarnt sein können. Den allzu Sensiblen stand das Schicksal eines anderen abgehalfterten Wortes vor Augen: ganzheitlich. Das war in den Zeiten der kritischen Analyse das himmlische Manna gewesen. In Kritik und Analyse war die ganze Manna versprechende Richtung, die einem so gut passte wie ein bequemer Turnschuh, ja stark gewesen. Die Macht über die verrotteten Zustände fiel ihr wie einem Alleinerben nach Ableben des Vorläufers zu. Angesichts der wahren Lage erhielt das arme Wort ganzheitlich dann sofort Landesverweis und war landesweit durch Projekte zu ersetzen, deren Scheitern in der Praxis nun in erneutem dialektischem Umschwung zu nochmaligem Ausweichen in die Breite führte: Agenda war nun das kommende Wort. Die Herren über die Projekte entschuldigten sich ganzheitlich mit der Vielzahl unlösbar erscheinender Aufgaben  - sie aufzulisten, war immerhin auch schon mutig: in der Tat.

     Um wieder in die Gegenwart von damals zurückzukehren, so war das Lieblingsanliegen seines Wetterauer Menschen- und Männerfreundes seit einiger Zeit die staatliche Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften. Es sollte nicht die Ehe für Homosexuelle sein, von dieser radikaleren Forderung grenzte Max sich im Artikel ab und verschaffte sich so nebenbei noch den Nimbus eines gemäßigten, vernünftigen Mannes. Früher war es radikal gewesen, dachte Manfred, die Abschaffung der Ehe zu fordern. Was der Klimawandel nicht alles bewirkt … Max schwebte eine minder schwere Form von Ehegefängnis vor. Es sollte nicht Ehe heißen, dennoch ließ sich ein solches Paar behördlich registrieren und übernahm und empfing damit die Mehrzahl der Pflichten und Rechten von Eheleuten.

     Manfred fand es bezeichnend, dass diese Idee nur propagiert werden konnte, indem man den Interessenten gleich Extremsituationen vor Augen führte: Abschiebung eines Partners ins fremde Heimatland, die Vorhölle der Intensivstation, sterben, allein zurückbleiben. Ihr problematischer Alltag sah ganz anders aus, und es war gerade das alltägliche Leben, das man teilen wollte. Ein Freund war keine Risikolebensversicherung. Der emanzipatorische Kampf um Gleichberechtigung befand sich hier offenbar ein wenig in der Nachfolge der allein seligmachenden Kirche: Ihr lebt nicht im Stande der Gnade, ihr lebt in der Sünde, legalisiert euer Verhältnis. Anderenfalls drohte irgendein Fegefeuer.

     Max war, wenn man ihn näher kannte, wirklich der ideale Fürsprecher einer solchen Moral. Man fragte sich, wem er irgendetwas zu vererben hatte und wer ihm unbedingt noch im Todeskampf  beistehen wollte.

    Für Max war der Prozess der Emanzipation unaufhaltsam. Manfred dachte daran, dass auf die Emanzipation der Juden mit einiger Verzögerung Auschwitz gefolgt war. Er zumindest hielt die angestrebte Gleichstellung von Unvergleichlichem für gefährlich. Es sollten doch, anders als bei der Judenemanzipation, sogar neue Privilegien geschaffen werden, deren Begründung in einer überschätzten Sexualität sich noch einmal rächen konnte. Diese Art Fortschritt brüskierte andere Formen menschlicher Gemeinschaft. Es erbitterte ihn im Voraus, dass Theo als naher Verwandter und zeitweiliger Hausgenosse später einmal schlechter dastehen könnte, als es irgendein staatlich konzessionierter Liebhaber tun würde.

     Doch Argumente verfangen nicht, wo Projekte etwas Gefährdetes abstützen sollen: die eigene Stellung und Bedeutung. Skeptizismus ist nicht ansteckend. Er, Manfred, stand einfach nur links von allem. Er war ein reaktionärer Linker oder ein linker Reaktionär. Und im Grunde konnte er sich damit abfinden. Er schlief noch einmal ein.

     Als er wieder erwachte, war es draußen vollkommen Nacht. Aus einem der Fenster über ihm fiel Licht als helles, verschobenes Rechteck auf die schweigende Kulisse der Kastanie. Die beleuchtete Fläche hob sich meergrün aus dem Dunkel der Blättermassen hervor, die jetzt ein leichter Nachtwind hin- und herbewegte. Es hätte Teil eines Seestücks sein können. In diesem Fall waren die wenigen ins Licht gehobenen Blütenkerzen die Glanzpunkte auf den Wellen.

     Es war schon zehn Uhr vorbei. Manfred stand auf und ging in die Küche. Er bereitete sein Abendbrot und verzehrte es an Ort und Stelle. Als er mit seiner Mahlzeit fast fertig war, hörte er Theo hereinkommen. Der Cousin trug noch den blauen Arbeitsanzug. Er grüßte kurz und öffnete die Tür seines Zimmers und warf den roten Rucksack hinein.

     Als er in die Küche zurückkehrte, sagte er, ja, sie hätten schon in Bergedorf zu Abend gegessen. Er habe nur noch den Firmenwagen auf dem Hof abgestellt und sei dann mit Kollegen zu einem Italiener gegangen. Einer, der nach Harburg musste, hatte ihn am Berliner Tor abgesetzt, dort war er in die U-Bahn umgestiegen. Ob es bei ihrer Vereinbarung wegen heute Nacht bleibe?

     „Ja“, sagte Manfred, stand rasch auf und ging duschen, während der Cousin in seinem Zimmer verschwand. Er wird sich jetzt noch für eine halbe Stunde hinlegen, dachte Manfred, das genügt ihm schon. So wichtig ist es ihm geworden, am Samstagabend in die Bars gehen zu können. Als wäre er schon Jahre dabei.

     Theo schlief nicht. Er rief ihn durch den offenen Spalt der Zimmertür an, als Manfred vorbeiging, um sich im Schlafzimmer anzukleiden. Ob ein Anruf für ihn gekommen sei?

     Ja, am Nachmittag habe ein Hans-Jürgen angerufen und ihn sprechen wollen. (Eine dünne Stimme, die sich bald zufriedengab.)

     „Ach der, das ist der Soldat. Ich werde ihn ja treffen.“

     Dann lag Manfred auf dem Sofa des Wohnzimmers, zum Ausgehen angezogen, und wartete seinerseits, während Theo duschte. Der Cousin steckte bald den Kopf ins Zimmer und sagte, er werde jetzt das Motorrad holen, dann könnten sie fahren.

     Es war bereits der dritte Samstag hintereinander, an dem er für diese Glas- und Metallbaufirma arbeitete. Doch waren es keine Überstunden, sein Arbeitsvertrag begann erst am kommenden Montag, gleich nach dem 1. Mai. Jetzt an den Wochenenden vertrat er schon einmal tage- und probeweise den Juniorchef, der seit einiger Zeit seinen Meisterkurs absolvierte und der noch mehrere Monate ausfallen würde. Ohne einen Vorarbeiter wie Theo kamen sie auf Dauer doch nicht aus. Theo hatte also schnell etwas wirklich Passendes gefunden – vielleicht passte es zu gut. Aber er schien sich nur drüber zu freuen, dass er mehr oder weniger so weitermachen konnte wie bisher. In Schwerin restaurierten sie die Glaskuppel über einem der Prunkbauten aus der Zeit der Großherzöge.

     Im Verlauf des Aprils war Theo zweimal ohne ihn abends im Village gewesen. Heute wollte er sich ansehen, wie weit der Cousin schon gekommen war.

     Er hatte es ihm nicht abschlagen können, nämlich sich von ihm auf dem Motorrad mitnehmen zu lassen. Manfred hatte seit Jahren auf keinem Sozius mehr gesessen. Es gab bequemere Arten, in die Stadt zu kommen. Schon seine Ausgehhose war zum Motorradfahren zu eng geschnitten. Sie mussten oft an Ampeln halten, und bei jedem Anfahren bekam er die Fliehkräfte zu spüren und dass er ihnen ausgesetzt war. Es blieb nichts anderes übrig, als sich am Cousin anzuklammern. Beim Bremsen rutschte er jedes Mal auf der Sitzbank ein Stück nach vorn und klebte dann an Theos Rückseite. Zuerst fürchtete er, den Cousin dabei weiterzuschieben und beim Lenken zu stören. Doch sah er bald ein, wie grundlos diese Sorge war. Theo war jetzt ein Klotz, der nicht wich und nicht wankte. Er war keiner von diesen Phtisikern, deren Körpergewicht im Missverhältnis zu dem ihrer Maschine steht und die immer zusätzlichen Ballast benötigen, einen kräftigen Sozius zum Beispiel oder sogar einen Sandsack. Theo fuhr erstaunlich gleichmäßig, scherte nur wenige Male aus, um zu überholen, und überfuhr keine roten Ampeln. Als sie neben der Fernbahn rascher dahinrollten, fühlte Manfred sich fast schon geborgen. Die Luftmassen, die sie anschnitten, fegten rechts und links knatternd dahin, ein Geräusch wie von Säbeln, die durch die Luft sausen – aber er saß ruhig im Windschatten dieses breiten Rückens. Es war vielleicht doch ein wenig entwürdigend, so ausgeliefert dazuhocken; andererseits entwickelte sich jetzt auch Vertrauen in diese stabile Rückseite, die nichts von Theos gewöhnlicher Impulsivität verriet. Es war der kräftige, belastbare Rücken eines soliden Arbeiters.

     Dennoch stieg er vor dem Village aufatmend ab und freute sich über die Beweglichkeit seiner Gelenke, als sie die Treppe zum Keller hinuntergingen.

     Philipp schob Manfred das Eintrittsgeld wie gewöhnlich zurück, ließ aber Theo für sich selbst bezahlen. Dabei sah er ihn mit provokantem Ausdruck an, den Theo unsicher grimassierend quittierte. Da war nichts zu machen. Sie gaben die Helme am Tresen in Verwahrung.

     Als Manfred das Bier brachte, unterhielt Theo sich schon mit einem schmalen, blonden jungen Mann. Er erriet, dass dies der Soldat sein musste. Soldaten fielen ihm hier oft schon dadurch auf, dass ihnen gerade das Machomäßige abging. Es fehlte das viril Ambitionierte, das so viele andere zur Schau stellten. Sie waren nicht weniger männlich, nur waren sie auch sanfte, gefällige Rädchen, gut angepasst, wohltuend substanzlos, von glatter und freundlicher Oberfläche. Sie waren entweder als Rekruten noch sehr jung und daher unsicher oder, wenn sie Berufssoldaten waren, vom Alltag in einem großen Apparat mit ausgefeiltem Reglement zurechtgeschliffen.

     Sie erschienen hier natürlich nie in Uniform, und wenn sie in den Bars gelegentlich Uniformfetischisten in vollem Ornat begegneten, gaben sie deutlich zu verstehen, so etwas sei einfach indiskutabel. Diese sehr bunten Vögel glänzten zum Beispiel in Polizeiuniformen der Stadt Atlanta, Staat Georgia  - bitte sehr, die gibt es doch wirklich – oder, Gipfel  angeblicher Perversität, im Waffenrock ihrer Väter resp. Großväter. Da er selbst weder irgendeine Uniform besaß noch Neigung zu dieser Art von Kostümierung, war Manfred leider von ihren speziellen Partys ausgeschlossen. Er stellte sich das freundschaftliche Durcheinander der Epochen und Waffengattungen als einen ironisch-steifen Karneval vor. Sie mussten aus Sorge um ihre Ausstaffierung auf allzu bewegte Ausschweifungen verzichten. Da waren die Gummiträger besser dran, und sie nutzten die Vorteile dieses Materials, wie er hörte, auf ihren Fêten weidlich aus. Was nun den gewöhnlichen, den normalen Uniformfetischisten anging, der sich als Einzelstück hier ab und zu begaffen ließ, so war er in aller Regel ein hübscher und sanfter junger Mann, der sich sehr gravitätisch und dabei vollkommen würdelos benahm. Aller Reiz ging in seinem Fall nun einmal von der Oberfläche aus, und seine Kunst bestand darin, den Inhalt dieser Verpackung als ganz und gar unwesentlich erscheinen zu lassen. Bis zu einem gewissen Grad gelang es Manfred, sich in die Mechanik ihrer Seelen und der ihrer Anbeter einzufühlen: wie entlastend, vom Individuellen abzusehen und nur noch kollektive Macht und Herrlichkeit zu scheinen oder vor sich zu wähnen, und unabdingbar war dabei das Bewusstsein von Kulissenschieberei und Dekonstruktion der Persönlichkeit.

     Manfred hörte Theo und den Soldaten bereden, wie sie jetzt nach St. Georg hereingefunden hätten. Der Soldat wohnte in Lübeck. Über die leere Autobahn war man um diese Zeit sehr schnell im Zentrum von Hamburg.

     Er wolle schon einmal eine Runde durch das Lokal drehen, sagte Manfred und lugte im Weitergehen nach der Farbe des Tuches. Der Soldat ließ es dunkelblau aus der rechten Gesäßtasche hängen. Hatte Theo ihn schon gefickt?

     Manfred schob sich durch die verschiedenen Räume, die bereits gut gefüllt waren. Das Treiben ließ ihn heute, er wusste nicht warum, seltsam kalt. Lag das am Publikum oder an ihm? Nach wenigen Minuten stand er schon wieder im vorderen Raum und erklomm die kleine Treppe. Er sah zu seinem Cousin hinüber, der ihm jetzt die heute vertrauter gewordene Rückseite zukehrte. Der Soldat sprach werbend auf ihn ein. Theo nickte ab und zu.

     In den letzten Wochen war Theo damit beschäftigt gewesen, im Alltag Fuß zu fassen. Dazu gehörten für ihn vermutlich auch seine wenigen Besuche hier in der Bar. Es war darüber zwischen ihnen nicht grundsätzlich gesprochen worden. Theo betrachtete sich stillschweigend als im weitesten Sinne dazugehörend. Einmal hatte er sich im Gespräch als bisexuell bezeichnet. Sein Tonfall war gleichmütig gewesen.

     Bisexuell, gab es das überhaupt, biologisch betrachtet? Entweder waren es alle einer Gattung oder keiner. Der Mensch war nicht zwittrig, er war, von seltenen Ausnahmen abgesehen, männlich oder weiblich. Als Mann konnte er seine Lust offenbar bei einer Frau oder einem Mann finden. Tat er es mit einem Mann oder abwechselnd mit einem Mann und einer Frau, blieb er gleichermaßen ein Individuum mit eindeutiger Anatomie. Seltsam, dass es keinen korrekten Begriff für das gab, was biographisch gar nicht selten vorkam. Das wechselnde Verhalten hing in Wahrheit wohl weniger vom Individuum als von den Umständen ab. In der Natur kamen echte Bifurkationen nur sehr selten vor. Wasser floss in aller Regel in eine Richtung ab. Es unterwarf sich allerdings der Topographie. Manfred unterschied die Menschen nur in Homo- und Heterosexuelle. Es kam vor, dass einem sein natürlicher Abfluss verlegt war und er sich entgegen seiner Natur orientierte. Änderten sich die Verhältnisse, in denen er lebte, fielen Zwang oder Gewohnheit fort, so änderte sich auch die Richtung des Hauptstromes, die vorgegebene Richtung trat zutage; sie trat in ihr Recht.

     Mit diesem Verständnis erschloss sich erst der eigentümliche Reiz, der von den angeblich Bisexuellen ausgeht. Sie sind angekommen, aber nicht ganz. Ein fremder Hauch liegt auf ihnen. Die Erfahrungen und Narben einer anders verlaufenen Biographie lassen sich nicht abschütteln. Sie sind geprägt von der Sehnsucht nach einer anderen Welt. Selbst in dieser anderen Welt verlässt sie die Sehnsucht, die jetzt seltsam richtungslos ist, nicht mehr. Nun strecken sie zwar mit größtem Behagen die Füße unter den Tisch der endlich gefundenen Behausung – und dieses Behagen ist so ansteckend -, doch empfinden sie sich gleichzeitig und dauernd in gewissem Grad als fremd. Der biographische Riss lässt sich nicht kitten. Wer mit ihnen umgeht, erfährt, was vergebliche Liebesmüh ist.

     Indessen war das jetzt bloß Manfreds theoretisches Modell. Es fußte zwar auf Erfahrungen und Begegnungen, doch Theo konnte sich noch ganz anders verhalten. Dann würde man ihn auf andere Weise erklären müssen.

     Manfred wollte Theo und den Soldaten nicht länger beobachten. Er verließ seinen Posten und ging hinüber zum Speisetisch. Dort traf er den jungen Berthold, mit dem er sich ab und zu unterhielt. Berthold sprach gern von seinen persönlichen Dingen, und dabei erfuhr man oft Amüsantes oder Frappierendes. Gleich am Beginn ihrer Bekanntschaft, zwei Jahre war das jetzt her, hatte er sich für einen arbeitslosen Akademiker ausgegeben, sein Germanistikstudium habe er mit dem Magister abgeschlossen. Sie sprachen dann auch über Literatur - oder war es umgekehrt: erst das Gespräch und dann der Hinweis auf den eigenen akademischen Grad? Die Unterhaltung über Literatur verlief wenig ergiebig. Wie flach die Bildung dieser jungen Leute jetzt war … Dann schulte das Arbeitsamt diesen Magister zum Oberkellner für Luxushotels um, erfuhr man später von ihm. An manchen Abenden half er in den Bars aus, im Village allerdings nie. So bediente er also in den feinsten Häusern, als Praktikant, wie in den verrufensten. Das Village zum Beispiel nannten manche nur den Schweinekeller.

     Manfred fragte ihn nach dem Fortgang der Umschulung.

     Alles bestens, war die Antwort, die Prüfung sei im Sommer. Nur wohne er leider immer noch in Billstedt, doch habe er jetzt etwas in der Hochallee in Aussicht.

     „Tatsächlich, in Harvestehude?“

     „Ja, dann geht’s mir besser. Heute Mittag war ich im Hanseviertel und habe mir gesagt: Bald wirst auch du hier stehen und Champagner und Langusten genießen und auf alle herabsehen … Kennst du ihn?“

     Ein kleingewachsener Fünfziger, beseelter Blick und ergrautes Haar, ging vorüber und sah Manfred an. Er erkannte in ihm den kleinen H. wieder, eine in Berlin seinerzeit bekannte und beliebte Figur. Für Manfred war er eine männliche Madame Verdurin. Jahrzehntelang war seine Wohnung ein Zentrum des privaten geselligen Lebens gewesen. Er unterhielt beinahe so etwas wie einen Salon und hatte sogar seinen Jour – war es nicht der Dienstag gewesen? Manfred wollte ihn grüßen, aber der kleine H. wandte sich vorher ab.

     „O ja“, sagte Manfred, „er ist aus Berlin. Zuletzt habe ich ihn im Metropol gesehen, es kann zwei oder drei Jahre her sein. Die Nacht war schon vorbei, und er tanzte noch immer wie ein junger Gott. Er muss jetzt mindestens sechzig sein.“

     Berthold lachte und trollte sich zu Freunden in der Nähe, wo auch H. stehen geblieben war. Dort rühmte er bald übertrieben laut die Fortschritte der kosmetischen Chirurgie.

     Der kleine H. ließ es nicht auf sich sitzen. Er kam kurz darauf zu Manfred, begrüßte ihn nun sehr freundlich und fragte, ob es ihm in all den langen Jahren hier auch gut ergangen sei. Es sollte wie eine Geste der Güte wirken – er war auch in der Kirche aktiv -, doch geriet es ihm wie üblich zu einem Akt der Beschämung. Er, Manfred, war auch nicht viel besser als dieser Heino. Als Theo zu ihnen trat, zog H. sich sofort zurück.

     Theo brachte ihm unaufgefordert ein neues Bier. Er selbst trank jetzt Mineralwasser.

     „Wo ist der Soldat?“

     „Fort. Tut mir Leid … O, Mann, der wollte mich heiraten. Wofür hält er mich?!“ Seine Entrüstung war nicht gespielt. Er geriet so leicht in Wallung, er hatte es nicht nötig, Gefühle vorzutäuschen. Ja, wofür sollte man ihn halten?

     „Immerhin spricht es für seinen Geschmack. Hast du mit ihm geschlafen?“

     „Ja, schon zweimal, bei uns. Er kam an seinen freien Tagen. Du warst im Büro.“

     „Willst du ihn wieder kommen lassen?“

     „Zum Bumsen ja. Aber nicht, wenn er sich mit mir zusammentun will. Ich habe ihm gesagt, dass ich verheiratet bin.“

     „Das war nicht sehr klug.“

     „Wieso?“

     „Es ist wie in Südafrika. Viele Weiße hassen die Schwarzen und viele Schwarze die Weißen, und die Mischlinge stehen zwischen den Gewehrläufen.“

     „Soll ich denn lügen?“

     „Nur schweigen, insoweit. Es wird dich kaum einer nach einer Frau fragen. Schieb es auf mich. Das werden alle glauben.“

     Theo überlegte einige Zeit. Es leuchtete ihm ein. „Das ist die Lösung, danke. Ich sage keinem mehr, dass wir nur platonisch befreundet sind.“ Dabei sei dies das einzig Wahre für ihn: mit einem Mann platonisch zusammenzuleben. Sein Wortschatz hatte sich in diesen Wochen erweitert, doch verwechselte er platonisch mit asexuell. Er war reizend in seinen Irrtümern und Selbsttäuschungen. Wäre er wirklich einer: ein Platoniker.

     Sie betrachteten eine Zeitlang schweigend die Prozession aufgeräumter und aufgezäumter Männer, die nicht abriss.

     „Du solltest dir einen Ruf verschaffen. Geh im Lokal auf und ab und spiele den erotisch Bedürftigen, der aber nicht so kann, wie er möchte. Das wird sie anstacheln. Du kannst dann sortieren. Wenn dir einer zu nahe kommt und du ihn nicht magst, dann komm zu mir. Er wird rasch merken, dass die Trauben zu hoch hängen. Mögen sie noch so süß sein …“

     Theo fand gleich Geschmack an diesem Vorschlag einer spielerischen Verstellung. Auf diesem Gebiet begriff er rasch. Er wollte es sofort ausprobieren und streifte allein durch die verschiedenen Räume. Hier und da blieb er stehen und erneuerte zwischendurch den Blickkontakt zum Großen Cousin. Gelegentlich kam er für ein oder zwei Minuten zu ihm zurück. Er sagte dann, es sei zu voll, oder sie qualmten hier zu viel. Er selbst rauchte wie Manfred gar nicht. Dann blieb er lange im Eingang und damit für Manfred außer Sichtweite. 

     Auf seinen Vorschlag war Manfred vorhin spontan verfallen, er hatte ihn sofort ohne zu überlegen vorgebracht. Es hieß also, er ließ sich in Theos Affären verwickeln. Ohnehin war er nur seinetwegen hierher zurückgekehrt. Die Spiele hier waren für ihn doch schon ausgespielt. Was er jetzt sah, war seine eigene Nachwelt. Er glaubte, auf diesem Gebiet keiner Aufschwünge mehr fähig zu sein. Zu viele Jahre, zu viele Männer, zu viele Geschichten … Er wollte es dem kleinen H. nicht nachtun. Was war schon daran, in dieser kleinen Welt eine Rolle zu spielen, mit ihren Clubpräsidenten, Pseudomagistern und braven kleinen Soldaten? Und der Berliner neulich? Er war brauchbar, mehr nicht. Immerhin wird er, Manfred, auch noch benötigt: Theo muss installiert werden.

     Theo kam zurück und ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Er nahm das als Zeichen, dass er sich jetzt zurückhalten solle, und ging zum Eingang. Da er sich langweilte, zerstreute er sich wieder einmal damit, sich für einzelne Gäste weibliche Toiletten aus historischer Zeit hinzuzudenken. Sie mussten zu ihren Körperhaltungen und den einzelnen Bewegungen passen. Einem hätte etwas Weißes, Weites, weich Fließendes nach der griechischen Mode des Direktoriums sehr gut gestanden. Er konnte sich sogleich auch die Empiremöbel vorstellen, in denen er sich mit knappen und anmutigen Bewegungen ergangen hätte: ein Modell für Ingres. Zu einem anderen hätte wirklich nur die Krinoline gepasst. Auch für ein bayrisches Dirndl fand sich der ideale Träger: nicht mehr ganz jung, mäßig verfettet, schlaffe Haltung – so sahen sie doch in den Bierzelten aus. Und wie jener, jedes Mal wenn er die Keller-Bar verließ, um in die zu ebener Erde gelegene Diskothek zurückzukehren, sich mit immer derselben Handbewegung über den imaginären Petticoat strich – man begriff, die Bewegung des Nackens dabei sollte aufreizend wirken -: Marilyn als Matrone.

     Einer sah aus wie der Zigeunerbaron in einer Liebhaberaufführung. Er saß wie eine fleischige Pflanze auf einem Hocker und ließ die Blicke schweifen. Es bewachte ihn leider ein guter Fünfziger mit ergrauten Haaren in der Aufmachung eines Punkers, ein abscheulicher Drache. Da war nichts zu hoffen, das stand von vornherein fest. Dennoch oder gerade deswegen musterte ihn Manfred weiter mit Vergnügen. Sein junges Gesicht, schon etwas üppig und vom martialischen Schnurrbart eben noch im Gleichgewicht gehalten, vermittelte eine Ahnung von irgendetwas Östlichem, Wildem – und zugleich hatte er da einen zivilen und satten Mitteleuropäer vor sich, der durch seine Ledermontur das wahrhaft Exotische an sich betonte. Das ergab eine fesselnde Mischung aus Sein und Schein, eine Melange, deren Bestandteile nicht wirklich auseinanderzuhalten waren. Der Zigeunerbaron ließ sich Manfreds enthusiastische Blicke aus fünf Metern Entfernung gern gefallen. Der Drache wurde nervöser und misstrauischer. Sie brachen bald auf. Manfred sah ihnen hinterher, wie sie die Treppe hinaufgingen, der Hübsche zuhinterst. Und natürlich drehte er sich oben an der Treppe noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass Manfred ihm nachsah. Es war auch die Treppe des schmerzlich süßen Verzichts. Die Lust am Verrat war schon da, aber die Gelegenheit würde erst später kommen: schade.

     „Sie sind aus Belgien“, sagte Philipp, der auch die Treppe hinaufsah. Um diese Zeit trafen neue Gäste nur noch in größeren Abständen ein.

     „Flamen oder Wallonen?“

     „Nein, es sind Belgier.“ Manfred wollte nichts richtigstellen. Vielleicht, ja wahrscheinlich wird er den jungen Mann niemals wiedersehen, und vielleicht wird ihnen die kleine Szene jahrzehntelang nicht aus dem Kopf gehen, ihm nicht und dem anderen auch nicht; ungestilltes Verlangen und unbegrenzt haltbar. Erinnert man sich solcher Gesichter und Figuren auf dem letzten Lager, das niemand mit einem teilt? Dann war so die nie erlangte Süße des Lebens beschaffen. Übrigens konnte der junge Belgier selbst Masochist sein.

     „Da ist mir einer auf den Fersen“, sagte Theo, „ich glaube, du musst dich dazwischenstellen.“ Er war unbemerkt zu ihnen getreten und schwang sich auf den Barhocker, der die Eisentür aufhielt. Manfred wechselte den Platz und stand nun in der offenen Tür zwischen Theo auf seinem Hochsitz und den Männern neben dem Eingang. Der Interessent sah vom Tresen, dem er den Rücken zukehrte, dezent zu ihrer kleinen Gruppe herüber.

     „Aber ihr seid einander wert. Ein würdiger Bewerber.“

     Theo schüttelte den Kopf und sah schweigend die jetzt leere Treppe hinauf.

     Manfred kannte den anderen vom Sehen, es war auch ein Stammgast. Er hatte ihn oft beobachtet. Es war ein schlanker und kräftiger Mann um die dreißig mit sehr kurzem dunkelblondem Haar, im Ausdruck ein wenig ernst, doch nicht zu sehr. Er fiel durch markante knochige Formen sowie Bewegungen von katzenhafter Anmut auf. Die starken Backenknochen mit den großflächig eingewölbten Wangenpartien gaben dem Gesicht ein dynamisches Profil. Alles an ihm drückte gewöhnlich gespannte Erwartung aus, straffe Haltung bis in die Haarspitzen. Er trug perfekt sitzende, enge schwarze Lederkleidung.

     Er war allzu smart, allzu perfekt – die maskuline Fassade schien bruchlos identisch mit dem Kern der Person. Er war ein zweibeiniges Kunstwerk. Wie konnte man mit einer solchen Marmorstatue an seiner Seite warm werden? Er erinnerte Manfred jetzt an eine Plastik von Donner, dem barocken Bildhauer, in einem Wiener Museum: der Fluss Enns als männliche Figur, schwarz, kraftvoll, kühl, vollkommen.

     Der Flussgott paradierte ziemlich unauffällig, indem er einige Schritte hin- und herging. Dazu Blicke, die kontrollierten, ohne sich zu kompromittieren.

     Theo und der Smarte würden ein perfektes Paar abgeben. Sie würden in einer Art kalter Raserei ineinanderstürzen. Sie würden sich, um der Selbstvernichtung zu entgehen, schließlich vollkommen abstoßen.

     Der kalte Gott begann zum Zweck werbender Demonstration dicht vor ihnen ein Gespräch mit einem seiner Bekannten. Er plauderte mit Geläufigkeit. Es war kultiviertes Partygewäsch, mit einer Prise Individualität überzuckert. Bonn sei doch eine eigenartige Stadt, und Brüssel komme ihm immer so skandinavisch vor.

     Manfred stützte den linken Arm an der Stahlkante der Türlaibung ab. Dabei überwölbte er mit dem Arm das Sitzbild des Cousins.

     „Meinen Sie, Brüssel zum Beispiel“, begann Manfred recht laut Verse von Benn etwas variierend zu zitieren, „also Brüssel zum Beispiel sei eine tiefere Stadt, wo man Wunder und Weihen immer zum Inhalt hat?“ Er überging die mittleren Strophen und schloss mit einer Art Sprechgesang an Philipp, der seinen Platz verlassen hatte und jetzt selbst im Türdurchgang stand und abwechselnd auf Manfred und den Smarten sah.

 

 

 „Ach, vergeblich das Fahren,

 

 Spät erst erfahren Sie sich:

 

 Bleiben und stille bewahren

 

 Das sich umgrenzende Ich.“

 

 

     Philipp lachte verständnislos. Theo pfiff ein wenig vor sich hin und sah Manfred freundlich an.

     Da sahen sie, wie ein merklicher Ruck durch den Körper des anderen ging. Er verabschiedete sich von seinem Bekannten, so wie ein Schauspieler, dem das Stichwort zugerufen wird, seine Rolle improvisiert. Er ließ sich vom Barkeeper den Helm geben und ging rasch die Treppe hinauf, unbeteiligt, wie es schien.

     Philipp bekam wieder zu tun. Er kassierte und stempelte und war ernst und eifrig wie ein junger Tempeldiener. Dazwischen trat er in die offene Tür und überflog und überwachte den vorderen Raum mit seinen Mausaugen.

     „Dich sehe ich erst seit kurzem hier“, sagte er zu Theo.

     „Kann schon sein“, antwortete der Cousin.

     Wo er herkomme? – Aus dem Süden.

     „Bist du wegen dem gekommen?“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf Manfred, der an Theos Stelle Antwort gab:

     „Wir kennen uns schon sehr lange.“

     „Wirklich, sehr, sehr lange. Seit ich denken kann.“ Theo unterdrückte ein Grinsen, rutschte vom Hocker und ging wieder hinein.

     Philipp sah ihm hinterher, dann zu Manfred hinüber. Seine Gedanken zu lesen, war nicht schwer: Mit denen stimmt irgendetwas nicht. Aber was? – Er schwieg längere Zeit und begann zu rauchen. Die laute Musik überdeckte das häufige Schweigen in der Bar. Oder niemand konnte ununterbrochen gegen diesen Geräuschpegel anreden.

     Eigentlich müsste Theo jetzt müde sein, er hat seit zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Hoffentlich werden sie bald aufbrechen. Manfred starrt die wieder verlassen daliegende Kellertreppe hinauf. Oben geht es um eine Ecke in den offenen Hausflur, der erst auf der Straße endet. Niemand biegt um die Ecke und will zu ihnen herunterkommen.

     Plötzlich ist ihm, als bevölkere sich die Treppe mit Gestalten vergangener Jahre. Das Publikum ist im abgelaufenen Jahrzehnt hier noch viel besser gewesen. Sie können ja nicht alle tot sein.

     Zuerst ein hübscher Mann, ausgerechnet im dunklen Abendanzug. Er hatte einen Bauchansatz und schmuste mit einem anderen Gast – er sah sie nur einmal hier. Dann ein schlanker junger Mann mit Lymphknoten am Hals, so dick wie Taubeneier. Dann ein Tscheche, der Deutsch mit holländischem Akzent sprach; er züchtete Bluthunde zum Verkauf und hielt selbst einen Königspudel. Zwei Freunde, die Wilhelm Busch liebten. Ein Jude, der Sinologe war. Ein junger Südamerikaner mit einer Figur wie ein Bügelbrett und strahlendem Gesicht und leuchtenden Augen, Musiker wahrscheinlich. Ein attraktiver Araber, der nie ins Innere der Bar vordrang, immer nur mit Anzeichen sittlicher Entrüstung im Eingang stehen blieb. Ein Italiener, der plötzlich ohne Vorwarnung den Barkeeper ohrfeigte, was seltsamerweise ohne Reaktion blieb. Später am Abend fragte dieser Italiener Manfred: Habe ich dich eben im Dunkelraum gefickt? (Nein, er war es nicht gewesen.) Ein sadistischer Friseur aus Zürich. Ein sehr vitaler Masochist aus Minden. Ein entschiedener Anhänger von Franz Josef Strauss. Einer, der einen Film gedreht hatte, für den er keinen Verleih fand. Einer, der an einem Roman schrieb und vorhersagte, man werde beim Lesen an Dostojewski denken. Männliche Stripteasetänzer aus einem Club in der Nähe, zwischen zwei Vorstellungen. Drei Männer, die bei der Sparkasse arbeiteten. Zwei von der Bundesbahn. Ein Zugabfertiger der Hochbahn. Und einer erzählte jedem, er arbeite für einen Geheimdienst. Ein Ex-Polizist. Noch mehr Friseure. Recht unauffällig: ein früherer Intendant des Schauspielhauses.

     Wenn Theo und er jetzt eine Nacht hier verbringen, ist es für sie nicht die gleiche Sache. Für ihn selbst ist die Bar bevölkert vor allem mit jenen, die nicht mehr kommen. Und er geht als Gespenst aus Fleisch und Blut zwischen ihnen herum. Theo ist wie ein von Blindheit Genesender, der sich erst an die vielen neuen Gesichter gewöhnen muss. Vielleicht streicht er noch mit den Händen über sie hin.

     Manfred ging zum Tresen, um sich noch ein Bier zu holen. Er durfte Philipp eine Cola bringen.

     Das Lokal begann sich schon zu leeren. Manfred wollte denen nicht hinterhersehen, die ihm zumeist vollkommen gleichgültig waren. Er verließ Philipp und seine Aussicht die Treppe hinauf und kehrte nach mehr als einer Stunde in den mittleren Raum zurück. Hier unterhielt sich jetzt Theo mit einem jungen Mann, der fast zwei Köpfe kleiner war als der Cousin selbst. Der Kleine besaß ein harmlos freches Gesicht, das eine gutmütige Durchtriebenheit zur Schau stellte. Die akustische Verständigung fiel ihnen jetzt nicht leicht. Das Personal hier vertrat ja die Ansicht, die Musik müsste desto lauter sein, je leerer die Bar wurde. Der Niedliche an Theos Seite reckte und streckte sich der Stimme seines Herrn entgegen. Theo wurde es lästig, sich beim Reden und Zuhören derart abzuquälen. Er nahm den hübschen, kleinen Kopf in die Armbeuge und drückte ihn sich an die Brust. Der Kleine lehnte nun halb an der Wand, halb an Theos Herzgegend. Theo sah entspannt und zufrieden zum Cousin herüber. Es war wieder ein lebendes Bild, doch Manfred fiel keine passende Unterschrift ein.

     Nach einiger Zeit lösten sie sich voneinander, und Theo kam mit dem anderen in Manfreds Ecke. Er sagte, das sei Sascha, er würde ihn gern mit nach Hause nehmen. Und wie sie es organisieren könnten?

     Manfred log, er sei noch nicht müde und verspreche sich noch einiges von der Nacht. Sie sollten vorausfahren. Vielleicht passe sein Helm ja Sascha. Sie holten die Helme, und Manfred war überrascht, dass sein eigener dem Kleinen tatsächlich gut saß.

      Theo schien es leidzutun, ihn hier allein zurückzulassen. Manfred forcierte daher den Ausdruck von guter Laune auf seinem Gesicht und sagte, er würde sie ja zum Frühstück wiedersehen, zu einem Frühstück zu dritt oder zu viert.

     „Ja, am besten wieder zu viert“, sagte Theo, „das war sehr nett neulich.“ Manfred spürte, wie die eigenen Mundwinkel sich ironisch verziehen wollten, und war froh, als die beiden dann fortgingen.

     Kein Gedanke daran, sich so spät noch zu engagieren oder sich engagieren zu lassen. In einer anderen Ecke lärmte Berthold in einer Clique. Er hatte wieder einmal zu viel Schnaps konsumiert.

     Manfred denkt wieder an Theo. Er hat sich erstaunlich schnell akklimatisiert. Es ist einerseits nur natürlich. Seine äußere Erscheinung zieht viele hier an, sie gehen rasch auf ihn zu. Er hat die Auswahl, und er wählt jetzt, ohne zu zögern. Er hat viel nachzuholen. Es ist aber auch nicht recht geheuer. Er hat bisher ganz anders gelebt. Ist es ihm wirklich gelungen, in so kurzer Zeit die eigene Identität zu verändern und den Alltag in einer jungen Ehe durch die Freuden gerade dieser Promiskuität zu ersetzen? Es scheint fast zu viel an Anpassung, es hat etwas Gewaltsames, wenn man es näher bedenkt. Vielleicht ist die Anpassung nur oberflächlich. Was weiß er, Manfred, davon, wie es im Cousin tatsächlich aussieht? Und wie hat er bisher wirklich gelebt, Tag für Tag, Nacht für Nacht? Vielleicht hat es auch da schon Abwege und Seitenwege gegeben. Und dann die heimlichen Wünsche und Sehnsüchte, die eingestandenen und die nicht eingestandenen … Ein Prozess ist im Verborgenen abgelaufen. Jetzt sieht man nur das Endergebnis und wundert sich.

     Mit solchen Gedanken vertrieb er sich die tote Zeit zwischen drei und vier. Alles hier empfand er jetzt als niederdrückend. Nur die Stumpfen oder die sehr Hartnäckigen hielten noch aus. Die meisten zogen unablässig ihre Bahnen durch die halbleeren Räume, triebhaft oder neurotisiert. Manfred war sehr oft einer von ihnen gewesen. Man war dann vieles gleichzeitig: enttäuscht, gelangweilt, in diesem Stadium selbst unattraktiv, erschöpft, aufgedreht, entschlusslos. Die verlorenen Stunden mussten sich am Schluss doch noch als nicht vertan herausstellen. Irgendein unbekanntes Ziel, ein verborgener Zweck musste mit dem Ablauf einer solchen Nacht verbunden sein. Man müsste es noch herausfinden. Vielleicht ging es nur darum, sich selbst in sehr kleinen Schritten allmählich zu zerstören. Manchmal kamen ab vier neue Gäste und veränderten die Lage. Aber heute war er nur noch hier, um zu Hause nicht zu stören – falls er sich damit nicht selbst belog.

     Und dann kam doch noch einer und schob alles Trübe für ihn fort. Perfekt war er nun wirklich nicht, kein zweibeiniges Kunstwerk, eher wie ein holländischer Bauer auf einem Bild der Rembrandtzeit, blond, stämmig, nicht hübsch, dafür unverkennbar sehr vital. Er konnte Anfang dreißig sein und versuchte, seine leichte Korpulenz zu kaschieren, indem er Lederbreeches  trug. Er kam heran, bemerkte Manfred und blieb stehen und sah ihn lauernd an. Er weckte eine sehr direkte Lust auf die Lust, das war Manfred lange nicht mehr vorgekommen.

     Der Bauer kam herüber und sagte forsch: „Nun?!“ Ausgesprochen sympathisch war das nicht, doch klang es nicht forciert.

     „Du bist nicht allein gekommen“, sagte Manfred. Er konnte nun einmal nicht anders, zunächst musste er versuchen, ihm auszuweichen.

     „Mit dem schlafe ich nicht. Er ist ein guter Freund – und ein Neurotiker dazu.“ Er grinste breit. „Ich mache eine private Psychotherapie bei ihm.“

     „Sozusagen?“

     „Nein, tatsächlich. Ich bin Irrenarzt.“

     „Ein Neurotiker also? Aber er wirkt doch sympathisch?“

     „Alle Neurotiker sind sympathisch.“

     „Fragt sich nur, ob ich auch genügend neurotisch bin, um als sympathisch gelten zu können.“

     Der andere lachte und sagte, sein Name sei Frank. Auch er war mit dem Motorrad da.

     Sie vereinbarten, getrennt nach Eimsbüttel zu fahren. Manfred fuhr in einer Taxe voraus.

     Seine Taxifahrerin heute war mehr als spröde. Seinen Gruß beim Einsteigen ließ sie unerwidert und sagte auch kein Wort, als er das Ziel genannt hatte. Sie fuhr sofort los, Richtung Lombardsbrücke, mit gesträubtem Nackenhaar, wie ihm schien. Im Rückspiegel konnte er ihr Gesicht betrachten: Da war nur Schweigen und Ablehnung. Er sah ja ein, dass es eine Zumutung war, einen Mann, einen homosexuellen Mann fahren zu müssen, und noch dazu einen wie ihn … Die Großstadtbevölkerung besteht aus lauter einzelnen Stämmen, und sie sind einander feindlich gesinnt.

     Dieser Frank war also Irrenarzt. In der langen Reihe von Männern, denen er nahe gekommen war und von denen er den Beruf noch wusste, war er erst der zweite. Der andere hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihm, im Vergleich erschien ihm dieser Vorläufer geradezu introvertiert. Sein Stimulans war Musik von Bruckner. War es damals bei ihnen die Vierte oder die Achte gewesen? Er wusste nur noch, dass sie nicht über den zweiten Satz hinausgekommen waren. So etwas kam heute natürlich nicht in Frage.

     Weder Frank noch er, Manfred, zeigten ihre Vorlieben mit Tüchern an. Ihr Verhältnis war auch ohne dieses Flaggensignalement, das ein wenig an die Gebräuche der Seefahrt erinnerte, von Anfang an klar. Es war die Relation von Dominanz und Subordination. Was ihn selbst betraf, so konnte er die weit verbreitete Lust an Techniken an und für sich in sich selbst nicht wachrufen. Körperliche Aktionen, so sachlich betrieben wie Schachspiel oder Gartenarbeit, ödeten ihn an. Alles nur Erlernte stieß ihn ab. Die sexuelle Handlung war oft bloß eingeübt und wurde beherrscht wie richtiges Zähneputzen. Manfred suchte die Identität zwischen der Person und der Handlung.

     Sie waren schon da. Die Fahrerin überließ es ihm, den Zahlbetrag selbst vom Taxameter abzulesen. Sie wandte sich nicht einmal um, als er das Geld abgezählt nach vorn reichte. Hier war nichts geschehen, nur die allgemeine Unverbundenheit ins Extrem, die gewöhnliche Disharmonie zum Hass gesteigert worden.

     Drinnen stand er am Fenster und überwachte die Straße. Frank fuhr schon nach ein paar Minuten vor. Er öffnete ihm, bevor er klingeln konnte.

     Obwohl der Verlauf der Sache im großen Ganzen vorher festzustehen schien, wurde es im Einzelnen zu etwas Unvorhersehbar-Einmaligem. Frank war rasch abwechselnd großspurig und taktvoll, grob und einfühlsam, heftig bis zum Brutalen und bald darauf sehr zärtlich. Die Ambivalenz seiner Regungen trat zwanglos in ihrem organisch-natürlichen Fluss zutage.

      Die beiderseitige Befriedigung war nicht maßlos, nur vollkommen. Manfred betrachtete ihn, wie er nun nackt und entspannt neben ihm lag.

     „Das kommt vom Fressen“, sagte Frank und ließ die eine Hand auf den stattlichen Bauch klatschen. „Was reizt dich daran?“

     Manfred suchte nach Worten, die die Ambivalenz der eigenen Einstellung verschleiern sollten. Er sagte: „Es wirkt auf seine Weise gesund. Das Fleischige ist auch Materie. Und Materie ist etwas Sinnliches.“

     Sie schliefen einige Stunden ziemlich tief nebeneinander.

 

     Manfred erwachte spät am Vormittag. Die Dusche lief gerade. Stand Theo darunter oder der andere? Frank schlief noch.

     Später hörte er, wie Theo das Frühstück vorbereitete. Es war auch sein schwerer Tritt im Flur. Manfred drehte sich um, und es gelang ihm, Frank mit einer Berührung zu wecken. „Ich geh jetzt duschen, dann gibt es Frühstück.“ Frank gähnte und sah ihn verständnislos an.

     Manfred stieß im Flur auf den Cousin. Sascha saß schon am Esstisch. Theo sagte, er müsse ihn in einer halben Stunde zum Bahnhof fahren. Er werde jetzt für vier decken.

     Als Manfred mit Duschen und Anziehen fertig war, bekam er Frank nicht richtig wach. Er solle ihn noch einen Moment liegen lassen. Manfred ging allein hinüber. Die beiden schlürften schon heißen Kaffee und kauten.

     Sascha sei von Beruf Tänzer, sagte Theo. Es imponierte ihm offenbar. Sascha winkte ab. Davon gebe es mehr als genug, es sei nichts Besonderes. Es war etwas Bescheiden-Pfiffiges an ihm. Er erzählte, er habe zwei schwule Brüder und dann noch einen dritten: Der sitze wegen Vergewaltigung einer Frau im Gefängnis. Sie mussten lächeln, wie er es sagte.

     Manfred musterte ihn, als er einige Zeit schwieg. Er war in Grenzen hübsch und verglichen mit Theo geradezu zierlich. Er konnte sich auf einmal vorstellen, wie Ingrid neben dem Cousin gewirkt hatte.

     Als Sascha aufstand, zeigte sich, wie gut proportioniert sein Körper war. Er war drahtig und in seinen Bewegungen dynamisch. Er drehte sich in der Mitte des Zimmers, wo eine weiße Pendelleuchte tief herunterhing, elegant und kraftvoll, nur etwas zu abrupt, um die eigene Achse. Dabei geriet sein kleiner Schädel unter die Plexiglasglocke, und er zertrümmerte mit dem Hinterkopf die Glühbirne.

     „Ich Unglücksvogel“, sagte er betrübt.

     „Macht nichts, wir haben bestimmt Ersatz im Haus“, sagte Theo.

     Manfred räumte die Glasscherben weg. „Die Lampe muss mal höher gehängt werden. Auf jeden Fall war es ein schöner Schlusssprung. Schade, dass wir dich nicht auch auf der Bühne sehen können.“ Sascha tanzte an der Oper in Köln.

     Theo und Sascha machten sich zum Abfahren fertig. Die Unruhe ihres Aufbruchs brachte Frank auf die Beine. Er streckte den Kopf in den Flur.

     „Ah, da sind auf einmal noch zwei.“ Er sah Sascha genauer an und biss sich auf die Oberlippe. Sascha lächelte und grüßte ihn mit den Augen. Manfred sagte, die Dusche sei frei. Theo war nichts aufgefallen.

     Später frühstückte Frank mit gesundem Appetit. Er ließ sich gern bedienen. Manfred war so gut wie fertig mit seiner Mahlzeit und schenkte ihm Kaffee ein und hielt ihm die Wurstplatte hin. Er holte ihm einen Joghurt aus der Küche. Bei allen Verrichtungen hatte er den Eindruck, genau beobachtet zu werden. Im Geist fertigt er mein Krankenblatt an, dachte Manfred. Er sagte ihm, er stehe wohl unter Beobachtung, aber er, Manfred, mache es umgekehrt genauso. Frank lachte.

     Später fasste er den Befund unter folgender Diagnose zusammen: „Du bist sehr harmoniebedürftig.“ Es klang wertfrei, objektiv.

     Theo war noch nicht zurück, als Frank seinerseits aufbrach. Sein Dienst beginne um zwei Uhr. Er werde nicht mehr nach Hause fahren und sich dort umziehen können. „Unsere Sekretärin wird ein bisschen mit den Augen klimpern, aber es macht nichts.“

     „Du ziehst dich in der Klinik um?“

     „Ja, dann bin ich ganz in Weiß.“ Am Abend werde er zu Hause bleiben. Er werde im Bett liegen und dabei fernsehen. Es war ihm, wie es schien, im Gedanken daran schon jetzt behaglich zumute. Er wirkte satt und befriedigt, als er bald darauf wegfuhr. Er war einer von diesen Beneidenswerten.

     Manfred räumte den Tisch ab. Da lag noch der Zettel, auf dem Frank ihm seine Telefonnummer notiert hatte. Er konnte ihn jederzeit anrufen und versuchen, die Beziehung zu vertiefen. Früher hätte er dies vielleicht tatsächlich getan, nach längerem Kampf mit sich selbst. Dann wäre sein Anruf wie üblich zum falschen Zeitpunkt gekommen – Frank war schon in eine neue Affäre verstrickt. Doch Frank hätte ihn bald darauf in seiner nächsten eigenen Krise wiedersehen wollen – und nun war es für Manfred zu spät: Er selbst jagte schon einem neuen Glücksversprechen nach … Nichts davon, nicht mehr nach dem Verlauf des letzten Winters, nicht mit einem Hausgenossen wie Theo. Allerdings warf er den Zettel noch nicht fort, sondern legte ihn in ein altes Notizbuch.

     Es war sein kleines rotes Buch. Er begann darin zu blättern und unternahm so eine Reise durch die Zeit. Die Dänen waren auch hier als Zeitgenossen gut vertreten. Gewöhnlich fing es nachts im Park von Charlottenlund an. Damals war immer Sommer. Dann Holländer, Österreicher, Amerikaner. Sogar ein Neuseeländer, der vor Sehnsucht nach Europa beinahe verging. Da standen auch Namen und Adressen, mit denen er nichts mehr verband, ein Kanadier zum Beispiel – doch dann fiel es ihm wieder ein: Er war einmal mit ihm in den Frankfurter Stadtwald gefahren. Sehr pathetisch damals sein Tue moi! War wohl nur Spiel – oder doch mehr gewesen? Ein Masochist aus Montreal … Hier jetzt zu blättern, das war wie das Herunterreißen von alten Tapeten in alten Sälen. Die unterste Schicht zeigte erotische Szenen aus dem Rokoko, Experimente des Frivolen. Wenn Sie nichts mehr reizen kann …

     Man sollte eine neue Selbsthilfegruppe gründen: Anonyme Romanzensüchtige. Es war ja Sucht. Das erotische Glück schüttete im Hirn opiatähnliche Substanzen aus, die berauschten und schnell abhängig machten. Ich heiße Manfred und war lange Zeit sehr leicht zu entflammen. Ich verbrannte meine eigene Substanz zu einem großen Teil und war schon am Verlöschen. Jetzt bin ich geheilt und will anderen helfen, nicht ganz zu verbrennen.

     Theo kam herein. Er habe das Motorrad schon in die Garage gefahren. Er sei zu müde, um noch einmal wegzufahren. Eigentlich schade bei dem schönen Wetter … Aber morgen fange die Arbeit richtig an. Er lag dann mehrere Stunden auf dem Sofa und verschlief dort den Nachmittag.

     Manfred saß ihm gegenüber und las. Seit einigen Tagen ging er seinen Band mit Erzählungen von Schnitzler noch einmal durch. Sie waren über zwanzig Jahre nicht mehr von ihm gelesen worden, er hatte sie überhaupt nur einmal gelesen. Die besten von ihnen, wie Leutnant Gustl und Fräulein Else, waren ihm in ihrem Kern präsent geblieben. Dennoch staunte er nun: Das war eine Welt von großer Geschlossenheit und Morbidität. So wenige Themen, wie besessen immer aufs Neue umkreist: die Ambivalenz der Gefühle, verwünschte, verhexte Paarungen, der Tod, insbesondere der von eigener Hand. Allein die Novelle vom blinden Geronimo fiel aus diesem Rahmen von Dekadenz und Ende. Sie erschien ihm nun um den beglückenden Bruderkuss des Endes herumkonstruiert. Und Geronimo küsste ihn auf die Lippen, so hieß es. Und Leutnant Gustl brachte sich am Ende dann doch nicht um, das Weiterleben fiel ihm zu wie ein unverdientes Geschenk. Ein sehr gemischter Charakter, dieser Gustl: schwach und stark, dumm und hellsehend, brutal und zartfühlend. Und welchen Inhalt hatte jener Brief eines Mannes an ihn, den er vor seinem geplanten Selbstmord noch vernichten wollte? Er hätte den Absender schwer kompromittiert, wäre er gefunden worden … Auch diese Überlegung bewies: Der Leutnant war gar nicht so hohl, wie ihn manche Leser fanden. Man konnte in dieser sympathischen Regung auch den Wunsch erkennen, sich noch nicht von allem zu lösen. Hierin berührten sich im Übrigen der Leutnant und Else, die ja, wie ein findiger Kopf herausfand, wohl mit Absicht nicht so viel Veronal geschluckt hatte, als dass sie daran hätte sterben können.

     Bei Schnitzler fehlte die sonst so häufige Opulenz der Äußerlichkeiten, der Landschaft, des Wetters, der Großstadt, der Ausstattung der Wohnungen oder der Kleidung. Hier gab es nur die notwendigen technischen Details, damit die Seelenlandschaft sich ausbreiten, der Seelenroman abrollen konnte. Es war zwar die Welt der letzten Jahrhundertwende mit ihrer Ahnung tiefer innerer und äußerer Krisen, und nun stand schon die nächste nahe bevor, doch Manfred fand, die Gegenwart sei nicht so grundverschieden von jener Vergangenheit. Sie wies in seinen Augen sogar erstaunlich und bedrohlich viele und große Übereinstimmungen mit ihr auf. In beiden Fällen, zu beiden Zeiten rasanter technischer und materieller Fortschritt bei innerer Öde und Verzweiflung. Grassierender Luxus und grassierende Verelendung. Mächte, die alles durchdringen wollen. Ein gespaltenes kollektives Weltbild, in dem sich Omnipotenzphantasien mit apokalyptischen Visionen durchkreuzen.

     Die Städte kennen nur das ihre und reißen alles mit in ihren Lauf  … Auch Rilke zum Beispiel war durchaus nicht von gestern.

     Also wieder Reformismus, Vegetarismus, Nudismus und Rechtschreibreform, wieder neue Balkan- und Orientkriege und Rettung der Welt durch Radfahren. Wieder eine Handvoll Großmächte, die der ganzen Welt ihre Regeln aufzwingen und selbst doch nur die Oberfläche sehr partikulärer Interessen sind. Wieder die Vorstellung vom ewigen Frieden, vom Ende der Geschichte, wenn nicht bei Königgrätz, dann 1989. Noch einmal das absolute Primat des Wirtschaftens, der ökonomischen Rationalität, bei deren Anwendung dann allerdings schwerste Fehler unterlaufen. Man muss nur wenige Namen und Begriffe auswechseln: für England Amerika, für Japan China, für Pfund Dollar, für Zivilisation Menschenrechte. Die Geschichte wiederholt sich in einer Spirale, die eher abwärts oder seitwärts als aufwärts führt, vom verkrusteten Klassen- oder Ständestaat über Emanzipationen zur Demokratie oder einer anderen Chimäre dieser Art, dann durch Krisen zu autoritären Systemen und nach Kriegen zu Restaurationen und neuer Prosperität, und alles endet vorerst noch nicht in diesem grell geschminkten Neoimperialismus von heute: sondern vielleicht erst in künftigen, nun doch alles auslöschenden Kriegen.

     Auch das würde eine Art Ende der Geschichte sein. Es machte ihn misstrauisch, dass ihn die Vorstellung der selbst verschuldeten Apokalypse heute weniger aufwühlte als zwanzig Jahre früher. Damals war er noch jung gewesen, das eigene Ende zeitlich weit entfernt und der Atomtod das absolut Hassens- und Fürchtenswerte. Ist das Individuum derart egoistisch, dass das Erschrecken über die Vernichtung der eigenen Art nachlässt, je näher es dem eigenen natürlichen Untergang kommt? Liegt es in seinem Fall vielleicht daran, dass er ohne Nachkommen sterben wird? Doch ist ihm auch an Vätern und Großvätern immer wieder das achselzuckende Sichergeben in die für unvermeidlich erklärten Katastrophen der Zukunft aufgefallen. Hassenswert ist dieser Fatalismus des Alters: seinen Anteil gehabt zu haben, die persönliche Bilanz ausgeglichen oder der Saldo sogar positiv, wenn man dahinfuhr.

     Doch ist es Selbstbetrug und Bilanzfälschung. Befriedigt stirbt vermutlich keiner. Immer bleibt ein Rest Sehnsucht, ein Überschuss an Versagen und eigener Schuld. Geboren werden, um zu scheitern. Und das Ende doch eine Katastrophe für jeden, da es ihn losreißt vom Strom des Lebendigen. Wie hat er das Bewusstsein davon als junger Mann nur ertragen, was ist sein Trost gewesen in Anfällen von Todesfurcht? Eben dass das Leben weitergeht, und zwar unabhängig von ihm. Auch das ist nicht originell. Doch ist es auf längere Sicht besser, anstatt originell wahrhaftig zu sein.

      Er sah zu dem schlafenden Cousin hinüber. Er fand ihn lebendig, lebendiger als sich selbst, also auch verletzlicher. Er musste ihn bald wecken, damit sie essen gehen konnten.

     Theo sagte beim Essen, er habe vorhin von seinem Vater geträumt. Er müsse ihn irgendwann doch wieder in der Anstalt besuchen. „Im Irrenhaus“, setzte er hinzu.

16. Gelb

Es war wieder einige Wochen später.

     Theo warf die Tür schwungvoll hinter sich zu, als sie auf den Hausflur hinaustraten. Die Holzfüllung der Kassettentür von 1902 orgelte im breiten Holzrahmen, und der Schall pflanzte sich über die alte, hölzerne Wendeltreppe in die oberen Stockwerke fort. Die Dielenböden leiteten ihn weiter, und den Bruchteil einer Minute dröhnte das gesamte Haus. Es klang nicht schlecht, fand Theo, der es vorher noch nicht ausprobiert hatte, wie eine anständige Wut, die sich hören lassen konnte. Doch entging ihm nicht, dass Manfred zusammenzuckte und er eine Bemerkung zurückhielt.

     „Man soll uns auch mal hören. Nicht immer nur alles erdulden.“

     „Ja, ja, du hast natürlich Recht. Ich habe auch nicht schlafen können.“ Manfred lächelte jetzt wie ein Chinese.

     Sie gingen zum Griechen.

     An diesem Samstag war Theo am frühen Nachmittag nach Hause, dort aber nicht zur Ruhe gekommen. Die Öztürks über ihnen – die Witwe mit ihrem jüngeren Sohn und der Tochter – empfingen fortlaufend Besuch. Der ältere Sohn kam mit Frau und Kindern und Schwiegereltern und weiterem Anhang. Dagegen war nichts zu sagen, hatte ihm Manfred schon einmal erklärt, und sie waren nicht einmal besonders laut; nur eine dauernde Unruhe über ihnen und im Treppenhaus. Es konnten nicht nur Verwandte sein, auch eine anatolische Sippe konnte nicht so viele Köpfe zählen. Die Haustür, schwerer Metallrahmen mit dicker Glasfüllung, schlug alle zwei oder drei Minuten krachend zu, dann ging es polternd die Holztreppe hinauf, die Abschlusstür ließ sich hören, und das Gemurmel über ihnen wuchs allmählich zu einem Brausen heran. Waren sechzig, siebzig oder hundert Personen den Nachmittag über da gewesen? Die Wohnung fasste sie nicht alle auf einmal. Daher vermutlich blieben die meisten nur eine gewisse Zeit, um dann Neuankömmlingen Platz zu machen. Zuzug und Abzug hielten sich die Waage, und auf der Treppe und im Hausflur wurde es eng. All das kannte er schon.

     Eine Zeitlang hatte er sie heute vom Fenster des Wohnzimmers aus beobachtet, ihr Kommen und Gehen. Sie sahen aus wie Bauern von früher. Einfache, einfarbige, dunkle Kleidung, ernste, in sich gekehrte Gesichter, erdige Hautfarbe, eckige Bewegungen. Vielen war anzusehen, dass sie zum ersten Mal vor dem Haus standen. Auch das war Hamburg. Sie sahen aus wie Menschen in seinem Heimatbuch zu Hause in Neustadt: Bauern im Grabfeld um 1905.

     Manfred sagte, ihre Versammlungen fänden jetzt drei- oder viermal in der Woche statt. Die Ersten kämen oft schon um halb zwölf am Vormittag, die Letzten gingen um halb eins in der Nacht. Es müssten Hundert oder mehr an einem Tag sein.

     „Was machen sie eigentlich da oben?“

     „Vielleicht trauern sie gemeinsam. Oder es ist eine Art Konventikel. Die Öztürk hat sich die Pfaffen ins Haus geholt, seit sie Witwe ist. Da ist religiöse Propaganda im Spiel. Und es werden manchmal auch Packen mit Flugblättern nach oben getragen. Sehen sie nicht wie Sektierer aus? Amish people auf Türkisch! Auswandern und sich treu bleiben. Unser Land ein Abbild der Fundamentalismen der Gegenwart, was für eine Bereicherung. Dabei habe ich die Öztürks jahrelang ganz anders eingeschätzt: als westlich orientiert, zu uns, das heißt nach Eimsbüttel passend, assimiliert eben. Und nun das. Es fing plötzlich, so und so viele Wochen nach dem Tod des Alten, mit einer Art Gedächtnisfeier an, die uns im Gedächtnis bleiben wird: sehr laut, orientalisch, die Geistlichkeit war da, schrille Klagegesänge über Stunden. Das Haus war einen Abend unbewohnbar.“

     „Kommen sie nicht auf den Gedanken, dass es rücksichtslos ist?“

     „Es sind ihre Bräuche. Und bei Bräuchen fragt man sich nicht, ob sie anderen, Fremden also, vielleicht lästig sind.“

     „Aber sie sind doch die Fremden hier.“

     „Von unserem Standpunkt aus. Und für andere sind wir die anderen. Vielleicht stört es ja auch diesen oder jenen, wenn wir einmal spät in der Nacht heimkommen – und nicht immer allein.“ Aber dann sagte er plötzlich, er habe es auch satt. Man müsste wegziehen, eine neue Wohnung, eine neue Gegend.

     „Vielleicht gleich ein Haus, endlich wieder ein Haus?“

     „Wäre am besten. Aber dafür ist es noch zu früh.“

     Das Essen kam. Sie schwiegen bis zum Ende der Mahlzeit. Theo grübelte. Worauf wartet der Große Cousin, fragte er sich. Klar, er will sehen, ob ich bei ihm bleibe.

     Erst dann sickerte allmählich in ihn ein, was Manfred vorhin vermutlich hatte andeuten wollen. Nicht die türkische Familie ist anders. Alle im Haus ertragen sie, soviel er weiß, ohne zu murren. Für die übrigen Hausbewohner sind doch eher sie beide die Fremden. Der Hausmeister hat ihn damals schon so eingeschätzt. Aber sie irren sich, er gehört nicht dazu. Er kann jederzeit wieder mit Frauen schlafen, er hat auch wieder Lust darauf. Er wird eine mitbringen, Manfred wird nichts dagegen sagen. Und Manfred selbst? Ist ein Fall für sich. Wahrscheinlich hat er die Männer so wenig nötig wie die Frauen. Sind der Cousin und er also nicht … wie heißt das … Spiegelbilder? (Ohne es zu bemerken, ahmte er neuerdings den Cousin bereits nach, wenn er nur für sich dachte. Er lernte denken wie Kleinkinder das Sprechen: durch Imitation.)

     Er bot ihm auf dem Heimweg erneut an, für sein Zimmer Miete zu zahlen. Doch Manfred wollte wieder nichts davon wissen, sagte, er sei Verwandter und Gast. Später vielleicht, wenn alles für eine gewisse Dauer eingerichtet sei … Also ist auch für ihn alles im Fluss und nichts festgelegt. Ist das gut? Immerhin, vielleicht ein Haus.

     Manfred fragte ihn, ob Ingrid wieder geschrieben habe.

     „Ja, sie wird allmählich unangenehm. Das muss ja alles bald geklärt werden, unser Haus, Unterhalt für die Kleine … Na ja, nicht heute. Demnächst.“

 

Eine Stunde später passierten sie erneut den Hausflur, um auf die Straße zu gelangen. Das Versammlungslokal über ihnen leerte sich um diese Zeit zügig. Drei landflüchtige Bauern, die auch hinaus wollten, traten verschüchtert zur Seite. Theo ärgerte sich, da er Manfred vom Gesicht ablas, es war ihm peinlich. Doch den Vortritt nicht anzunehmen, hätte ihren Aufbruch verzögert, und der Cousin wollte die alten, engen Mauern jetzt gerade so schnell hinter sich lassen wie er selbst.

     Draußen ließen sie die trocken-kühle Luft des Abends in die Lungen strömen. Die Brust weitete sich, wieder empfand Theo diese ihm schon vertraute Vorfreude. Wenn er in die Bars fuhr, in denen nur Männer verkehren, war das für ihn bereits wie ein Eintauchen in längst Vertrautes. So überließ er sich von jeher dem Schlaf: hineinsinken, eins werden. Die Grenzen der eigenen Person und Wahrnehmung wurden durchlässig für das nahe Verwandte. Er hätte es nicht analysieren können, er fühlte nur diese beträchtliche und unbestimmte Vorfreude auf die vor ihnen liegende Nacht. Gewiss, es ist nicht nur das Milieu, das einen wie einen Heimkehrenden aufnimmt, es stehen vielleicht auch neue Begegnungen bevor. Ihr Reiz liegt eben darin, dass sie überraschen, ohne zu überfordern. Sind es nicht Wiederbegegnungen?

     Als der Cousin aufstieg und sie losfuhren, war er sich sicher, dass Manfred gern hinter ihm saß und sich ihm beruhigt anvertraute. Er sah sich und ihn, wie andere sie sehen mussten, wenn sie in St. Georg ankamen und dann zufällig auch bemerkt wurden: Sie waren auf eine noch nicht präzise einzuschätzende Weise miteinander verbunden.

     Manfred dirigierte ihn zur Bronx, das sich nicht weit vom Village in einer anderen Seitenstraße befand. Theo war dort bisher noch nicht gewesen.

      Sie gingen eine kleine Außentreppe hinunter, nur einige Stufen. Die Bar lag halb unter der Erde. Ob sich der Abstieg überhaupt lohnt? Unten die übliche Eisentür. Der Cousin öffnete sie einen Spalt und schob sich hinein. Musikfetzen und Zigarettenrauch quollen ihnen entgegen. Theo trat hinter ihm ein, er kam sich wie sein mächtiger Schatten vor. Nach drei, vier Schritten blieben sie in der Menge schimmernd schwarz gekleideter Leiber stecken. Die Musik war hier weniger laut als im Village, das fiel ihm auf, das Gebrodel der Stimmen dafür stärker; das Licht wie bald nach Sonnenuntergang, noch klar die Konturen, aber die Farben, bis auf Gelb, nur noch Erinnerung.

     Er sah dann, es war ein sehr großes Rechteck, auf dem die Figuren sich locker verteilten. Nur gleich hinter dem Eingang war es eng gewesen. Er sah bereits von weitem Gesichter, die er kannte. Nur wenige von ihnen wird er noch grüßen, ihnen zunicken, später, so weit ist er schon. Und auch so weit, dass er jetzt an ein Schachspiel denken kann, kurz nach Eröffnung der Partie. Er selbst ist weder Bauer noch Läufer, eher Turm. Und wer fliegt als erster raus?

     Manfred ging zur Bar - das war ein großes inneres Rechteck -, um Bier zu holen. Der Tresen ging um drei Seiten herum. Da saßen auf Barhockern die, die vor allem eines wollen: quasseln. Im Gespräch versuchen sie immer, dich einzuwickeln. Theo mied sie, wo immer er konnte. Er fand doch nicht die passende Antwort, oder sie fiel ihm zu spät ein, und seinen Akzent würden sie komisch finden.

     „Mein Großvater war in der KPD, vor dem Krieg.“ Der das jetzt vor ihm sagte, war ein Wichtigtuer um die vierzig mit einem Schnauzbart, der an den Enden mächtig aufgezwirbelt war; vielleicht das einzige, das ihm steht, dachte Theo. Will er damit, dem Bart und dem Großvater, der in der KPD war, dem Jungen da imponieren? Der andere war hübsch wie … der jüngste Sohn des Sultans. Die massive Präsenz der Türken jetzt daheim war schuld an diesem Vergleich, der ihm in den Sinn gekommen war und den er gleich bei sich richtig stellte: Ja, doch, orientalisch, ein wenig schon, aber Türke ist er bestimmt nicht. Das ovale, bräunliche Gesicht unter dem schwarzen Haar war etwas üppig, besonders der Mund, doch der Körper schien schlank, dabei kräftig. Wenn er mit ihm ringen müsste, würde er vielleicht Mühe haben, ihn aufs Kreuz zu legen.

     Der Orientale hält die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der Rechten, die Hand irgendwo über dem Tresen in der Luft. Jetzt wechselt die Zigarette von rechts nach links, und er greift mit der frei gewordenen Hand schwungvoll zum Weißbierglas. Ein bislang unsichtbar gewesenes Kettchen blinkt am Handgelenk. Als einziger rundum trinkt er Weizen, das hier eigentlich gar nicht schmeckt.

     „Ich war auch in der Partei, bis ich rübermachte.“

     Er sächselt stark, und Theo ist erst mal baff. Der ist ja aus dem nahen Osten.

     Da kam Manfred mit dem Bier. Sie gingen einige Schritte weiter und stießen mit den Flaschen an.

     Die Bar sei groß wie eine Disco, sagte Theo.

     „Aber getanzt wird hier nur ausnahmsweise. Und wenn Disco Night ist, sieht mich hier keiner.“ Den Großen Cousin tanzend kann Theo sich auch nicht vorstellen. Doch er selbst würde sich das Gehopse gern mal ansehen.

     Manfred sagte noch: „Vorsicht, das Bronx ist kein Markt, kein Fleischmarkt. Eher eine Mustermesse oder eine Warenterminbörse. Aber wer kauft schon den Samen auf dem Halm.“

     Stefan, schon seit einiger Zeit alle überragend sichtbar geworden, ruderte heran, ein freundlicher Totenkopf mit einem noch vollständig erhaltenen Gebiss, das er entblößte. Jetzt kann er die beiden erst mal reden lassen und wieder zum Kaffeesachsen hinüberäugen. Manfred, der bald einmal nach Dresden fahren will, hat ihm neulich in einem Buch das Bild einer Moschee dort gezeigt, das Minarett wie ein gekräuselter Penis. Das war früher einmal – als der Großvater noch in der KP war – eine Zigarettenfabrik gewesen. Der Junge drüben hielt jetzt seine Zigarette wieder mit abgespreiztem Arm frei schwebend über den Flaschen und Gläsern des Tresens. Jedenfalls nicht zu männlich, der Knabe, und Theo fühlt das Minarett zwischen den eigenen Schenkeln, eine Versteinerung.

     Stefan führte bei ihnen jetzt das Wort, und je mehr Theo liebevoll die vermeintlichen Schwächen des Orientalen aufspürte und sie im Voraus seiner Lust dienstbar machte, umso mehr nahm er Anstoß daran, wie der Knochenmann selbst die Männer in ihrer Nähe bekrittelte. An herabsetzenden Äußerungen ließ er es durchaus nicht fehlen.

     „Diese Typen da, diese aufgetakelten Schlachtschiffe“, sagte er beispielweise und wies in die Runde, „sehen hier wunder nach was aus, sind aber draußen doch nur alte Scharteken.“ Er schüttelte sich, so viel Abscheu, vermischt mit Bewunderung, erregten sie in ihm.

     Dann kam ein sanfter, hübscher, dunkler Junge, gut gebaut, mit etwas abgerundeten Formen, alles an ihm so appetitlich sanft, und sicher war er gutartig – doch Stefan urteilte, er zeige das Gehabe eines Konditorfräuleins, schauderhaft. Und konnte den Blick nicht von ihm wenden.

     Von Anbeginn der Zeiten (eherne Formel, hier einmal angebracht) erregt es Männer, den einen oder anderen ihrer Geschlechtsgenossen zum Männchen zu degradieren. Blicke, Äußerungen, Handlungen bewirken eine Art Osmose, die die in beiden vorhandene Gesamtmenge Maskulinität neu verteilt. Dann ist es kein Aberglaube mehr – wie Genet noch annahm -, wenn sie, die als Männer Männer ficken oder sie auf andere Weise erniedrigen, sich für doppelt männlich halten. Ihre Stärkung verdanken sie jener Schwächung des anderen, die sie aktiv und voller Lust herbeiführen. Es ist ein Stück Menschenfresserei und zum Glück für die Lust unausrottbar. Theo, der sich diese Mechanismen zunutze machte und dabei zunehmend vorankam, fand sie zu Recht abstoßend, wenn er sah, wie andere sie anwandten: Was, wenn sie sich einmal gegen ihn richten sollten … So führt der gleiche Vorgang zu entgegengesetzter Reaktion, je nachdem ob man davon die Innen- oder die Außenseite erlebt. Soweit von den Subjekten, das Objekt mit seinen Empfindungen ist ein Kapitel für sich.

     Dann kam Octopussy, wie sie ihn nannten, und sie machten ihn beide herunter. Sein Cousin war voller Hass.

     Er kam kurz nach Mitternacht und schleppte seinen schweren Seesack quer durch die Bar zu ihnen.

     „Ich bin gerade mit der letzten Maschine aus Düsseldorf gekommen. Ich muss das hier erst mal loswerden. Bis später dann.“ Er sprach schnell. Die dunkle Stimme klang angenehm. Er war schlampig angezogen, nicht aufgezäumt wie fast alle anderen hier. Er trug einen Parka von unbestimmter Farbe, und die Jeans schlotterten um die langen Beine. Er war ein Riese wie Stefan und im Verhältnis zur Größe zu schmal, bis auf den Bauchansatz und das übrige Fett. Zwischen Doppelkinn und Stirnglatze flutete das Lächeln hin und her. Er musste intelligent sein.

     Vorerst kam er noch nicht zu ihnen zurück, sondern blieb nacheinander bei verschiedenen jungen Männern stehen und redete auf sie ein. Später stand er mit dem Seesack bei dem kleinen Sachsen und dem, der einen Kommunisten in der Familie hatte.

     „Ah, wir reisen jetzt mit dem Flugzeug, nicht mehr mit dem Zug“, stellte Manfred fest, und wenn er sich davon beeindruckt zeigte, war es sicher nur Ironie.

     „ … damals auf dem Klo“, ergänzte Stefan.

     „Aber er hatte immer eine Fahrkarte.“

     „Zwei Monate lang dieselbe. Solange sie gültig war.“

     Stefan erklärte es Theo noch genauer: „Mit ihr fuhr er zehnmal von Dortmund nach Hamburg und zurück. Deshalb die Flucht vor dem Schaffner. Nur nicht abstempeln lassen.“

     „Seien wir gerecht, beim Film verdienen sie nicht besonders viel.“

     „Aber jetzt geht’s ihm dafür richtig gut, scheint es.“

     Sein Spitzname war nicht schwer zu verstehen. Wenn er Freunde begrüßte, ging er mit ausgreifend rudernden Armbewegungen auf sie zu. Das hatte etwas von vereinnahmen wollen. Doch bald war sich Theo sicher, dass er hier nichts fürs Bett suchte.

     Manfred fing jetzt mit einem seiner Vorträge an:

     „Wie erklärt sich nur seine Beliebtheit? Ich glaube, es ist seine Allgegenwart, die zum Glück nicht von Dauer ist. Er ist immer auf der Rundreise. Innerhalb von zwei Stunden besucht er eine Reihe von Lokalen. Er bleibt nie lange, also wird er nicht lästig. Seine Beweglichkeit und die enorme Körpergröße suggerieren den Eindruck einer dynamischen Persönlichkeit mit Überblick. Er beherrscht die Technik, seriös zu wirken: sonore Stimmlage, scheinbares Interesse für die Interessen des Gesprächspartners. Er ist hässlich, daher fürchtet niemand seine Konkurrenz – ganz wichtig. Man hält ihn sogar für uneigennützig. Er hat durch Mimik und Gestik die leere Betriebsamkeit, das geistlose Gewäsch sozusagen veredelt. Jeder kann ihm folgen, auch der Dümmste an dieser Art von Geselligkeit teilhaben. Das ist das Rezept für einen ganzen Typus. Er ist umgeben von einer Corona blässlicher junger Männer.“

     Theo wollte protestieren: Auf den Sachsen passe das aber nicht. Stattdessen hörte er Stefan sagen: „Octopussy verträgt keine Ironie. Er lebt nur durch und in der Sub.“

     Manfred sah voller Abneigung und zugleich fasziniert hinüber: „Er ist das Medium.“

     Theo fand in allem, was sie gesagt hatten, Stefan in gewisser Weise mitbeschrieben. Manfred konnte darüber nicht vollständig im Unklaren sein. Warum gab sich der Cousin überhaupt so viel mit dem lächelnden Knochenmann ab? Was für eine Welt: Zu Hause die Türken und in den Bars die Tunten, das konnte einem auf die Nerven gehen. Und Manfred hasst die Stadt. Hasst er alles, was seine Welt ausmacht? Und doch lächelt er oft, auch er.

     Plötzlich stand Octopussy neben ihnen. Er sah aus, als hätte er etwas auszubügeln.

     „Moritz sieht aus, als hätte er eben eine Tafel Schokolade geschenkt bekommen. Das ist bei ihm die Wirkung von LSD. Er hat es von dem Schizophrenen bekommen.“

     Offenbar wussten außer Theo alle, wer Moritz und der Schizophrene waren. Theo fragte:

     „Kommt er aus Sachsen?“

     Octopussy lachte, und es klang helldunkel. „Nein, das ist Mischa. Der braucht das nicht. Nicht dass ich wüsste.“

     Er ging, ohne noch ein Wort zu sagen, zu dem kleinen Sachsen hinüber und berührte ihn an der Schulter und wies ihn auf Theo hin. Es war nicht zu verstehen, was sie dann besprachen. Vermutlich kam Theo erst jetzt in das Blickfeld des anderen, der plötzlich viel jünger aussah, ernster, knabenhaft streng. Er ist auf der Hut, dachte Theo, der Fall ist klar: abgeblitzt, nichts zu machen.

     Sie hatten alle drei schon genug und tranken rasch aus. Manfred ließ sich die Helme vom Barkeeper zurückgeben, und dann gingen sie fort. Auf der Straße trennte Stefan sich von ihnen, er wollte zurück in sein Café Licht.

     „Wenn sie schon geschlossen haben, fahre ich mit dem Nachtbus nach Hause.“ Er gähnte sie an. Er brachte es fertig, sie, selbst während er gähnte, anzulächeln.

     Sie verständigten sich mit einem Satz, ins Village zu fahren, wohin denn auch sonst? So ausgedehnt die Stadt war, ihre Möglichkeiten waren für Theo jetzt nur noch auf wenige Orte beschränkt. Eben als sie die Helme aufsetzen wollten, trat eine männliche Gestalt in der hier üblichen Aufmachung an sie heran, näher an den Cousin als an ihn, der nur aus sicherer Entfernung mit Kennerblick gemustert wurde.

     „Ach, du bist es, ich habe dich nicht gleich erkannt. Du bist wohl nicht mehr allein.“ Der Ton schwankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Der Unbekannte, Ende zwanzig, schlank, war so sehr Durchschnitt, dass ihn für Theo drinnen die Masse verschluckt haben würde.

     „Entschuldige, ich bin noch nicht ganz da. Ich bin etwas durcheinander … Ich bin gestern Abend mit der letzten Maschine aus Frankfurt gekommen. Die Zeitumstellung, weißt du …“

     Manfred fragte zurück: „Aus Frankfurt?“, und Theo hörte die Schärfe heraus.

     „Da bin ich nur umgestiegen. Ich war in Atlanta. Da wohnt doch mein Freund, weißt du nicht mehr? Ich war vier Wochen drüben.“

     Manfred, den Helm noch immer mit der Linken in Brusthöhe haltend, sagte darauf nichts.

     „Na, dann will ich euch mal fahren lassen. Macht’s gut.“ Ein letzter Blick streifte Theo, löste sich zögernd. Dann verschwand die etwas traurige Gestalt die Treppe zum Bronx hinunter.

     Sie brausten um einige Ecken, stiegen ab und hielten jeder nun wieder den Helm in der Hand.

     „Wer war das eben?“

     „Eine Straßenbekanntschaft. Ich glaube, er heißt Wolfgang. Er hat mich jetzt durcheinander gebracht. Ich habe ihn doch gestern Mittag auf der Steinstraße gesehen und vor einer Woche auch. Frag mich nicht, was das bedeutet. Und warum nimmt man die letzte Maschine aus Frankfurt, wenn man aus Atlanta kommt?“

     So auf den weiteren Verlauf der Nacht eingestimmt, stiegen sie in Philipps Reich hinunter.

     Philipp ließ ihn erstmals ohne Eintrittsgeld passieren, er winkte ihn bloß durch. Theo empfand etwas wie Genugtuung. Gehörte er schon zum inneren Kreis? Er übernahm es hier, die Helme am Tresen abzugeben und für Getränke zu sorgen. Der kleine Barkeeper nickte ihm zu, wie er es schon von ihm kannte, mit einem Blick unter langen Wimpern hervor, in dem mindestens Anerkennung lag, wenn nicht mehr. Es machte ihm heute nichts aus, ab jetzt anstelle von Bier Mineralwasser oder Limonade zu trinken. Er stieß mit dem Cousin an. Sie standen auf der kleinen Treppe, ihrem Logenplatz. Der kleine Präsident zog unten vorüber, Missbilligung im stechenden Blick. Theo fühlte sich endlich angekommen. Der Abend würde sich noch machen.

     „Wer ist das?“ Er deutete auf den neuen Gast, einen Vierziger, der mit sehr sanften Bewegungen an ihnen vorüberging und den Blick dabei träumerisch über sie hingleiten ließ.

     „Ich weiß nicht viel über ihn. Er ist stark in antiker Mythologie. Ich bin ihm mal in Berlin näher gekommen. Wir waren zu viert oder zu fünft im Schloss Charlottenburg, in der Porzellansammlung. Zu jeder Vase, zu jeder Tasse kannte er den mythologischen Hintergrund, also die Göttersagen der Griechen. Es war frappierend. Heute gibt es so etwas gar nicht mehr.“

     „Er wirkt so sanft. Und trägt sein rotes Tuch links.“ Theo wusste, dass sein Cousin kein Liebhaber der Faust war.

     „Ja, immer noch, das verdammte rote Tuch. Lass dich nicht darauf ein, es ist zu gefährlich. Vielleicht ist das bei ihm das nötige Korrektiv, denn er scheint allzu sanft, jetzt noch mehr als früher mit dem Blondhaar. Jetzt wird es allmählich weiß, wie überzuckert …  Ich weiß noch genau, wann ich mit ihm im Museum war. Es war das Wochenende, bevor Brandt als Kanzler zurücktrat.“ Manfred sagte noch, wenn man ihn sehe, begreife man, dass die Zeit vergehe, die Gestalten aber dieselben blieben.

     Kurz darauf machte Manfred ihn auf einen anderen Gast aufmerksam, einen stämmigen Mann knapp unter vierzig mit kurzem blonden Haar wie Stahlwolle. Er war das, was sie hier einen Kerl nannten, sehr gesetzt im Wesen, die Ausstrahlung durchaus männlich. Er war scheinbar oder tatsächlich durch nichts zu erschüttern und bot Theos Neigungen, die auf Überwältigung aus waren, keinen Ansatzpunkt.

     Manfred fand wie immer das treffende Wort: „Seine Ruhe hat etwas von einem Denkmal. Er ist nur halb von dieser Welt. Und ihr habt etwas gemeinsam.“

     „Und das wäre?“

     „Er ist – oder war – verheiratet. Früher sah man ihn ab und zu mit der Gattin in den Bars von Hannover. Kannst du dir hier jetzt Ingrid vorstellen, vorausgesetzt, man ließe sie herein?“

     Das war eine vollkommen absurde Idee, übrigens auch eine unangenehme Vorstellung, die ihm sogar leichten Ekel verursachte. Doch sah er den Hannoveraner jetzt mit rasch aufwallendem Gefühl brüderlicher Solidarität an: ihn kennenlernen, mit ihm reden …

     „Wie alle Bisexuellen nimmt er nie ganz den Stallgeruch an. Das macht ihn so attraktiv. Sie umschwärmten ihn früher wie die Fliegen den Sahnetopf, wenn die Gattin einmal abwesend war.“ Was sie besprachen, überdeckte die laute Musik, doch der Blonde schien ein anderes Organ für Manfreds Mitteilungen zu haben. Er sah ab und zu offen zu ihnen herüber.

     „Damals war er ein ziemlich munterer Geselle. Er ist seitdem viel ernster geworden. Das Alter bereitet sich vor. Ich finde, in Mimik und Gestik hat er jetzt etwas Starres, ja Erstarrtes. Wenn man ihn lange nicht gesehen hat und ihm dann wiederbegegnet, hat man plötzlich vor Augen, was man sonst als Prozess nicht wahrnimmt. Man sieht, so zieht das Leben sich aus uns zurück.“

     Theo hatte auf einmal die Vorstellung, in ein Museum geraten zu sein, mit dem Cousin als Wärter. Im Übrigen fand er, Manfred widerspreche sich selbst: Mal altern die Gestalten im Lauf der Zeit und verändern sich, mal bleiben sie trotz Zeitablauf dieselben. Doch der Cousin würde ihm, übergescheit wie meistens, lang und breit zu erklären versuchen, dass das gar kein Widerspruch sei, es seien nur zwei Aspekte derselben Sache oder desselben Vorgangs, richtig verstanden: Er hörte ihn schon im eigenen Inneren reden. So kam man natürlich nicht weiter.

     Er gab den Platz an Manfreds Seite auf und sagte, er wolle sich mal in den übrigen Räumen umsehen, und verließ die Treppe. Dabei hoffte er, der Bisexuelle würde ihm folgen.

 

Manfred weiß nicht, warum Theo weitergegangen ist. Er stellt sich die Frage gar nicht. Er starrt jetzt gebannt in diesen Schacht, den die Vergangenheit darstellt. Da unten bewegen sich winzige Figuren, verloren, ohne Verbindung zur Gegenwart, eine von ihnen sein jüngeres Selbst.

     Es blieb offen, ob Fred ihn wiedererkannt hatte, und seine Annäherung wäre nicht einmal erwünscht gewesen. Doch war seine stumme Gegenwart – er war stumm wie ein Idol – notwendig, damit dieser magische, tranceähnliche Zustand erhalten blieb.

     Damals, zehn Jahre früher in Hannover, war Fred noch voller Behagen am eigenen Dasein gewesen, offenkundig einverstanden mit sich und seiner Welt, dabei nicht eitel oder paschahaft. Wahrscheinlich nahm er sich selbst nicht allzu wichtig. Er empfand sich damals als Teil eines wunderbaren Gesamtzusammenhanges. Er ließ sich treiben, dahintreiben in diesem Strom von Sympathie und Eros. Er war voller Mutwillen und schmuste mit den jungen Männern, die immerzu hinter ihm her waren. Von einem ließ er sich im Vulkan einen blasen, es ergab sich so, es lief ihm mit unter. Es war während des Altstadtfestes, und man sah nicht so genau hin. Seine Frau bekam man damals nicht zu sehen.

     Zwei lange Nächte blieb Manfred auf ihn fixiert. Fred ging ihm freundlich aus dem Weg. Das war auch eine Art Auszeichnung. Manfred wollte sie sich verdienen. Am Ende der zweiten Nacht im Vulkan folgte er ihm auf die Straße und blieb als Zuhörer neben ihm und seinem Begleiter stehen. Das war ein kleiner, dicker Berliner, der sich in allen Städten mit der Kamera eine Sammlung der attraktivsten Kerle zusammenschoss. Fred hatte ein Problem (wie es später hieß): seine Frau auf das Fest der schwulen Ledermänner mitzubringen. Er sprach gescheit und flüssig, diskursiv im Stil der Siebziger, die noch nicht lange vorbei waren. Manfred hatte ihm weniger zugetraut.

     Dann ging der Berliner fort, und sie standen zu zweit allein auf der Langen Laube. Ob er auf eine Zigarette mit hinaufkommen wolle? Es war die Wohnung eines Freundes von ihm. Eine Zigarette wurde Manfred dann gar nicht erst angeboten. Alles verlief zügig, beinahe schon sachlich. Dabei war Fred von Grund auf freundlich. Er ging vollkommen in seiner Rolle auf. Keine Differenz im Bewusstsein verriet sich durch Zeichen, Geste, Worte wie sonst meistens, es gab sie vermutlich auch nicht. Hinterher rauchte er eine Zigarette. Wie die meisten Motorradfahrer rauchte er, und zwar bedenkenlos, den Genuss genießend. Manfred fällt jetzt ein, dass Theo nie geraucht hat. Hier beginnt bei ihm schon die Abweichung. Das Bild von sich selbst und die übernommene Rolle decken sich nicht vollständig, und die Rolle wird zum Klischee. Theo und er, sie waren wirklich Verwandte.

     Manfred fragte, ob ihn seine Hartnäckigkeit nicht gestört habe.

     Nein, sagte Fred, er selbst sei bloß übermüdet gewesen, erschöpft eigentlich. Er habe fast nicht geschlafen und am Tag gearbeitet. Erst vorhin, in der frischen Luft, sei es ihm dann besser gegangen. Ob er, Manfred, öfter nach Hannover komme?

     Manfred fuhr dann jahrelang nicht mehr dorthin. Dabei dachte er oft an Fred.

     Fred sah sich heute beinahe scheu im Lokal um. Er sah jetzt aus wie nach einem großen Fest, das ihn erschöpft hatte. So war es tatsächlich, seine Substanz war unverändert, doch das Fest war vorüber. Nichts ließ sich nachholen. Alles, was hätte sein können, war auf einen eiligen Fick im Morgengrauen reduziert worden. War deshalb sein Blick in die Vergangenheit oft so verzweiflungsvoll: Manfred erkannte im Rückblick die Zukunft der Vergangenheit wieder, das dann jeweils nicht gelebte Mögliche.

     Fred saß noch immer auf seinem Barhocker drüben. Was war noch zu tun? Sich gemeinsam über den Schachtrand zu beugen, kam nicht in Frage. Es war unmöglich oder der Tod. Der Tod wird so sein: hinabstürzen, und Gegenwart und Vergangenheit fallen in eins. Sie werden identisch sein, und die Zukunft in der Vergangenheit wird aufgehört haben. Nichts als Frieden, Beruhigung, vielleicht das Nichts.

     Irgendwann muss Fred dann seinen Helm genommen und hinaufgegangen sein, wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, als der Exhibitionist schon eingetroffen war.

 

In der Zwischenzeit war es Theo gelungen, eine vielversprechende Bekanntschaft zu machen. Der bisherige Verlauf der Nacht hatte ihn weicher, bedürftiger werden lassen. Diesem Mischmasch musste etwas entgegengesetzt werden, das rein positiv war. René schien hervorragend geeignet, sich ihn in zu verlieben. Er besaß die dunklen Ringellöckchen, den Schlüsselreiz Nr.1, und sein Haar war kraus von Natur, wovon Theo sich später überzeugte. Seine Ausstrahlung hatte etwas von dunklem Moos unter alten Bäumen oder von dunklem Honig, der ein wenig rauchig schmeckt. Er war älter als Theo – er war schon in den Dreißigern -, doch dem Anschein nach nicht reifer. Kurz gesagt, seine Erscheinung war von einer Männlichkeit, die Theo sogleich sympathisch berührte und von der er sich nicht bedroht fühlte. Zunächst stand René am Speisetisch, an der Kabeltrommel also, ohne sich an sie oder an die Wand anzulehnen. Als sie sich genügend lange ernsthaft aus zwei Metern Entfernung in die Augen gesehen hatten, drehte René sich um und ging langsam einen Raum weiter ins Dunkle hinein. Sollte er ihm dahin folgen? Theo war noch nicht daran gewöhnt, diese Spur aufzunehmen. Er sah, wie verschiedene Blicke sich an Renés Rückseite hefteten. Er war schmal in den Hüften, dennoch nicht mager. Eine Welle erster Erregung spülte ihn, Theo, dem René hinterher, der drinnen vor einer dunklen Wand auf zwei festen Beinen stand und wartete, wiederum ohne sich anzulehnen. Theo nahm neben ihm Aufstellung. Da der andere etwas kleiner war und Theo in allem mit ihm auf einer Höhe sein wollte, drückte er die eigene Rückseite gegen die Mauer und rutschte ein wenig an ihr hinab. Sein Gesäß verlagerte so das Gewicht seines mächtigen Körpers auf die Wand. Vor ihm hatten es Unzählige ebenso gemacht.

     Er sagte dann, er heiße Theo. Jener Hartmut hatte sich auch persönlich vorgestellt, jetzt fiel ihm dieser Name wieder ein. So erfuhr er den des anderen: René. Es kam ein wenig verwundert. Es war gerade hier, wo sie nun standen, vielleicht doch nicht üblich, so zu beginnen. Er legte also den Arm um René.

     Ob er Motorrad fahre, fragte René. Vielleicht hatte er es aus den speziellen Stiefeln geschlossen.

     Ja, schon lange und immer noch mit Begeisterung.

     René sagte, er sei früher auch gefahren, und küsste ihn. Erstaunlich, dass man so küssen konnte, fest und innig zugleich; er hatte es so noch nicht geschmeckt. Ein sehr freundlicher Mann öffnete sich ihm und drang zugleich ein wenig in ihn ein, ein wundervolles Versprechen.

     Nach einer Weile schlug ihm Theo vor, mit ihm auf dem Motorrad nach Eimsbüttel zu fahren. „Mein Kumpel leiht dir seinen Helm. Er wird hoffentlich passen.“

     Doch René war, wie sich herausstellte, ein Mann mit gewissen Grundsätzen. Er war mit seinem Freund in die Bar gekommen und würde nur mit ihm heimfahren. Hier im Lokal habe er freie Bahn. So hielten sie es schon seit einer Reihe von Jahren. Sie beide könnten jetzt in eine Kabine gehen.

     Theo lehnte gleich entrüstet ab: „Doch nicht aufs Scheißhaus! Ist nicht mein Niveau. Und dafür bist du mir auch zu schade.“

     René, wenn es ihm auch schwer fiel, blieb männlich fest. Die Treue, die seine Küsse Theo versprachen, hielt er erst recht dem älteren Freund. Beides ließ sich, zeitlich und räumlich getrennt, gut vereinbaren. Es war wirklich nichts zu machen. Theo machte sich von ihm frei und ging, zwar verärgert, doch immer noch angenehm erregt, zurück ins Helle. Manfred würde ihm Recht geben.

     Manfred stand noch immer auf der kleinen Treppe, und zwar jetzt im Gespräch mit einem vollkommen nackten jungen Mann. Was war denn das? Nein, er war nicht völlig nackt, immerhin trug er eine Armbanduhr, außerdem Turnschuhe und Socken. Der Junge hatte ein hübsches, intelligentes Gesicht. Sie plauderten, während sich in gewissem Abstand ein Halbkreis von Gaffern gebildet hatte. Am meisten staunte Theo darüber, dass sein Cousin die Situation sichtlich genoss, er, der sonst jedes Aufsehen zu vermeiden suchte.

     Manfred winkte ihm zu. Er ging zu ihnen. Das sei Klaus, er solle sich nicht den Kopf zerbrechen, Klaus sei halt so. Er, Manfred, habe bloß immer Angst, Klaus könne sich verkühlen. Sie kannten sich also schon länger.

     Klaus gab ihm die Pfote, brav wie ein Konfirmand. Es war wirklich lächerlich.

     „Wie bist du hergekommen?“ fragte Theo.

     „Nicht so“, lächelte Klaus, im Ausdruck des Gesichtes etwas leicht Irres.

     „Gewöhnlich“, sagte Manfred, „kommt er in einem langen, weiten schwarzen Ledermantel. Darunter ist gar nichts. Er kann ihn jederzeit zurückschlagen und kleine Mädchen oder kleine Buben erschrecken.“

     Nun ja. Der Nackte war übrigens nüchtern und im Ganzen ziemlich ernst. Je länger sie beisammen standen, desto nervös überspannter wirkte er. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und sagte, er müsse jetzt einmal herumgehen und sich zeigen.

     Theo blieb bei Manfred stehen und sah mit ihm auf die Männer vor ihnen. Der Kontrast war in der Tat frappierend. Sein an sich nur mattweißes Fleisch erstrahlte inmitten dieser düster glänzenden schwarzen Masse, die unruhig zuckte. Sie regte sich auf, sie ärgerte sich, und sie lachte. Klaus wirbelte rasch durch alle Ecken und Räume, immer an seinem Schwanz herumspielend. Dabei sah er aus wie ein Eichhörnchen, das eine Nuss zu öffnen versucht.

     „Es hat was“, sagte Theo widerwillig.

     „ … wie ein Rembrandtbild. Die Anatomie des Doktor Tulp paradox. Die anderen sind nämlich die Leichname.“ Später verglich er die Szene mit dem Bild einer Schützengilde, das von einem Maler namens Hals war. Wie Manfred es sagte, so war es: Derjenige, der sich jetzt väterlich tätschelnd um Klaus bemühte, sah wirklich altholländisch aus: volles Gesicht, Doppelkinn, langes, blondes, stark graumeliertes Haar. Manfred sagte, er sei von Beruf Schauspieler und trete gewöhnlich auf Bühnen für Kinder auf. „Ist er nicht zum Fürchten?“

     Theo dachte zum zweiten Mal: was für eine Welt.

     Sein Cousin beklagte sich, man habe ihn neulich auf die Phimose von Klaus angesprochen: als wäre er dafür verantwortlich! Theo begriff, dass Manfred an Klaus gar nichts lag, nur am ästhetischen Reiz der aufgeführten Szene und an der Sensation an sich. Sonst ein Leisetreter und nun den Schutzengel für einen Exhibitionisten in einem Lokal für Lederfetischisten spielen … Wenn es auch Manfred ist, sein Cousin, ein bisschen widerlich ist es schon. Sein Überdruss muss sehr groß sein. Am besten, man schweigt.

     Manfred spürte vielleicht die Kühle, die zwischen ihnen neu war, und sagte, er wolle sich um Klaus kümmern. „Er braucht eine Folie. Neulich hat ihm einer mit Absicht Bier über den nackten Körper gegossen.“

     Sie verließen gleichzeitig die Treppe und gingen nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander.

     Theo ging pissen. Das jedenfalls war eine Erleichterung. Er zog den Reißverschluss mit einer Gebärde der Verachtung hoch. Als er vom Becken zurücktrat, entdeckte er an der Wand gegenüber René, der jetzt nicht zu ihm herübersah. Theo hatte während des Pissens keine Schattenbewegung hinter sich wahrgenommen. Wahrscheinlich hatte René hier schon längere Zeit gestanden.

     Er betrachtete ihn mit erneutem Verlangen, er war nun einmal sehr sympathisch. René schaute gleichmütig in die Luft. Da brachte Theo die letzten drei Schritte bis zu ihm auch noch hinter sich. René zog ihn ohne Umstände erst an sich und dann in die einzige freie Kabine hinein. Er verriegelte die Tür. Es kommt nicht mehr darauf an, dachte Theo. Manfred hofiert einen nackten Irren, und das hier wird ja die Ausnahme bleiben.

     Wenn René ihn berührte, verströmte er sich dabei, schon mit den Händen. Dass ein männlicher Mann so zärtlich sein konnte … René versuchte ihn zu ficken und küsste ihn gleichzeitig. Jetzt hinter Theo stehend – er war auf den kleinen umlaufenden Mauersockel getreten -, bog er ihm mit der Linken den Kopf zu Seite, küsste ihn mit einer zärtlichen Gier und traf mit der rechten Hand zur gleichen Zeit die Vorbereitungen, um in ihn eindringen zu können. Theo nahm all dies parallel wahr, nach Atem ringend. Sein Mund kam Renés Mund immer mehr entgegen, so weit es eben noch ging. Das war sehr schön, aufregend schön, so an die Grenze zu geraten, mit ihm gemeinsam. Aber noch weiter gehen? Er spürte, wie die Muskeln seines Unterleibes sich verhärteten. Nein, weiter nicht, er wollte nicht ganz und gar überwältigt werden. René spürte die Verkrampfung und ließ zunächst einmal von ihm ab. Dann nahm er ihn bei den Schultern und drehte ihn zu sich herum und küsste ihn erneut. Noch sein Verzicht war voller Lust und Zärtlichkeit. Den Versuch, ihn seinerseits zu ficken, wagte Theo dann nicht mehr. René, so kam es ihm vor, hatte aus lauter Zuneigung verzichtet. Es ging dann harmlos schülerhaft weiter, bis sie sich verausgabt hatten. Darüber ist nichts weiter zu sagen.

     René hatte es eilig heimzukommen. Er sagte: „Bis zum nächsten Mal.“

     Theo stand noch eine Weile in einer Nische in der Nähe. Da wäre ihm eben beinahe etwas passiert. Aber ihm doch nicht … Er lächelte vor sich hin und in sich hinein, auf seine alte Weise.

     Er war jetzt ausgeglichen. Die innere See war nach Stürmen wieder einmal zur Ruhe gekommen. Viel gelassener wird er Manfred begegnen.

     Doch Manfred war verschwunden. Er fand weder ihn noch den nackten Idioten, wie er ihn bei sich nannte: Er begann sich schon wieder aufzuregen. Er suchte alle Räume ab. Sie waren nicht im Hellen und nicht im Dunklen. Sie mussten irgendwohin gegangen sein – wozu? Sehr wahrscheinlich wird Manfred zurückkommen. Das war nicht seine Art, fortzugehen, ohne ein Wort zu sagen. Ihre beiden Helme lagen noch auf dem Bord hinter dem Barmann.

     Theos suchenden Blick fing ein kleiner Blonder auf, der allein am Tresen stand. Er war um die dreißig, trug Chaps und Stiefel mit Absätzen. Er war hager, und im Gesicht zuckte es fortwährend spöttisch. Der ist ja abgefeimt, war Theos erster Eindruck. Seine Miene war wie geschaffen, Theo überhaupt und jetzt erst recht angenehm aufzufallen. Sie stellte ruchlose Pfiffigkeit über einem durchscheinenden Fond grundguter Vernünftigkeit zur Schau. Er hatte wirklich etwas Durchscheinendes und dabei Leuchtendes. Es war nicht viel an ihm dran, dafür – wie Theo bald herausfand – umso mehr drin, nämlich im Hirnkasten.

     „Trinkschd ein Bier mit?“ Das I kam sehr hell, betont, fast spitz. Er sprach Hochdeutsch mit Einsprengseln von verschärftem Bajuwarisch. So läuft ein Hund wie andere Tiere auf vier Beinen die Straße entlang, um an der Ecke das Bein zu heben, diese unnachahmliche Bewegung, in der sich hündische Eigenart ausdrückt. Doch tun es die Kater auch. Matz hatte etwas von einem streunenden Kater.

     „Eigentlich ist Matthias richtig. Aber alle sagen Matz, seit ich bei den Jesuiten war. Ich war dort in Vorarlberg der Hosenmatz, der Matz mit dem Hosenlatz.“ Er lachte laut heraus.

     „Jesuit warst du?“

     „Natürlich nicht. Ich war nur bei ihnen im Internat, bis sie mich rausschmissen. Ich war ihnen zu frühreif. Sie hatten sehr schnell, verdächtig schnell heraus, was mit mir los war.“ Er fasste zwischen seine Schenkel und liebkoste dort etwas. „Ich war ansteckend. Diese Seuche musste eingedämmt werden. Also, trinkschd ein Bier mit?“

     Manfred sagte nein, er müsse sein Motorrad nachher noch einigermaßen sicher lenken.

     „Ah, du bist mit dem Motorradl da. Da liegen aber zwei Helme, welcher ist der deinige?“

     „Der schwarze.“ – „Und der silberne?“ – „Gehört dem Manfred.“ – „Und mit dem bist du hergefahren. Dein Freund?“ – „Ich wohne bei ihm.“ (Auf Nachfrage: Schon länger.) – „Also kein Freund und du logierst bei ihm. Am End zahlst du ihm gar Mietzins?“ – Noch zwei Züge in diesem Frageschach und er kannte auch den Grad der Verwandtschaft. Dass Theo aus Franken kam, hatte er schon herausgehört, ohne den Akzent komisch zu finden.

     Er und Theo tranken also Mineralwasser. Das sei gut, Sprudel zu trinken, etwas Feines, Gesundes, da könne man gut und viel schiffen.

     Von den Jesuiten war er erst mal nach „Innschpruck“ heimgeholt worden. „Hab dann lang in Wien studiert, Architektur. Aber irgendwann muss man halt anfangen, Geld zu verdienen …“ Er sei jetzt bei einer Münchner Exportfirma, die viel in den Orient liefere. Vorige Woche sei er erst wieder vom Golf zurückgekommen. Doch die Hexen im Ochsengarten seien ihm nun mal zuwider. So sei er heute spontan nach Hamburg geflogen und stehe bisher bloß hier im Village herum.

     Theo hatte wirklich noch nie vom Ochsengarten gehört? „Was, du bist noch nie am Abend in der Münchnerstadt ausgegangen? Auch nicht in Frankfurt?“ Er sei doch nicht am Ende in Würzburg in den Park gegangen? Das sei das einzig Perverse: Es wortlos im Dunkeln zu treiben, Sex ohne Worte – das sei doch entmenscht. Durch gezielte Fragen deckte er bald alles auf: Ingrids Existenz daheim und auch die des Kindes.

     Weiber finde er persönlich abscheulich, sagte Matz. „Du bist einer von den Brüdern, die man befreien muss. Ich gehöre zur Männerbefreiungsarmee. Setz dich dahin.“ Er drückte ihn mit seinem geringen Gewicht auf den nächsten Barhocker und blieb dicht vor ihm stehen; jetzt waren sie gleich groß. Matz küsste ihn knabenhaft, küsste vermutlich immer noch so wie damals bei den Jesuiten in Vorarlberg.

     Waren es nur die radikalen Sprüche eines Frauenhassers, die für andere ohne Bedeutung waren? Doch Theo gestand sich ein, er fühle sich tatsächlich oft unfrei. Mit ihm musste sich noch allerhand ändern. Matz hatte ihn rasch durchschaut, er musste intelligent sein. Matz stieß ihm, wie zur Bekräftigung dieses gedanklichen Resultats, ein Knie zwischen die Schenkel und küsste ihn so, als ließe er ihn verbotene Früchte schmecken.

     Theo war nicht erbaut, als Manfred jetzt zurückkam und bei ihnen stehen blieb.

     „Dass du so einen lieben Cousin hast …“, sagte Matz zu ihm. „So einen möchte man selbst haben.“ Natürlich, Manfred kannte auch ihn, wen denn nicht.

     Manfred war mit Klaus in eine kleine Tuntenbar in der Nähe gegangen, um sich daran zu weiden, wie die Gäste schockiert würden. Aber sie hatten überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Manfred sagte: „Klaus’ Aktion verpuffte einfach. Als hätte einer in der Ersten Klasse der S-Bahn gerülpst. Wir sind ja viel zu vornehm, um so etwas zu bemerken. Klaus ist dann gleich nach Bielefeld zurückgefahren – wütend. Hoffentlich gerät er nicht auf der Autobahn in eine Verkehrskontrolle.“ Manfreds Grinsen besagte, er für sein Teil finde diese Vorstellung amüsant.

     Matz ließ sich den Fall erklären. Er bewunderte den Exhibitionisten, ohne ihn zu kennen. Das sei gut, radikal gut. Er verwirkliche sich im radikalen Widerspruch zu seiner Umgebung. „Hier heißt es doch bei vielen: Ohne Leder läuft bei mir gar nichts, und da konfrontiert sie einer mit der Nacktheit. Wirklich radikal gut. Bei mir allerdings“, er legte den Arm um Theo und schien über sich selbst zu spotten, „läuft ohne auch nichts.“

     Dann erinnerte er Manfred an einen Münchner Transvestiten, der als Kellnerin in einem Wirtshaus an der Lindwurmstraße arbeite. Auch der sei konsequent. Dabei sei er privat äußerst spießig, mit einer kitschigen Muttergottes im Schlafzimmer.

     Manfred sagte, ironisch lächelnd: „Wenn du so sprichst, wird mir warm ums Herz. Bist du nicht ungefähr zehn Jahre jünger als ich? Aber du redest, wie es in meiner Jugend üblich war. Liegt es daran, dass du aus Innsbruck kommst? Das ist wohl eine sehr konservative Stadt, und mir scheint, ihr holt die Sechziger und Siebziger jetzt nach. Ihr erfindet alles noch einmal. Vielleicht gelingt es euch besser.“

     Matz antwortete, der Erfolg falle immer nur dem Einzelnen zu, und nur für eine begrenzte Zeit. Darin waren sie sich einig. Theo spürte, wie ironischer Respekt die beiden mehr verband als trennte.

     Matz wandte sich an Theo: „Fahren wir zu dir, oder fahren wir zu dir?“

     Manfred wollte noch im Village bleiben. Sein Helm passte Matz nicht, er war ein wenig zu groß. Matz sagte, er sitze ohnehin nicht gern auf dem Sozius, er werde ein Taxi nehmen und nachkommen.

 

Theo erwachte am anderen Morgen als Erster von beiden. Es war ungewöhnlich still im Haus. Ein Blick zur Armbanduhr: schon elf Uhr. Auch in den Höfen war es still – Sonntagmorgen. Obwohl das Fenster gekippt war, hatte ihn das Geläut der Apostelkirche heute nicht aufwecken können. Er musste sehr tief geschlafen haben.

     Verdrossen musterte er die Möbel im Zimmer, auch Erbstücke von den Großeltern. Manfred wird den Schrott hoffentlich durch etwas Neues, Anständiges ersetzen, wenn es zum Umzug kommt. An das Gespräch mit dem Cousin erinnerte er sich noch. Was war außerdem gewesen? Da lag Matz, die eine Wange fest ins Kissen gepresst, noch immer im Tiefschlaf. Nein, doch nicht, jetzt hustete er, ohne die Augen zu öffnen. Es ging eine ganze Zeitlang so, war wohl ein Reizhusten. Er raucht zu viel, mit dem schmalen Körper. Dieser René war viel kräftiger. Die Erinnerungen kamen bruchstückhaft und schwammen dann an der Oberfläche wie Treibholz, ohne etwas Brauchbares, Ganzes abzugeben. Sie mussten viel getrunken haben, zu viel Bier – sonst noch etwas? Bier vertrug er doch in größeren Mengen. Eigentlich würde er jetzt gern pissen gehen, aber dann würde es mit der Ruhe vorbei sein. Einer würde bestimmt auch noch aufstehen, Manfred oder Matz. Er hörte Matz wieder sagen: „Du willst nicht, du willst jetzt noch nicht? Na gut, den Druck noch eine Weile spüren, das ist auch ganz schön. Und später kommt es dann es ja doch.“ Das war heute Nacht gewesen, genau das.

     „Das“ war ein eigenartiger Kreislauf des Bieres. Sie küssten einander und tranken und küssten und ließen das Bier von einem Mund in den anderen hinüberfließen. Wer von ihnen hatte mit diesem Spiel begonnen? Auf jeden Kuss folgte ein großer Schluck lauwarmes Bier. Matz hatte das Taxi unterwegs vor einer Pinte halten und sich sechs oder sieben Flaschen mitgeben lassen. Der Druck auf die Blase nahm zu. Matz ließ ihn zwischen all diesen Küssen nicht aus dem Zimmer. Sie tranken gemeinsam aus der letzten Flasche. Als sie halbleer war, füllte Matz sie mit dem eigenen Strahl auf, trank sofort davon, küsste ihn und ließ es hinüberströmen. Er brachte ihn dazu – auf welche Weise eigentlich? -, es geradeso zu machen. Es schmeckte nach gar nichts oder vielleicht nach Dünnbier. Sie kamen immer mehr in Fahrt. Nachher standen sie gemeinsam im Bad und versuchten, ins WC-Becken zu zielen, und lachten, die Arme einander um die Schultern gelegt, und küssten und schifften und schifften, endlich.

     Er, Theo, ist also heute Nacht wieder nicht zu einem richtigen Fick gekommen. Manche sagen ja, man müsse alles einmal mitgemacht haben. Er will das lieber offen lassen. Renés Körper hat ihm, wenn er ehrlich sein soll, mehr zugesagt. Und doch könnte er sich eher in den kleinen Wichser da verlieben, wenn überhaupt. Er sah ihn an, der nur seinen Halbschlaf retten wollte, als Theo sich über ihn beugte. Da ist eine merkwürdige Stelle auf der Wange, irgendein altes Geschwür, das nicht richtig verheilt, nicht hübsch die Stelle, aber sie macht ihn sympathisch. Und drumherum ist ein Kranz blonder Härchen, da rasiert er sich nicht. Pass auf, Theo, sagte er sich, du wirst doch keinen Kerl heiraten wollen – oder?

     Er stand auf und ging ins Bad. Das war für Manfred das Zeichen, ein Frühstück für drei vorzubereiten.

     Die Morgenzigarette, auf der Bettkante geraucht, brachte Matz wieder auf die Beine. Beim Frühstück konnte Theo wieder einmal nicht mitreden, aber er begriff fast alles, was sie sagten, auf jeden Fall mehr, als die beiden ihm vielleicht zutrauten. Sie plusterten sich auf, noch mehr als in der Nacht davor.

     „Was ist denn aus deinem Fruko geworden, deinem frustrierten Kommunisten?“

     „Maximilian?“

     „Ja – war das ein Frühstück! Ich konnte kaum essen, weil ich das Lachen so oft unterdrücken wollte. Hast du ihn wieder mal hier gehabt?“

     Manfred sagte, er sei im März einige Tage auf Besuch gekommen, und er sei nie Kommunist gewesen.

     „Allerdings kommt mir da eine Erinnerung. Vor zwei Jahren war ich mal bei ihm da unten. Sie hatten ihr jährliches Sommerfest, eine schwule Fête (sagte er zu Theo). So etwas Stumpfes, dagegen ist ein Kindergeburtstag bei MacDonalds eine elitäre Veranstaltung. Die trübste Nacht im Village hat zehnmal mehr erotische Spannung. Ich erlaubte mir also Kritik und bekam von Max zu hören: Es sei doch gut, es sei doch unser Fest, also müsse es gut sein. Ich kam mir vor wie ein Dissident in Osteuropa, wenn er von der Staatspartei vergeblich das Streikrecht fordert. Ich setzte mich vorzeitig ab. Damals hier hast du ihn aus der Fassung gebracht.“

     Dann spielten sie es Theo und sich selbst vor.

     Manfred als Max, erst salbungsvoll, dann gespielt genervt, so wie ein Redner sich selbst unterbricht und sagt: Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt – Max also damals: „Ich werde sagen: Es geht um die Rückgabe der Würde. Geben wir sie uns selbst zurück. Seien wir stolz. Nicht stolz auf irgendetwas, seien wir stolz im Sinn von aufrecht. Seien wir stolze Schwule …“

     Matz flegelte die Ellenbogen breit über den Tisch, legte den Kopf schief auf die übereinander gelegten Unterarme und fletschte ihn an wie ein Achtjähriger.

     Manfred als Max: „Also was soll denn das infantile Getue?! Lass das doch. Immerhin …“

     Die beiden kugelten sich.

     Manfred in seinem üblichen Ton: „Er hat damals die Wirkung seiner Römerbergrede schon einmal ausprobieren wollen. Du hast es ihm vermasselt. Übrigens glaube ich, die Sache mit Stolz und Würde ist geklaut. Aber Kommunist war er nie, er kommt von den Achtundsechzigern, wie wir alle.“

     „Wird bestritten“, sagte Matz.

     „Die Achtundsechziger wenigstens als Kohorte im Sinne der Soziologen verstanden“, lenkte der Cousin ein.

    „Die Soziologen! Eine Kohorte! Mit so einem gehöre ich unter gar keinem Oberbegriff zusammen. Leute wie er sind die Kinder von Häuslern, die die Sozialdemokratie erst hochgepäppelt hat.“

     „Häusler, das kann nur einer sagen, dessen Leute von jeher zum Dorfadel zählten, seit den Rätoromanen.“ Manfred war jetzt vielleicht wieder ironisch, man wusste es manchmal nicht genau bei ihm.

     „Aus den Kälbchen sind Kühe geworden, die nur zwei Sachen verstehen: Muhen und Wiederkäuen. Und sie haben nur eines im Sinn, wie jedes echte Rindvieh: Grasen! Auch ihnen geht es nur um die Weiderechte, allem Muh zum Trotz.“

     „Er will jetzt in den Landtag.“

     „Warum nicht gleich Minister werden?“

     „Du verabscheust ihn, weil du ihn für einen Emporkömmling hältst.“

    „Für einen maskierten Emporkömmling.“

     „Wie auch immer“, sagte Manfred, „wir leben im selben Zeitdorf. Zu große Nähe schärft den Blick. Dorfbewohner sind grausam - untereinander. Aber immerhin ist seine Maskerade nicht ganz unintelligent. Es ist wenigstens Maskerade. Dagegen die nächste Generation: nur noch Industriesklaven. Sie arbeiten nur noch an der Vervollkommnung des Kapitalismus, als allerletztem Projekt der Moderne. Mich ekelt das an, und es macht mir Angst.“

     „Wird eine Riesenpleite werden“, stimmte Matz zu. Die beiden verstanden sich, sie warfen sich die Bälle zu.

     Matz sagte noch, auch in Zukunft reduziere sich alles auf die alte Frage: Wie rettet man sich selbst? Das Recht auf die eigene Lust verteidigen, das sei die einzig wahre Überlebensstrategie.

     Allmählich war es im Haus wieder unruhig geworden. Matz erfuhr alles über die Öztürks. Er sagte: „Wie war das noch: Stadt und Festung Belgerad? Die Türken stehen also hinter Wien. Wo bleibt Prinz Eugen, der schwule Ritter? Du (sagte er zu Manfred), ich war einmal in einer Ausstellung über ihn, hab eine Führung mitgemacht. Nur eine Handvoll Leut und ein Dämchen von deiner Zunft als Führerin. Die hab ich am Schluss gefragt: Stimmt es, dass der Prinz eine Tunte war? O, war die konsterniert.“

     Er wollte jetzt in ein Bierlokal gehen. Privatwohnungen ließen ihn verrückt werden. Theo war froh, dass Manfred nicht mitkam, er war ihm dankbar.

     Die Kneipe in der Nähe hieß Vogelfrey. Sie saßen inmitten von Cliquen, die brunchten.

     „Ihr passt gut zueinander, Manfred und du“, sagte Theo zu Matz.

     „Ja, weil wir beide extreme Einzelgänger sind. Aber ich bin’s extrovertiert, er introvertiert. Das ist der ganze große Unterschied. Dein Cousin ist ein lieber Schlappschwanz. Folge ihm nicht nach.“

     Er erzählte vom Golf. Einer seiner Arbeiter von daheim habe immer herübergesehen. „Da hab ich ihn auf ein Bier eingeladen und mit ihm geschlafen. Er war gar nicht mein Typ, ein halbes Kind noch und etwas pummelig. Aber wie gut das tat, endlich wieder einmal mit einem Schwulen über Männer reden zu können.“ Für ihn sei sein Sexualleben das Wichtigste überhaupt, hier müsse es stimmen, sonst habe alles keinen Wert für ihn. Und daran werde sich für ihn auch nichts ändern. Er griff sich zwischen die Oberschenkel.

     Er musste schon zum Flughafen und ließ sich ein Taxi kommen.

     „Du, denk ab und zu an mich. Nein, denk nicht an mich, denk an dich selbst.“ Er küsste ihn zum Abschied auf der Straße und stieg ein. Er hatte nicht einmal Gepäck dabei.

     Theo wurde kurz hintereinander zweimal rot, zuerst, weil er geküsst, und dann, weil er rot geworden war: Freude, Scham und Ärger über sich selbst. Er ging nach Hause – denn es war nun sein Zuhause – und wollte Schlaf nachholen.

17. Schwarz

Inzwischen ist es Mitte Juni geworden.

     Die Museumskneipe hat den Grundriss eines Tortenstücks; ihre Grundfläche ist dreieckig; ein Kreisbogenausschnitt bildet ihre Schmalseite. Es ist eine Eckkneipe in einem Haus aus den zwanziger Jahren mit bogenförmig abgerundeter Fassade. Ursprünglich verkehrten hier Hafenarbeiter. Ihre Wohnblocks hat der Krieg zerstört – bis auf diesen Block mit der weit ausschwingenden runden Ecke. Doch Hafenarbeiter wohnen auch in ihm nicht mehr. Diese Gegend entlang den Bahndämmen ist durch Jahrzehnte verkommen.

     Homosexuelle haben in den Siebzigern die runde Ecke für sich entdeckt. Für sie wird die Bierbar seitdem betrieben. Doch hat sie ihre Blüte lange hinter sich. Nur zu bestimmten Anlässen fährt man statt ins Village oder ins Bronx ins Museum. Dazu gehört der Geburtstag, den die Bar wie eine Größe von gestern jedes Jahr im Sommer ein Wochenende lang feiert.

     Hat noch immer was Dynamisches, sagt sich Manfred, die Fassade musternd. Kurz vor ihrem Eintreffen sind noch drei Motorräder auf dem weiten Platz geparkt worden. Fahrer und Beifahrer fallen jeweils in einen energisch federnden Schritt, wenn sie auf den Eingang zugehen, die drei Stufen hinauf und durch die hohe Tür hinein. Manfred bemüht sich, ihnen möglichst wenig zu ähneln. Nur keine Erwartung ausdrücken, Gleichgültigkeit macht hier interessant. Und Theo ist auch nicht bei der Sache. Er scheint seinen unwirschen Abend zu haben. Vorhin hat er gefragt, ob bei einer Gelegenheit wie heute mit Matz zu rechnen sei.

     Hoch und weit ist es innen. Eine schwarz lackierte Eisensäule trägt die hohe Decke. Um die Säule verläuft in Ellenbogenhöhe ein kleiner, runder Abstelltisch für Gläser und Flaschen. Ein riesiges Gründerzeitbüffet, vom ewigen Qualm gebräunt und zernagt, strebt hinter dem Tresen in die Höhe. Die Bar füllt sich um diese Zeit rasch.

     Es ging hier heute ungewöhnlich geschäftig, ja geschäftsmäßig zu. Es war beinahe eine Art Messe. Handel, Handwerk und Industrie waren mit kleinen Ständen neben einem Podium vertreten, dessen Bestimmung ihnen noch verborgen blieb. Ein Lederschneider stand bereit, an Ort und Stelle Maß zu nehmen. Wo sonst nur männliches Fleisch angeboten wurde, bekam man nun auch das verschiedenartige Zubehör, um es stärker reizen zu können, zum Beispiel Peitschen, Gesichtsmasken und Brustklammern.

     Manfred wies auf die Auslage mit den Handschellen: „So etwas bekommst du heutzutage auch in der Rhön zu kaufen.“ Theo wollte es nicht glauben.

     „Doch, in Bischofsheim. Da war ein Straßenmarkt, darunter ein Stand mit Machoklamotten. Der Händler hängt die Dinger bündelweise wie Bananen auf. Und die jungen Männer drängen sich heran und fragen nach dem Preis. Wozu braucht der Mensch in Bischofsheim Handschellen?“

     Theo grinste schwermütig.

     Manfred hätte noch sagen können, mit Handschellen könne man zweierlei: andere in seine Gewalt bekommen oder sich selbst ausliefern. In dieser Doppelfunktion ähneln sie Ringen, die vielleicht nur symbolhaft enthalten, was Handschellen noch wirklich können: einen Menschen wie ein Tier gefangen halten oder ihn abschließen wie eine Sache oder einen Raum.

     „Schau, da drüben“, sagte Theo, „das ist doch der Smarte? Hat er seinen Schnurrbart abrasiert?“

     „Er ist es  - und wie sehr verändert. Das bisschen Flaum ist wohl schon der Anfang eines neuen Bartes.“

     Sie sahen beide eine Zeitlang hinüber. Er sah viel weniger perfekt und schneidig aus als bisher. Um die Lippen war ein gewisser ordinärer Zug, der ihm selbst bewusst zu sein schien und unter dem er möglicherweise litt. Manfred setzte zu einer Rede über die Schnurrbärte an:

     „Da kannst du sehen, wie Schnauzbärte den Eindruck der Persönlichkeit verändern und verfälschen. Am Bart nämlich kann sein Träger vor dem Spiegel beinahe nach Belieben modellieren, bis der gewünschte Eindruck erreicht ist. Dagegen ist und bleibt die nackte Oberlippenzone ein sehr sensibler Bereich, in dem sich die Spuren der eigenen Biographie mit ihren Verletzungen besonders deutlich zeigen. Die Lippen scheinen mir auch nicht in so enger Verbindung zur momentanen Außenwelt zu stehen wie die Augen, deren Ausdruck leichter willkürlich verändert und der jeweiligen Stimmung angepasst werden kann. Die Lippen und ihre Umgebung sind eine Art Fingerabdruck der Seele. Ihn zu einem großen Teil durch einen Schnurrbart zu verdecken, das ist auch eine Art Uniformierung, passend zu diesen Klamotten, unter denen ja auch die individuelle, meist problematische Persönlichkeit weitgehend verschwindet. Endlich  begreift man, warum Schnurrbärte in den Leder-Bars so verbreitet sind. Wenn es in erster Linie darum ginge, ein sekundäres männliches Geschlechtsmerkmal zur Schau zu stellen, müssten Vollbärte hier verbreiteter sein. Aber nur der Oberlippenbart erreicht beide Zwecke: Er ist dasjenige männliche Symbol, das die ungeliebten, problematischen Anteile des eigenen Ich äußerlich zum Verschwinden bringt und gleichzeitig die somit hergestellte erwünschte und unproblematische Glätte dokumentiert. Er ist also eine Art Halbmaske. Der Vollbart wäre als Nachweis ungeeignet, da er ja das wieder verdeckt, was demonstriert werden soll …“

     „Wenn du nicht aufhörst, rasier ich mir den Schnauzer morgen ab.“

     „Nur nicht. Sieh ihn dir doch an, ein Gesicht wie eine geschleifte Festung. Weißt du, was Hans Henny Jahnn über Schnurrbärte gesagt hat: Er könne Männer nicht leiden, die ihre Schamhaare im Gesicht trügen.“ Manfred lachte, und er hielt dann die Hand vor den Mund, als drohe dem Exempel im eigenen Gesicht Gefahr, beseitigt zu werden.

     Fünf nach zwölf begann eine Art Modenschau. Ein Filialist für Motorradbekleidung zeigte eine Auswahl seiner Modelle. Vielleicht hatte er Marktforschung getrieben und wollte auch dieses Segment hier beackern. Manfred machte sich klar, dass Modelle die Fabrikate wie ihre Propagandisten bezeichnet. Das war sehr merkwürdig: So eng ist also ihre Verbindung, die hier jetzt nur eine unglückliche genannt werden konnte. Er erkannte auf der Bühne eine Art jüngere Adele Sandrock – rassiges Theaterweib mit männlichen Zügen – und ihren neuesten ständigen Begleiter. Beide imitierten täuschend echt das Getrippel und Geziere wirklicher Laufstegschönheiten. So viel Parodie ließ Professionalität vermuten, zu Unrecht. Der komische Kontrast von Inhalt und Verpackung sah so aus: früh verlebte hermaphroditische Barschlampen in diesen nachdrücklich angepriesenen harten Schalen. Man hätte sich amüsieren können, würde man sich nicht gefragt haben: Sehe ich in diesen Klamotten vielleicht genauso furchtbar aus?

     Sie sahen hinauf auf das Podium und schwiegen. Hier unten war es jetzt selbst zum Atemholen fast zu eng. Man stand zusammen wie Spargel in einer Konservendose. Bei jedem neuen Gast, der zur Tür hereinkam, geriet die vollständige zusammengepresste Spargelpackung unfreiwillig in sogleich wieder blockierte Bewegung. Zirkulation war unmöglich.

     Dazu kam, dass die beiden Mannequins nach jedem kurzen Auftritt mindestens zehn Minuten benötigten, bis sie das nächste lederne Gewand übergeworfen hatten und sich erneut präsentieren konnten. Der Kompagnon der Sandrock war, wie Manfred wusste, besonders glaubwürdig, wenn es darum ging, Schutzbekleidung zu empfehlen – plagte ihn doch ein chronisches Nierenleiden mit Steinen und Koliken, die besonders lästig fallen beim Besuch der Front-Disko. In diesem Fall hilft ein Nierengürtel von Bikers Trust.

     Wie sie sich produzierten, es ödete Manfred und Theo bald an. Sie verständigten sich mit zwei Sätzen, aufzubrechen und ins Village zu fahren. Sie waren die Ersten, die weggingen, und kamen nur mit Mühe ins Freie. Noch immer genossen die Zurückbleibenden die Vorführung. Man war dankbar schon dafür, dass überhaupt etwas stattfand, das über das rein Private, nur Individuelle hinausging, ein in fast allen wirksamer, wenn auch dem Einzelnen unbewusst bleibender, staatenbildender Reflex. Und so war es auf vielen ihrer Feste gewesen: Shows wurden jubelnd beklatscht, die nur aus einer Folge langweiliger oder sogar peinlicher Auftritte bestanden. Es offenbarte sich ein genialer Mangel an Qualitätsgefühl. Es war ihr Fest, also musste es gut sein. Unter sich kannten sie insoweit nur Harmonie.

      Draußen, jenseits dieser lächerlichen kleinen Welt, funktionierte es ebenso. Die einen blähten sich, und die anderen akklamierten. So war es in der Kunst, in den Medien und besonders in der Politik. Der Mist oben und der Mist unten erkannte sich als wesensgleich, gewöhnte sich rasch aneinander und klebte und duftete zusammen. Aus solchem Stoff war dann eine Epoche gemacht, so dünn war das Gewebe über dem Nichts.

     Im Village waren die Roués noch unter sich. Bis die Masse nachkommt, wird es erholsam sein wie in einem Kurort, wie früher in Badenweiler in der Vorsaison. Manfred atmete sogar durch, obwohl die Luft wie immer verräuchert war. Um sich noch mehr zu entspannen, trennte er sich von Theo und trat einen Rundgang durch die hinteren Räume an.

     Da im Halbdunklen, wo es ziemlich leer ist, da steht Niklas, Niklas mit den Wundmalen, den vielen Nadelstichen. Doch ist er nicht süchtig, ein Defekt seiner Konstitution zwingt ihn, sich täglich eine Spritze zu setzen. Sie sind sich lange aus dem Weg gegangen. Niklas ist zehn Jahre jünger, doch der Altersunterschied muss sich verringert haben, seitdem er, Manfred, damals bei ihm gewesen ist. Relativ gesehen trifft das ja auch zu.

     Niklas sieht zu ihm herüber, sie sehen sich an. Niklas begreift, dass die Distanz, aus welchen Gründen auch immer, geringer geworden ist. Er überwindet sich und die letzten drei Meter zwischen ihnen. Er legt seinen Kopf an Manfreds Kopf. Da ist er also wieder, nach ungefähr zehn Jahren. Er ist kräftiger geworden, er hat sich vermännlicht. Früher war er weich, fast süßlich, fast zerbrechlich. Er neigt jetzt zu leicht sadistischen Praktiken. Er beißt Manfred, um ihm einen Vorgeschmack zu geben, wiederholt in den Nacken. Für sich genommen, ist das recht lustvoll. Doch Manfred will weiter nichts von ihm.

     Sie besprachen es weiter vorn im Hellen. Auf Niklas Gesicht erschien der leidende Ausdruck, der sich im Lauf der Jahre dort eingegraben hatte. Als er wäre er sich selbst und die Welt dazu ihm voller Ekel.

     Manfred schob Theo vor, er müsse mit ihm nach Hause fahren, er könne daher nicht mitkommen. Und Niklas konnte nicht in Eimsbüttel übernachten, er hatte die lebensnotwendige Spritze nicht bei sich.

 

Nein, er warte auf nichts, sagte Theo. Er stand im WC in der Nähe der Säule mit den Pissbecken. Krach und Qualm im Lokal vorn hatten ihn hierher vertrieben. Zum Glück war die Tür zur Bar heute geschlossen und die obere Fensterklappe geöffnet. Neben ihm lehnte ein mittelgroßer, stämmiger Blonder gegen die Wand und beobachtete ihn unverschämt. Soweit er sich ein Bild von ihm machen konnte – es war schummerig hier und die Gestalten graue Schemen -, war es ein hübscher junger Kerl mit Tierblick, wie Manfred das nannte.

     Der andere hob die Bierflasche, die er sonst gegen den Oberschenkel gestemmt hielt, in die Höhe und sagte, damit spüle er seine Nieren, das sei gesund. „Doch es treibt auch. Ich geh hier nur raus, um neues Bier zu holen. Hier geht es schneller zur Sache.“

     Darauf fiel Theo nichts ein. Der Blonde fügte hinzu, wenn er in München einen anpissen solle, lasse er sich vorher das Bier bezahlen. Nur einmal habe er Leitungswasser akzeptiert. „Das war ein lieber, ein ganz versauter Bursch.“ Er hat wirklich einen Tierblick, gleich leckt er sich noch die Lippen. Es hat etwas Anwärmendes, aber er soll sich nicht täuschen: Theo ist das falsche Objekt. Kein Interesse an Wasserspielen. Da muss einer schon Matz heißen.

     Ob er auch Motorrad fahre, fragte er ihn, um irgendetwas zu sagen und das Gespräch in Gang zu halten.

     „Gerade nicht. Bin neulich nachts besoffen gefahren, und da haben sie mich erwischt.“ Es stellte sich heraus, er war Verkäufer im Ersatzteillager eines Motorradgeschäftes. Die Kundschaft bringe ihn noch um den Verstand. Er rollte die Augen zur Decke, genießerisch, und ließ die freie Hand auf das schwarz glänzende Leder des einen Oberschenkels klatschen.

     Mechaniker habe er gelernt, dann an der Fachhochschule studiert. Und er wolle auch weiter studieren, er wisse nur noch nicht, welches Fach genau. Es war vielleicht doch etwas von Matz an ihm. Übrigens kam er aus Augsburg, der Akzent war noch herauszuhören.

     „Wie du einen anschaust, das hat so etwas Devotes.“ Theo ärgerte sich gleich. Er verstand ungefähr, was gemeint war. In der Gasse hinter dem Schwarzen Bären war lange ein Devotionaliengeschäft gewesen. Also hatte es etwas mit fromm oder unterwürfig zu tun, oder mit Anbetung, lächerlich.

     Der Blonde weidete sich an seiner Verlegenheit. Er befühlte durch den Stoff von Theos T-Shirt mit Daumen und Zeigefinger die eine Brustwarze. Es war erst stimulierend, doch dann ließ er ihn plötzlich einen messerscharfen Schmerz spüren. So war es sonst nur, wenn Theo sich beim Rasieren aus Ungeschick die Klinge tief ins eigene Fleisch zum Beispiel der Wange trieb, ein Schock, der auch Aufbäumen war und zugleich die Erkenntnis von dessen Vergeblichkeit; die Wunde war tief und klaffend. Der Schmerz wich sofort, als die Hand sich zurückzog – es sollte nur eine Probe gewesen sein -, doch ließ er auf seinem Grund etwas anderes zurück, das nicht so rasch abklingen sollte: eine Mischung aus Ekel, Scham und immerhin auch Wut. Er drehte sich abrupt um und ging zur Tür, wobei er sich um Haltung bemühte. Er hörte noch, wie der Blonde sein fett schmatzendes Lachen lachte.

     Manfred war wieder einmal verschwunden.

     Devot – allein kommt er nicht ohne weiteres darüber hinweg. Devot? Man schätzt ihn wieder einmal falsch ein. Das passiert ihm hier in der Stadt ziemlich oft. Sie werden ihn noch kennenlernen. Wenn er schon halb und halb dazu gehört, will er sich seine Rolle hier doch selbst aussuchen, und es ist gar keine Frage, welche das sein wird. Das Gemenge aus Wut, Scham und Ekel macht nun ganz anderen Gefühlen Platz: Da ist beinahe so etwas wie Vorfreude, Gefallen an sich selbst und Einverständnis – womit eigentlich? Ohne sich darüber klar zu werden, fühlt er sich Matz näher gekommen, seit er entschlossen ist, selbst die Rolle des Augsburgers zu übernehmen.

 

Manfred war noch immer nicht zurückgekommen. Theo war höchstens eine Stunde fortgewesen und stand jetzt wieder allein im Village. Inzwischen war die Bar überfüllt, doch Lärm und Gedränge störten ihn nicht mehr. War es gut gewesen, gerade eben mit dem Kleinen aus Hannover? Er wusste es nicht. Die Erinnerung an ihn war ungewöhnlich schnell verblasst, schon auf seinem Rückweg in die Bar. Es lohnte sich nicht einmal, sich seinen Namen zu merken. Er war nur eine Nummer gewesen, vorbei, aus dem Gedächtnis zu streichen.

     Wie war jetzt der Stand der Dinge bei Theo? Anfangs hatte es ihn bloß mitgerissen. Er spürte die Eindrücke, die er von anderen empfing. Alles war nur eine Frage der Sympathie, über deren Ursachen er natürlicherweise nicht nachdachte, und dann noch des physischen Genusses, den er sich versprach. Jetzt, nach einem Dutzend Nächten hier, begann er Vergleiche anzustellen. In seiner Erinnerung bildete er eine Reihe und war schon so weit, sich selbst als handelndes Subjekt zu betrachten. Er setzte sich selbst ins Verhältnis zu den anderen und versuchte in Ansätzen, Kritik zu üben, auch sich selbst gegenüber. Je mehr er sich eingewöhnte, umso deutlicher stellte sich für ihn die Frage nach seiner Rolle. Damit wurde er sich selbst problematisch. Dieser Prozess beschleunigte sich, als er zunehmend auf Männer mit sehr spezialisierten Verhaltensweisen stieß. Wie reagieren, wenn er weiter mit Lust bei der Sache sein wollte? Und wie wurde sein Auftreten von anderen gesehen? Welches Bild machte man sich von ihm? So klar stellten sich diese Fragen für Theo allerdings nicht, er empfand sie mehr, als dass er sie durchdachte, und er versuchte sie zu lösen, indem er von einem Versuch zum anderen überging.

     Der Kleine aus Hannover schien devot genug, um es mit ihm zu probieren. Der andere wollte ihn nur auf sein Zimmer mitnehmen. Das kleine Hotel lag nahe beim Hauptbahnhof und war, obwohl allein für diese Art von Kundschaft bestimmt, bloß sauber und ordentlich und nichtssagend in seiner Einrichtung. Er muss ihn dort geschlagen haben, sicher hat er ihn vermöbelt, es ist ja von ihm erwartet worden. Nur seltsam, dass er, Theo, sich jetzt an Einzelheiten kaum erinnern kann. Er versucht vergeblich, sich vorzustellen, dass er brutal gewesen ist und dass es ihm und dem anderen Spaß gemacht hat. Er weiß nur noch, dass dessen Gesicht, dass dieses glatte Durchschnittsgesicht sich auf dem Zimmer völlig veränderte. Die Mimik zerfiel in unzusammenhängende Bestandteile, es war bald nur noch ein zuckender Brei; war hässlich anzusehen, er erinnert sich ungern. Vielleicht sehen wir alle so aus, tief in unserem Leib, in unseren Eingeweiden. Er kannte Bilder vom Inneren des Magens, der Gedärme. Und dann hat er ihn umgedreht und schnell gefickt – was wohl das Beste gewesen sein dürfte.

     Dann erinnert er sich doch noch an das Vorspiel. Er hatte bemerkt, dass der andere unter seiner Chaps eine Gummihose trug. Das sah nicht schön aus, so würden schwarze Windeln aussehen. Doch dann war es sehr erregend, seinen Leib durch dieses überaus dehnbare Material zu betasten, zu untersuchen, womöglich zu verändern. Es war ihm schon, als wühlte er in seinen Eingeweiden. Sein Gekröse war ihm preisgegeben, seinem Zugriff, seiner Macht, seinem Willen, der vernichten wollte. Er fühlte es und erschrak darüber nicht. War das schon Sadismus? Jedenfalls wird er diesen einen starken Eindruck behalten. Der Rest: geschenkt. Oder zurückübersetzt in Theos Sprache: für den Arsch.

     Es war halb drei morgens. Er war müde, satt und etwas enttäuscht. Gestern, am Freitag, hatten sie draußen in Bergedorf bis in den frühen Abend die Glasfenster einer Sparkasse reparieren müssen. Da waren in der Nacht davor Pflastersteine geflogen. Es entging ihm nicht, dass sie ihn hier jetzt noch attraktiver als sonst fanden. Er saß auf dem Barhocker, den er inzwischen an die Wand gerückt hatte, und spürte, wie er von drei Seiten mit Blicken beschossen wurde. Sie sollten ihn in Ruhe lassen.

     Der Barmann sagte ihm endlich, Manfred sei schon vor zwei Stunden mit einem jungen Kerl weggegangen. Er wird jetzt kaum noch einmal kommen. Also kann er selbst heimfahren. Er ließ sich die beiden Helme geben und ging die Treppe zur Oberwelt hinauf. Der erste Schein der nahen Dämmerung drang schon in den Hausflur und ließ das Kunstlicht verbleichen. War diese Nacht nicht vertan?

     Zehn Minuten später war er daheim. Er sah die Lederjacke des Cousins auf ihrem Bügel an der Garderobe hängen. Nichts sprach dafür, dass einer noch bei ihm war. Er hatte Lust, zu ihm hineinzugehen und mit ihm zu reden. Sie könnten am Abend zu Hause bleiben und am Sonntag früh aufs Land fahren. Sie sind – in dieser Jahreszeit! – seit Wochen nicht mehr draußen gewesen. Die Fahrten zur Arbeit rechnete er nicht. Aber wahrscheinlich schläft Manfred schon, oder es ist doch einer bei ihm. Er gab sich noch mehr Mühe als sonst, leise zu sein, und ging kurz darauf schlafen.

 

Manfred schlief noch nicht. Wahrscheinlich ist er erst nach dem Cousin eingeschlafen und lange vor ihm wieder aufgewacht. Er sah keinen Grund, jetzt mit ihm zu reden. Es gab Zeiten für Gespräche und andere, in denen man besser allein blieb. Das war nicht nur eine Frage der Uhrzeit, der Nachtruhe. Die Vorstellung, Theo nützlich sein zu können, war ihm allmählich abhanden gekommen, seitdem er seinetwegen die Bars wieder besuchte. Ungern sah er es ein: Von allen Rollen, die er nicht auszufüllen imstande war, war die des Mentors vermutlich die am wenigsten für ihn geeignete. Wenn er es richtig sah, entdeckte der Cousin jetzt für sich die Freuden des Sadomasochismus. Irgendwann wird er davon genug haben, oder auch nicht. Er, Manfred, erklärte sich auch insoweit für unzuständig. Es war ihm nicht einmal gelungen, sein eigenes Verhältnis dazu zu klären. Wozu dieses Ausmaß an Faszination, dem keine Befriedigung entsprach, keine Beruhigung folgte?

     Christoph hatte zum raschen Aufbruch gedrängt. Also suchte er Theo in allen Räumen der Bar. Er fand ihn im Pissoir. Ein Unbekannter, der wie ein junger Schlachter aussah, stand vor ihm und führte die gleiche Handbewegung aus, mit der ein Arzt sein Stethoskop über die Brust des Patienten führt. Manfred zog sich sofort aus dem Sprechzimmer zurück. Er überließ es dem Barmann, Theo später seinen Aufbruch zu melden.

     Christoph hatte ihn gleich engagiert, kaum dass er in die Bar gestürmt war. Er war groß, breit, brünett. Ende Zwanzig. Durchaus hübsch. Es ging alles zu schnell. Kaum dass er Zeit fand, Stefan zu grüßen, der den Steindamm heraufkam, als sie ein Taxi herbeiwinkten. Stefan schien Christoph zu kennen – wen denn nicht? Er hob die Hand, grüßte sie von weitem, gravitätisch, wohlwollend. Dann jagten sie im Wagen stadtauswärts, die lange, jetzt leere Bundesstraße dahin. Christophs behandschuhte Hand lag leicht auf Manfreds Oberschenkel. Zu Hause, im Flur seiner Wohnung, wurde er zweimal rasch hintereinander von Christoph geküsst. Dann sofort die überraschende Wende: Christoph befand, sie passten nicht zusammen. Und er war auch schon fort.

     Es war alles derart überstürzt vor sich gegangen, dass es nicht einmal viel zu bedenken gab. Bin ich ihm zu alt, dachte Manfred. Diese Möglichkeit musste immerhin ins Auge gefasst werden. Doch war er ihm zuerst im gut beleuchteten vorderen Teil der Bar begegnet. Manfred wollte später einmal nicht zu denen gehören, deren erbarmungswürdige, abgeblühte Jugendlichkeit um irgendein Almosen bittet. Nur dabei sein dürfen, wenn andere aufblühen, deren gut erzogene Blicke einen streifen, ohne eine Spur von Mitleid, Abscheu oder Desinteresse zu verraten? (Es gibt sehr gut erzogene junge Männer, manche haben sich selbst erzogen.) Nein, das kam für ihn nicht in Frage. Und noch weniger die Haltung der anderen, die im Gegenteil die besten Plätze für sich beanspruchen, weiterhin und nun erst recht. Unvermeidlich geraten sie an gröbere Exemplare unter den Jüngeren, die sie zu Seite stoßen. Schatten gehören ins Schattenreich – wo die Spiele dann weitergehen. Nein, das war es nicht.

     Er kam nicht darauf. Hier verriet sich an ihm ein Mangel an Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen, kurz: an Geistesgegenwart.

     Nach kurzem Schlaf war er um halb neun schon wieder auf den Beinen. Er frühstückte allein. Theos Atemgeräusche erfüllten noch den Flur. Dem Großen Cousin lag nichts auf der Seele, er war fast zu heiter. Gab es das nicht auch, eine heitere Verstimmung? Er griff dagegen zu einem Mittel, das er noch nie in Anspruch genommen hatte: am Morgen danach Stefan um Rat und Auskunft zu bitten.

     Stefan spuckte am Telefon Christophs Vita bereitwillig aus: vor sieben Jahren der DDR entkommen, lebt mit einem Freund in Kassel, erst zum dritten Mal nachts in Hamburg unterwegs. Dann gab er dem Klang seiner Stimme möglichst viel Schonendes. Ihr waren wie einem Schonkaffee fast alle Bitterstoffe entzogen, doch Manfred war sicher, der Trank enthielt für Stefan noch viel Anregendes. Ja, er sei nach St. Georg zurückgekommen … Einen Moment lang durchzuckte Manfred die Vision, Theo habe ihn auch noch kennengelernt. Indessen erfuhr er, man habe ihn im Bronx gesehen. Christoph habe Stunden damit vergeudet, in einer öden Clique unmäßig viel Bier und Poppers zu konsumieren. Nur mit Alkohol und Poppers sei Hamburg zu ertragen, habe er ihm gesagt. Schließlich sei er einem aus der Clique einfach zugefallen, wie ein Fundstück, herrenlos.

     Es war noch nicht alles. „Ach ja, interessiert es dich, warum er so schnell in die Bars zurückgekommen ist?“

     „Nun, mir schien, er wusste nicht, was er wollte.“

     „Oh doch. Er ist extremer Masochist. Er sagte, er habe bei dir schnell erfasst, dass er an den Falschen geraten sei.“

     „Das muss aber ein Schnelltest gewesen sein.“ Er habe gar nichts davon bemerkt. Manfred lachte, wie es in solcher Lage üblich ist. Sie würden sich am Abend sehen. Und vielleicht Christoph auch.

     Es hielt ihn nach dem Gespräch nicht in der Wohnung. Sie war ein zu enges Gehäuse für seine Empfindungen. Christoph war erst jetzt der interessante Fall, er war sympathisch geworden. Ihm, Manfred, war attestiert worden, er sei unfähig, Christophs Bedürfnisse zu befriedigen. Christoph war enttäuscht worden, er litt seinetwegen, und Manfred konnte nur versuchen, die eigene Schuld zu mindern, indem er ihm Sympathie entgegenbrachte. Manfreds Passivität erstreckt sich, wie man sieht, bis hin zum Begriff der Schuld. Das ist für ihn nicht die verfehlte Tat, sondern die unterlassene gute. Er gestand es sich nicht ein, doch in Wahrheit bereitete ihm die Vorstellung Genuss, dass er Christoph mehr misshandelt hatte, indem er ihn nicht quälte.

     Er überließ Theo, mit dem ihn ein ähnliches schuldrechtliches Verhältnis verband, für ein paar Stunden sich selbst. Vielleicht ist Christoph in der Stadt unterwegs, unbefriedigt und aufgeputscht durch die Passagen irrend.

     Im Hausflur öffnete er den Briefkasten. Maxims Brief hatte sich im Schlitz verkantet und fiel zu Boden. Er hob ihn auf, steckte ihn ein und las ihn, während er mit der U-Bahn ins Stadtzentrum fuhr.

     Ulrich, einer der Freunde des Kreisrats, war gerade ins Sterbehospiz übergesiedelt. Sie nannten es Morgenröte. (Warum nicht Abendfrieden?) Max, der im Gesundheitsausschuss oft vergeblich für das Haus stritt, schilderte es als einen trostlosen Ort, an dem er selbst nicht enden wolle. Ulrich sei immer Perfektionist gewesen und wolle sich auch dort mit keiner Unvollkommenheit abfinden, nicht mit der eigenen, die bei rasch zunehmendem Verfall zu vollkommener Hilflosigkeit tendiere, und nicht mit der des Hospizes. Es klang erbittert. Die Räume seien schlichte, kleine Kammern. Er werde seine Besuche dort auf ein Minimum reduzieren, denn er fürchte, er sei durch die eigene Infektion schon geschwächt und der Aufenthalt in der Nähe des Todkranken riskant für ihn.

     All das war fürchterlich. So war doch der wahre Schrecken der Zeit beschaffen. Das Wort frivol meldete sich unverzüglich zur Stelle. Mit dem Automatismus der Zeitungen und des Fernsehens bezichtigte er sich eines frivolen Lebenswandels. Ihre Nächte in den Bars waren angesichts solcher Leiden nur frivol. Doch dieser häufig benutzte Ausdruck moralischer Verurteilung machte ihn sogleich misstrauisch. Das Wort diente oft nur der Abwehr unerwünschter oder im Gegenteil allzu erwünschter Vorstellungen. Sein Gebrauch sank bis zum Banalen hinab. Jener musikalische junge Amerikaner aus der bigotten Provinz kam ihm in den Sinn, der sogar Glockenklang und liturgische Motive in Rimski-Korssakows Russische Ostern als einen frivolen Frevel am Kultus bezeichnet hatte.

     Manfred straffte sich. Nein, er wollte sich doch nicht fangen lassen. Das war der Standpunkt des Todes, der sich allem übergeordnet wähnte. Der Tod war ein Punkt, das Leben eine Fläche. Mit welcher Berechtigung empfand fast jedermann Leiden wie diejenigen Ulrichs im Hospiz, verglichen mit denen von der Art Christophs im Umkreis der Bars, als wertvoller, als sozusagen moralisch überlegen? Gewiss, das Leben führte zwangsläufig an sein Ende, den Tod, doch das adelte den Tod nicht. Von Tod und Ende gab es noch eine Perspektive: diejenige auf das Leben zurück. Christoph, der litt und lebte, behielt seine Sympathie, und er wird sie behalten, auch dann noch, wenn er selbst, Manfred, an der Reihe ist, zu leiden und zu sterben. Dann erst recht, hofft er.

     Der Tod, dachte Manfred, ist heute angeblich ein Tabu - und doch ist er in vielen Wohnzimmern zu Hause, er ist ein Hauptmittel der Unterhaltung geworden. Wie vieles im heutigen Leben ist er stark ästhetisiert, ist schon etwas künstlich geworden. Er ist den Existenz- und Produktionsbedingungen der Zeit unterworfen - unbefriedigend. Vielleicht müsste man den Tod wahrhaft tabuisieren, spekulierte er, das heißt dem Leben entrücken, ihn nicht humanisieren und zivilisieren wollen?     

     Manfred war in der U-Bahn sitzen geblieben, dabei den Brief von Max lesend und nachdenkend. Schon rollte der Zug über den Viadukt, die Türme der Mundsburg glitten vorbei, banal wie ein Tod, der es sich im Leben gemütlich eingerichtet hat. Eine Station weiter stieg er aus und ging auf die Brücke hinauf, über die die Fußgänger zum Einkaufszentrum gelangen. Unter ihm spieen die Vorstädte ihren Verkehr Richtung Innenstadt. Er blieb auf der Brücke stehen. Am liebsten hätte er den letzten Teil des Briefes hier laut vorgelesen. Da hat er doch den Beweis, wie der Tod missbraucht wird. Sie benutzen ihn, um Macht, Ansehen, Einfluss zu behalten, über den Tod hinaus. So versauen sie alles.

     Max verfolgte also ein neues Projekt, die Gestaltung seiner eigenen Leichenfeier. Nur das Datum blieb noch offen.     

   Max schrieb, er wolle vorsorgen. Er habe, besonders in letzter Zeit, an zu vielen Leichenfeiern teilgenommen, die ihn geradezu erbittert hätten. Es seien immer die Leichenreden: Pfarrermund tut niemals Wahrheit kund. Und wenn einer nicht in der Kirche war, engagiert die Familie einen freikirchlichen oder Sektenprediger oder sonst einen obskuren Berufsredner. Die einen wie die anderen verfälschen gewöhnlich die Persönlichkeit, die sie würdigen sollen. Sie sind entweder auf die eigene Heilsbotschaft fixiert, für deren Propaganda der Todesfall nur ein Anlass ist, oder sie erkundigen sich bei der Familie nach Details aus dem Leben des Verstorbenen, die sie dann nicht einordnen können. Um eine Lücke zu schließen, begehen diese Verlegenheitsgrabredner die gröbsten Schnitzer. Da ruft ein Erweckter einem toten Atheisten nach: Lazarus, stehe auf! Oder ein stadtbekannter Hurenbock scheint außer der Philatelie, der er als Achtjähriger gefrönt hat und die jetzt über Gebühr ausgeschlachtet wird, keine Leidenschaft gehabt zu haben.     

    Ach, Max, das ist nun einmal so: Zur Beerdigung gehören Blumen, Missverständnisse, gemischte Gefühle. Sie sind Teile der einsetzenden Verwesung. Es kümmerte Manfred nicht, es war ihm ebenso gleichgültig wie Form des Grabsteins, den sie ihm setzen würden. Nur verbrennen sollten sie seine Leiche später nicht.

    Max wünschte ausdrücklich Einäscherung. Er bedauerte, aus den bekannten Gründen keine Organe zur Verfügung stellen zu können, und überlegte noch, wie er als Toter der Wissenschaft dienen könne. Vor allem sorgte er sich um seinen Ruf späterhin, den er sich nur als Nachruhm vorstellen konnte. Max wollte das Echo und fürchtete es zugleich. Insoweit misstraute er seinen Freunden. Von ihnen sollte keiner Rederecht bekommen. Der Freund schweige in der Trauergemeinde.

     Es gab nur eine Lösung: Man musste für sich selbst sprechen. Er feilte seit Wochen an seiner eigenen Leichenrede. Er würde demnächst eine Kassette besprechen und sie an einem sicheren Ort verwahren und eine Kopie an einem anderen Ort hinterlegen. Es war eine posthume Römerbergrede, mit der er für ein modernes Walhall kandidierte. Er sah sich auf einem günstigen Listenplatz.

     Er charakterisierte sich so, wie Manfred ihn ungefähr auch sah: schwach, verletzlich, ehrgeizig, zäh, dankbar. Doch diese Züge erschienen für ihn in einer besonderen Beleuchtung, die er der Wirkung jener Eigenschaften auf Mitwelt und Nachwelt zuschreiben wollte. Es war nicht paradox. Die Wirkung strahlte nach seiner Meinung auf ihn zurück und umgab seinen Namen und seine Eigenschaften mit Licht. Sie rechtfertigte erst seine Eigenart und um sie wollte er durch falsche Töne bei der Leichenfeier nicht gebracht werden. War es denn nicht so gewesen: Wundervolle Freundschaften kennengelernt, das Aufwachsen von Nichte und Neffen fördernd begleitet, die Modernisierung der Gesellschaft ein Stück weit vorangebracht! Die Mitwelt geriet zu einem Spiegel, der Tod durfte ihm diesen Spiegel nicht aus der Hand nehmen. Sein unbewusstes Credo war: Ich bin, das heißt ich lebe, da ich widergepiegelt werde, und er war auch bereit, die Tönung dieses Spiegels mit allen Mitteln günstig zu beeinflussen. Selbst der Tod wurde zu einem solchen Mittel, da er in der Rede in den Ideenzusammenhang von Kampf, Heroismus und Opferung hineingezogen wurde. Das war weder originell noch wahrhaftig.

     Manfred empfand sich selbst als Spiegel, der immer nur das andere reflektierte. Er war nur Spiegel. Der Tod würde ihn vielleicht erblinden lassen. Es änderte kein Jota an der Welt. Er ging nun weiter in das Einkaufszentrum hinein.     

    Max fragte im Brief an, welchen Gegenstand er Manfred zur Erinnerung hinterlassen, ihm verschreiben könne. Manfred wollte sich die Briefe, die er ihm geschrieben hatte, zurückerbitten.

 

Theo erwachte mitten am Vormittag. Offenbar war sein Schlaf einige Stunden lang tief und erholsam gewesen. Er fühlte sich vom Erwachen an kräftig und unbeschwert. Die Eindrücke der vergangenen Nacht waren schon verwischt. Nichts wog jetzt noch schwer. Es war nicht notwendig, sich damit weiter abzugeben.

     Er trat ans Fenster: ein schöner Junitag, Sommerwind in der Birke. Die Kastanie stand unbewegt vor blauem Himmel. Auf den Straßen und Wegen des Viertels musste jetzt viel Betrieb sein. In der Nähe war ein großer Markt. Doch in die Höfe, in die er blickte, gelangten nur wenige Geräusche. Ein Querriegel teilte das Karree und schirmte auch noch ab. Wohnungen befanden sich dort nicht, nur kleine Betriebe, in denen jetzt nicht gearbeitet wurde. Dann erfüllte Vogelgeschrei die Luft. Es waren zwei Eichelhäher, die kreischend, Alarm schlagend von einem Sims aufflogen. Ihre Schwanzfedern blitzten schwarz-weiß-blau  in der Luft. Manfred hatte ihm erklärt, sie seien leicht zu erschrecken, ihre Art sei erst vor kurzem aus dem Wald in die Stadt gekommen.

     Er ging durch die Wohnung. Manfred war schon fort. Er frühstückte lange und hielt es dann vor lauter Kraft daheim nicht länger aus. Der Cousin war dumm, dass er nicht mitkam.

     Er fuhr einen der Elbdeiche entlang, oberhalb der Stadt, und überquerte den Fluss auf einer Fähre. Das war neu für ihn, ein guter Anfang. Dann beeilte er sich, die langweilige, grüne Ebene der Elbmarsch hinter sich zu bringen. Am Horizont erschienen flache Hügel, eine Welt für sich, in die er erstmals eindrang. In der Ferne sah er, als er einmal anhalten musste, unter sich die Türme von Lüneburg. Er fuhr nicht in die Stadt hinein, sondern weiter von Dorf zu Dorf. Niedrige, rote Backsteinhäuser oder mächtige Höfe aus demselben Baumaterial, meist unter Gruppen riesenhafter Eichen, die kühlten, beschatteten. Einmal drang der schrille, spitze Schrei eines Pfaus bis unter seinen Helm.

     Dann saß er in einem größeren Dorf in einem Kaffeegarten. Der Flecken lag um ein altes Kloster herum. Mattrotes Steingebirge, uralt, viel Platz und viel Grün drumherum. Im Garten war es ziemlich leer, nur etwas weiter weg von ihm waren noch zwei Tische von Ausflüglern besetzt.

     Viel Raum, Mauern, Grün, Luft, Stille: wie schön. Manfred sollte hierher ziehen.

     Dann sauste er die von Geschäften gesäumte Dorfstraße hinauf, zwei Tassen starken Kaffee im Bauch und ein großes Stück Mokkasahnetorte.

     Es war noch hell, als er in Hamburg ankam. Es war bald ihre Zeit, zu Abend zu essen. Er hielt an der Osterstraße und ließ für sich und den Cousin je eine Pizza fertig machen. Er wollte sie in der Packtasche transportieren, damit sie nicht im Fahrtwind abkühlen würden. Aber als er die Schachteln hochkant zur Maschine trug, begann das Fett herauszutropfen. Im Nu war er besudelt, eine Schweinerei. Mit einer Kordel gelang es ihm, die Packungen hinter sich festzuschnüren.

     Manfred lag noch im Bett, er war jedoch schon aus seinem Nachmittagsschlaf erwacht. Jetzt gleich zu Hause zu essen, passte ihm gut. Er schien sich zu freuen. Allerdings war auf jeder Pizza der Belag zur Seite gerutscht und dort mit dem Käse zu einem Klumpen verbacken, und richtig warm waren sie auch nicht mehr, als sie sie aßen.

     Theo begann, von der Fahrt durch die Heide zu erzählen. Wenn er will, dachte er, fahren wir morgen gemeinsam hin. Oder wohin er sonst mag. Stattdessen schlug Manfred bald vor, es diesen Abend noch einmal in St. Georg zu versuchen. Der Große Cousin war also nicht sehr zufrieden mit dem Verlauf der letzten Nacht? Das soll er von mir nicht auch annehmen, sagte sich Theo und hörte auf, den Tag zu schildern.

     So brachen sie um halb zwölf mit dem Motorrad in die Stadt auf. Zwei Nächte hintereinander waren sie bisher noch nicht gemeinsam unterwegs gewesen.

     Beim Aufsteigen schlug Manfred vor, zuerst zum Bronx zu fahren. Theo wollte nicht unter dem Helm heraus fragen, warum eigentlich. Er war noch kein zweites Mal dort gewesen.

     In der Bar war es voller als neulich. Der Cousin sagte, es seien mehr Fremde in der Stadt als sonst. Das liege zum Teil an der Fête im Museum.

     Und warum sie dann hier und nicht da unten seien?

     „Sie werden es schon satt haben.“

     Stefan, der vorher schon „unten“ gewesen war, bestätigte es: „Die Wahl hat sich verzögert. Es ist ein einziges Chaos. Mitten in der Vorstellung der Kandidaten ist ihnen das Mikrofon ausgefallen, und nun reparieren sie erst mal. Es haben zu viele daran herumgefummelt. Detlef präsentiert nur einen Teil der Kerle. Wenn einer Englisch spricht, lässt er Andreas ans Mikrofon. Nicht dass ich kein Englisch könnte, aber ich finde es nun mal lässiger so.  Der und lässig – die alte Scharteke.“

     „Also geschraubt und geziert mit dem Anspruch, für lässig zu gelten. Theo, wir hätten doch hinfahren sollen.“

     „Du“, sagte Stefan zu Manfred, der aber nicht darauf einging, „er ist übrigens unten.“ Theo erfuhr, sie wählten heute Nacht den Mr. Museum, das sei einfach indiskutabel.

     „Er ist ja grau geworden, ganz grau“, sagte Manfred. „Ich habe ihn zuerst nicht erkannt. Ein Alterchen von fuffzig Lenzen, wie?“

     „Und seine Begleiter werden immer jünger. Der da mit der Schneekette links, das ist der neueste. Oh, oh, oh!“

     „Wie ein gefallener Erzengel. Anschauen bei Strafe verboten.“

    Theo musterte die beiden. Der Ältere war so unauffällig wie der Jüngere strahlend. Seine Schönheit überstrahlte noch den Glanz des vielen silberfarbenen Metalls, das er an sich trug. Da war eine um die linke Schulter geschlungene Kette, deren Bedeutung Theo nicht sofort erriet, dann die Handschellen, an der linken Hüfte baumelnd, der massiv beschlagene Gürtel und die Sporen. Eine Peitsche züngelte am linken Stiefel. Was nun den Senior an seiner Seite anging, so verdeckten Brille und eisgrauer Bart weitgehend dessen Gesicht. Er schien beinahe überhaupt ohne Alter zu sein und zeigte kaum eine Regung. Sein Freund dagegen war ohne Zweifel jünger als Theo selbst. Er lächelte siegreich und böse, sah verteufelt gut aus. Theo, pass auf!

     Sie sagten ihm, der Ältere sei Pfarrer. Da war er erst mal baff.

     „Hast du ihn nie im Fernsehen gesehen?“ Doch er sprach nicht das Wort zum Sonntag, er veranstaltete Motorradkorsos und segnete sie. Ja, er hatte davon gehört, es war der Rockerpastor. Und der verkehrte hier?

     „Die Kirche segelt immer vor dem Wind“, sagte Manfred. „Von Zeit zu Zeit erschließt sie sich neue Märkte. Und sie ist sehr geschickt, geeignetes Verkaufspersonal auszuwählen. Er hat sich wirklich bewährt, unser Herr Pastor. Er hat sich schon um die Jungs gekümmert, als ich erst anfing, in seinen Kreisen zu verkehren, unter seinen Augen, schüchtern … Aber er war doch nicht immer M (wandte er sich an Stefan). Ich habe ihn zwanzig Jahre lang für S gehalten.“

     „Er hat sich erst neuerdings umgestellt.“

     Dann betrat ein ganz anderes Pärchen die Szene und trat auf sie zu. Der, der das Wort führte, war um die vierzig, knabenhaft schlank, eher klein, dauernd lächelnd, mit schlangenhaften Bewegungen. Als er sie begrüßte, klang es rheinisch ungezwungen. Doch Manfred sagte zwischendurch, nur aus beruflichen Gründen sei er nach Bonn gegangen, wahrscheinlich arbeite er für ein Ministerium.

     Sein Begleiter war Amerikaner, ein Naturbursche und hagerer Sportsmann. Er sagte gar nichts und hörte nur freundlich zu. Dabei verstand er wahrscheinlich nicht einmal Deutsch. Europa musste von ihm in zwei Wochen bewältigt werden, Deutschland in vier Tagen. Am Tag seiner Ankunft aus Rom waren sie mit einem Mietwagen über Heidelberg nach München gefahren. Dort verbrachten sie zwei Nächte und den Tag dazwischen. Heute Morgen waren sie nach Hamburg geflogen, und morgen wird ihm noch Berlin gezeigt werden. Seine Londoner Freunde holen ihn dann am Abend vom Flughafen ab.

     „Ich musste Berlin noch ins Programm aufnehmen, so wie die Dinge sich entwickelt haben“, sagte der Bonner vergnügt. „Er soll doch sehen, wohin der Tross zieht, in ein paar Jahren. Wir fahren einmal die Wilhelmstraße entlang.“ Er hatte etwas von einem Kind, das immer nur Spaß haben will – sonst würde es böse werden, im Ernst. Stefan und der Cousin mokierten sich jetzt über gar nichts mehr. Fühlten sie sich geschmeichelt, mit einem reden zu können, der in Bonn vielleicht ein hohes Tier war? Theo pfiff darauf. Als der Bonner und sein Besuch ins Museum aufbrachen, wollten die beiden gleich mitkommen. Sie fuhren zu viert in einer Taxe hinunter, Theo auf dem Motorrad hinterher.

     Er sah sie in der alten Eckkneipe wieder, jetzt ohne den aus Übersee, drang aber nicht bis zu ihnen vor. Es war sehr voll. Alle starrten zum Podium, wo gerade als letzter Kandidat der Amerikaner spontan nominiert wurde. Niemand wollte Theo vorbeilassen.

     Theo verstand etwas Englisch. Eben fragte der Moderator oder wie er sich sonst nannte, warum in Amerika so viele Eltern ihre kleinen Söhne beschneiden ließen. – „They don’t know it better“, kam die Antwort prompt, ein tiefes Grollen. Er war nicht der Schönste hier, aber der mit der männlichsten Stimme. Dann hielt er eine kleine Rede dagegen, die beklatscht wurde. Es war wirklich gemein, den Buben die Lust zu beschneiden.

     Jetzt fingen sie mit dem Einsammeln der Stimmzettel an. Die Prozedur dauerte Theo zu lange. Er bekam nichts zu trinken und ging wütend ins Freie. Er stemmte den Hintern gegen die Sitzbank seiner Maschine.

     Er war nicht allein. Gegenüber lehnte eine Gestalt ruhig an der Hauswand und hatte ihn dauernd im Blick. Er war ihm nicht sofort aufgefallen, wie er da aus dem Schatten heraus über den weiten Platz sah, über die vielen Motorräder, deren Fahrer gerade im Lokal ihren Schönheitskönig wählten. Es war der Finstere, so nannte er ihn bei sich. Er hatte ihn schon wiederholt in den Bars gesehen. Er war das, was man gut aussehend nennt – die Züge regelmäßig, im Übrigen schlank, normal groß, schwarzhaarig, schnurrbärtig -, doch im Ganzen war er nicht anziehend. Sein Ausdruck war zu finster, sein Auftreten schroff. Theo verspürte auch jetzt kein Bedürfnis nach Annäherung, aber er wollte den bequemen Platz auf der Sitzbank nicht gleich wieder aufgeben. Es hätte auch nach Flucht aussehen können. Die Aufmachung entsprach dem hier herrschenden Geschmack, Schwarz in Schwarz, nur dass bei ihm kein äußeres Zeichen auf Vorlieben schließen ließ.

     Er kam herüber und sagte beiläufig Hallo. Dann ging er um die Maschine herum und betrachtete sie mit Interesse von allen Seiten. Wie Theo bemerkte, richtete er es so ein, dass sein Blick dabei immer wieder auf seine, Theos, Motorradstiefel fiel. Das war eine Überraschung: Er warb um ihn, er, den man sonst nur verschanzt erlebte. Die Situation entspannte sich, Theo war schon bereit, auf ihn einzugehen. Der Umschwung im Verhalten des anderen bewirkte eine entsprechende in Theos Einstellung.

     Ob er den Rummel hier auch schon satt habe? Theo nickte. Auf diese Ledermodelle, fuhr der andere fort, könne man ja verzichten, das sei nicht das Wahre.

     Theo sagte, er sei nicht allein hier, sonst würde er am liebsten bald abhauen.

     Und wenn sie nur für eine Stunde wegfahren würden? Ein Stück hinaus an die frische Luft, wo man wirklich allein sei.

     Theo war gleich einverstanden und wunderte sich doch über sich selbst. Er schlug vor, mit dem Motorrad hinter ihm herzufahren. Aber der andere wollte schon auf der Fahrt mit ihm zusammen sein. Das gehöre dazu. Und er solle seine Handschuhe mitnehmen. Theo trug sie unter die Schulterklappe gesteckt, und zwar unter die linke: Das hatte er anderen abgesehen. Er hatte nicht die Absicht, sie dort wegzunehmen. Er begann zu vermuten, dass die Initiative des Finsteren mit den Handschuhen zusammenhing und damit, wie er sie trug. Seine Neugier war erwacht. Lief es darauf hinaus? Darauf war er vorbereitet. Allerdings schade, dass es nicht Mark war. Er hatte ihn nicht wiedergesehen.

     Er solle hinten einsteigen, nein, auf der anderen Seite. So hockte er dann auf dem Rücksitz hinter ihm, die Knie breit auseinander, ohne sich anzulehnen, damit er seinen Einsatz nicht verpasste. Der andere hatte die Angewohnheit, leise zu sprechen, und Theo wollte keine Antwort schuldig bleiben. Doch zunächst hörte er kein Wort von ihm. Sie befuhren die Ost-West-Straße. Etwas später erkannte Theo die Stresemannstraße wieder. Er kannte sich hier schon gut aus. Sollten sie ihn im Betrieb nicht auf Dauer behalten, könnte er auch Taxi fahren. Nein, dazu wird es nicht kommen.

     Er hörte jetzt, er solle die Handschuhe anziehen. Theo streifte sie über, und da ihm nichts Besseres einfiel, legte er ihm seine Pranken von hinten auf die Schultern. Empfand er den Druck seiner Handflächen dort als erregend? Eine Reaktion blieb aus. Immerhin war es angenehm, sich so mit den Ellenbogen auf der Rückenlehne abstützen zu können.

    Sie fuhren immer weiter nach Westen, jetzt über eine andere Ausfallstraße, durch Theo vollkommen unbekannte Gegenden. Einige Kilometer weiter bog er dann an einer Kreuzung rechts ab, und dann waren sie auf einmal in einem Wald. Die Stadt war sofort verschwunden. Theo war baff. Dass es das geben konnte: da die endlose Stadt mit all den Lichtern und immer noch viel Verkehr und gleich daneben, ohne Übergang in ihr enthalten: nichts als leere Finsternis.

     Sie seien im Volkspark Altona, erfuhr er auf seine Frage. (War er da nicht mal bei Tag gewesen?) Und das da, er wies mit der Hand nach links, sei der Hauptfriedhof von Altona. Und er sei vielleicht ein Todesengel, ein Würgeengel, ja? Es war kein Witz, jedenfalls klang es nicht so, aber es war natürlich ein Spiel. Er schloss die Hände um seine Kehle und drückte sachte zu.

     Kurz darauf hielt der Wagen an einer Absperrung. Sie stiegen aus. Theo fühlte sich wie aufgepumpt. Es war der richtige Ort für ein Spiel dieser Art. Es ging hier nicht weiter. Dichtes Gebüsch hielt einen auf der einsamen Straße zurück, die infolge der Sperrung eine Sackgasse war. Die nächste Straßenlaterne war ziemlich weit weg. Der andere hatte das Auto neben einem hier abgestellten Bauwagen geparkt, der die Sicht die Straße herauf versperrte. Es konnte beginnen.

     Nachher, auf der Rückfahrt, kam er sich unsauber vor, benutzt. Der andere hatte seinen Spaß gehabt, vielleicht, und er, Theo, das Risiko. Der Ärger ließ ihn klarer sehen als sonst.

     Sich auf den Asphalt legen, von ihm, Theo, am Hinterreifen festketten lassen und dann bei laufendem Motor die Abgase einatmen … Und er hatte sich ans Steuer gesetzt, den Motor gestartet, Gas gegeben. Das war doch nur eine dumme Zirkusnummer. Vielleicht war die Gefahr der Vergiftung wirklich nicht groß, doch war er nach ein paar Minuten lieber ausgestiegen und hatte ihn zuckend vorgefunden und losgemacht. Nie mehr daran denken. Dagegen konnte er sich zugute halten, dass er die Idee mit den Stromstößen gleich zurückgewiesen hatte. Wie sollte das eigentlich funktionieren? Er musste sich etwas gebastelt haben, das an die Batterie anzuschließen war. Auch noch technisch begabt, der Junge, nicht bloß ein Phantast. Die Apparatur von ihm ausgedacht, und er, Theo, wäre der Handlanger gewesen. Der andere brauchte eine Marionette, die genau das ausführte, was er sich ausgedacht hatte. Das Stück war von ihm.

     Dann war er in den Kofferraum gekrochen. Theo hatte den Deckel zugeworfen und ihn zwanzig Minuten durch den Park gefahren. So lange musste der Luftvorrat reichen, er sollte einmal schwitzen. Jetzt saß er wieder hinter ihm, diesmal zurückgesunken ins Polster. Es ging ihm plötzlich auf, dass eine Inszenierung wie diese, so gefährlich sie vielleicht für den Leib ist, sehr wenig mit dem Körper und fast alles mit dem Kopf zu tun hat. Theo konnte sich nicht vorstellen, dass der Finstere durch solche Prozeduren auch physisch erregt und in ihrem Verlauf am Ende sogar befriedigt wurde. Aber wie soll man es  wissen … Als er am Museum abgesetzt wurde, fast ohne Gruß – und dabei hatte er ihn kurz davor noch Meister tituliert -, da war er noch weniger als früher imstande, sich in den Mechanismus dieser Seelen hineinzufühlen. Er gehörte einfach nicht dazu, Gott sei Dank.

     Er sollte eine Zeitlang nicht in die Kneipen gehen.

 

Christoph stand im Pissoir und vor ihm der, der wie ein Schlachter aussah und wieder die gleiche Handbewegung ausführte, mit der ein Arzt sein Stethoskop über die Brust des Patienten führt. Diesmal zog Manfred sich nicht sofort zurück. Er vergewisserte sich, dass Christoph den Schmerz genoss. Nun war alles ausgeglichen, keine Restschuld übrig. Er ging zurück nach vorn.

     Manfred lag jetzt im eigenen Bett, das noch warm war von dem anderen, dem Namenlosen. Es war ein vertrackter Bursche gewesen, außen wie innen, vertrackt hübsch und ein vertrackter Charakter. Obwohl er jetzt schon eine Weile fort war, schwächte sich sein Eindruck nicht ab, er vertiefte sich beim Überdenken noch. Er hatte ihn vorher nie gesehen. Da war um die Lippen eine festgefrorene Süffisanz, abstoßend und zugleich sehr anziehend; dabei auch wieder viel reine Zärtlichkeit. Er ließ sich überhaupt nicht aushorchen. Manfred erfuhr rein gar nichts über ihn und dachte nun, er sei vielleicht bisexuell. Seinen Aufbruch am frühen Morgen begründete er damit, er schlafe im eigenen Bett besser. Es hatte zuvor eine Dissonanz gegeben: War oral-anal nun riskant oder nicht? Er bestritt es. Doch blieb er lange genug, um noch einen zweiten Orgasmus zu erreichen. Er schien überhaupt sehr berechnend. Schon im Taxi hatte Manfred bemerkt, dass er sich den Weg aus der Stadt heraus genau einprägte und besonders auf die U-Bahnhöfe achtete. Er wird von Anfang an vorgehabt haben, nachher nach Hause zu fahren. Aber wo ist das und wer wartet dort auf ihn?

     Er war eine sehr männliche Schönheit, gebräunt bis auf den kleinen Streifen des Slips, und, wie man so sagt, durchtrainiert; doch dabei nicht wirklich sportlich. Es gibt eine Art von Muskulatur, die nur wie kosmetisch aus dem weichen Fleisch herausmodelliert ist, eine keloidartige Masse, keine wirklich harten Muskeln, doch auch nicht weich genug, um reines Fett zu sein. Sobald so einer aufhört, regelmäßig ins Sportstudio zu gehen, geht er dann aus dem Leim. Unter dem schwarzen Lederhemd sah es zuerst sehr nach Fettansatz aus, das war es aber nicht, sondern nur diese plastische Kunstmuskelmasse.

     Ambivalent war alles an ihm und daher so verteufelt anziehend. Über dem linken Augenlid hatte er eine interessante Narbe. Manfred fragte danach und erhielt nur die Auskunft: „Unfall“. Er klopfte ihm kurz vor dem Abschied auf die Stirn und sagte, er wüsste zu gern, wie es dahinter aussehe. Der Namenlose wich aus: Er sei jetzt müde, momentan sei gar nichts dahinter. – Und sonst? – Er war eitel genug, es auszusprechen: Er habe was auf dem Kasten.

     Der Aufbruch vom Village war in mehrfacher Weise demütigend verlaufen. Erst schickte er Stefan weg, der sich anfangs um ihn bemüht hatte. Dann lächelte er Manfred von seinem Barhocker herüber zu. Manfred ging nach oben, auf die Straße. Der Ambivalente kam sogleich hinterher und verstellte ihm den Weg. Man kam nicht an ihm vorbei. Er war zärtlich und voller Süße, und dabei dieser hinterhältige Gesichtsausdruck. Dann Szenen, wie sie sonst nur im Keller dort, nicht auf der Straße üblich sind, nicht einmal in St. Georg. Zwei andere mischten auch noch mit, und einer von ihnen war sehr hartnäckig. Der blonde Adonis weidete sich an ihrer Eifersucht. Er hatte nichts gegen eine Sache zu dritt. Manfred lehnte gleich ab. Dann begann ein Gefeilsche wie auf dem Markt. Wo die beiden Interessenten wohnten? Er vergewisserte sich auch, dass Manfred bei ihm nicht etwa die aktive Rolle zu spielen beabsichtige, und entschied sich daraufhin großmütig für ihn. Nachher zu Hause genossen sie sich, und bei aller Freude aneinander war es zugleich peinlich, erträglich nur durch eine tief aus dem Inneren kommende Zärtlichkeit, die von beiden ausging und wie eine mühsam beherrschte Gier nach Süßem herauskam. Der andere benutzte ein dezentes Parfüm, das nicht dezent genug war, noch zu dem Lederhemd zu passen. Im Übrigen war die Lederjacke etwas zu modisch, ebenso die Stiefel, und die Jeans formten erst die Figur. Er ging leider zu bald und ließ Manfred mit dem schönen Torso eines nachhaltigen Eindrucks zurück. Wenn er nun der Letzte war?

 

Theo übersah mit einem Blick die Lage. Wie Manfred so etwas ausdrückte: Der Markt hatte sich verlaufen. Im Museum war nur noch ein Dutzend älterer Stammgäste übrig geblieben, und Manfred war nicht unter ihnen. Ihn selbst hielt hier nichts mehr. Am liebsten wäre er sofort nach Hause gefahren. Aber er hatte beim Aufbruch vorhin nicht Bescheid gesagt. Vielleicht wartet der Cousin in einer der anderen Kneipen und wird froh sein, wenn er ihn erlöst. Manfred soll nicht mehr so viel Zeit in den Bars totschlagen. Man wird ihm das sachte abgewöhnen müssen.

     Im Eingang zum Village stieß er auf Stefan, der auch von dieser Nacht genug hatte. Manfred sei gerade aufgebrochen, nach Hause, und wenn er sich nicht getäuscht habe, nicht allein. Sein Lächeln hatte jetzt etwas Unnachsichtiges. Er habe ja nicht immer eine glückliche Hand bei jungen Männern, setzte er hinzu. Und: „Das bleibt unter uns. Und nimm das mit der Hand nicht wörtlich.“

     Womit er Theo erst recht zum Grübeln brachte. Was wollte er damit sagen?

     „Dein Cousin“, erklärte Stefan, „ist ein bisschen zu seriös, weißt du. Und das hält er auf Dauer selbst nicht aus. Er lebt oft viele Monate sehr zurückgezogen. Und dann geht er vorübergehend aus sich heraus und hat schnell hintereinander viele Kontakte, mehr als er verkraften kann. Und es sind ganz indiskutable Fälle darunter.“

     „Meinst du?“

     „Ich weiß es.“

     Theo überlegte einen Augenblick, was er zugunsten von Manfred vorbringen könne. „Wenn es nur unter dem Strich stimmt. Wenn er so im Gleichgewicht bleibt.“ Er ahnte, Stefan würde nach einiger Zeit von ihm Ähnliches sagen können. Vielleicht traf es ja auf Stefan selbst auch zu. Er, Theo, kannte sich inzwischen aus. Die Unterschiede zwischen ihnen kamen ihm jetzt nicht mehr so beträchtlich vor. Es kam wohl daher, dass er müde war. Es war besser, bald von ihm loszukommen.

     Er gab vor, auch heimfahren zu wollen, und ging zu seiner Maschine. Tatsächlich fuhr er dann in Richtung Bronx. Manfred war vielleicht doch noch einmal dorthin gegangen. Oder die Nacht wird sich für ihn selbst noch lohnen. Die vielen Stunden konnten doch nicht umsonst gewesen sein.

     Er ging in die Bar und erlebte einen der für ihn und seine Lage hier so charakteristischen Umschwünge. Es war jetzt sehr voll im Bronx. Musik, Lachen, Gespräche. Alle wirkten aufgeputscht, und die Gäste aus anderen Städten waren froh, dem Museum entkommen zu sein. Man versprach sich hier noch einiges vom Rest der Nacht.

     Theo stand eingekeilt in eine Gruppe vierschrötiger Männer um die vierzig. Er sah, sie bekannten sich durch die verschiedensten äußeren Zeichen zum Sadomasochismus. Doch waren es keine verrückten Phantasten wie der andere vorhin, sie waren bloß offen für Spielarten derberer Genüsse. Sie benötigten kräftigere Reize für ihren Leib. Dabei waren sie in allem Übrigen höchst mittelmäßige Naturen. Ihre Redensarten lauteten zum Beispiel: Im Rahmen bleiben, oder: Das lohnt sich doch nicht. Er betrachtete sie und sah, sie waren fast alle auf dem Weg, satte, fette alte Männer zu werden.

     Er war überrascht, dass er dann mitten unter ihnen diese sehr schöne männliche Blume entdeckte. Sandro war vierundzwanzig und kam eben mit zwei Flaschen Bier vom Tresen zurück, die eine für einen korpulenten Mittvierziger bestimmt, der sie ihm abnahm, ohne Sandro anzusehen, und sich dabei weiter mit einem Frankfurter über Araberjungen unterhielt, als wären es Pferde. Sie waren sogar beide aus Hamburg, Sandro und sein Meister, ihre Clubabzeichen verrieten es Theo.

     Sandro war ein kräftiger und dabei doch weicher junger Mann, die Haare extrem kurz und die schwarzen Stoppeln mit irgendetwas verfestigt, so dass er einem wehrhaften kleinen Tier glich, einem Stachelschwein vielleicht. Dazu stand sein Gesicht – an sich schön und reizvoll wie auf einem alten Bild in einem Museum – in scharfem Kontrast, es sah aus wie eine geschälte Frucht, wie ein Pfirsich, dem man eben die Haut abgezogen hat. Freundlichkeit, Genuss- und Leidensfähigkeit lagen derart blank an der Oberfläche, dass man sich als Betrachter rasch physisch zu ihm hingezogen fühlte, als wäre man die fehlende Haut, die ihm transplantiert werden müsste.

     Theo, der weniger scharf beobachtete als unter diesem Eindruck litt, blieb bei ihm stehen und starrte ihn an. Sandro saß jetzt auf einem Barhocker und hörte den anderen zu und sah gelegentlich auf Theo, ohne bestimmten Ausdruck. Später stellte er die halb leere Flasche in der Nähe ab und verschwand in Richtung WC. Theo glitt dankbar auf den frei gewordenen Hocker. War das Tuch hinten rechts gelb oder weiß gewesen, eine interessante Frage.

     Sandro kam nach einiger Zeit zurück und zwängte sich zwischen seine Freunde und den von Theo besetzten Hocker. Er fand gerade genug Platz zum Stehen. Theos Ellenbogen lag auf dem eigenen Oberschenkel und ragte ein wenig in die Gruppe der anderen hinein. Zwangsläufig berührte Sandros Unterarm seinen eigenen. Keiner von beiden zog den Arm zurück. Sie verbrachten die folgende Viertelstunde ununterbrochen in Tuchfühlung, ohne dabei Druck auf den fremden Körper auszuüben, ihn dennoch intensiv fühlend, indem sie sich seinen minimalen Bewegungen anpassten. In der Enge fiel keinem der Übrigen etwas auf. Die Übereinstimmung zwischen ihnen war wortlos hergestellt.

     Dann sagte Sandro, er habe genug, er fahre jetzt heim. Sie lachten ihn aus: Kein Stehvermögen, das junge Weichei. Er lächelte bescheiden und voller Anmut und ging langsam zur Tür.

     Theo stand auf und schlug die entgegengesetzte Richtung ein und tat so, als zwängte er sich zur Treppe durch, die zu den Toiletten hinaufführt. Dann aber ließ er sich am Tresen die beiden Helme geben. Sandro bekam es noch mit, als er eben zur Tür hinausging. Theo sah ihn oben am Wagen lehnen, er stieg jetzt ein, doch fuhr er erst los, als Theo die Maschine startete. Er lotste Theo aus dem Stadtzentrum hinaus, indem er ihm mit der Linken Zeichen durch das herabgelassene Seitenfenster gab. Es ging schon wieder nach Westen, es waren sogar die gleichen Straßenzüge. In Bahrenfeld plötzlich parkte Sandro seinen Wagen am Straßenrand ein. Er stand dann auf dem Gehweg, wo Theos Maschine zum Stillstand kam. Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn auf den Eingang eines hohen, alten Hauses zu. Hinter dem Haustor ließ er sich erstmals küssen. Er wirkte noch sehr jung, die Freude durchströmte ihn und teilte sich im Kuss mit.

     „Da bist du also.“

     Sie begannen, die Holztreppe hinaufzusteigen. Das Treppenhaus entsprach nicht der ziemlich prächtigen Hausfassade. Es war eng und seit Jahrzehnten nicht mehr ausgemalt worden. Hinter einer Abschlusstür erklang Trommelmusik. Im dritten Stock schloss Sandro die Tür zu seiner Wohnhöhle auf. Theo war sicher, es würde wundervoll werden. Kein Drache bewohnte diese Höhle, dem waren sie ja entkommen. Er, Theo, hatte ihn dem Drachen abgejagt.

     Er fand drinnen keine Gelegenheit mehr, sich groß umzusehen. Sandro gab sich ihm auf die ursprünglichste Weise zärtlich hin. In den Pausen betrachtete ihn Theo und fand immer wieder, er sei der schönste Junge, den Hamburg ihm zu bieten hatte. Und wenn er bedachte, aus welchem Kreis er ihn herausgeführt hatte! Sandro gab ihm zu verstehen, er lege keinen Wert auf sadistische Einlagen, und Theo umarmte und streichelte ihn, erleichtert und fast schon überglücklich.

     Sie schliefen in enger Umarmung, und Theo empfand die Gegenwart eines anderen schlafenden Menschen als befriedigend wie noch nie. Was sich bisher im Rückzug auf den eigenen Schlaf angedeutet hatte, erlebte er nun wirklich für sich: den tiefen Frieden bei vollkommenem gegenseitigen Durchdrungensein, die bruchlose Übereinstimmung von innen und außen. Sie schliefen beide sehr tief und lange, und so tief war auch ihre Freude und so lange dauerte sie auch.

 

„Nein, er ist noch hier.“ Sandro richtete sich auf, um besser telefonieren zu können. Er drückte sein Kopfkissen zurecht und spielte beim Zuhören mit der Schnur. Es konnte länger dauern.

     Das Klingeln hatte Theo aus dem Schlaf gerissen. Elf Uhr vorbei. Die verschossenen Vorhänge ließen viel Licht herein: wieder ein schöner Sommertag draußen. Er stand noch unter dem Eindruck seines abgebrochenen Traumes, dessen Einzelheiten bereits unkenntlich waren. Dabei spürte er, wie sein Hirn sich noch anstrengte, die Arbeit des Traumes fortzusetzen. Worum war es gegangen? Vergeblich, es war schon unerreichbar. So ergeht es auch einer Maschine, die, auf Hochtouren laufend, abrupt gestoppt wird und noch eine kurze Zeit nachzittert.

     Er betrachtete Sandro, der seinerseits weiter zuhörte. Sein Blick war nirgendwo. Er war noch schläfrig, dabei entspannt. Er sah sehr friedlich aus, oder friedvoll: Sagte man das nicht auch von Leichen? Das kleine Zimmer war bedrückend: kahl und auch noch unaufgeräumt.

      „Dann war es halt mein freier Abend. Es musste einfach wieder einmal sein.“ Der Klang seiner Stimme bekam etwas Unruhiges, vielleicht Aufsässiges oder sogar Feindseliges. Er sah zu Theo herüber mit einem Blick, als befände er sich auf einem Schiff, das eben ausläuft.

     Er sagte noch: „Gut, bis nachher“ und verschränkte nach dem Auflegen die Hände hinter dem Nacken. Aber er sah nicht zur Decke, sondern auf Theo. Dabei nahm er eine Zwangshaltung des Kopfes ein, die seinen Ausdruck veränderte. Ernst und Anspannung ließen ihn beinahe leidend erscheinen.

     „Vielleicht hast du ja Hunger. Aber ich kann dir nichts anbieten, kein Frühstück, tut mir leid. Es ist nichts da. Ich frühstücke selbst woanders.“

     „Du bist nicht ständig hier?“

     „Mh, nur zeitweise.“ Er kroch herüber, ließ sich streicheln und halten. Er genoss es, doch machte er sich bald los. Da stand Theo auf und zog sich an. Sandro verließ auch das Bett und ging zum Schrank, um Sachen zum Anziehen herauszusuchen.

     Damit war also wieder eine von diesen Nächten vorüber. Ob er ihn wiedersehen werde, fragte Theo.

     „Sicher, irgendwann bestimmt. Aber ich gehe nur selten in die Bars.“

     Beim Abschied - rascher Kuss, leichter Druck der Hände auf die Schulterblätter – war sein Gesicht ohne besonderen Ausdruck.

     Für Theo gab es allerdings ein Nachspiel. Unten auf der Straße fiel ihm ein, er hatte seine Handschuhe bei ihm vergessen. Die Haustür ließ sich von außen aufdrücken. Er klingelte erfolglos an Sandros Tür. Niemand hatte das Haus in der kurzen Zeit verlassen. Als er an der Parterrewohnung rechts vorbeikam, hörte er dann seine Stimme hinter der Abschlusstür: „Nein, mach’s nicht … nein … doch, ja … alles, was du willst … ja, bitte …“ Dann ein Aufprall oder ein Aufschlagen, etwas Klatschendes, Stöhnen und immer wieder: „Ja, ja …“ Er ging rasch fort.

     Nachher versuchte er, an gar nichts zu denken. Früher war ihm das leichter gefallen. Er beruhigte sich schließlich mit dem Vorsatz, einige Wochen lang nachts nicht in St. Georg auszugehen und dann einen neuen Anfang zu versuchen.

     Den Nachmittag verschlief er wieder einmal.    

     Manfred las. Er hatte weder nach dem Verlauf seiner Nacht gefragt noch Eigenes berichtet. Der Große Cousin schonte ihn – und sich selbst auch.

18. Rot

Warum er nicht angerufen habe?

     Es war Julian, er war gerade mit drei anderen hereingekommen. Er hatte sich sogleich in der Bar suchend umgesehen und war dann rasch auf Theo zugegangen. Jetzt stand er, auf Antwort wartend, dicht vor ihm, lauernd und offenbar wirklich gekränkt.

     Theo sagte, er habe nicht gedacht, dass ihm sein Anruf so wichtig sei.

     „O, doch. Ich hatte fest damit gerechnet … Wir sehen uns später noch.“ Damit verließ er ihn schon fürs Erste und kehrte zu seinen Begleitern zurück. Heute wirkte er energischer als damals, vor ein paar Wochen, dabei gereizt, wie zu irgendeinem Angriff bereit.

     Theo hatte ihn in der folgenden Stunde beständig im Blickfeld. Auf dem großen Schachbrett des Bronx war jeder für jeden sichtbar. Man konnte sich schlecht ignorieren. Julian selbst sah oft über zehn Meter hinweg zu ihm herüber: als wären sie noch nicht miteinander fertig.

     Aufreizend, im Gegensatz zu damals, war heute auch seine Aufmachung. Die engen, schwarzen Lederjeans und das rotkarierte Hemd betonten die Figur, die männlich-schön und ohne Fehler war. Er war fast so alt wie Theo, beinahe so kräftig und viel schlanker. Damals (bei ihrem Kennenlernen, das in eine gemeinsame Nacht in Manfreds Wohnung mündete) hatte er einen unauffälligen Sommerpulli über ziemlich weiten Blue Jeans getragen, die diesen bewundernswerten Körper einfach nur verhüllten. Um das Gesicht wirklich schön zu finden, musste man einen anderen Geschmack haben, als Theo ihn besaß. Es war großflächig, mit breiten Backenknochen und schräg gestellten Augen wie Schlitzen. Es war bei aller Kraft und Harmonie des Ausdrucks etwas zu apart. Julian – das war also für Theo bisher nur ein unkomplizierter und vermutlich einmaliger Fick gewesen. Bei seinem Aufbruch von Eimsbüttel hatte er geglaubt, das sei alles gewesen, und sich wieder frei und dabei gut gefühlt.

     Konnte es sein, dass Julian noch nicht genug von ihm hatte? Das war, seinen Blicken nach, die jetzt schon beinahe raubtierhaft herüberfunkelten, sogar ziemlich wahrscheinlich. Und warum auch nicht? Julian war zweifellos sehr attraktiv, ein hübscher, kräftiger Kerl, der (wenn es darauf ankam) dann doch alles mit sich geschehen ließ. Und, er, Theo, wird wohl nicht undankbar sein. Er hatte ihn eigentlich erst jetzt richtig entdeckt. Und er sah ihn über die Distanz hinweg freundlicher an. Julian schien nachzudenken.

     Später sahen sie sich im Village wieder, wohin er mit dem Cousin auf dessen Drängen gegangen war. (Das Motorrad war in der Werkstatt; um in die Stadt zu kommen, hatten sie die U-Bahn benutzt.) Manfred zog bald wieder seine eigenen Kreise, und Julian kam mit einem deutlich wahrnehmbaren Ruck zu ihm herüber.

     Theo sah, er drängte seinen Ärger von vorhin zurück, er gab sich beinahe schmeichelnd, und das hatte bei ihm etwas merkwürdig Gewaltsames. Er sagte offen, er lege Wert darauf, wieder mit Theo zu schlafen. Was ihm an Theo so gefalle, sei das Gefühlvolle: So stark habe er es selten erlebt. Theo stand schon wie auf einem Sprungbrett und stürzte sich in dieses freundschaftliche Element, das aus Versprechen und Bereitwilligkeit bestand. Sie umarmten sich, zwei synchrone Bewegungen, und küssten sich lange. Es hatte auch etwas von einem Vertragsabschluss unter Freunden, den man gemeinsam feiert und zu dem man sich zwei, drei Schnäpse genehmigt. Sie tranken mehrere Flaschen Bier kurz hintereinander. Sie fühlten sich versinken, einer im anderen, und das teilten sie sich auch im Kuss mit.

     Ihr Taxifahrer war selbst oft Gast in den Bars. Offenbar kannte er Julian; wie gut, blieb Theo verborgen. Er sagte, sie sollten vorsichtig sein, nichts riskieren. „Tut euch nichts an, was nicht wieder gutzumachen ist.“

     „Nein, bestimmt nicht“, antwortete Julian, auch für Theo. „Dafür mögen wir uns viel zu gern.“

     Dann hielten sie vor einem Haus in Winterhude. Nach Eimsbüttel hatte Julian diesmal nicht mitkommen wollen.

 

Manfred kannte Julian nur vom Sehen. Er erinnerte sich jedoch, über ihn neulich von dritter Seite eine charakterisierende Äußerung gehört zu haben. Es musste hier im Village gewesen sein. Aber welchen Inhalt hatte jene Bemerkung gehabt? Und von wem war sie gekommen? Sein Gedächtnis ließ ihn jetzt manchmal im Stich. Die Information oder vielmehr ihre Spur war noch vorhanden, doch gegenwärtig kein Zugriff auf den Text selbst möglich. Indem er sich vergeblich abmühte, bekam sein Anblick etwas Hilfebedürftiges, und das machte sich sogleich ein Namensvetter von ihm zunutze, um ihm endlich doch noch seine Bekanntschaft aufzudrängen. Er war diesem anderen Manfred, den hier alle nur den Bankier nannten, zehn Jahre lang aus dem Weg gegangen. Wie es seiner Art zu formulieren entsprach, dachte Theos Cousin: Da kommt er, sozusagen in letzter Stunde … Der andere war von Beruf Vermögensberater, und das erklärte vielleicht das Einfühlungsvermögen, den gewinnenden Ton und den Anschein von persönlicher Zuwendung. Man ließ ihn deshalb gern reden, auch wenn seine Vorschläge indiskutabel blieben, sofern es sich nicht überhaupt nur um plumpes und grundloses Prahlen handelte.

     Er belästigte Manfred schon nach zwei Minuten mit seinem Grundbesitz in Australien, selbstredend mit Pool. Melbourne und seine Szene brachten ihn auf nächstem Weg auf die auch dort üblichen roten Praktiken. Dass er selbst manischer Anhänger des Faustfickens war, wusste längst jedermann in den hiesigen Bars. Er unterstellte jetzt einfach, Manfred wünschte sich seit längerem insgeheim, von ihm in jene Riten eingeführt zu werden. Seine ohnehin angenehme Stimme war um den Ausdruck größtmöglicher Geschmeidigkeit bemüht, er lächelte überlegen und zugleich rücksichtsvoll, und die Bewegungen seiner Hände, seiner Arme schienen immerzu Türen für den anderen offen halten zu wollen. Dass Manfred sich weigerte, eine Modernisierung seines Sexualverhaltens auch nur zu erörtern, quittierte er mit lächelndem Unverständnis.

     Dann erging er sich weitschweifig in Schilderungen gewisser regelmäßig in Krefeld veranstalteter Orgien. Manfred ahmte die Manier des Kabarettisten Hüsch nach: „Orgien! In Krefeld!“ und bekam zu hören: auf welchem Stern er denn lebe.

     Ein Bankier, der keinen Eindruck hinterlässt, macht wahrscheinlich auch keine Geschäfte. Er versuchte es mit dem Mittel des Schocks. Mindestens einer sei jetzt in ihrer Nähe, der Aussichten habe, dass sein Name demnächst in der Rubrik Todesanzeigen erscheine. Sie befanden sich im vorderen Raum der Bar, wo sich zurzeit etwa ein Dutzend Männer aufhielt, keine sehr große Zahl. Eben stand Theo von seinem Hocker auf, Julian ging zum Ausgang voran. Es gelang Manfred, seine Beunruhigung zu verbergen.

     „Nicht der, von dem du es jetzt annimmst“, versuchte der andere Manfred eine Spur zu verwischen.

     Dann entschloss Theo sich doch noch, dem Cousin einige Worte zu sagen, und als er näher kam, empfahl sich der Bankier unerwartet rasch. „Du entschuldigst mich. Ich mach mich Richtung Bronx auf. Alles, was zählt, strömt jetzt zurück.“ Im Fortgehen drehte sich seine wuchtige Gestalt zur Seite, um Theo vorbeizulassen.

     Nachher sah Manfred sich im Lokal um und wusste nicht, weshalb er noch blieb. Das Publikum war immer mieser geworden, nicht nur im Verlauf dieser Nacht, auch über die Jahre gesehen. Am Tresen machte sich jetzt eine laute und öde Clique breit. Sie kristallisierte sich um zwei Bremer, die – Manfred hatte es an sich selbst erfahren – das treueste und spießbürgerlichste Pärchen weit herum waren. Richtig, er hatte sich vor Jahren eine halbe Nacht vergeblich um den Älteren, den kleinen Dunklen bemüht. Beide Bremer machten gern Konversation. Um sie bildete sich gewöhnlich ein Kreis, den sie geist- und seelenvoll überstrahlten – und zu Hause dankten sie ihrem Gott, dass sie die Kraft gefunden hatten, allen Versuchungen zu widerstehen. Aber die strenge Monogamie, die im Umkreis der Bars tatsächlich eine häufige Erscheinung ist, war ihnen nicht gut bekommen. Sie alterten jetzt rasch und bekämpften Frust und Langeweile, indem sie immer mehr tranken und spektakelten und sich der verzweifelten guten Laune des Alkoholismus überließen. Da es ihnen doch nicht gelang, sich wirksam zu betäuben, verspotteten sie ihre eigene Verzweiflung. Ihnen zuliebe spielte man gegen Morgen immer dieselben einfältigen Schlager der Fünfziger und Sechziger in übertriebener Lautstärke ab. Beim Refrain wurden die Verstärker dann jeweils heruntergefahren, um ihnen emphatisches Mitsingen zu ermöglichen. Der Ältere, der jetzt richtig fett wurde und die oben verlorengegangenen Haare am Kinn in Form eines schütteren Bartes ersetzte, presste das Lied von den Caprifischern heraus, als wäre er Gustav Neidlinger in der Rolle des Alberich. Sein Freund hatte sich dazu etwas girrend Dämchenhaftes zurecht gemacht, das ständig kurz vor dem Umkippen stand.

     Heute wurde es selbst dem Personal zuviel, sie schlossen vorzeitig. (Es gab sonst keine Sperrstunde.) Manfred stand dann mit den zwei Barkeepern und ihren übrigen Trabanten auf der Straße. Sie gingen zusammen in ein Stricherlokal in der Nähe, das elegant sein wollte. Das war wieder eine ganz andere Welt. Gestiefelt und teilweise auch gespornt saßen sie nun manierlich auf weichen Polstern und frühstückten anständig. Man hielt Manfred gegen seinen Willen frei. Er durfte nicht einmal murren, wie sie sagten. Woher kam dieser Überfluss?

     Die Nacht endete lange nach Sonnenaufgang in der Wohnung eines Barmannes. Die auch hier überlaut abgespielte Musik stimulierte keinen mehr. Der Barmann machte Kaffee und kramte dann in den Vorräten seiner Schubladen. Er sagte, Manfred solle einmal wegsehen, und bot ihm nichts von dem weißen Pulver an. Sie waren, bis auf ihn selbst, alle noch jung, und sie spielten mit ihm wie er mit ihnen.

 

Sie stiegen nebeneinander die Treppe hinauf. Ab und zu blieben sie stehen, sahen sich an, berührten sich. Julians Wohnung lag in einem der oberen Stockwerke, Theo zählte sie nicht.

     Drinnen, im Flur der Wohnung, kam ihnen ein schwarz-weiß gezeichneter Kater entgegen, der sich an Julians Stiefeln rieb und klagend miaute. Julian nannte ihn Frido, fasste ihn am Genick und hob ihn vors Gesicht. Tier und Besitzer fixierten sich eine Zeitlang stumm. Am Boden abgesetzt, lief der Kater auf Theo zu, wich zurück und kam dann doch dicht heran. Er beroch den Gast und gewöhnte sich offenbar rasch an seine Erscheinung. Mit noch mehr Ausdruck als bei ihrem Eintritt vorhin richtete er seine lebhaften Klagelaute jetzt an den Besucher. Es war wie eine Aussprache zu dritt.

     „Er beklagt sich bei dir über mich“, sagte Julian. Dann vergaßen sie das Tier.

     Sie konzentrierten sich ausschließlich einer auf den anderen, und zumindest Theo verlor in diesem Raum ohne Fenster jedes Gefühl für die verfließende Zeit. Es musste noch immer Nacht sein – sie konnte unendlich lang werden. Ungewöhnlich oft nannte ihn Julian bei seinem Namen, den Vornamen immer wieder bewegt auszusprechen, schien ihm tiefe Freude zu bereiten. Irgendwann löste er sich und sagte, er werde duschen gehen.

     Theo stand dann allein in diesem geräumigen und auffällig möblierten Vorzimmer. Einrichtungen wie diese kannte er sonst nur von Schaufenstern, vor denen er gar nicht erst stehen blieb. Alles war witzig und streng. Vielleicht nannte man so etwas Lifestyle? Das Wort war ihm gedruckt ab und zu begegnet, ohne dass er eine annähernde Vorstellung von seiner Bedeutung bekam. Man konnte hier nicht einmal sitzen. In einer Nische stand, groß wie ein Mensch, aufrecht auf seinen Hinterbeinen ein grüner Dinosaurier aus Plastik und bleckte ihn an. Als einzige war die Tür zur Küche offen, durch die Julian verschwunden war, als er ins Bad ging. Theo ließ sich auf einem Stuhl dort nieder.

     Julian kam nackt zurück. Er zog ihn mit sich, ins Vorzimmer zurück. Auch jetzt öffnete er keine der Zimmertüren. Das Vorspiel begann von neuem und musste irgendwann unmerklich zur Hauptsache geworden sein. Er hörte Julian fragen: „Soll ich die Cremedose holen?“ Theo, noch immer nur aufgeknöpft und nicht entkleidet, noch immer im Vorzimmer stehend, war mit drei, vier Fingern der rechten Hand in ihn eingedrungen, ohne dass es ihm vollkommen klar zum Bewusstsein gekommen wäre. Es hatte sich eines aus dem anderen ergeben, es war ein naheliegender Ablauf gewesen; soviel ging ihm noch in der kurzen Zeitspanne durch den Kopf, die verging, ehe Julian wieder bei ihm war. Er hatte das Gefühl, abgesondert von allem und jedem mit Julian in einer Kapsel aus Kristall zu sein.

     Er probierte es zum ersten Mal, und er zögerte, bis ans Ende zu gehen. Er war tief in ihm, doch den Faustschluss versagte er sich und ihm. Obwohl der Akt also auf seine Weise unvollendet blieb, schien ihm, Nähe, Hingabe und Intensität des Gefühls seien so ungeheuer, dass sie nicht größer, nicht stärker sein könnten. Erschöpft und schweißnass lehnte Julian seinen Kopf gegen Theos Hals.

     Frido schoss jetzt aus der Küche in den Flur. Er fegte allzu scharf um den Türpfosten und riss eine Vase mit Trockenblumen mit sich. Erschrocken bremste er seinen Lauf jäh ab, und mit diesem Aufprall ruinierte er erst den Strauß. Julian geriet in große Wut, er brüllte ihn an. Er titulierte ihn „Mistvieh“ und jagte ihn mit Fußtritten in einen Abstellraum, dessen Tür er hinter ihm zuwarf. Bei dieser Aktion trat er auf die zerbröselnden Reste der Trockenblumen, und ihr Staub vermischte sich mit den Spuren von Sperma und Gleitmittel. All das beseitigte er noch rasch, ehe sie schlafen gingen.

     Theo kam also doch noch bis in sein Schlafzimmer. Julian hatte sich beruhigt und umarmte ihn, während er einschlief. So umschlungen verbrachten sie die ersten Stunden gemeinsamen Schlafes.

     Theo erwachte zuerst, lange vor Julian. Er betrachtete ihn. Er lag da wie ein Kämpfer zwischen zwei Schlachten, den Ernst der Lage noch im Tiefschlaf präsent. Sein Atem war kräftig und regelmäßig. Traten Störungen in Form von Geräuschen von irgendwoher auf, wurde er vorübergehend unruhig, der Rhythmus der Atmung wurde undeutlich. Manchmal seufzte er, oder er stöhnte, ohne äußeren Anlass. Wovon träumte er?

     Mitten am Vormittag schlug er die Augen auf und war offenbar gleich wieder über alles im Bild. Er umarmte den Bettgenossen, doch nur kurz, und stand dann auf. Die Routine eines Morgens nach einer Nacht wie der vergangenen entfaltete sich: duschen (einer nach dem anderen), Frühstück bereiten (und zuvor die Vorlieben des anderen erfragen), ein Gespräch mit einem Menschen führen, dem man ein paar Stunden davor sehr nahe gekommen ist, ohne ihn tatsächlich gut zu kennen. Man steht dann gewissermaßen mit dem einen Fuß auf festem Boden und mit dem anderen auf einem Stück Treibholz. Die Situation war für Theo nicht mehr neu.

     Frido wurde aus seinem Verließ befreit. Theo sah vom Bett aus, wie Julian ihn an die nackte Brust hob und liebkoste. Der Kater war einfach nur dankbar, er trug nichts nach.

     Theo verbrachte noch eine Stunde in Julians Wohnung, ehe er ging. Das Zwiespältige der Lage ging von Julian aus. Er war jetzt weit entfernt von der Offenheit, der Hingabe der vergangenen Nacht. Seine Augen wichen ihm aus, sein Körper wich ihm aus. Zum Ausgleich war der Klang seiner Stimme viel wärmer, als er in der Nacht gewesen war. Er legte jetzt die gesamte Zuwendung, zu der er gerade fähig war, in diese Stimme, die die etwas raue eines kräftigen jungen Mannes war. Doch er schlug die Augen nieder, wenn er mit ihm sprach, und redete nur Gleichgültiges. Seine Stimme war sehr angenehm, warmherzig, brüderlich, und dabei ging es ihm nur darum, ihm die Route der Buslinie 106 zu erklären, mit der Theo nach Eimsbüttel zurückfahren könne.

     Immerhin wurde er beim Abschied klar und entschieden aufgefordert, diesmal bestimmt anzurufen. „Ja, mach ich“, sagte Theo, „wir telefonieren.“ Auf der Heimfahrt überließ er sich fast nur dem Nachgefühl des Überschwanges der mit ihm verlebten Nacht und vermied es weitgehend, über die Kühle und Widersprüchlichkeit des näher zurückliegenden Morgens nachzudenken. Klar, er wird auf ihn eingehen, ihn nicht so bald wieder loslassen. Hier lohnte es sich einmal.

     Er verließ Julian am Sonntagmorgen und nahm sich vor, ihn nicht vor Mittwoch anzurufen. Es war ihm eingefallen, dass sie ja damals in Eimsbüttel ihre Nummern beim Abschied ausgetauscht hatten: Julian hätte ihn also erreichen können, wenn ihm so viel daran lag. Aber es hätte dann nicht diese wunderbare Art der Wiederbegegnung gegeben … Es war doch gut so, wie es gekommen war. Er wird ihm den Gefallen tun, als Erster zum Telefon zu greifen, es war seine Sache, er sah es ein. Er freute sich schon auf das Gespräch. Und man ruft natürlich an, um sich bald wieder zu treffen.

     Die Vorfreude verlieh ihm Schwung, und er kam zunächst gut durch die Arbeitswoche. Es ging gut voran auf ihrer neuen Baustelle im Norden der Stadt, und er dachte anfangs tagsüber kaum an Julian, oft erst auf der Heimfahrt. In den Arbeitspausen war er lebhafter als sonst, das fiel ihm selbst auf – lebhafter, doch nicht offener: Das verstand sich von selbst. Er hatte sich unter Kontrolle, er war auf der Hut. Noch immer war der durchschnittliche Meister verheiratet und hatte zwei Kinder. Theo dachte aber bei sich: der normale Meister. Sein Sprachgebrauch folgte bereits dem Wandel seiner Verhältnisse.

     Dagegen ging er dem Großen Cousin lieber aus dem Weg. Manfred wusste womöglich Verschiedenes, das Julian betraf. Doch er, Theo, wollte von ihm unter keinen Umständen über etwas ins Bild gesetzt werden, das nach seinem Gefühl nur nebensächlich sein konnte. Die beiden schienen sich nicht näher zu kennen. Vielleicht lag es an der Farbe Rot. In den Bars hatte er das rote Tuch an Julian nicht entdecken können, und doch besaß er eines: Er entnahm es am Sonntagmorgen, am Morgen danach, der Innentasche seiner Lederjacke, faltete es zusammen und legte es im Vorraum in der Nähe des Telefons auf einem Wandbord ab. Im Vorzimmer dort … Er sah ihn wieder nackt und glühend vor sich. Er war kräftig und schön, und die Lust auf Unterwerfung trieb ihn an. Das war erregend und auch rührend. Man musste ihn ins Mark treffen, er wollte es selbst so, und ihn dann – gefährdet war er, verwundet – auffangen, ihn stützen und trösten. Dabei war er nicht einmal weich, er war ohne Zweifel kernig. Es gehörte einiges dazu, sich so fallen zu lassen. Und Julian riskierte viel dabei. Wenn sie so miteinander umgingen, riskierten sie vielleicht beide viel, gemeinsam. Er war sich dessen bewusst, es war unvermeidlich.

     Obwohl es erst Dienstagabend war, wählte er jetzt schon erstmals seine Nummer. Er hatte ihn lange genug warten lassen. Nach kurzem Klingeln (dort im Vorraum) schaltete sich ein Apparat ein: also nur sein Anrufbeantworter.

     Zuerst einige Takte Musik: Theo kannte den Namen der Popgruppe nicht. Sie sangen etwas auf Deutsch, doch war es nicht zu verstehen, und dann meldete sich auch schon Julian in scharfem Kontrast zum einleitenden Singsang. Er hatte ihn selbst ausgewählt und protestierte jetzt mit klarer, harter Stimme gegen das weich Fließende dieser Musik in der Art von Abba: „Kein Trallala und kein Schubidu, sondern …“ Worauf er nur seine Nummer, nicht seinen Namen nannte und einen knapp aufforderte, die Nachricht, die man loswerden wolle, auf Band zu sprechen. Man höre von ihm!

     Diese Montage war ein Kurzporträt seiner selbst. So war er tatsächlich, Theo erkannte ihn wieder oder erkannte ihn vielmehr jetzt erstmals, im Nassforschen seines Auftretens, das etwas von Kriegführen hatte und seltsam abstach von seiner zeitweise extremen Hingabe. Die Psychologie eines anderen Mannes war für Theo eine noch so junge Wissenschaft, dass ihn seine erste größere Entdeckung stark erregte und ihn erst recht an den Gegenstand fesselte. So war er wirklich: verletzt und verletzend und darunter – sehr zart, innig und auch aufrichtig, wahrscheinlich, vielleicht …

     Theo sagte, er halte sein Versprechen und melde sich. Er fühlte, damit traf er nicht den richtigen, mitreißenden Ton, und er fuhr mit veränderter, verhärteter und, wie er wiederum fühlte, nicht ganz sicherer Stimme fort, er gebe ihm jetzt noch einmal seine eigene Nummer und hoffe, ihn bald live zu hören. Live: Klang vielleicht nicht übel? Er drückte sich sonst nicht so aus und konnte die Wirkung nicht abschätzen. 

     Das Motorrad war zurück aus der Werkstatt. Er ließ es jetzt abends in der Garage. Eine Zeitlang war er nach dem Essen ein Stück hinausgefahren, in den Volkspark vor allem. Nun aber wartete er von Tag zu Tag auf einen Anruf, den er für nahe bevorstehend zu halten sich zwang und von dem er gleichzeitig wusste, dass er wahrscheinlich gar nicht erfolgen würde.

     Seit einiger Zeit aß er mit Manfred abends zu Hause. Sie kochten beide nicht gern und bereiteten irgendein Verlegenheitsessen zu. Manfred war es im Grunde gleichgültig, womit er sich sättigte. Er spottete über ihre Junggesellenwirtschaft und machte nachher Kaffee, um noch eine Weile mit dem Cousin reden zu können. Theo, dem mehr an gutem Essen lag, sagte sich, lange könne das so nicht weitergehen. Er wollte Manfred nicht mehr über Vergangenes reden hören und hatte selbst nichts aus der Gegenwart beizutragen. Die Zukunft war vielleicht nur ein Loch, in das sie einfach hineinfallen würden. Er war wie eine Tür, die nur noch in einer Angel hängt.

     Er zog sich mit einem Buch in sein Zimmer zurück, um allein zu sein, um allein auf den Anruf, der immer notwendiger wurde, zu warten. Bald hörte er Manfreds Schreibmaschine, dieses Geräusch wie von einem Schnellfeuergewehr. Der Große Cousin sagte, wenn Theo ihn verließ, er mache sich wieder an seine Fingerübungen.

     Theo nahm das Buch nicht nur zum Schein mit, er las tatsächlich. Manfred hatte ihm die schmalen Bände mit den Erzählungen und kurzen Romanen von Pavese herausgelegt. Theo, der an Literatur kaum gewöhnt war, las langsam und so, als wäre er selbst die Hauptperson der Erzählung. Er vergaß während des Lesens Eimsbüttel, den Cousin, die Baustellen und die Bars. Er selbst machte dann die qualvolle Hochzeitsreise nach Genua mit einer Frau, mit der er nicht klar kam und die er dafür hasste, dass er sie im Stich ließ. Seinetwegen drehte, in einer anderen Erzählung, Carlotta den Gashahn auf. Er war der Genosse in Rom – mit einer ganz anderen Art von Frau! -, und er war Unter Bauern und fand die Wenigen schnell heraus, die zu ihm passten.

     Nachher wusste er, er hatte auch während des Lesens auf Julian gewartet. Die betäubende Wirkung der Lektüre ließ nach. Er begann wieder zu grübeln.

     Er wählte in diesen Tagen Julians Nummer zu den verschiedensten Tageszeiten, ohne jemals etwas anderes als immer dieselbe Montage zu hören: den dummen Musikfetzen und Julians ruppiges Hineinplatzen. So räumt einer den Tisch ab, indem er alles herunterfegt, und pflanzt sich dann schlecht gelaunt daneben auf. Schon gut, aber dann musste es doch weitergehen … Die ewige Wiederholung begann zu ermüden, ohne abzustumpfen. So ähnlich war purer Schmerz beschaffen. Es war idiotisch, er musste aufhören, immer wieder diese Nummer zu wählen, er kannte sie seit Tagen auswendig. Julian konnte nicht ständig unterwegs sein, und er meldete sich selbst nie. Irgendetwas musste er doch mit seinem Spiel bezwecken. Missbrauch war auf verschiedene Weise denkbar. Es war möglich, beispielsweise, den Text des Anrufers allein oder mit anderen zusammen wiederholt abzuhören, davon irgendeinen Gewinn zu haben – nur welchen? – und selbst stumm zu bleiben. Man konnte sich auch selbst während des Anrufs einschalten und den Anrufer live anhören, während dieser noch davon ausging, es allein mit der Maschine zu tun zu haben. Theo hinterließ keine Nachricht mehr. Er lauschte in das Schweigen des Apparates hinein, ungewiss, ob er auch seinerseits belauscht werde. Später wartete er das Ende der automatischen Ansage gar nicht mehr ab und legte schon während der einleitenden Musik auf.

     Am Wochenende stellte Theo die vergeblichen Anrufe ein, und bald ging es ihm besser. Er sagte sich, es sei zwar schade, aber zum Glück sei er selbst stabil, wie sich gezeigt habe. Er fuhr allein für zwei Tage ins Wendland, das er noch nicht kannte.

     Ja, er war stabil, und um es sich zu beweisen, wählte er am Mittwoch darauf noch einmal Julians Nummer: nur noch dieses eine Mal. Gut möglich, dass Julian sich am Ende geschlagen gibt und sich einfach meldet. Er, Theo, hat ihn jetzt lange genug warten lassen. Er wird recht kühl zu ihm sein. Es war ja vorbei. Mit diesem letzten Gespräch wird es besiegelt. Und wenn er wieder nur die blöde Montage zu hören bekommt? Dann wird es erst recht zu Ende sein, dann war er wirklich ein Halbverrückter. An Geschichten wie dieser ist die Stadt schuld, in der ihm jetzt alles überreizt und übertrieben vorkam, ungesund eben, auch für den Kopf. Manfred hatte es neulich gesagt.

     Womit Theo nicht gerechnet hatte: die Ansage auf dem Anrufbeantworter war ausgewechselt worden. Etwas Neues von Julian!

     Mit dem Klang seiner Stimme, die jetzt ohne Musik gleich einsetzte und überaus freundlich war, erschien das Gesicht wieder vor ihm, auch die Gestalt, und zwar gerade so wie er ihn in den Momenten extremster Annäherung erlebt hatte. Julians eine Schulter zuckte dann nervös, der Tonfall der halbdunklen Stimme war schmeichelnd und der Ausdruck des Gesichtes liebenswürdig bis zur Grimasse. All das sprach von Anstrengung, Überwindung, es verriet den Willen, ein bestimmtes Ziel unbedingt zu erreichen, und den Wunsch, dass es bald geschehen und auch bald vorüber sein möge.

     Nur ein dummer Zufall sei daran schuld, sagte Julian, dass sie sich jetzt nicht persönlich sprechen könnten. (Oder hatte er aussprechen gesagt – man müsste es gleich noch einmal abhören.) Doch sei er nur kurz von zu Hause abwesend und freue sich riesig, bei seiner Rückkehr eine Nachricht vorzufinden. Bestimmt werde er sich dann sehr rasch zurückmelden. Und er schloss sanft und eindringlich: „Worum geht es dir?“ Da riss das Signal Theo aus dieser Atmosphäre akustischer Verdeutlichung der brüderlichsten Gefühle. Verdutzt sagte er mit einer Stimme, deren Nüchternheit ihm unangenehm auffiel, er sei es, Theo, falls man sich erinnere. Er warte immer noch auf eine Antwort. Dabei beließ er es, schwieg noch eine Viertelminute in den Apparat hinein und legte auf.

     Ein Rückruf war natürlich unwahrscheinlich. Die wenigen Anrufe, die in den folgenden Tagen kamen, waren ausnahmslos für den Cousin bestimmt. Wenn der Wechsel der Ansage Theo zunächst überrascht hatte, so verwandelte sich die Irritation bald in Ärger und später in noch etwas anderes, ein bedrückendes, beängstigendes Gefühl von Ausweglosigkeit und böser Verzauberung. Er wählte Julians Nummer noch oft, mindestens einmal am Tag, ab und zu auch bei Nacht. Immer eindringlicher dieses Worum geht es dir, Worum geht es dir? Es war ja nur ein dummer Zufall, er freut sich doch riesig, riesig, riesignur ein dummer Zufall … Worum geht es ihm denn, es war doch alles nur auf ihn gemünzt, jedes Wort, kein Zweifel möglich. Er spielt mit dir, aber er ist doch nicht falsch?!

     Am neunten oder zehnten Tag der Krise sprach Theo wieder einmal selbst aufs Band: Ich liebe dich … Dann schien es ihm nicht ausgeschlossen, er sei gar nicht gemeint, nicht er sei der Adressat dieser von einem Automaten verbreiteten Ansprache. Dann hatte er, Theo, sich lächerlich gemacht. Von da an wählte er Julians Nummer kein einziges Mal mehr.

     Die Bars hatte er seit Wochen nicht mehr besucht. Am letzten Sonntag im Juli saß er allein an einem See hinter Mölln, der klein, düster, verlassen im Wald lag. Es gab keine Aussicht, nicht einmal eine Bank, nur einen angemoderten Baumstamm, auf dem man zur Not hocken konnte. Kein anderer Ausflügler fand hierher, es gab keinen Weg, Theo war vom Parkplatz ein Stück durchs Unterholz vorgedrungen.

     Womit die Gedanken beschäftigen, damit sie nicht ergebnislos um immer das Gleiche kreisen? Ingrids Brief müsste beantwortet werden. Dieses Thema kann einen weiter ernüchtern. Er starrte vor sich hin. Die Wasseroberfläche warf Blasen. Nichts ist bisher entschieden worden. Er wird ihr wieder einen Vorschuss schicken, einen Vorschuss auf Unterhalt für die Kleine. Das Konto müsste es hergeben. Man kann später abrechnen, später, wenn seine Lage sich geklärt haben wird. Er sieht den Bungalow im Dorf daheim noch so vor sich, wie er ihn im März verlassen hat. Doch vor ein paar Wochen ist Ingrid ausgezogen. Sie sind ins Dachjuchhe gezogen … Er weigert sich, es sich genau vorzustellen. Man kann etwas mitgeteilt bekommen und ordnet es dann in die Reihe der unbestreitbaren Tatsachen ein, die einen nicht weiter berühren. Man weiß zum Beispiel, dass Kairo in Ägypten liegt. In dieser Kategorie von Wissen rangiert die Nachricht von Ingrids Rückkehr zu ihren Eltern. Er nimmt sie nur an der Oberfläche zur Kenntnis. Niemand sprach oder schrieb von Scheidung, doch sie setzten ihm in Neustadt eine Frist. Bis zum Ende des Sommers solle er heimkommen und die Sachen regeln. Danach würde Onkel Georg das Haus räumen lassen und es vermieten.

     Wer ist er denn und wo steht er nun? Richtig, bisexuell ist er, und darauf ist er beinahe stolz. Hätte Julian ihn nicht aus dem Gleichgewicht gebracht, er würde sich mit allem einverstanden erklären. Nur an Julian scheint es ihm jetzt zu liegen, dass er das wahre Glück seiner neuen Existenz noch nicht kennengelernt hat. Doch zweifelt er nicht, dass er zu den vom Schicksal Bevorzugten überhaupt gehört. In der Mitte stehen, für alle Glücksmöglichkeiten offen sein: Er hätte mit keinem Homosexuellen tauschen wollen. Es kommt ihm manchmal so vor, dass er die Homos immer weniger schätzt, je intimer er mit ihnen wird. Je länger er sie genießt, umso mehr findet er, sie unterscheiden sich von ihm zu ihrem Nachteil. Er kann Frauen und Männer lieben, also die ganze Welt. Stehen Ausnahmemenschen wie er somit nicht im Zentrum des Lebens? Wenn er Lust darauf verspüren sollte, kann er sich auch wieder der anderen Seite zuwenden und neue Frauen kennenlernen. Es stimmt schon: Den Arm um einen Mann zu legen, erregt ihn stärker. Männer sind im Ganzen, von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen, kerniger, kräftiger im Geschmack. Männer sind wie Vollkornbrot. Frauen … sind dafür weniger anstrengend. Er will es offen lassen, was ihm auf Dauer mehr zusagt.

     Er macht es sich nicht wirklich klar, sein Gefallen an seiner jetzigen Lebensweise ist nur gesichert, wenn er sich und anderen sagen kann: Daheim habe ich ein Haus, eine Frau und ein Kind. Auf jeden Fall, versichert er sich selbst, führt er neuerdings ein viel interessanteres Leben als früher. Er sollte doch wieder gelegentlich nachts ausgehen.

     Auf einmal sauste seine Pranke klatschend auf den rechten Oberschenkel. Hier am See gab es Stechmücken. Er stand auf und ging zu seiner Maschine zurück, um nach Mölln hineinzufahren. Das war eine von den vielen kleinen Städten, die er noch nicht kannte.

 

Manfred schlief noch, als der Cousin nach dem Frühstück zu seinem Sonntagsausflug aufbrach. Seine Nacht war erschöpfend gewesen. Er hatte mit vielen geredet und war erst um sieben nach Hause gekommen.

     Gegen eins kam dieses Pärchen die lange, steile Treppe ins Village herunter. Er stand wieder einmal bei Philipp. Die beiden neuen Gäste verkörperten in ihrer äußeren Erscheinung den größtmöglichen hier vorkommenden Gegensatz. Zuerst, als er nur den Mickrigen und dabei so Aufgekratzten sah, versuchte er noch einen Witz: „Da kommt die Neue Armut persönlich“, sagte er zu Philipp. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, dass junge Männer neuerdings in absichtsvoll zerrissenen Jeans herumliefen und jedermann unaufgefordert die heikelsten Körperteile vorwiesen.

     Der Aufgedrehte kannte Philipp, wie es schien, und fing sofort an, mit ihm zu palavern. Manfred konnte unterdessen in Ruhe seinen Begleiter betrachten, den mächtigen, schweigenden Schatten hinter ihm. Auch er war kaum über Mitte zwanzig, jedoch nach dem hier geltenden Maßstab korrekt gekleidet. Sein Aufzug kombinierte geschickt Uniformierung mit Entblößung. Wer sie noch vor sich hatte, konnte sie bei ihm leicht nachholen: die Entdeckung des Fleisches. Auf einem großen, breiten Körper saß ein runder, kurz geschorener Schädel mit einem Ausdruck im Gesicht, für den Manfred nicht sogleich die treffende Bezeichnung fand. Dieser Kopf vermittelte einen grobkörnigen Eindruck wie eine unscharfe und zu stark vergrößerte Fotografie. Die Ausstrahlung der Person ging vom Physischen aus und von ihrem eigenen Behagen daran. Selbst die Bartstoppeln und das Brusthaar stellten diese zwar zunächst unaufdringlich wirkende, nichtsdestoweniger unverschämte Lust eines Mannes an seiner eigenen Kreatürlichkeit zur Schau. Unter der Lederjacke trug er gar nichts. Was hatte er für einen wunderbar breiten Thorax! Er war Athletiker, ohne Athlet zu sein. Sport schien er, wenn überhaupt, nicht intensiv betrieben zu haben, doch hatte er statt hypertropher Muskelmasse auch nicht mehr Fett als angenehm zum Anschauen und Anfassen. Wie viele jetzt hier trug er die Lederschnürhose und hatte sie so weit geschnürt, wie Manfred es noch bei keinem anderen gesehen hatte, und zeigte auf diese Weise viel von seinem Fleisch. Das weiße, atmende Fleisch drängte sich gegen die schwarze Beinkorsettage. Es sprach den Hungrigen direkt an: Ich bin das Fleisch eines Tieres, das kräftig, gesund und gutartig ist.

     Das sonderbare Paar ging einige Schritte in die Bar hinein. Philipp verließ seinen Posten und schoss hinter ihnen her, scheinbar um das Gespräch fortzusetzen, in Wahrheit aber um den unbekannten Athletiker einer speziellen visuellen Prüfung zu unterziehen.

     „Den anderen kannst du vergessen“, sagte er, als er zur Kasse zurückkam. Manfred fragte sich, was er an ihm vermisste. Offenbar konnte man die Gäste hier aus sehr verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Philipp hielt sich nie lange mit dem Studium neuer Gesichter auf, rasch senkte er den Blick, um den messbaren Teil der Männlichkeit zu taxieren.

     Die beiden drüben spielten lange mit großem Vergnügen am Geldspielautomaten.

     Manfred wollte wissen, ob Faustficken tatsächlich so gefährlich sei.

     Philipp sah ihn erstaunt an. „Na klar, das weiß doch inzwischen jeder. Ich hab mir geschworen: nur noch mit Handschuhen. Und ganz wichtig: immer kurz geschnittene Fingernägel. Und poliert müssen sie sein.“ Er erzählte ihm Geschichten von in der Tat blutigen Anfängern. Dann nannte er ihm die Adresse eines Ladens, in dem er diese Spezialhandschuhe kaufen könne.

     Er brauche sie nicht, versicherte Manfred. „Ich frage nur aus Sorge um einen Freund, der jetzt leider damit anfängt.“

     Philipp glaubte ihm nicht und lächelte vielsagend zu dem Athletiker hinüber. Manfred lächelte auch. Manchmal war es entlastend, gemeinsam aus unterschiedlichem Motiv zu lächeln. Zudem konnte er so im Gespräch unverfänglich freundliche Signale in die gewünschte Richtung senden. Indessen registrierte sie nur der magere Zappelige und leider auch noch erfreut, wie es schien. Manfred musste sich  - wie sagt man heute: er musste sich zurücknehmen. Das Geplänkel versandete. Dann trennten die beiden drüben sich überraschend. Der hyperaktive Hanswurst glitt mit einem letzten kessen Spruch an ihnen vorbei und die Treppe hinauf: „Frischfleisch im Angebot. Kaufen, Freunde, kaufen.“

     Er kam aus Göttingen, dieser sinnliche Fleischbrocken, Philipp hatte es schon herausgefunden. Manfred verließ ihn und drang tiefer in die Bar vor. Ein gewöhnlich zuverlässiges Gefühl sagte ihm, er sei dem Göttinger angenehm. Wie erfasst man das? Schwer zu sagen: vielleicht instinktiv an der Körperhaltung und an kleinen Gesten des anderen.

     Manfred ließ sich am Speisetisch von einem Studenten sagen, wenn Faustficker sich wirklich liebten, sei eine Virusübertragung ausgeschlossen. Nur ein echtes und sehr starkes Gefühl biete Schutz gegen die Ansteckung. Diese Theorie war neu und kühn und zeugte von ungebrochener Kraft des Glaubens. Im Übrigen glaubte der Student, der auch religiös veranlagt war, genau wie Philipp, Manfred frage aus Sorge um die eigene Gesundheit.

     Jetzt streifte ihn der Göttinger auf seinem Weg ins Halbdunkle. Manfred fand ihn ziemlich weit hinten wieder. Man sah hier genug, wenn die Augen sich erst umgestellt hatten. Der andere schien darauf gewartet zu haben, dass Manfred ihn berühre. Nach kurzem Zögern – vergleichbar dem eines per Satelliten zugeschalteten Journalisten, der die Frage des Moderators zu Hause mit Verzögerung nur umso sicherer beantwortet – erwiderte er die Geste mit seinen eigenen großen und schwieligen Handflächen. Er verströmte dabei sogleich eine Zärtlichkeit, wie Manfred sie so noch nicht kennengelernt hatte. Es war nicht wie sonst im Leben, sondern nur wie in manchen Filmen, sagen wir Viscontis. Dort gibt es Szenen, in denen Nachdruck, bewusstes Innehalten und Auskosten des Glücks sich im Gleichgewicht halten. Die Berührung von Manfreds Händen durch diese anderen Hände hätte so schon ausgereicht, die persönliche Hinwendung zu ermessen.

     Manfred war überrascht, wie sehr er sich von anderen Männern gleicher Aufmachung unterschied. Keine Spur von Sadismus oder Masochismus, doch auch keine süßliche Zärtlichkeit, nicht das Surrogat, nur der reine, fast absichtslose Ausdruck seiner Einstellung zu ihm, die in nichts als einer sinnlich wahrnehmbaren Sympathie bestand. Sie gingen nicht sehr weit, entblößten sich nicht. Manfred küsste immer wieder jene beiden Sterne, und der andere genoss es merklich. Sein Thorax wölbte sich dann, die Augen waren geschlossen, das Gesicht angespannt von der Empfindung der Lust. Zwischen ihnen war einmal keinerlei Ambivalenz. Es war für Manfred der Ausdruck und der Austausch eines beinahe religiösen Gefühls.

     Ungefähr nach einer halben Stunde löste er sich von Manfred und sagte: „Ich muss einmal an die frische Luft gehen.“ Sein Tonfall war dabei ebenso unentschlüsselbar wie der Reiz seines Gesichtes.

      Manfred verharrte einige Zeit. Das eben war neu gewesen: Berührung und Verheißung. Wir folgen einem Naturgesetz, wenn wir die seltenen Glücksmomente nicht abschreiben, sondern sie zu verlängern suchen. War er noch in der Bar? Er holte sich vorn am Tresen ein Bier und sah ihn jetzt im Eingang stehen. Sein Begleiter von vorhin war zurückgekommen und redete pausenlos gestikulierend auf ihn und Philipp ein. Unaufhörlich trippelte er hin und her, wobei die Fetzen des zerrissenen Hosenbodens wie Rockschöße flatterten und doch nichts von Belang entblößten. Alles an ihm war jetzt Rausch: Reden, Bewegung, die Flut der Bilder von außen, die im Chaos des Großhirns ein Gewitter aus Emotionen und Assoziationen auslösten. Die Feuergarben seiner Blicke fuhren schon über Manfred hin, der sich abwenden wollte, jedoch die eigenen nicht von der tollen Gruppe lösen konnte. Philipp kam amüsiert und geschmeichelt gar nicht zu Wort. Und daneben er, der Magnetberg, der die Eisenspäne dieser armen, verwirrten Seelen aufsammelte und sie, wie alles, das von außen kam, in den matten Strahlglanz seines animalischen Behagens einschmolz.

     Der Kokainist (oder was er schon war) tänzelte mit großen, glänzend irrlichternden Augen auf Manfred zu. Ob er überhaupt rauche? Nein, also gerade wie er? Mit überraschend geschicktem Fingerschnippen lüpfte er ihm dann den oberen Bund des T-Shirts und stellte aufjauchzend Übereinstimmung auch in der Behaarung der Brust fest. „Nein, so ist es nicht“; sagte Manfred. Die Verneinung genügte schon, er wandte sich bereits anderen Männern zu. Da kam der aus Göttingen herüber und sagte ruhig zwei, drei Sätze zu ihm, die sonst niemand verstand, und entzog sich dann allen. Gelassen, gleichmütig ging er auf die Treppe zu und verschwand zur Oberwelt hinauf.

     Als er fort war, sagte Philipp: „Du kannst ihn ja im Steindamm-Eck wiedersehen. Es ist gerade neu eröffnet worden. Dort ist er Kellner.“

 

Erinnert sich keiner mehr an das Steindamm-Eck? Ein Wunder wäre es nicht, es hat ja nicht sehr lange bestanden. Auch der Steindamm ist bekanntlich dreigeteilt: vorn, wo die Gründerzeitfassaden sind, Ramsch und Strich; dann die Mitte: Kinos und Gastronomie in Gebäuden von des zwanzigsten Jahrhunderts Mitte, die Sehnsucht nach Gemütlich-Gediegenem verraten (und hier und in den Seitenstraßen treffen sich die Homosexuellen) – endlich die letzte Viertelmeile, vollgestellt mit aufgetürmtem Büroraum, preiswert, zentral gelegen und „zum Weinen schön“. Dort hinten, nicht weit vom Allgemeinen Krankenhaus, überlebte das Steindamm-Eck einige Jahre zwischen Mittagstisch und Skatabend. Damit war es nun vorbei, doch war es unter anderem Vorzeichen schon wieder eröffnet worden.

     „Apropos Vorzeichen“, warf Stefan ein, „man sollte dafür ein eigenes Geschlechtssymbol einführen …“

     „ … einen Kreis mit einem Pfeil, der senkrecht nach unten weist.“

     „Inakzeptabel. Aber was für eine Art Publikum verspricht man sich hier? Die Gegend ist ja fürchterlich.“ Stefan hoffte schon nicht mehr, ein zweites Café Licht entdecken zu können. Von dort hatte Manfred ihn am Mittwoch nach jener Nacht zu unüblicher Zeit, halb acht abends, abgeholt. Sie wollten wirklich im Steindamm-Eck zu Abend essen.

     Das Eck war verglast wie früher schon, doch schien es jetzt nicht nur transparent, sondern auch transportabel zu sein. Die neue Einrichtung, weiße Stell- und Schiebewände, davor billige weiße Holzmöbel, hatte etwas Feldküchenmäßiges, zum baldigen Abbau und zur Wiedereröffnung an anderer Stelle bestimmt: dies der erste Eindruck, der so selten trügt.

     Sie übersahen es schon beim Eintreten, sie waren die einzigen Gäste. „Schlechtes Zeichen“, murmelte Stefan. Ein blonder Apoll, der Geschäftsführer oder besser Manager, war allein im großen Lokal und wartete hinter dem Tresen auf Kunden. Er besorgte auch das, was in Österreich Gassenverkauf heißt. Sie wollten hier essen? Er war freundlich und auf der Höhe der Zeit: „Kein Problem.“ Und rief in die Küche hinein: „Sigurd!“ Mit dem Namen war schon etwas gewonnen.

     Sigurd kam durch die Pendeltür, groß, rundschädlig, kurzgeschoren. Er war es und grüßte mit einem entspannten „Hallo“, womit er auf die knappste Weise zeigte, dass er sich erinnere. Er war heute rasiert und sehr einfach angezogen, Blue Jeans und weißes T-Shirt. Er kam noch nicht herüber, da sie sich jetzt in die Karte vertieften.

     Man war hier nur auf Imbisse eingerichtet. Manfred bestellte eine Currywurst mit Brötchen, was mit „Mh“ quittiert wurde. Stefan erkundigte sich erst, ob der Linseneintopf vegetarisch sei. „Mh, keine Wurst drin.“ Die Auskunft war vermutlich ohne Wert, dafür wurde sie mit den Anzeichen verhaltener Freude erteilt, einem Ausdruck, den er während der Dauer ihres Aufenthaltes im Lokal fast bis zum Ende beibehielt.

     Es gab sogar einen Koch oder zumindest eine Küchenkraft. Man hörte die üblichen Geräusche der Zubereitung von Speisen. Sigurd stand währenddessen am Geldspielautomaten, den es auch hier gab, und überließ sie vorerst der Betrachtung seiner Rückseite. Wie herrlich war dieses Kreuz, das man gern auf sich genommen hätte.

     Stefan fragte nach Theo. Er habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen.

     „Er geht bald wieder aus, er ist jetzt über dem Berg … Nein, nicht krank, nicht körperlich, zu sehr engagiert, in Liebessachen.“

     „Das kann ich mir bei ihm gar nicht vorstellen. Ich habe ihn darin bis jetzt nicht für anfällig gehalten.“ Stefan senkte die Stimme: „Er ist also kein Klotz wie der da?“

     Manfred biss sich auf die Lippe. Diese Frage bewies weder Verständnis noch Feingefühl.

     Als Sigurd die Speisen brachte, trat er dicht an sie heran. Er servierte stumm. Manfred nahm die ihm eigentümliche Ausstrahlung jetzt noch deutlicher wahr, diese dumpfe, grundlose Daseinsfreude.

     Während sie aßen, ging Sigurd einige Male langsam im Lokal auf und ab. Er sah aus einem Fenster auf den Steindamm hinaus, oder er beobachtete sie vorübergehend, ohne sich dabei zu verstellen. Der Blonde überwachte sie alle vom Tresen aus, zwei Gäste, die aßen und dabei einen Kellner beobachteten, der seinerseits Gäste betrachtete, die ihn im Auge behielten.

     Er war deutlich jünger als Theo. Sah man schärfer hin, bemerkte man einzelne unfertige, fast linkische Bewegungen und konnte aus ihnen das Bild des Epheben rekonstruieren, das er vor Jahren geboten haben musste. Vermutlich erregte er damals den Unwillen fast aller seiner Lehrer. Man konnte sich ihn nicht als einen auch nur mittelmäßigen Schüler vorstellen. Sein Hang zur Selbstzufriedenheit, der eigentlich eine Neigung zum Selbstgenuss war, durchkreuzte alle Pädagogik. Es war doch etwas an Stefans Urteil: nur ein Klotz. Vielleicht lag seinem spezifischen Reiz eine sich auf alles erstreckende Trägheit zugrunde. Sie galt auch in der jetzigen gottfernen Zeit – und nun erst recht – als Todsünde. Kästners oft zitiertes „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ gehörte zur Propaganda dieser Strebsamen, die den Naturzustand nicht ertrugen und sich selbst auch nicht. Sie strebten von sich weg und verwirklichten sich daher, indem sie wirkten, das heißt sich veräußerlichten und Gleiches von allen anderen verlangten. Im Ergebnis stiegen die Ansprüche aller an alle ins Maßlose. Die Vernetzung der Gesellschaft und damit die Unfreiheit aller nahmen mit jeder Generation zu. Menschen, die hierin zurückblieben, waren dem Ursprung näher und fielen bald unangenehm auf; und doch waren gerade sie es, die das Behagen am Sosein noch kannten, und man erhielt von ihnen nicht Zeichen kreatürlicher Güte, vielmehr Beweise.

     Das war fast zuviel Spekulation beim Verzehr einer Currywurst mit Brötchen. Stefan hatte längere Zeit geschwiegen, ein Zeichen großen Missfallens bei ihm. Sie zahlten und brachen auf. Sigurd warf beim Abschied einen Blick auf sie, wie Manfred ihn von Pferden kannte, an deren Weide man zufällig vorbeikommt und von denen man sich entfernt, ohne ihnen näher gekommen zu sein. In ihrem Pferdeblick liegt dann etwas, das die Rasse der sich entfernenden Menschen sehr weit unten in einer Rangfolge der Kreaturen einordnet. Waren es die edlen Pferde von Swift?

     Stefan, dem er die Beobachtung mitteilte, entgegnete: „Sie werden ihr Zuckerstück vermisst haben.“

 

Manfred sah ihn zwei Tage später noch einmal, jetzt nur noch aus einiger Entfernung. Er wollte nachmittags vom Verlag zu einer Buchhandlung fahren und wartete auf den Bus. Da sah er Sigurd vom Kaufhof her die Mönckebergstraße überqueren. Er schwamm im Strom der Fußgänger mit, ließ sich überholen und begann, den entgegenkommenden Trupp zu teilen. Schließlich erreichte er als Letzter das diesseitige Ufer, wo Manfred ihm von der Bushaltestelle her etwas befangen entgegensah. Indessen blieb Sigurd, der schon sehr langsam gegangen war, jetzt stehen, drehte sich um und sah zum Kaufhof zurück. Manfred bemerkte auf der anderen Straßenseite einen jungen Mann, der Sigurd aus der Menge heraus diskrete Zeichen mit der Hand gab. Offenbar wollte er außer von Sigurd von niemand bemerkt werden, doch gerade das Missverhältnis zwischen verstohlener Geste und Breite der Straße fiel Manfred erst ins Auge. Der andere war hell, sommerlich-sportlich gekleidet und gehörte vielleicht zu den Stammgästen der nahen Cafés. Sigurd trug heute ein blau-rotkariertes Hemd über blauer Hose und hätte ein Bauarbeiter nach Schichtende sein können. Die Ampel sprang gerade auf Rot, und er beeilte sich, die Straße ein zweites Mal zu überqueren.  

     Beide gingen dann drüben wider Erwarten nicht aufeinander zu, sondern strebten links und rechts von einem der wuchtigen Pfeiler dem Eingang des Kaufhauses zu, jeder auf einer anderen Seite. Ein Bus einer anderen Linie, noch dazu ein Gelenkwagen, nahm jetzt Manfred die Sicht, und als er sie nach kurzem Halt wieder freigab, war vielleicht etwas geschehen: Manfred sah Sigurd und den anderen sich in entgegengesetzter Richtung vom Kaufhaus entfernen. Der Unbekannte ging rasch die Mönckebergstraße weiter hinunter, während Sigurd dem Fußgängertunnel am Hauptbahnhof zutrottete. Dabei waren seine Haltung und sein Ausdruck die eines glücklich-zufriedenen Pferdes oder Fuchses, wie Franz Marc sie gemalt hat, geborgen in ihrer eigenen Welt. Er war schon verschwunden.

 

Am Samstagabend fuhr Theo zum ersten Mal seit Wochen wieder mit ihm ins Village. Sie gingen die Treppe hinunter und fanden an der Kasse ein neues Gesicht vor. Philipp war zum Barmann aufgestiegen und signalisierte dem Kollegen vom Tresen aus, Manfred und den Cousin passieren zu lassen.

     Von den beiden bisherigen Barkeepern war einer entlassen worden. „Der Alte hat kurzen Prozess gemacht“, sagte Philipp. Immerhin sei die Polizei da gewesen und habe etwas gefunden. Philipp zuckte die Achseln, als Manfred ihn nach Sigurd und dem Steindamm-Eck fragte.

     Theo hatte es nicht eilig, die hinteren Räume zu inspizieren. Dem Inneren der Bar kehrte er jetzt sogar den Rücken zu und trank sein Bier hier vorn, neben ihm, mit einer Schulter an die Wand gelehnt. Kam es nicht einem Zusammenrücken gleich? Manfred verstand, was ihn hier bei ihm festhielt: Auf der kleinen Treppe stand Julian und bei ihm Frank, der Irrenarzt, und über ihnen erschien für Manfred wie eine Banderole der Satz, den er vor Wochen in seinem Gedächtnis nicht hatte auffinden können: „Ich mache bei ihm eine private Psychotherapie.“

     Frank nickte ihm zu, als Manfred wenig später auf der Suche nach Sigurd an ihnen vorbeiging. Theo redete mit Stefan. Der Kellner war unauffindbar. Sollte er ihn noch mal im Steindamm-Eck suchen? Es war nicht nötig, Sigurd war hier noch in allen Räumen, die Manfred immer wieder durchquerte. Seine körperliche Abwesenheit war nur Schein, täuschende Oberfläche, überhaupt der Ablauf der Zeit nur eine, wenn auch hartnäckige Illusion … Da vorn unterhielten sich jetzt wieder Theo und Julian – sie hatten nie damit aufgehört. Und er, Manfred, war jetzt gerade wie hier auch im Steindamm-Eck und auf der Mönckebergstraße …

     Oder es war der Durchgang eines Planeten gewesen, in diesem Fall die Kulmination längst geschehen. Manfred wollte sich vergewissern. Am Dienstag der folgenden Woche ging er in der Mittagspause hinüber nach St. Georg. Seit dem Vormittag wusste er, dass der Verlag verkauft werden sollte. Darüber würde es noch Gespräche geben. Er überquerte die Eisenbahn auf der Altmannbrücke. Hier war der Stadtkörper, der sonst so kompakt erschien, aufgerissen. Es spreizten sich die Gleisstränge wie Wunden nach Süden und Osten hin, dazwischen der mächtige Querriegel des Postamtes; es war damals seiner Bestimmung noch nicht entzogen. Alles drehte sich hier um Austausch, sei es von Gütern, von Nachrichten oder von Menschen. Zirkulieren ist das Gesetz der Zivilisation. Über den Geleisen thronte auf hohem Gestade ironisch wie ein Magrittescher Kommentar das Museum. Er umrundete es und erreichte den Anfang des Steindamms; blendend weiß sein Beginn – und dann wurde es rasch schäbig. Das Eck war inzwischen geschlossen – er hatte es erwartet – und war schon wieder zu vermieten. Aufschlüsse waren hier nicht mehr zu bekommen.

     Es ließ sich nichts mehr aufklären, es war schon gegen das Ende hin. Es gibt eine Art Nachwelt bei Lebzeiten, davon war dies nun ein Vorgeschmack. Philipp gab kein Wissen mehr preis. Er überhörte strikt Fragen nach Sigurd oder dem Steindamm-Eck. Am Tresen hatte er mehr als früher zu tun, und notfalls wandte er sich abrupt anderen Gästen zu.

     Es blieb die blasser werdende Erinnerung an Hände, die einen auf ungewöhnlich angenehme und ausdrucksvolle Weise berührt hatten, an ein Gesicht, dessen Ausdruck etwas unbekanntes Köstliches widergespiegelt hatte. Sigurd war wie ein Vorläufer, auf den dann doch kein anderer mehr folgt. Was geschehen war, war geringfügig und großartig zugleich. Es war vielleicht der Einbruch der Natur in die Subkultur oder in die Zivilisation überhaupt.

 

Er wollte ihn nicht ansehen. Aber dann ging Manfred weg, Stefan stand links von ihm, und im Gespräch mit ihm fiel Theos Blick zwangsläufig auch auf Julian. Es war nicht viel anders als beim letzten Mal. Sie musterten sich über mehrere Meter hinweg und warteten. Zu Beginn schien Julian verlegen, doch dann brach etwas wie Trotz auf seinem Gesicht durch. Bei wechselnder Bewölkung bietet der Himmel ein ähnliches Schauspiel.

     Stefan verließ ihn, und Julian kam sofort herüber.

     „Du solltest etwas wählerischer in deinem Umgang sein.“ Der Tonfall war unverschämt, und eine Kopfbewegung verdeutlichte, dass tatsächlich Stefan gemeint war. Theo ging nicht darauf ein und sah ihn nur schweigend an.

     „Weißt du, manche Figuren sind einfach indiskutabel …“ Das kam schon eine Spur weicher heraus.

     „Du hast dich rar gemacht.“

     „Ich bin seitdem nicht mehr hier gewesen ... Ich komme nur sehr selten hierher ... Es ist doch kaum zu ertragen.“

     „Wir hätten uns woanders sehen können.“

     „Ach ja, du hast mir da etwas aufs Band gesagt …“ Der Tonfall wandelte sich weiter, wurde sanft und nachdenklich, der Ausdruck des Gesichtes träumerisch. „Es ging nicht. Du weißt schon, es ist immer dasselbe …“

     Theo wusste gar nichts. Im Übrigen war der Inhalt ihrer Sätze bedeutungslos: Sie sprachen doch miteinander. Schon wieder umschlang sie das Band des Einverständnisses, von dem sie nicht hätten sagen können, woraus es gewebt war. Der große Reiz war jedenfalls noch da, und beide gaben zum gleichen Zeitpunkt dem Verlangen nach, den anderen zu küssen.

     Mit kleinen Abweichungen verlief es wie beim vorigen Mal. Theo ging bald mit ihm fort, diesmal ohne den Cousin davon zu verständigen. Irgendwer wird sie haben weggehen sehen.

     Ihr Taxifahrer heute blieb stumm. Sie küssten sich auf dem Rücksitz, und keine Zwischenbemerkung störte sie.

     Frido wurde nicht eingesperrt. Er war nicht dabei, als das Vorspiel zur Hauptsache wurde. Theo wurde von Julian, nachdem dieser geduscht hatte, ins Schlafzimmer geführt.

     „Oooooh – an diesem Punkt musst du ganz, ganz vorsichtig sein! Nur äußerst langsam herumdrehen.“ Er, Theo, war diesmal bis zum Äußersten gelangt, bis an die Grenze der Vernichtung. Kein Blut an der Faust zu sehen, es war hoffentlich noch einmal gutgegangen. Es war eigentlich gleichgültig, auch er war jetzt sehr erschöpft. Kurz vor dem Einschlafen dachte er noch: Komisch, rot bedeutet sonst doch: Stop … Da spürte er Julians Arm sich enger um seinen Hals legen.

     Der Morgen begann mit einem Kuss, den Julian ihm gab, einem Kuss wie ein langer Abschied. Als wäre es sein letzter überhaupt, so kam es Theo unmittelbar danach vor. Und nachher sagte er sich: Auch für mich war es das, keine Steigerung mehr möglich. Unwiederholbar.

     Julians Blick am Frühstückstisch ging an ihm vorbei auf den Hof hinaus. Er erzählte von einer ihm nicht näher bekannten Nachbarin. Sie wohnte in dem Mietshaus in der Parallelstraße, dessen Rückfassade Theo zu Gesicht bekam, als er sich jetzt umdrehte.

     „Wir sehen uns manchmal, wenn ich lüfte oder, länger, wenn ich das Fenster putze. Weiß nicht, wie sie heißt, ich weiß gar nichts über sie, ich weiß nicht einmal, wie sie von nahem aussieht. Da war einmal plötzlich so ein Gefühl, Sympathie, meine ich, und ich hab ihr zugewunken. Seitdem winken wir uns über den Hof zu, wenn wir uns hier sehen. Auf der Straße würde ich sie bestimmt nicht erkennen. Und überhaupt – eine Frau, eigentlich komisch – oder ?“

     Theo sah jetzt viel klarer. Dieses Frühstück war eine genaue Kopie des vorigen gemeinsamen. Da nahm er das Heft in die Hand und bat Julian beim Weggehen, ihn im Lauf der Woche anzurufen und ihm dann das nächste Treffen vorzuschlagen. Julian ging gleich darauf ein. Ja, er werde ihn am Mittwochabend gegen neun zu Hause anrufen. Er brachte ihn diesmal sogar hinunter. Die Haustür fiel zu, Julians Gestalt verschwand hinter ihrer Glasscheibe im Dämmer des Treppenhauses.

     Um das Motorrad in St. Georg abzuholen, musste er „unten herum“ nach Hause fahren, nämlich um die Alster und dann durch das Zentrum. An diesen Sprachgebrauch war er längst gewöhnt: als hätte er immer hier gelebt. Ob sie ihn im Betrieb behalten, wenn in Kürze der Juniorchef zurückkommt? Darüber wird noch geredet werden müssen.

     Er fuhr jetzt mit dem Bus durch ihm wenig bekannte Viertel. Er versuchte, an gar nichts zu denken, worin er es früher schon weit gebracht hatte. Es gelang noch immer.

     In den folgenden Tagen ging er schon nicht mehr davon aus, dass Julian sich noch melden würde. Es wurmte ihn zwar, doch er litt nicht mehr wirklich. Er hat da eine Gewaltkur hinter sich gebracht. Er hat sie überstanden und ist vielleicht noch stärker geworden. (Tatsächlich sollte er sich in Zukunft nie mehr in dem Maß von anderen abhängig machen, in dem er es vorübergehend von Julian gewesen war.) Was ihm entgangen ist, ist vielleicht das Glück, das die meisten suchen – aber vielleicht ist es ein Glück für ihn, so leicht davongekommen zu sein, vorausgesetzt, es ist kein Unglück geschehen? Er war schon darüber hinaus, das entgangene Glück nach der Stärke des eigenen Gefühls zu veranschlagen. Oder schätzte er den Verlust geringer ein, da seine Neigung nicht mehr ganz so stark war?

     Das Spiel ist aus, darüber ist er sich klar. Aber ist es überhaupt ein Spiel gewesen? Wenn Julian auftritt, scheint er nicht die Wahl zu haben, so oder anders zu handeln. Er wirkt wie einer, an dem die Strippen gezogen werden. Aber wer oder was ist da im Hintergrund? Sein Schicksal, seine Veranlagung, oder gibt es da auch Menschen, die ihn lenken und die er, Theo, nicht kennt? Julian, man merkt es, ist voller Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben. Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren drückt sich in einem Kuss aus, der schon nicht mehr von dieser Welt ist.

     Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich selbst zu beglückwünschen: Du bist bald ein Mann von dreißig Jahren (sagte er zu seinem Spiegelbild, das ihm immer nah war), und in letzter Zeit bist du ganz schön herumgekommen. An Statur gewonnen, ein gestandener Kerl jetzt, ohne Zweifel. Wird es da nicht Zeit, die eigene Existenz auf eine solidere Grundlage zu stellen? Auf Dauer eine gute Arbeit haben, das ist es, und ein Haus außerhalb der Stadt. Manfred muss sich bald entscheiden. Er, Theo, will ja immer noch bei ihm bleiben. Aber so wie jetzt kann es nicht mehr lange weitergehen. In der ersten Zeit ist alles viel besser gelaufen, auch zwischen ihnen.

     Von Julians Kuss kam er nicht los, er bekam ihn nicht aus dem Kopf. Sein Gefühl dabei, dieses starke Gefühl ist echt gewesen, da ist er sich sicher. Er hat gar nicht aufhören wollen und ist dabei auch traurig gewesen. So küsst einer, der sich trennen muss. Oder wenn einem eine lange Reise bevorsteht … Er wird doch nicht krank sein?! Muss er am Ende bald sterben? Die Vorstellung, er könnte sich bei ihm angesteckt haben, wuchs sich zur Angst aus. Ist es das gewesen? Und hat er es nicht längst gespürt?

     Er begann, sich zu beobachten und zu untersuchen. Er dachte immer seltener an Julian selbst. Sein Anruf, der immer noch möglich war, würde ihn von da an unangenehm überrascht haben.

     Die Stunde des versprochenen Anrufs verbrachte er trotzdem im Wohnzimmer wartend und las die Zeitung. Manfred saß wie an den meisten Abenden am Schreibtisch, in seinem Zimmer drüben. Er kam heute öfter herüber, um etwas in Büchern nachzuschlagen und sich Notizen zu machen.

     Die Stunde war um. Es machte ihm wirklich fast nichts aus. Er wollte, dass es einer erfuhr, Manfred wenigstens. Der Cousin blätterte gerade im Lexikon.

     „So, wieder kein Anruf gekommen. Das war’s dann. Wieder eine Illusion weniger und eine Erfahrung mehr.“

     „Immer noch derselbe? Und das Rückfallfieber ist also definitiv abgeklungen?“

     „Ja, endgültig.“

     „Endgültig? Das kann man bei Infektionen wie dieser nie wissen.“

     „Du hast davon gewusst?“ fuhr Theo auf.

     „Wovon?“

    „Dass er krank ist?“

    „Ich habe einen Hinweis bekommen. Dass er deswegen behandelt wird.“

    Theo sagte darauf nichts mehr. Es trifft also zu, Julian ist einer, der sich angesteckt hat. Er begann zu brüten. Zuerst: Ihn hat es hoffentlich nicht erwischt. Er muss Gewissheit bekommen, etwas tun, sich untersuchen lassen. Wo kann man den Test machen lassen? Immer wieder ist von diesem Test die Rede, und er weiß nichts darüber. Manfred fragen? Manfred hat ihn nicht gewarnt. Er ist allein gelassen worden. Er muss es allein hinter sich bringen.

19. Das Fest

Sie gingen an Bord. Manfred wusste nicht, ob man die schmale, steile Treppe außen am Schiffsrumpf Fallreep oder Gangway nennt. Auf ihr ging es jetzt hinauf, und dieses eine Mal verschwanden sie nicht, wie sonst auf ihren gemeinsamen Ausgängen, in einem Raum unter der Erde. Hoch überragte das Schiff die Landungsbrücken. Diese Nacht war der Höhepunkt im Jahresablauf.

     Der Kartenabreißer, den sie gar nicht kannten, wünschte so herzlich „Guten Abend“, als wären sie nur in einem kleinen Kreis geladen. Tatsächlich strömten jetzt unablässig schimmernd schwarzgekleidete Gestalten von der Hafenrandstraße auf das Schiff zu, das längst außer Dienst gestellt war und die meiste Zeit hier vertäut lag. Der Lederkongress im August war nur eine von den vielen Massenfêten auf ihm und auch wieder etwas Besonderes: Es war der einzige Termin, von dem Morgenpost wie Abendblatt keine Notiz nahmen.

     „Es gibt also“, sagte Manfred zu Theo, als sie an der Flaschenbierausgabe anstanden, „eine Art von geheimem öffentlichem Leben. Es wuselt massenhaft im Verborgenen, nein, nicht einmal im Verborgenen, auch in voller Beleuchtung – und doch hinterlässt es keine Spur in den Annalen. Es fehlt ihm etwas, und das ist der Zusammenhang mit dem Rest.“

     Allein auf diesem Teil des Oberdecks standen jetzt, grob geschätzt, zweihundert Männer oder gingen herum. Die allermeisten Gesichter waren ihnen fremd. Sie hörten viel Englisch, auch Französisch und skandinavische Sprachen. Man begrüßte einander freudig, lächelte fortwährend im Gespräch und repräsentierte gelassen seine Art. Man sah sich auf einem der Höhepunkte eines längeren Lebensabschnitts angekommen. Eine Mischung aus Vorfreude und schon stattgehabter Befriedigung lag auf den Gesichtern dieser Männer, die zumeist gerade erst in der Stadt eingetroffen waren. Die Genüsse, die sie sich verschaffen konnten, unterschieden sich wenig von denen anderer Nächte. Doch das Fest war das Fest und schuf seine eigene Harmonie. Es lag nicht nur an ihrer großen Zahl, die ihnen neue Möglichkeiten des Genusses und des Glücks versprach und eine Bedeutung ihrer Lebensweise weit über den gewohnten Umkreis hinaus suggerierte – es lag vor allem am Schauplatz und an den Kulissen. Es war ein herausgehobener Ort, am Rand des großen Stroms auf seinem Weg ins Meer, der türmereichen Stadt gegenüber und schon Bestandteil der unabsehbar weiten Landschaft des Hafens. Der exklusive Ort und die große Zahl von ihnen und die Verbindung von beidem: Das war schon das Ereignis, nicht erst die Voraussetzung von Ereignissen.

     Manfred sah immer wieder befriedigt um sich, über das Deck mit den vielen Männern und über die Lichter der vielen Schiffe: eine Milchstraße mitten im Fluss. Theo allerdings wurde offenbar von der allgemeinen Euphorie nicht angesteckt. Er war hier heute Abend wie ein Fremdkörper, schweigsam, vielleicht auch bedrückt. Manfred schob es auf Julian, der hier hoffentlich nicht auftauchen würde. Er schlug dem Cousin vor, sich mit ihm das Schiff anzusehen.

     Sie gingen eine Reihe von Innentreppen hinunter, über Zwischendecks, um Ecken herum. Gleichzeitig mit ihnen stiegen viele andere hinab, wieder andere kehrten schon zum Oberdeck zurück. Es gab Engpässe, an denen der rege Verkehr sich staute. Erstaunlich, wie viel Innenleben so ein altes Schiff aufweisen konnte. Hier ging es nicht mehr ganz so gelassen wie in der Oberwelt zu. Die Interessiertheit nahm zu. Das Treiben hatte etwas von einem Bergwerk unter Tage. Und sammelten sie nicht gerade die Schätze, die ihnen am kostbarsten waren: Anerkennung, Zuwendung oder Bilder für den Kopf? Die Enge der langen Gänge und Treppen beschleunigte die Zirkulation, wie verengte Gefäße es mit dem Blut tun. Das Schiff war auch eine Art Leib, in den man sich hineinwühlte. Es gab Seitengänge und –kammern wie Blinddärme; sie füllten sich jetzt rasch. Wenn man diese Männer sah, ihre Entdeckerlust, ihren Tatendrang, hätte man sie für die Matrosen in Hans-Henny Jahnns Roman Das Holzschiff halten können, wie sie das Schiff vergeblich nach der verschwundenen Ellena durchkämmten.

     Tiefer im Bauch des Schiffes wurden die Eisentreppen breiter, die Stege weiteten sich zu Emporen. Sie bildeten eine Art von unterseeischem Marktplatz mit Ausschank und Verkaufsständen. Hier ließ man sich Zeit, und die Blicke fielen zwischendurch über Geländer aus Eisen auf den untersten Schiffsboden. Diese tiefste Sohle hatte über sich nur den Himmel; alle Decks sparten den Raum über der Fläche aus, auf der jetzt eine Masse zuckender, glänzender Leiber zu sehr lauter, sehr schneller Musik tanzte. Manfred und Theo standen am Rand des großen Rechtecks und sahen die Tänzer mit den nackten, schweißnassen Oberkörpern vereinzelt, nur auf sich bezogen, ihre Huldigungen einem völlig leeren Himmel darbringen.

     Theo sagte: „Es hat etwas.“ Dann wollte er zurück aufs Oberdeck.

     Manfred fand wie üblich den Platz, an dem er den besten Überblick über das Geschiebe hatte. Da stand er nun mit Theo und ließ den Hauptstrom an sich vorbeifluten. Er sortierte die Gesichter und begrüßte, wen er für würdig hielt.

     „Auch wieder da? Du, ich habe mir deinen Tipp zunutze gemacht und die Platen-Biographie gelesen. Wirklich lohnend.“ Der Angesprochene reagierte verdutzt auf den Zuruf. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, von Manfred in ein Gespräch gezogen zu werden. Wohin kämen wir, wenn man jetzt alle begrüßen müsste, mit denen man schon einmal geschlafen hat? Zum Glück war in diesem Gedränge kein Platz, um stehen zu bleiben. Daher verstärkte er bloß den selbstzufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht um einige Grade und sagte, er werde es dem Verfasser ausrichten.

     „Guten Abend, Berthold. Die Prüfung bestanden? Alle Sorgen vorbei?“ Berthold strahlte und drückte ihm die Rechte mit beiden Händen. Ob Manfred schon wisse, dass er Aussichten auf eine Wohnung an der Sierichstraße habe? Aber es sei hier jetzt zu eng – einer hatte ihm gerade die Schulter gerammt -, sie würden sich später noch sehen.

     „Hallo, geht es dir gut? Und geht es auch deiner Buchhandlung in Schwabing gut?“ Die Reaktion war überaus positiv, herzliches Lächeln eines angenehmen, intelligenten Gesichtes, Andeutung eines Gespräches. Manfred konnte gerade noch richtig stellen, nein, er wohne wirklich nicht in Frankfurt. Dieser Irrtum des Buchhändlers war unausrottbar.

     „Sandro, du bringst deinem Meister das Bier mit sicherer Hand?“ Auch Sandro lächelte, sein Lächeln umfasste auch Theo. Aber er blieb nicht stehen und trug die beiden schon geöffneten Bierflaschen vorsichtig mit angewinkelten Armen weiter in der Prozession an ihnen vorbei.

     „Heute dienstfrei?“ sagte er zu Frank. „Und auch privat keine Therapie? Oder Therapie zwecklos?“ Der Irrenarzt stieß ihm die Faust in die Seite und sagte, er könne ihn einmal anrufen.

     Es wurde etwas ruhiger. Der Hauptansturm die Gangway herauf war inzwischen vorbei. Dafür hatte sich der Bauch des Schiffes gefüllt.

     „Wollen wir noch hier oben bleiben?“ fragte Manfred.

     „Mir recht“, sagte der Cousin. Er wirkte jetzt ausgeglichen und zeigte wieder einmal die unerschütterbare Fassade des Athletikers. Womöglich meint er, dachte Manfred, es ginge mir darum, mich hier zu produzieren. Und wenn es so wäre: Dann könnte es ja leicht meine Abschiedsvorstellung sein. Aber sie beeindruckt ihn wenig, wie es scheint. Und was könnte ich ihm schon demonstrieren … Und von wem war das: Sag, aus Furcht, dass er weint, lächelte mein Mund?

     Einer war vor ihnen stehen geblieben, groß, breit, brünett, Ende Zwanzig und, zugegeben, hübsch. Er fixierte Manfred erst ungläubig, dann amüsiert. „Hallo, Christoph“, sagte Manfred. „Doch, ich erinnere mich noch sehr gut.“ Christoph schüttelte den Kopf und ging wortlos weiter. Es passte dazu, dass gleich hinter ihm Stefan bei ihnen eintraf.

     „Guten Abend, Stefan“, sagte Manfred. „Da drüben steht Kofferraum.“ Theo machte Platz für Stefan und sah über die Reling, über den Fluss hinweg. Gegenüber verschwand der Finstere in der Menge.

     Manfred kam nicht mehr dazu, Stefan mit der neuesten Geschichte, Kofferraum betreffend, zu versorgen. Eben begrüßte sie, gelassen auf sie zugehend, als wäre er erwartet worden, andeutungsweise ein Lächeln auf dem Gesicht, der ziemlich bekannte Mitarbeiter einer großen Zeitung aus Frankfurt. Es hieß von ihm, er arbeite neuerdings an einem Roman.

     „Ihr drei da bildet eine bemerkenswerte Gruppe“, sagte der Autor, „so für euch vor den Aufbauten des Schiffes. Ein unsichtbares Band umschlingt euch gewissermaßen. Da muss man einfach dazutreten.“

     Er richtete sich im Gespräch vor allem an Manfred und wandte sich nur gelegentlich in seiner eigenen Rede an Stefan, kopfnickend, als verspräche er sich Beistand von ihm gegen Manfred. Seine Augen führten, während er redete oder zuhörte, ihr Eigenleben und hingen zumeist an Theo, der fortwährend stumm blieb. Der Autor sah noch fast so aus wie zu den Zeiten von Willy Brandt: klein, hager, bebrillt und mit Vollbart. Er hatte früher schon von sich gesagt: Man wird vielleicht einmal an Dostojewski denken.

     Manfred fragte ihn nach dem Stand seines Werkes. Er gab bereitwillig Auskunft: Er stecke mitten in der ersten Niederschrift, deren Ende noch nicht absehbar sei. Er schildere darin mehrere Lebensläufe aus der Perspektive eines Hautarztes. Er sah ihm über die Schulter, wie er aus einem Fenster seiner Praxis dem jeweiligen Patienten hinterherblickte. Alle Hauptpersonen der Erzählung waren Patienten von ihm, Krankheit war das verbindende Element. Auf diese Weise bekomme man als Erzähler dahinter eine Reihe von Einzelschicksalen in den Griff.

     Manfred bewunderte den Ansatz: Die Analyse erfolge also von außen und dringe wie eine Sonde tief in ihren Gegenstand ein. Er behielt für sich, dass er diesen Rahmen als unwahrscheinlich empfand. Welcher Hautarzt hatte heute noch die Zeit, den Abgang seiner Patienten durchs Fenster zu beobachten und dabei über sie zu sinnieren!

     Stefan war so unvorsichtig, ihm das Schiff hier als geeigneten Ort für ein Zusammentreffen seiner Patienten gegen das Ende hin zu empfehlen. Manfred spendete ihm innerlich Beifall, Stefan hatte das Manko erfasst: Sie gemeinsam im Wartezimmer darzustellen, würde wenig ergiebig sein. Und an Patienten sollte es hier an Bord leider auch nicht fehlen.

     Der Autor, unangenehm berührt, so schien es, sah nur die Schwierigkeiten, etwa mit einer Vielzahl von Schauplätzen. Wie lege man den Schnitt durch ein Schiff dieser Größe? Unerwünscht sei auch die Überfülle von Personen, die man sich mit einem solchen Rahmen einhandele. Er deutete an, ihm selbst bleibe vielleicht nicht mehr genügend Zeit für ein Projekt dieser Größe: Er wolle das Ende seines Romans gern noch erleben.

     Manfred sagte (indem er an sich selbst dachte): „Interessant und sympathisch, was du da angefangen hast. Läuft es nicht teilweise auf eine Rückkehr zum Realismus hinaus?“ Er wolle es nicht kritisieren, er gewiss nicht, das würden andere besorgen. Dabei könne das doch jetzt das wahrhaft Revolutionäre sein: in der Art der alten Meister neu anzufangen. Der Erfolg eines Malers wie Willi Sitte jetzt im Westen sei auch ein schönes Beispiel für diese Entwicklung. (Manfred, Manfred: ausgerechnet Willi Sitte!) Gerade das anspruchsvolle Publikum sei ausgehungert nach Sinnlich-Konkretem. Der Formalismus, die Modernität als Selbstzweck hätten sich totgelaufen …

     Da kam der Autor erst richtig in Fahrt: Niemand werde den inneren Monolog vermissen. Prousts großer Roman? Ein singulärer, unwiederholbarer Kraftakt. Im Übrigen sei es falsch, in ihm nur einen einheitlichen, lang hingezogenen inneren Monolog zu sehen. Auch spiele bei näherem Hinsehen die unbewusste Erinnerung nicht die im Werk und für das Entstehen des Werkes behauptete Rolle. In seiner Arbeit sei Proust der größte Realist überhaupt gewesen. Die unbewusste Erinnerung spiele die Rolle eines mühsam konstruierten Überbaus in einem Werk, das bei aller erdrückenden Größe viel zu hinterfragen aufgebe. (Indem er diese beiden nicht mehr ganz taufrischen Schlagwörter übermäßig betonte und sie Stefan, der in seiner Lektüre nicht über In Swanns Welt hinausgekommen war, entgegenschleuderte, wuchs er zumindest physisch über sich hinaus und wippte für einen Moment auf den Fußspitzen.) Wie solle man sich einem Schriftsteller nähern, der als Homosexueller in die Rolle eines Erzählers schlüpfe, der die Frauen liebe und dessen Leidenschaft lesbischen Frauen gelte? Stefan wusste darauf keine Antwort.

     Manfred wandte ein, immerhin sei die unbewusste Erinnerung ein bekanntes Phänomen, das außerordentlich produktiv sein könne. Ob und in welchem Umfang ein Autor sie nutze, hänge von seiner inneren Struktur ab. Derjenige mit dem reichsten, umfassendsten Bewusstsein habe sie am wenigsten nötig, um etwas Gültiges hervorzubringen.

     „Sehr schmeichelhaft“, sagte der Autor, der es vermutlich auf sich bezog, „aber so etwas zugeben, heißt Prousts Lehre im Kern ablehnen. Sie ist ja Metaphysik – und kaum einer seiner Bewunderer vollzieht sie tatsächlich nach. – Wollen wir alle noch ein Bier trinken?“

     „Mir keins. Ich will mal zu einem Rundgang starten.“ Theo äußerte sich erstmals in ihrem Gespräch und ging gleich darauf auf die abwärts führende Treppe zu. Offenbar hatte sich das Angebot des Autors nur an ihn gerichtet, er vergaß das Bier sofort.

     Manfred sagte noch, dennoch könne man die unbewusste Erinnerung als eine starke Triebkraft nutzen und darstellen. Aber der Autor hatte inzwischen sichtlich das Interesse an ihrem Gespräch verloren und verschwand nach wenigen Minuten mit fast schon verletzender Eile im Inneren des Schiffes.

     Das Ergebnis dieses Gespräches war allein, dass Stefan die Zusage erhielt, Manfred werde ihm bei seinem nächsten Besuch einen kürzeren Prosatext vorlesen.

 

Theo stieg rasch mehrere Treppen hinunter und blieb auf einem dichter bevölkerten Zwischendeck stehen. Er lehnte an einer weißlackierten Eisenwand und wollte beobachten, ohne dabei neunmalkluge Kommentare anhören zu müssen. Diesen Schriftsteller, diesen Bonsai-Rübezahl wird er sich schon vom Leib halten. Männer wie er oder wie Manfred oder wie Stefan reden immerzu – am Ende auch beim Sex? Das will er sich lieber nicht vorstellen. Zugegeben, er, Theo, hat jetzt keine besonders gute Zeit. Aber auch an seinen besseren Tagen stellt er sich nicht wie Manfred mitten unter die Leute und hält Hof … Der Große Cousin kennt jeden, aber was hat er davon? Wieso kann er Spaß daran haben, diese ganze Welt in seinem Kopf zu haben - ohne auch nur einen von ihnen besonders zu mögen? Das wird er, Theo, nie verstehen. Man kann dem Cousin wahrscheinlich nichts Neues mehr erzählen. Er weiß offenbar sogar über Sandro Bescheid. Wenigstens Sandro nicht … Man könnte noch Jahre hier leben und würde vermutlich auf nichts stoßen, was ihm nicht längst bekannt ist. Eigentlich ist er arm dran. Und darum schreibt er wohl auch an Geschichten. Das ist es: Er behandelt einen, als wäre man eine Figur in seinem Kopf. Sind wir am Ende alle nur Erfindungen von ihm? Das wäre ein Spaß!

     Kein Witz ist, dass er jetzt wieder ohne Arbeit dasteht. Er weiß es seit gestern und will es dem Cousin erst nach dem Fest sagen. Der Juniorchef ist zurückgekommen, mit dem Meisterbrief in der Tasche. Sie brauchen ihn nicht mehr, ab Montag kann er seinen Urlaub nehmen. Dabei laufen die Geschäfte hervorragend, nicht nur im Osten, auch im Hamburger Raum. Sie haben ihm jedoch gesagt, sie glaubten nicht, dass die gute Baukonjunktur ewig andauere. Sie haben ihm ein gutes Zeugnis versprochen, damit kann er sich leichter woanders bewerben. Eigentlich hat er nicht vorgehabt, mit bald dreißig Jahren noch auf Wanderschaft zu gehen. Ein anderer Geselle hat ihm zum Schluss ein Licht aufgesteckt: Der junge Meister und ein Vorarbeiter wie er, das wäre auf Dauer nicht gut gegangen. Und er, Theo, hat sich eine Zeitlang vorgestellt, sie würden ihn auch noch zum Meisterkurs schicken. Eine Stimme lässt sich in seinem Inneren vernehmen: Du lässt dich benutzen … Hat Ingrid doch Recht? Er kann nicht einmal mehr protestieren. Ingrids Stimme, so wie er sie jetzt wieder hört, hat etwas Tröstliches. Sie meint doch, er sei zu gut für diese Geschäftswelt. Ja, er lässt sich benutzen. Er kann sich nicht wehren, und die anderen haben den Gewinn.

     Seine Sorgen hielten sich die Waage. Keine duldete, dass eine andere zu schwer wurde und ihn allein beherrschte. So lastete jede weniger stark auf ihm. Man hat ihn auf der Beratungsstelle zu beruhigen versucht. So leicht steckt man sich also doch nicht an. Das Virus ist ziemlich empfindlich. Es war ja kein Blut zu sehen. Und der erste Test ist negativ ausgefallen, was immerhin beweist: Vor ein paar Monaten war er noch kerngesund. Auch hier laufen jetzt viele mit dem verdammten roten Tuch herum und sehen dabei recht appetitlich aus. Doch er lässt sich nicht mehr fangen. Da müsste einer schon Julian heißen. Ob er am Ende auf dem Schiff ist? Aber Theo machte sich nicht auf die Suche nach ihm. Er zählte stattdessen die Wochen, die bis zum nächsten Test noch vergehen.

     Das waren seine Sorgen. Die meisten anderen hier kannten nur Garderobeprobleme. Viele tragen glänzend neue Sachen, sehr gutes Material, gut geschnitten, auch viel Firlefanz drumherum. Die Lederschneider haben zu tun gehabt. Ungeheure Werte tragen sie auf ihren Körpern herum. Er rechnete es aus: Einen Kerl so ausstaffieren, kann tausend Mark kosten. Also tausendmal tausend: macht eine Million. Man sollte Lederimporteur werden. Und er trägt immer noch die alte Montur, mit der er im März nach Hamburg gefahren ist. Das müsste mal ergänzt werden.

     Und was bringt es denn? Sie sind aufgezäumt wie die Pferde bei einer Parade, und sie scharren mit den Hufen. Sie stolzieren umeinander herum, aber es passiert nichts. Jeder sieht viel zu viele Chancen für sich und realisiert keine. Man müsste es ihnen mal vormachen, mit aller Vorsicht natürlich.

     Jetzt kamen Philipp und der kleine Präsident und stellten sich neben ihn hin. Philipp schnitt ihn und grüßte ihn nicht zuerst. Da fand Theo, er könne es sich auch sparen. Der Präsident sah aufdringlich zu ihm herüber, als wäre bei ihm vielleicht doch noch etwas zu machen, und Theo wandte sich ab. Er sah Sandro in einer Gruppe reiferer Männer vorbeigehen, er schien ihn jetzt nicht zu bemerken. Theo hörte, wie die beiden neben ihm über Sandro redeten.

     „Er darf nichts Persönliches mitbringen. Er wohnt meistens bei ihm, aber in der ganzen Wohnung ist kein Stück von ihm, nicht mal die Zahnbürste.“

     „Und wenn sie zu Hause essen“, ergänzte Philipp, „schneidet er ihm sein Fleisch vor und fragt: Ist es dir so recht?“

     Da ging Theo weiter. Er drang in eine kleine Seitenkammer vor. War es eine Kajüte gewesen?

     Es war nur Platz für ein gutes Dutzend Männer, und sie verteilten sich unregelmäßig im Raum. Theo blieb in der Nähe des Eingangs stehen, wo er Abstand zu der Gruppe weiter hinten hatte. Ein schwaches Deckenlicht brannte und erhellte den Raum ausreichend. Die Gruppe im Hintergrund warf selbst Schatten. Aktionen liefen dort hinten jetzt nicht ab. Niemand sprach. Hin und wieder hob sich ein Arm, die Hand führte eine Zigarette zum Mund. Stilleben – Manfred nennt so etwas Stilleben. Man kann sich hier entspannen. Es kommt ihm vor wie eine nächtliche Versammlung von Katzen. Da spielt sich auch über lange Zeit nicht viel ab. Sie belauern sich, signalisieren sich irgendetwas und warten ab.

     Jetzt löste sich einer aus der Gruppe und kam auf ihn zu, stellte sich vor ihm auf, fordernd, schob den Unterleib vor. Er war noch sehr jung, eine schwarzhaarige, füllige Schönheit, ganz und gar nicht sein Geschmack. Theo musste ihn angewidert angesehen haben. Auf dem Gesicht des anderen wechselte der Ausdruck, der neue grub sich dort ein, und die Schnelligkeit, mit der das geschah, verriet, wie oft diese Reaktion schon abgelaufen war. Der Junge sah jetzt zugleich beleidigt und gierig zu ihm herüber. Ah, du denkst, dass deine Wünsche prompt erfüllt werden müssen, dass du bedient werden musst – nicht durch mich. Er verachtete ihn tief, das Anspruchsvolle, die Passivität, und spürte zugleich, wie seine Abneigung in Erregung umschlug. Wenn er nicht verschwindet, schlage ich ihn, und nachher findet man es dann selbst zum Kotzen. Theo wandte sich abrupt ab und ging auf die Gruppe zu.

     Im Hintergrund erkannte er Heino und Hartmut. Er hatte sie seit dem Frühjahr nicht mehr gesehen. Seitdem war viel passiert. Doch waren es ja nur wenige Monate, und der Sprung über den Zeitgraben fiel ihm noch leicht. Ihre Namen waren sofort wieder da, er musste sich nicht erst in seinem Gedächtnis um sie bemühen.

     Die beiden standen entspannt beobachtend an der Rückwand der Kajüte. Sie bildeten unverkennbar das Zentrum hier und die übrigen im Anschluss an sie einen Dreiviertelkreis. Theo blieb vorerst noch außerhalb des Kreises und sah über längere Zeit durch eine Lücke zu ihnen hinüber. Da begannen sie sich zu küssen wie damals in jenem Café. Ohne Umstände zu machen, schob Theo zwei ihm gleichgültige Gestalten auseinander. Einer murrte leise. Theo trat in den Kreis und füllte seinen Innenraum fast aus. Die übrigen zogen den Kreis sogleich enger. Er war ohne Überlegung, ohne Absicht in ihn hineingetreten. Jetzt war es ihm, hier sei er endlich an seinem Platz. Bruchstücke von Ideen erschienen auf der inneren Projektionsfläche: drei Kerle wie sie – der Rest: geschenkt – noch einmal neu anfangen …

     Heino nahm seine Hand, ein fester Griff, und zog ihn noch näher zu sich heran. Hartmut legte einen Arm um seine Schulter. Dann bildeten sie eine Art Wagenburg. Sie küssten und streichelten sich gegenseitig und spielten miteinander. Wenn er Hartmut oder Heino küsste, war die Gegenwart des Dritten, der ihn gleichzeitig streichelte, wie ein starkes Echo, eine Art von Besiegelung. Theo war im innersten Kreis angekommen. Hier waren der Ursprung und das Ziel der Lust, sie fielen in eins.

     Sie hielten ihr Verhältnis zueinander in einem wunderbaren Gleichgewicht. Wenn zwei sich inniger ausgetauscht hatten, fürchteten sie, den Dritten vernachlässigt zu haben, und suchten ihn durch verdoppelte, verdreifachte Zuneigung zu entschädigen. Sie rückten auf diese Weise auch innerlich zusammen, sie glichen sich wechselseitig immer mehr an. Sie spiegelten sich zu dritt ineinander und fanden nur noch Bejahung, Bekräftigung, Identität. Die Außenwelt versank im Namenlos-Gleichgültigen …

     Es war vorüber. Vor dem Abstieg kam noch eine Art Hochebene. Theos Kopf lag an Hartmuts Schulter, und Heino küsste ihm den Schweiß von der Stirn. Sie rückten ein wenig auseinander, um sich betrachten zu können. Sie sahen sich freudig an, jeder die beiden anderen nacheinander, abwechselnd. Unmittelbar davor war noch alles gleichzeitig gewesen. Dann fielen ihre Blicke auf die Übrigen im Raum. Das Gleichgültige gliederte sich, jedes erhielt seinen Namen zurück.

     Er wurde von beiden noch einmal geküsst und umarmt. Dann gingen sie und hatten kein Wort zu ihm gesagt. War das eben das Glück gewesen?

     Unmöglich zu wissen, wie lange es gedauert hatte. Es musste währenddessen hier ein Kommen und Gehen, ein vollständiger Austausch der Personen stattgefunden haben.

     Er erschrak, als er Mark aus Amsterdam wieder erkannte. Er stand zwei Meter von ihm entfernt und achtete nur auf den, den Manfred und er unter sich den Smarten nannten. Manfred hatte ihn einmal (vor langer Zeit sicherlich) mit einem Gedicht in die Flucht geschlagen. Der Smarte fasste jetzt unter Marks Schulterriemen und führte ihn mit sich hinaus.

     Theo spürte, wie die gegensätzlichsten Gefühle sich in ihm vermischten, ohne dass er den geringsten Einfluss auf diesen Vorgang hatte: Glück, Befriedigung, Eifersucht, Wut, Trauer. Es war nicht zu ertragen. Er verließ die Kajüte, ging rasch alle Treppen hinauf und dann von Bord. Er fuhr sofort nach Hause. In der Küche fand sich zum Glück noch eine Flasche von dem schweren Roten aus Spanien. Er leerte sie ganz und ließ sich wie einen Stein einen Abhang hinunter in einen tiefen, schweren, traumlosen Schlaf fallen.

 

Während Stefan auf dem Oberdeck zurückblieb, um noch mit anderen ins Gespräch zu kommen, stieg Manfred ein zweites Mal in die Eingeweide des Schiffes hinab. Unterwegs, auf den langen Treppen und Gängen, nahm er die hier allmählich aufkommende Hektik wahr. Es war jetzt halb zwei, um drei Uhr würde das Fest auf dem Schiff zu Ende gehen und sich für die Unermüdlichen in die Bars von St. Georg verlagern.

     Auf einem der Zwischendecks begegnete er erneut dem Schriftsteller, der gerade mit allen Anzeichen der Resignation aus einem Raum seitlich herauskam. Der Autor sah ihn mit müden Augen an und wandte sich schweigend zur aufwärtsführenden Treppe. Was hatte ihn dermaßen frustriert? Manfred betrat den Seitenraum und fand eine kleine Kapelle vor, eine Art Andachtsraum. Die meisten standen ruhig im Raum verteilt und blickten auf ein Trio weiter hinten. Das waren große, kräftige Männer, die allen den Rücken kehrten und auf kraftvolle und innige Weise miteinander umgingen. Es war still hier, niemand sprach. Die drei boten ein schönes Bild; es sprach von einer Zuneigung, die stärker war als die Gefahr. So fließt das tiefe, ruhige aufgestaute Wasser eines Flusses über sein Wehr.

     Da erkannte er Theos Profil und ging sofort hinaus, ohne auch die beiden anderen erkannt zu haben. Der Cousin, so schien es ihm, hatte bereits eine erhebliche Strecke auf seinem Weg hier zurückgelegt.

     Dann stand Manfred auf dem untersten Zwischendeck und sah auf die Tänzer hinab. Er betrachtete auch die Männer um sich herum, die sich paarweise oder in kleinen Gruppen lebhaft unterhielten oder einzeln selbst intensiv beobachteten. Hier und da küssten sich zwei, oder sie umarmten sich. Die vielen Männer boten jetzt das Bild einer abgeschlossenen und in sich vollkommenen Welt mit Aktion, Disputation, Kultus und Kontemplation. Er war noch immer ihr Zeitgenosse, und er fand jetzt, sie wurden von Jahr zu Jahr hübscher, sie waren auch immer schöner herausgeputzt. Er bemerkte nicht, dass er nun eine ganz andere Sicht auf die Verhältnisse hatte als gewöhnlich.

     Nur wenige blieben ausgeschlossen oder am Rand. Theo hatte sich zum Glück noch gefangen. Zu den Ärmsten hier gehörte sicherlich die blasse Figur schräg gegenüber. Seine Aufmachung war alles andere als aufreizend, die abgewetzte schwarze Lederkombi mit dem zu weiten Hosenboden taugte gerade nur zum Motorradfahren. Der andere stand im Zwielicht, und Manfred konnte ihn nicht gut sehen. Er fühlte sich zeitweise von ihm beobachtet. Vielleicht verspürte er auch wie so oft bereits Sympathie mit dem Außenseiter.

     Mit dieser reflexartigen Parteinahme verhielt es sich folgendermaßen: Geist schlechthin war für Manfred Oppositionsgeist und nichts anderes. Bei Mephistos bekanntem Ich bin der Geist, der stets verneint fand er jene Interpretation unwiderstehlich, die darin keinen Spezialgeist erkennen wollte, sondern den allgemeinsten Begriff davon. Auch er betonte Mephistos Satz auf diese Weise: Ich bin der Geist, der stets verneint. Er schlug sich also, bildlich gesprochen und natürlich nur im geistigen Raum, allezeit auf der Schanze der Verlierer. Das war der Adel des Revoluzzertums, und er warf ohne realen Einsatz sicheren seelischen Profit ab. Dieser Mechanismus war nicht so selten, wie Manfred es gern gesehen hätte, und der Anteil konservativer Gesinnung dahinter blieb ihm vollständig verborgen – denn eines war doch sicher und insgeheim beruhigend: Außenseiter blieb Außenseiter. Oder beurteilen wir Manfred jetzt zu streng? Max hatte dasselbe anders ausgedrückt: Du stehst links von allem.

     Plötzlich erkannte er ihn wieder: Wie oft war er ihm schon an einem ganz anderen Ort begegnet! Der Blasse gehörte einem anderen Milieu an, er war unvermutet aus der Stadt der Büroarbeit und des Kantinenessens herübergewechselt.

     Sie aßen beide oft zur gleichen Zeit in der großen Kantine, die verschiedenen Firmen der inneren Stadt offen stand. Manfred wusste so gut wie nichts von ihm, schon gar nicht seinen Namen oder wo er sein Geld verdiente. Gewöhnlich stand einer von ihnen ein Stück hinter dem anderen in der Schlange vor der Essensausgabe an, oder Manfred sah ihn von seinem Tisch aus anstehen, wenn der andere einmal später gekommen war. Er fiel in der Stadt ebenso aus dem Rahmen des Üblichen wie jetzt hier. Er trug auch alltags dort die gleiche Montur. Manfred war nur allmählich auf ihn aufmerksam geworden. Er hatte etwas von dem Reiz und der Tragik eines possierlichen Tieres, das sich und seine Rolle tief ernst nimmt.

     War er, Manfred, jemals von dem anderen bemerkt worden? Er wusste es nicht. Seine eigene Alltagskleidung war unauffällig und signalisierte nichts Abweichendes. Doch, einmal vor nicht langer Zeit war ein Wort zwischen ihnen gefallen. Manfred kam später als sonst und hielt ihm, der mit dem Essen schon fertig war, die Tür beim Herauskommen auf. Das war nur der selbstverständliche Akt einer anonymen Höflichkeit, doch das „Danke sehr“ klang unerwartet bewegt und überaus persönlich. Man könnte daher jetzt einfach Bekanntschaft voraussetzen und zu ihm hinübergehen.

     „Sie tanzen sich die Seele aus dem Leib“, sagte Manfred und wies nach unten.

     „Und für wen? Mein Fall wäre das nicht.“ Er zuckte die Achseln, verspürte dann jedoch das Bedürfnis, etwas Zustimmendes zu äußern: „Aber es gehört wohl zu einem Ledertreffen?“

     Er gab sich keine Mühe zu verbergen, dass er nicht hierher gehöre. Gleichzeitig sog er gierig auf, was Manfred ihm an neuen Kenntnissen vermitteln konnte. So, nachher fahre man noch ins Village oder ins Bronx? Das sei ihm dann viel zu spät. Er ließ sich dennoch die Straßen nennen, in denen diese Bars zu finden seien. Er kenne bloß das Chaps, wo er auch nur zwei- oder dreimal gewesen sei. „Es ist nicht ganz mein Geschmack. Aber was soll’s.“

     Er wirkte gleichzeitig sehr jung und ziemlich alt, zur gleichen Zeit blasiert und dennoch neugierig. Er ließ Manfred darüber im Unklaren, ob er ihn von früher her wiedererkenne. Sein Name sei Till. Das kam heraus wie ein aus nächster Nähe abgeschossener Pfeil. Manfred musste ihn daraufhin küssen und war ein wenig enttäuscht: Er hatte auf der anderen Seite mit Verblüffung und vielleicht sogar mit Widerstand gerechnet. Er ließ es einfach geschehen und legte dann rasch den Arm um Manfreds Schultern, eine eindeutige Geste, so beschützend wie besitzergreifend.

     „Können wir zu dir fahren?“ fragte er als nächstes. Er hatte es unfestlich eilig, er legte es – so war es nun einmal – allein aufs Abschleppen an. Auf dem Weg zum Oberdeck, wo sie ihre Helme abholten, und dann weiter von Bord war er auf eine unkonventionelle Weise freundlich. Er nahm Manfreds Hand, um ihn durch das Gedränge des Ausgangs zu führen, und fragte mit vollem Ernst: „Du erlaubst mir das doch?“

     Erlebnisse wie das gegenwärtige waren vermutlich ziemlich neuartig für ihn. Seine Freude und seine Befangenheit drückten ihm ihren Stempel auf und teilten sich auch Manfred mit. Till fuhr auf dem Motorrad alles andere als entspannt. Er wollte, dass Manfred sich, während er fuhr, an ihm festhielt. „Da vorn, du weißt schon.“

     Sein körperlicher Ausdruck, die Erfüllung seines Verlangens verliefen dann wider Manfreds Erwarten nicht wie ein Ausbruch, eher wie eine Übung, die er sich selbst auferlegt hätte. Sie lagen nachher noch längere Zeit beisammen und schwiegen meistens. Tills Gedanken waren nicht zu erraten.

     „Das ist ein Freundschaftsring“, sagte Manfred und hielt jetzt seine Hand in der eigenen.

     „Nein, wir sind verheiratet.“ Er hatte es wahrscheinlich nicht sagen wollen. Oder er wollte es für sich behalten und gleichzeitig die Tatsache zur Distanzierung von dem, was sich ereignet hatte, benutzen. Er sah, als ihm das Geheimnis entfuhr, grüblerisch nach innen.

     „Und die Gattin weiß von nichts?“

     „Von nichts.“ Es war etwas Elegisches an ihm.

     „Und du hast keine Angst, sie könnte uns jetzt auf die Spur kommen?“

    „O nein, sie ist gerade in Miami.“ Etwas wie Triumph blitzte auf.

    Er ließ sich beim Abschied Manfreds Telefonnummer geben, er bat selbst darum. Die eigene bot er nicht an. Es könne einige Wochen dauern, bis er wieder frei sei und ihn anrufen könne.

     Manfred ging noch nicht schlafen. Er holte ein Blatt Papier aus einer Schublade des Schreibtisches. Vergleichen wir einmal, dachte er. Welcher Weg der Annäherung führt weiter? Und er las:

 

Arthur ...

 

... erscheint zuerst alles andere als jung. Das sind unverkennbar Altersspuren – oder doch nicht: Stirnglatze, schon lichtes, braunes Haar und darin graue Strähnen. Doch die Haut am Hals und im Gesicht wirkt jugendlich glatt. Und sein Auftreten, sein Gehen ist knabenhaft leicht wie das des Gehilfen im Kontrakt des Zeichners von Greenaway: „Trabe nicht, Philipp!“ Oder er gleitet wie auf Kufen dahin, das Tablett mit dem warmen Essen umsichtig auf den Händen tragend, dabei eilig. Es ist eine umsichtige Eile, die Stiefel behindern die Eile. Er liebt sie und trägt sie auch im Winter, wenn er ohne Motorrad da ist, dann auch ohne die schwere lederne Motorradhose. Als er einmal einen anderen Gast ausnahmsweise in schwarzer Lederhose erblickt, wirft er ihm überraschte, aufmerksame Blicke voller Bejahung zu (die der andere gar nicht bemerkt): Der andere schien auch dazuzugehören. Wozu? In der Kleidung versagt er sich wie Prousts Baron die Farbe, allenfalls billige Sportpullis oder Leibchen in fahlen Braun- und Grüntönen; sonst nur Schwarz oder Grau. Und von diesem Einerlei hat er Unzähliges. Dafür ist der Tank seines mittelschweren Motorrades leuchtend zinnoberrot, ein sehr warmes Rot.

     Und dann der T-förmige Kinnbart mit dem Querbalken unter der puerilen Lippe: Er soll wohl bei ziemlich kleinem Kopf die markanten länglich-eckigen Züge unterstreichen. Es soll fernöstlich wirken, kampfsportlich, hunnenhaft, mongolisch: Dschingis Khan und Tamerlan. Aber wer hat Verlangen nach ihnen, vielleicht er selbst? Wenn er länger anstehen muss, zupft er am Querbalken des T-förmigen Kinnbartes. Eine andere Verlegenheitsgeste, die man in der Kantine an ihm beobachten kann, nicht mit der Hand, sondern mit der Zunge ausgeführt, wenn es nur langsam vorwärts geht: Er drückt dann die Zungenspitze gegen das Innere der Wange – als sei auf diese Weise irgendein Durchbruch zu erzielen.

     Sicher treibt er Sport, nämlich Kraftsport. Dadurch ist aus einem ursprünglich schön gebauten, relativ leichten Körper etwas Disproportioniertes, stellenweise Wuchtiges geworden. Er zeigt kräftige Arme und vor allem einen mächtigen Thorax gewissermaßen vor einer insgesamt immer noch schmalen Silhouette. Wenn er länger anstehen muss, nimmt er eine extreme Standbein-Spielbeinhaltung ein mit in der Lederhose stark herausgedrehter Hüfte. Dann sieht man fast einen Moriskentänzer vor sich – oder eine verdüsterte männliche Ballerine unbestimmten Alters.

     Seine Stimme ist männlich-sanft, helldunkel, von ziemlichem Wohlklang; sie kann wohlerzogen bitten, ohne dabei zu schmeicheln. Er trägt einen silberfarbenen Freundschaftsring am Ringfinger rechts. Nennen wir ihn Arthur. Er ist der subalterne Engel, der nie lächelt und dennoch  sehr reizvoll ist. Er blickt aus einer Brille mit kleinen, runden Gläsern (Bügel und Fassung silberfarben) und fasst nichts scharf ins Auge – Ausnahme: siehe oben.

Dann sein Versuch, einen Vollbart zu bekommen, ohne die architektonische Wirkung des Kinnbartes zu zerstören. Nach einem Wochenende sah man dichten, weichen Flaum auf den bisher unbebarteten Wangenpartien. Im Sprießen sah sein Gesicht noch knabenhafter aus. Dass ein Bart (der in der Folge kurz gehalten wurde, um das plastische, fast schwarze T herauszumodellieren) seinen Träger derart sanft erscheinen lassen kann! Er beendete den Versuch und stellte wie früher schon sozusagen kalligraphische Experimente mit Längs- und Querbalken des T an, indem er den Strich abwechselnd verstärkte oder verminderte. Manchmal krümmten sich auch die beiden Striche, und es ähnelte dann einem chinesischen Schriftzeichen. Nur welchem? Das für zehntausendfaches Glück war es wohl nicht. Nun schien er einen voller Misstrauen anzusehen, doch brauchte er nur auf seine Art das Kinn der Welt bereitwillig entgegenzurecken, und man war wieder von seiner natürlichen Gutartigkeit überzeugt.

 

An welchem Ort und auf welche Weise hatte er ihn nun gründlicher kennen gelernt? Das war wohl keine Frage. Manfred ging endlich schlafen. Till alias Arthur erschien ihm im Traum und küsste ihn anlässlich einer verstohlenen Wiederkehr mit nachdrücklicher Sanftheit.

 

Manfred erwachte mitten am Vormittag. Er sah das Arthur-Fragment auf dem Schreibtisch liegen und stand auf, um es in einer Schublade zu verbergen. Er musste es Theo nicht gerade präsentieren. Der Cousin war manchmal allzu empfänglich …

     Er dachte wieder einmal, er würde gern eine Porträtsammlung der meisten Männer um sich herum anlegen, etwa auf die Weise Saint-Simons.

     Er hatte sich auch früher schon gelegentlich mit dem Nachfolger Dostojewskis über Literatur unterhalten. Dabei war von Seiten des Autors noch ein Wort gefallen, das der Überlieferung wert schien: Ich habe mir immer gesagt, wenn du erst mal vierzig bist, fickst du weniger und schreibst mehr. Mit diesem Vorsatz stand er damals nicht allein da, und vielleicht kommt es noch zu einer Spätblüte unserer Literatur.

     Was Marcel Proust anging, so hielt ihn der Schriftsteller zu Unrecht noch immer für dessen Apologeten. Zwar spazierte er jetzt zum dritten Mal in der grandiosen Landschaft des Riesenromans herum und begegnete dabei gern den von früher vertrauten Gestalten – Saint Loup liebte er am meisten -, doch die Wiederbegegnung mit den Figuren nahm bei der Lektüre nicht mehr alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Hinter dem Personal erkannte er deutlicher als früher die dem Werk zugrunde liegenden Theorien und stieß sich oft an ihnen. Dabei ging es ihm jetzt ähnlich wie mit den Ideen Bergsons. Er glaubte, auch bei Proust eine Art von geistigem Absolutismus zu erkennen. Es war immer das gleiche Verfahren, er nannte es die Methode Brunnthaler.

     Brunnthaler, sein Deutschlehrer am Gymnasium, damals ein jüngerer Konservativer, hatte es gegen das Jahr achtundsechzig nicht leicht gehabt, auch nicht in ihrem Provinzwinkel. Er kam gerade nach mehreren Jahren aus Franco-Spanien zurück und führte seine Vorwärtsverteidigung gegen den Geist der Zeit. Er war auch Fachlehrer für katholische Religion und missbrauchte den Deutschunterricht für seine spezielle Art religiöser Propaganda. Er war ein Beispiel für fehlende Schulaufsicht. Da er im Wesentlichen in der mittelalterlichen Scholastik zu Hause war, folgte er dem Lehrplan nur bis ins dreizehnte Jahrhundert, wo er dann monatelang verweilte, um den Anschluss an die weitere Entwicklung auf die Weise zu finden, dass er ihnen am Ende der Oberprima rasch Kafka und Brecht aus christlicher Sicht interpretierte; und Thomas Mann war kein Dichter, nur ein Meister der Vergegenwärtigung. So jung sie noch waren, fanden sie das doch irgendwie kurios. Brunnthaler bemerkte ihre stumme Reserve: Er drang noch nicht durch. Um eine oberflächliche Mitarbeit und eine Akzeptanz wenigstens ihrer Lippen zu erpressen, wandte er den Kunstgriff der unabdingbaren Voraussetzung an. Wenn man nicht akzeptiert, rief er ihnen trotzig entgegen, dass es eine göttliche Ordnung gibt und eine göttliche Offenbarung, ja dann, ihr lieben Leute, dann ist alles umsonst. Dann können wir aufhören. Ihr müsst begreifen, dass der Glaube die Treppe ist, von deren oberem Ende man erst die Welt vollkommen und in ihrer wahren Gestalt erblickt. - Er schien tatsächlich den Unterricht abbrechen zu wollen, und so fand sich bei diesen Gelegenheiten immer eine mitleidige Seele, die ihm seine Lieblingsvokabeln vorsprach: Ordo, staete, triuwe … Und überhaupt: Wolfram von Eschenbach!

     Auch Proust war auf seine Weise gläubig. Immer wieder trifft man bei ihm auf einen nie in Frage gestellten Fortschrittsglauben, zweifellos glaubte er an den Fortschritt in der Kunst. Wo er ihn als Prozess beschreibt, etwa für die Malerei, glaubt man die Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten analog der von den Naturwissenschaften enthüllten zu finden. Elstir war eine Art Einstein oder Röntgen der Malerei. Der große Schriftsteller musste demnach ebenso grundlegende und nachprüfbare, vollkommen neuartige Methoden der Beschreibung und Durchdringung der Wirklichkeit vorweisen können. Prousts eigenes Genie erwies sich nun an der Entdeckung und Vertiefung der unbewussten Erinnerung. Um zur Religion zu werden, musste dieses System nur noch mit den Begriffen Wahrheit, Freude und Glück angereichert werden. Die kleine Madeleine war der neue Leib des Herrn. Und was das Glück betraf, so lag es allein im Innern des Individuums. Die Außenwelt wurde zum Spielmaterial des experimentierenden Ichs degradiert und auf diese Weise radikal entwertet. Als Rechtfertigung dieses subjektivistischen Verfahrens diente stets das Versprechen, allgemein gültige Gesetze auffinden zu können. Geliefert wurden Erkenntnisse wie zum Beispiel, alle Invertierte männlichen Geschlechts seien in Wahrheit missglückte Frauen – und das war nicht einmal Frucht eigener Beobachtung, sondern nur die Übernahme des jüngsten Irrtums der Medizin.     

     Wehe wenn sich die individuelle Realität dem entdeckten allgemein gültigen Gesetz nicht fügen wollte: Dann hatte das reale Individuelle zu verschwinden, es war ohnehin wertlos. Es war die Tyrannei der Negation. Originell war an der Methode Proust nicht die alte idealistische Philosophie, sondern ihre Verknüpfung mit der Welt der Labore. Die unbewusste Erinnerung verschwisterte sich den neuesten Erfindungen, dem Telefon, dem Automobil und dem Flugzeug, die alle nicht grundlos ihre bedeutende Rolle im Roman spielen. Proust war – überspitzt formuliert – ein elektrifizierter Saint-Simon. Originell war gewiss auch diese Verbindung von natürlicher Güte als Idee und vielfach durchscheinender Misanthropie.  

     Der Fall Proust war im Übrigen nicht einzigartig. In der Politik oder in der Psychoanalyse zum Beispiel lassen sich in dieser Zeit ähnliche Tendenzen erkennen. Prousts Erfolg: Das war der Erfolg eines Werks, das den Zweifel nicht kennt, in einer Welt, die den Zweifel nicht erträgt.

     Während er so über Proust und sein Werk nachdachte, nahm seine Gereiztheit allmählich immer mehr zu. Er verstand nicht, wie das zuging. Er hatte ihn doch früher über alles geschätzt. Es war besser, den Gedankengang hier abzubrechen …   

     Für Manfred war Literatur von keinerlei erkennbarem allgemeinen Nutzen. Sie dient zu nichts, sie dient überhaupt nicht. Sie ist eine mit dem Leben seit langem untrennbar verbundene Erscheinung. Das Leben selbst scheint ein Bedürfnis zu haben, sich in einem anderen Medium widerzuspiegeln, und jenes Medium ist die Kunst. Die Literatur als eine Gattung der Kunst ist eine Art magischer Spiegel. Dem Autor kommt dabei eine Doppelrolle zu: Einmal ist er Werkzeug, ja selbst beinahe nur Medium (doch nicht so wie Octopussy für die Subkultur, seine Wirkung bestand nur in der Verflachung), zum anderen ist er auch Subjekt, Individuum, und als solches fähig zum Dialog und zur Kritik, gerade auch offen für Widersprüche, für das Hässliche, das Abstoßende und für die Utopie. All das kann über die plane Realität hinaus widergespiegelt werden. Es ist möglich, dass auf der Grundlage eines solchen Kunstverständnisses Werke entstehen, die bei einiger Böswilligkeit als Promenadenmischungen bezeichnet werden können.

     Wenn es keinen Fortschritt in der Literatur gibt, so doch ein immer währendes Auf und Ab. Es gibt klassische Perioden, so die deutsche Literatur um 1800 und dann wieder das frühe zwanzigste Jahrhundert. Andere Zeiten bestechen im Rückblick durch ihre Öde, ihre Formlosigkeit oder ihren Mangel an Gehalt. Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland ist ein Beispiel dafür. Gerade die stabilen Zeiten und Gesellschaften lassen die Fruchtbarkeit auswandern. Dann kann man es mit einer Rückkehr zur Klassik versuchen und endet vielleicht als Epigone. Literatur von Gewicht entstand seit Generationen vor allem in Nord- und Südamerika, kaum mehr in Europa. Doch auch hier gibt es noch kolonisierbares Land. Es gibt ihn noch nicht, den homosexuellen Gesellschaftsroman oder das Homosexuellen-Epos (oder sie sind noch nicht veröffentlicht). Es entging Manfred, dass er mit dieser Argumentation sich selbst widersprach und nun doch an eine lineare Entwicklung, sei es in der Zeit oder vom Zentrum zu den Rändern hin, glaubte. Er hätte gern alles mit dem erörtert, der sich in der Nachfolge Dostojewskis sah. Doch dafür war es jetzt zu spät. Überhaupt sollte man bei Gelegenheiten wie gestern nicht derart exzeptionelle Gespräche führen.

     Vor und nach dem Fest über das Fest zu reden, das sei das Fest, sagt Jean Paul irgendwo. Manfred frühstückte jetzt endlich doch allein. Die geleerte Weinflasche in der Küche verkündete ihm, Theo werde heute länger schlafen als sonst und er werde auch nach dem Aufstehen nicht sehr gesprächig sein.

     So kam es auch. Manfred saß noch am Frühstückstisch und war fast fertig, als der Cousin in der Tür erschien, das Gesicht verquollen, und das Leibchen reichte ihm nur bis zur Hüfte.

     „Theo, man kann alles durchs Fenster sehen. Zieh dir bitte was an.“

     „So, man kann alles sehen?“ Er imitierte Schamhaftigkeit, bedeckte sich mit den Händen und präsentierte auch noch die Rückseite, indem er langsam umkehrte, ohne die Wohnzimmertür hinter sich zuzuziehen. Es war ihm nicht abzugewöhnen, nach dem Aufstehen beinahe nackt in der Wohnung herumzugehen. Jetzt lohnte es nicht mehr, hier vorn noch Vorhänge anzuschaffen. Und überhaupt, sagte er sich, was für eine Marotte, in einer Wohnung ohne Vorhänge, ohne Jalousien zu leben. Ja, gewiss, Transparenz und nichts verbergen wollen ... Auch das Private war damals öffentlich, war politisch gewesen, und all das kam ihm jetzt nur noch überlebt vor. Das Selbstbewusstsein eines Dreißigjährigen anno achtzig war grenzenlos gewesen. Vielleicht würde man das später einmal sympathisch finden.

     Theo kam im Bademantel zurück und nahm am Tisch Platz. Erst kam der Kaffeedurst zu seinem Recht, dann ein nach wie vor gesunder Appetit. Er schwieg in sich hinein. Jetzt hatte er große Ähnlichkeit mit Sigurd. Als er endlich anfing zu sprechen, kam eine gewisse Wehleidigkeit zum Vorschein, die Manfred auch schon an ihm kannte.

     „Sie haben mir eben alles bis aufs letzte Hemd ausgezogen.“

     „Wer? Gestern?“

     „Ja, auch. Nein. Überhaupt in der Stadt … Ich bin entlassen.“

     Manfred war überrascht. Er hatte seit längerem nicht mehr daran gedacht, dass Theos endgültige Stellung in der Firma noch ungeklärt war. Dann werde er sich bald wieder auf die Suche machen?

     Ja, sagte Theo, er werde den Urlaub dafür nutzen.

     „Du willst nicht verreisen?“

     Nein, sagte Theo, er müsse sparen.

     Manfred schlug ihm vor, später am Nachmittag mit ihm nach St. Georg zu fahren. Das taten sie am Sonntag sonst nie. Doch heute würde es anders sein. „Es sind noch viele Fremde in der Stadt. Man trifft sich noch einmal, bevor man abreist.“

     Theo sagte, er werde mitkommen. Aber vorher wolle er sich noch eine Stunde hinlegen.

     Manfred räumte ab und brachte auch den Müll hinaus. Er hatte gestern vergessen, nach der Post zu sehen. Es war ein Brief von Max da.

     Es war wie mit den Wünschen zum Neuen Jahr, die verspätet eintreffen. Max wünschte ihrem Fest einen guten Verlauf und Theo und ihm viel Spaß an Bord. War es letzte Nacht denn gut abgelaufen? Nun ja,  post coitum omne animal triste … Oder so ähnlich. Er hatte sein Latein weitgehend vergessen.

     Ulrich war schon seit Wochen tot und beerdigt. Seine Eltern überließen Max jetzt einige Kleinmöbel aus dem Nachlass. Sollten wir uns nicht in jedem Augenblick bewusst sein, dass wir nur vorübergehend hier sind? Wir sammeln, wir häufen an, und nach wenigen Jahren wird alles wieder zerstreut, wenn nicht sogar beseitigt. Dieser Gedanke, der ihm bei der Lektüre des Briefes kam, war indessen für seine Antwort wenig geeignet. Auch bei der Korrespondenz trug er die Maske der Schonung.

     Ich stricke jetzt wieder, schrieb Max, ich stricke in den Sitzungen der Fraktion, um nicht zu platzen. Es gab neuerdings Anwürfe gegen ihn wegen der Sitzungsgelder, die gar nicht einmal so üppig seien. Jedenfalls hatte er sie nicht abgeführt. Er sei übel dran, seine Klientel erwarte, dass alles gratis für sie getan werde.

     Es folgten einige neue und selbstkritische Töne. Ich hatte immer so viel zu tun, schrieb er, dass ich gar nicht zum Nachdenken kam. Hatten meine vielen Aktivitäten nicht auch den Zweck, eine Leere auszufüllen, den Mangel an Freundschaft?

     Manfred war schon auf alles vorbereitet, als er weiterlas und zu seiner Erleichterung erfuhr, Max sei jetzt mit einem jungen Mann namens Sven liiert. Dieser Sven – er kam aus Mannheim – war nicht viel mehr als halb so alt, und Max deutete an, er teile ihn sich mit einem anderen Mann, dessen Identität er nicht einmal kenne. Sven war verschwiegen, er war auf der Hut, doch Max bei aller Liebe nicht mit Blindheit geschlagen. Manfred ließ das Blatt sinken und variierte halblaut den alten Kalauer so vor sich hin:

 

Da sprach der Sven aus Mannheim

Um fünf Uhr kommt mein Mann heim

 

     In Svens Gesellschaft besuchte der Kreisrat neuerdings Lokale oder Kinos, die er noch nie betreten hatte. Er kam auf diese Weise in eine Dartkneipe in Offenbach oder in den neuesten Film, dessen Handlung ausschließlich in Thai-Kick-Boxen bestand. Es sei nicht ganz sein Geschmack, doch auch das erweitere den Horizont. (Etwas mehr Enthusiasmus wäre vielleicht am Platz, Herr Amtsvormund.)

     Ende August oder Anfang September würde er gern zu ihm nach Hamburg kommen. Er würde mit einem Schlafplatz im Wohnzimmer vorliebnehmen. Der genaue Termin werde sich nach Svens Dienstplan richten. Sven verdiente sein Geld als Nachtwächter. Max unterschlug es nicht: Er bewachte amerikanische Kasernen.

     Manfred verschob die Antwort auf die nächsten Tage. Und von wem war denn nun: Sag, aus Furcht, dass er weint, lächelte mein Mund

 

Theo legte heute einmal Wert darauf, dass sie mit der U-Bahn nach St. Georg fuhren. Er fühle sich noch zu matt, um selbst zu fahren. Sie saßen wieder einander gegenüber. Der Cousin schwieg. Er trug die abweisende Maske, die er meistens anlegte, wenn er mit ihm auf dem Weg in die Bars war. An jenem Abend im März hatte er sie zum ersten Mal ausprobiert. Sie glitt jetzt gewohnheitsmäßig über seine Züge, sobald sie auf den Hausflur hinaustraten. Vielleicht kommt noch eine Zeit, in der die Maske dem Gesicht so fest anliegt, dass er sie nicht mehr abnehmen kann.

     Sie rollten erst langsam, dann zügig unter der Stadt dahin, die ihnen vertraut war, ohne dass sie sagen konnten, es sei ihre Stadt. Es war voll in der Bahn. Es waren die typischen Fahrgäste eines beschäftigungslosen Sonntagnachmittags, ohne zwingende Gründe unterwegs, sich selbst überlassen, ein Abbild der Ziellosigkeit. Sie verströmten ihr Parfüm von Schwermut und Langeweile. Nie war die Stadt so grau, so freudlos wie am Sonntagnachmittag.

     Manfred wollte möglichst rasch an einem ganz anderen Ort ankommen. Sie näherten sich auf kürzestem Weg dem Bronx. Die Tür stand heute, im Unterschied zu sonst, weit offen. Zigarettenqualm und Musikfetzen verwehten auf dem in voller Sonne liegenden Gehsteig, auf dem in langer Reihe schwere Motorräder geparkt standen. Auch diese Werte repräsentierten das Volksvermögen. Ein noch junger Mann – ein Lehrer aus dem Wendland, wie Manfred wusste – saß entspannt quer auf der Sitzbank seiner Maschine und blickte ihnen voller Gleichmut freundlich entgegen. Er verbreitete sozusagen Ferienstimmung. Man sollte selbst bald Urlaub machen und verreisen.

     Das Innere der Bar erschien heute sehr verändert. Das einfallende Tageslicht drängte das Kunstlicht zurück. Man sah den Staub, das Abgenutzte der Einrichtung. Nichts glänzte, strahlte, blitzte auf wie sonst in den Nächten. Das Lokal war jetzt gut besucht. Seine Gäste schienen zumeist zwar körperlich mitgenommen, dafür seelisch in merklich gehobener Verfassung zu sein. Man ließ sich Befriedigung anmerken – sie war nicht gespielt. Das Fest hatte sich gelohnt, und nun war es so gut wie zu Ende.

     Die meisten hier waren Fremde in der Stadt und standen kurz vor der Abreise. Einige hatten ihr Gepäck mit hereingebracht und auf der Tanzfläche abgestellt. Man wurde immer wieder Zeuge bewegter, ja stürmischer Abschiede.

     Theo brachte dem Großen Cousin ein Bier und trank heute selbst Mineralwasser. Mit wem könnten sie ins Gespräch kommen?

     Jetzt kam der herein, der wie ein Schlachter aussah. Manfred hatte ihn noch nie im Gastraum einer Bar, sondern immer nur auf den Toiletten gesehen. Im Tageslicht des Einganges wirkte er überraschend robust und gesund, wie nach langem Landaufenthalt. Er ging gleich auf Theo zu, mit dem er recht vertraut sein musste, und begrüßte auch Manfred mit feixendem Grinsen. Manfred wunderte sich.

     „Mann“, sagte er zu Theo, „warum trifft es immer mich? Heute Nacht schon wieder Ärger mit den Bullen gehabt. Sie haben uns auf der Autobahn festgehalten und mir dann den Schlagstock weggenommen. Und sie haben gefragt, ob wir vom Ledertreffen kommen. Aber ich hab mich dumm gestellt, ich wüsste nicht, was sie meinten.“

     Theo reagierte kaum. Der, der wie ein Schlachter aussah, ging gut gelaunt weiter und fand gleich neben ihnen andere, denen er den Verlust seines Schlagstockes melden konnte.

     Dann kam der Bonner (Ministerialdirigent, Abteilungsleiter oder was auch immer) und sagte bloß im Vorbeigehen Guten Tag, er fahre jetzt ins Museum und von dort nach Hause. Es sei herrlich gewesen in den zwei Tagen hier. Theo fragte ihn, ob er im Auto mitfahren könne. Manfred war es für einen Lokalwechsel noch zu früh.

     Berthold kam jetzt vom Tresen zu ihm herüber. Heute Nachmittag ging es ihm nicht um Harvestehude oder die Sierichstraße, er legte es nun darauf an, Manfred zu schockieren. Sie hätten im Betrieb in dieser Woche schon zwei Drogentote auf der Toilette gehabt, das sagte er ihm ohne Einleitung, ohne Vorwarnung. Manfred spürte sogleich das Vergnügen, das diese und die folgende Auskunft dem Ex-Magister und Grand-Hôtel-Aspiranten verschafften.

     „Wo arbeitest du eigentlich jetzt tatsächlich?“

     Es war eine MacDonalds-Filiale in einem der großen Bahnhöfe. Zwar vollzog sich mit diesem Bekenntnis in Manfreds Augen nun eine Art Höllensturz von der Höhe des Vier Jahreszeiten herab, doch Berthold hätte bei einem umgekehrten, raketengleichen Aufstieg auch nicht befriedigter aussehen können. Seltsam, dass es uns fast noch mehr Lust verschafft, unser Prestige so rasch und gründlich zu zerstören. Manfred wollte sich nicht noch weitere Illusionen rauben lassen und zog sich unter dem Vorwand, er benötige frische Luft, zum Ausgang zurück.

     Eine Gruppe introvertierter Norweger verließ jetzt das Lokal. Ein Schweizer krächzte: „Ja, bei der Swiss Air sind doch alle schwul!“ Viele reisten nun wirklich ab. Wieder und wieder versicherte man einander, sich spätestens beim Oktoberfest wiederzusehen. Oder in Köln, in Amsterdam oder sogar in Hannover … Es gab immer irgendwo ein Fest.

     Die Szene wurde unwirklich. Die Eindrücke überlappten sich mit Erinnerungen. Das Oktoberfest endete regelmäßig in Saturnalien. Dann standen manche im Bierzelt auf den Tischen und trampelten auf ihnen herum, und einmal rutschte dort oben einer in einer Bierlache aus und schlug mit den Zähnen hart auf der Tischkante auf. Viel früher, viel ziviler die friedliche Fahrt einer Männerkommune mit der S-Bahn zurück ins Zentrum von West-Berlin. Das war noch nicht der Massenauftrieb des späteren Ostertreffens. Alles fing gerade erst im Saal einer Reinickendorfer Bierwirtschaft an. Später dann die Charlottenburger Festsäle, die Säle im Münchner Parteihaus der SPD oder Fabrikhallen in Zürich. Und die Frankfurter luden auf einen angeblichen Bauernhof am Stadtrand von Offenbach ein, der nur aus trostlosen Baracken und abgeweideten Wiesen zwischen Stacheldrahtzäunen bestand. Dort war es, dort lästerte Orpheus wieder einmal: Da kommt sie, die Stuttgarter Allgemeine … Oder sie setzten mit einer kleinen Fähre von Long Island auf die lange Sandbank davor über. Orpheus war auch mit im Boot. See you next year at Fire Island, auch der junge Krüppel aus Boston sagte es nachher beim Abschied. Er war jungenhaft hübsch, robbte mit zwei Krücken zum Billardtisch, um mitzuspielen. Damals war dieses Contergan-Kind gerade Anfang zwanzig. Nein, er arbeite nicht, er bekomme eine kleine Rente, sagte er und schien nichts zu bedauern. Manfred sah ihn nicht wieder.

     War es nicht genug? Ja, es war genug, er sollte jetzt gehen.

     „Ja, grüß dich, mein Lieber …“

     Orpheus musste aus einer der dunkelsten Ecken des Lokals gekommen sein. Manfred erschrak bei seiner Umarmung. Er sollte doch, den Angaben Münchner Freunde zufolge, schon im vorigen Herbst gestorben sein. Hatte er ihn aus einer besseren Welt herbeizitiert, indem er vorhin an ihn dachte? In jedem Fall wies seine Erscheinung jetzt nichts Beunruhigendes auf. Er war älter geworden, noch schwerer, fast schwammig. Bart und Kopfhaar allerdings waren grau-weiß gefleckt, wie vom Mehltau befallen. Seine Markenzeichen waren unversehrt erhalten: der Schmatz auf die Wange und das angelernte Stadtmünchnerisch. Da er die Stimme mitten in der Periode nicht senkte, sondern sogar noch hob, klang es immer beinahe wie: „Ja, grüß ich dich?“ Aber das war für ihn keine Frage, das Ritual des jovialen Wiedererkennens war ihm zweite Natur, und er kannte fast alle. So vollführte er nach seiner Ankunft in einem Lokal gewöhnlich mit rasch wechselnden Partnern seinen Rundtanz wie ein mächtiger und freundlicher Bär.

     Vielleicht war einer, der nach Berlin zurückgekehrt war, für München so gut wie tot. Ja, sagte er, er sei schon vor gut zwei Jahren dorthin heimgekehrt. Die Jahre in München – er hätte auch sagen können: die Jahrzehnte – seien eine schöne Zeit gewesen, eine runde Sache. Doch der Kreis habe sich geschlossen, und nun sei es so auch gut. Er sei auch wieder ans Theater zurückgekehrt, und er nannte Manfred den Namen der Bühne, an der er nun sang und tanzte.

     Er war nicht der Orpheus von Gluck und auch nicht der von Offenbach; von Eurydike keine Rede, dafür umso mehr Umgang mit der Unterwelt. Woher kam nur der Spitzname, der den bürgerlichen völlig verdrängte? Der Orpheus war gar nicht sein Fach. Vielleicht verstärkte er einmal am Gärtnerplatz den Chor der Bacchanten, und so blieb in Erinnerung an Offenbach der Name des titelgebenden Helden an ihm haften. Sein ganzes Wesen war Opera buffa, auch noch in den nicht seltenen Momenten von Betrübnis und Melancholey. Rollenmäßig kam er nicht über den Lutter in Hoffmanns Erzählungen hinaus. Er sattelte schließlich um und ernährte sich mehr als ein Dutzend Jahre damit, seinen Freunden ihre Altbauwohnungen schön herzurichten.

     Bei ihm kam alles aus dem Bauch heraus, nicht nur die Stimme. Sein Instinkt bewährte sich auch mit der Rückkehr nach Berlin: Ein paar Monate danach gab es einen Zauberschlag wie in der Oper, und die Mauer öffnete sich. Er erzählte Manfred, wie er in der Nacht des 9. November auf dem Kurfürstendamm in die fröhliche Masse eingetaucht war – vermutlich auch dabei mit „Grüß ich dich“ und Kuss auf die Backe.    

     „Da war ein Papa aus Ost-Berlin mit seinem Buben. Die hab ich unter meine Fittiche genommen und hab sie ins nächste Lokal geschleppt und für sie den teuersten Champagner bestellt. War mir doch egal!“ In der Erinnerung daran lachte er wohlig glucksend.

     Vielleicht spielte er mit dem Champagner auch noch auf gewisse Kalamitäten in München an. Seinen Gläubigern auszuweichen, wenn man mit ihm durch die schöne Münchnerstadt spazierte, war zeitweise nur schwer zu vermeiden gewesen. Ihre letzte Begegnung dort endete damit, dass Orpheus ihn zum Gansbraten in ein bekanntes Restaurant einlud – es war kurz nach Martini – und die Rechnung dann zum größten Teil an Manfred hängen blieb.

     Großzügig wie früher lud Orpheus ihn nun in seine derzeitige Wohnung ein, die natürlich im Umkreis von Dahlem zu suchen war. Dann, ohne ein Wort zum Abschied, walzte er weiter und jetzt auf die kleine Treppe im Hintergrund zu. Manfred sah vom Eingang aus, wie er auf die Empore hinaufging und dann weiter hinten im Dunkeln verschwand. Dort hinten, in dem lichtlosen Kabuff, war es dann sicher vorbei mit der Jovialität. Überhaupt war das neu an ihm: dieser Drang ins Dunkle.

     Es war vielleicht doch eine Erscheinung gewesen. Und wenn nicht, hatte er ihn soeben mit einiger Gewissheit zum letzten Mal im Leben gesehen. Es wurde ernst. Wenn schon Gestalten wie er von der anschwellenden Flut der Jahre fortgerissen wurden und sich nur noch für Augenblicke an der Oberfläche behaupteten, dann wurde es Zeit, sich selbst auch auf die Reise zu machen. Manfred ging mit einem raschen Ruck durch die offene Tür ins Freie. Dann schlenderte er auf Nebenstraßen zur U-Bahn am Hauptbahnhof. Es galt, Panik zu vermeiden.

 

Sie rollten von der Höhe von St. Georg hinunter ins Elbtal. Der Bonner suchte auf der kurzen Fahrt das Gespräch mit ihm, und Theo änderte seine Meinung über ihn rasch. Man konnte gut mit ihm reden.

     „Du bist doch auch nicht aus dem Norden? Mehr aus der Mitte, glaube ich herausgehört zu haben?“

     Theo bekannte sich zu Franken. Auf Nachfrage bestätigte er, Hamburg sei eine schöne Stadt. Nein, im Rheinland sei er nie gewesen, nicht in Köln, nicht in Bonn. „Kann man da gut leben?“

     „Besser als irgendwo. Deshalb will jetzt auch keiner weg. Alle harmonieren wunderbar miteinander, selbst wenn sie streiten.“ Die Regierung werde vielleicht in Berlin besser arbeiten, fuhr er fort, es könne sein, dass dann etwas Preußisches in die Angelegenheiten komme, mehr Zucht und Ordnung. „Aber am Rhein – das war die goldene Zeit. Im Rheinland, weißt du, da hat alles schon Südstaatenmentalität. Es ist der Norden des Südens. Hat von allem etwas und immer nur das Beste.“

     Sie waren da. Es war mindestens so viel los wie im Bronx, es war gar nicht wie in einem Museum. Er spendierte dem Bonner eine Cola. Ihr Gespräch war jedoch schon zu Ende, der Bonner zog sich von ihm zurück und lehnte dann allein, meistens lächelnd, an einem der beiden Holzpfosten der Eingangstür. Theo bezog Posten vor dem uralten Heizkörper. Hier drinnen war alles alt, merkwürdig verziert und verspielt und ein wenig verkommen. Es hatte was. Warum war er nicht öfter hier gewesen? Sie überlassen dir eher ihren Lover als den Platz an der Heizung – bei Manfred kam alles so spitz heraus. Er zog es ins Lächerliche. Noch war Sommer, und ob er, Theo, den Winter hier jemals erleben wird?

     Er teilte sich jetzt den Platz vor dem Heizkörper mit einem Mann unbestimmten Alters, der ihn von der Seite beäugte. Theo warf einen ersten prüfenden Blick auf ihn und war sich dann im Unklaren, ob er es mit einem Mäuschen oder einem eher maskulinen Typ zu tun hatte. Es fehlten an ihm die äußeren Anzeichen bestimmter Vorlieben. Vielleicht war es ein maskulines Mäuschen? Theo sah ein zweites Mal hinüber und fand ihn so übel nicht: kein Durchschnittstyp, offenbar schüchtern – und briet jetzt doch unverkennbar an ihm. Er, Theo, sollte nichts anbrennen lassen. Er lächelte ihm zu und fühlte dabei, indem die eigenen Züge sich entspannten, dass er selbst anziehend sei. Der andere blieb ernst, wandte sich ihm mit einer Vierteldrehung vollends zu und setzte zum Sprechen an, wobei er den Unterkiefer auf sonderbare Weise vorreckte. Man kann das sonst an klein gewachsenen Männern beobachten, doch der hier war gut normal groß.

     Hier werde wenigstens nicht getanzt wie letzte Nacht auf dem Schiff, sagte der andere.

     „Dir gefällt das auch nicht?“

    „Nein, kommt mir wie Zeitverschwendung vor.“ Er wollte dann wissen, ob in den anderen Bars getanzt werde, und war merklich erleichtert, als er erfuhr, das sei normalerweise nicht der Fall und heute auch nicht. Theo riet ihm davon ab, jetzt noch ins Village oder ins Bronx zu fahren. Es lohne sich nicht mehr, die meisten seien im Aufbruch.

     Er habe es heute auch nicht vorgehabt, vielleicht irgendwann einmal, sagte der andere. Er wollte wissen, ob Theo auch mit dem Motorrad da sei.

     „Nein“, sagte Theo, „heute nicht. Der Kopf muss erst wieder klar sein.“ Er wollte dann mit ihm über ihre Maschinen reden, aber da wurde er schon geküsst.

     Es gab keinen zweiten Helm für Theo. Sollten sie zusammen die U-Bahn nehmen? Währenddessen kam der Bonner herüber, um sich von Theo zu verabschieden. Er versetzte sich in ihre Lage und bot ihnen gleich an, den Umweg durch den Elbtunnel zu nehmen und sie beide in Eimsbüttel abzusetzen – sehr anständig von ihm. Sie brachen sofort auf.

     Der Kleine – denn jetzt kam er ihm doch klein vor, ohne es seinem Wuchs nach tatsächlich zu sein – der Kleine konnte ihm draußen sein Motorrad nicht zeigen, es war in einer Seitenstraße geparkt. Theo sah auf seine Montur: Sie war noch älter als seine eigene, keine Maßanfertigung, sondern vor Jahren auch von der Stange gekauft und ehrlich abgewetzt. Eigentlich sympathisch, wenn einer so wenig Wert auf die Verpackung legt.

     Sie rollten nach Westen, hielten vor roten Ampeln, rollten weiter. Theo saß auf dem Rücksitz und betrachtete den Fund neben sich, während der Bonner die Namen von Stadtvierteln oder Straßen halblaut ansagte: Ost-West-Straße … das Heiligengeistfeld  … Fruchtallee … Es klang beinahe so, als wolle er sie damit hypnotisieren.

     Theo und der neben ihm schwiegen vorerst noch. Der Kleine, der gar nicht klein war und von dem er noch nicht einmal den Namen wusste, hatte auch etwas Fahriges, Fiebriges und vollführte ab und zu nervöse Hand- oder Kopfbewegungen. Er macht einen merkwürdigen Eindruck, fand Theo, stimmt mit ihm etwas nicht? Man muss dem auf den Grund gehen, man muss es durch Fragen herausbekommen. Er selbst ist auch schon so ausgefragt worden.

     Ob er aus Hamburg sei? Warum er ihn dann noch nie gesehen habe? Er sei erst seit kurzem dabei? Also ein Spätentwickler? Aber allein lebe er nicht? Mit einem Mann oder einer Frau? „Vielleicht sogar verheiratet? Und sie ist ahnungslos? Sie …“

     „Sie ist in Miami. Morgen kommt sie zurück.“

     „O, du“, sagte Theo und knetete ihm den Hinterkopf. Endlich hatte er ihn gefunden.

     Nebenbei dirigierte Theo den Bonner durch das Dickicht von Eimsbüttel. Sie bogen jetzt um die Ecke seiner kleinen Straße.

     „Noch nicht. Wir sind noch nicht da.“ Der Kleine hatte soeben versucht, die Tür zu öffnen, obwohl der Wagen noch rollte. Jetzt hielten sie vor dem richtigen Haus. Der Bonner lächelte beim Abschied entzückt, als hätten sie ihm einen großen Gefallen getan.

     Theo ging mit ihm, der seinen Namen noch immer nicht genannt hatte, auf das Haus zu. Er sah ihn zärtlich an und nahm vieles jetzt erst an ihm wahr, auch seine Unsicherheit, sogar eine gewisse Verwirrung. Es regt ihn mächtig auf, freute sich Theo, dass einer wie ich sich auf ihn eingelassen hat. Seien wir nett zu ihm, sehr nett. Er war jetzt für ihn der arme Kleine.

     Als er nackt vor ihm stand, da hatte er unerwartet breite Schultern. Man hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Er war zärtlich und kraftvoll, ein wirklich maskulines Mäuschen. Wie glatt seine Haut war, fest und rein. Theo musste daran denken, dass er zeitweise unter Rückenakne litt.

     Der Kleine wollte ihn ficken! War das nicht irgendwie rührend? Mit der Rolle übernimmt er sich doch ein wenig … Er ist ein kleiner trauriger Held. Und Theo lässt es erstmals geschehen, aus lauter Sympathie, aus Solidarität mit ihm. Der Genuss – hält sich in Grenzen. Man muss wohl erst auf den Geschmack kommen. Aber dazu wird es ihm, Theo, auch in Zukunft an Gelegenheit fehlen. Es ist eine Ausnahme, und es ist nicht weiter schlimm. Da der Vorgang ihm an sich längst vertraut war, war er jetzt frei von Furcht. Es kam zu keiner Blockade mehr. Er musste ihn nicht erst bitten, ein Präservativ zu benutzen. Sein Umgang damit erschien routiniert. Betreibt er es wie einen Sport?

     Nachher wollte Theo in aller Ruhe mit ihm reden. Aber der Kleine war jetzt wie eine Katze, die sich weiterem Zugriff und dem Festgehaltenwerden geschickt entzieht und nur noch fort will, ins Freie will. Er erwarte zwischen sechs und sieben noch einen Anruf aus Florida, da müsse er daheim sein. Er wollte sofort zur U-Bahn und sein Motorrad holen.

     Theo wollte ihm etwas mitgeben, wenigstens die eigene Telefonnummer.

     „Ist nicht nötig, ich hab sie schon …“ Er war gerade darauf konzentriert, sich in die Stiefel zu quälen. Er sah auf und begriff, dass er es besser nicht gesagt hätte.

     „Du kennst Manfred?“

     „Ist es dein Freund? Bist du jetzt schockiert? Ich war nur einmal ganz kurz hier, letzte Nacht.“

     „Du kannst beruhigt sein, es ist nur mein Cousin.“

     Vor sich selbst schob Theo die eigene Reaktion noch hinaus. Erst muss er fort sein. Nur eines war ihm jetzt wichtig: Er soll gehen, bevor Manfred zurückkommt.

     Dann war er allein in der Wohnung, und zunächst bekam er den Kopf nicht klar. Da war irgendein Schmerz. Nachträglich fühlte er sich doch missbraucht. Alles war falsch gelaufen.

     Auf jeden Fall ist es sinnlos, noch länger in Hamburg zu bleiben. Immer wieder lässt er sich auf Neues ein und kommt kein Stück voran. Am Ende findet er immer nur den eigenen Cousin. Nein, er will nicht werden wie Manfred. Er spürt es deutlich, mit einem Erlebnis wie diesem jetzt ist er ihm wieder ein Stück ähnlicher geworden. Dabei hat er immer geglaubt, auf seiner eigenen Bahn zu sein. Er sah es zum ersten Mal richtig: Er ist auf der Suche nach dem sanften Mann. Und immer endet es enttäuschend, und zuallerletzt taucht Manfred wieder auf. Als wäre er die treibende Kraft hinter allem. Nein, dieser ganze Ablauf passt ihm nicht.

     Es tat ihm weh, an den Kleinen von eben zu denken, er sollte es ganz bleiben lassen. Der hätte ihm näher sein können als irgendwer sonst. Dass es so abgelaufen ist, es zeigt wieder einmal, wie verkehrt hier alles ist.

     Es muss ein Schnitt gemacht werden. Er passt nicht hierher, nicht in diese Stadt und nicht in den Norden überhaupt und zu den Homos schon gar nicht. Er ist jetzt hier mit allen fertig, er kann heimfahren. Dort ist viel in Ordnung zu bringen. Und danach erst kann er irgendwo neu anfangen.

     Er muss es Manfred schonend beibringen.

     Es ist hier für ihn zu Ende, es ist schon seit längerem darauf hinausgelaufen. Eigentlich kann Manfred nicht sehr überrascht sein. Und indem Theo sich dies versicherte, wurde er selbst allmählich ruhiger.

 

Es war einer der Nachmittage, an denen das Licht scheinbar nicht abnimmt und die Illusion des Zeitstillstandes sich hartnäckig hält. Manfred betrat seine Wohnung und öffnete als Erstes ein Fenster zum Garten. Wie schon vor Stunden drangen, kaum störend, die gleichen gedämpften Sonntagsgeräusche von draußen herein. Nachbarn unterhielten sich ruhig auf weiter entfernten Balkonen. Er verstand nichts von dem, was sie sagten. Er hätte auch hier bleiben und die Zeit einfach verfließen lassen können.

     Theo rief ihn aus seinem Zimmer, dessen Tür einen Spalt offen stand, zu sich herein. Der Cousin lag da, wie er vor ihrem Aufbruch hier auch schon geruht hatte. Alles sprach jetzt von ruhiger Dauer.

     Ob er jetzt gleich mit ihm zum Griechen gehen wolle – er sei schon hungrig. Manfred war einverstanden.

     Sie waren die Ersten zwischen den Bretterwänden. Die Osterstraße lag ungewohnt verlassen da. Wer nicht in der eigenen Wohnung geblieben war, war vielleicht noch im Grünen.

     „Ich sage es dir lieber gleich“, begann Theo, „ich fahre morgen nach Neustadt. Und ich weiß nicht genau, wann ich zurückkomme.“

     „Du hast ja Urlaub. Vielleicht ganz gut, wenn du wieder einmal aus der Stadt hinauskommst.“

      „Ja, unbedingt. Und es ist nicht nur das. Es müssen Entscheidungen fallen …“

     „Du wirst mit Ingrid reden? Und willst du nun das Haus aufgeben?“

     „Wenn ich das wüsste …“ Manfred las ihm vom Gesicht ab, dass für ihn jetzt alles wieder offen war. Damit hatte man rechnen müssen, und er, Manfred, hatte damit auch gerechnet. Nein, er war nicht überrascht. Allerdings hatte er seit langem nicht mehr daran gedacht, Theo könnte auch wieder heimgehen. Heimgehen – aus welchem Vokabular stammte dieses Wort?

     „Es war nicht leicht hier für dich …“

     „Du hat mich ja zurückhalten wollen.“ Es klang wie ein Vorwurf, es war widersinnig.

     „Aber du hast dich auch nicht geschont. Es war eine Art Schnelldurchlauf, scheint mir. Und jetzt bist du enttäuscht.“

     „Müde. Kann man wirklich so leben?“

     „Nur mit Unterbrechungen. Wenn du nicht ganz stumpf bist, nimmt es dich natürlich mit. Hoher seelischer Verschleiß. Immer wieder neue Gesichter, Gestalten – und alle so nackt, und alle wollen sehr viel von dir. Fürchterlich, nicht?“ Manfred übertrieb mit Absicht und hoffte auf Widerspruch. Aber Theo blieb stumm. War es also doch so oder noch schlimmer? Immerhin war es doch auch für ihn ein Stück Leben gewesen.

     Da sagte er ihm, auch seine Zukunft sei ungewiss. In ein paar Monaten könne all das Vergangenheit für ihn sein: die Stadt und die Wohnung drüben und St. Georg und seine Arbeit im Verlag.

     „Du weißt ja, dass der Verlag verkauft ist. Die Sparte Kunst um 1900 wird es hier nicht mehr geben.  Ich kann nach Köln gehen, dort wird es in Zukunft produziert. Oder hier bleiben und Zeitgenössisches populär machen oder Populäres noch platter walzen. Zum Beispiel den Leuten verkaufen, dass einer wie Hundertwasser ein großer Künstler und überhaupt ein Originalgenie ist. Was natürlich ein Hauptspaß wäre.“

     „Und wirst du hier bleiben?“

     „Ich weiß es noch nicht, ich schwanke noch. Ich wollte dir vor dem Fest nichts davon sagen. Frag mich, wenn du aus Neustadt zurück bist.“

     Und dabei blieb es für diesen Abend. Theo packte noch das Nötigste für die Fahrt, und Manfred überließ ihn sich selbst. Sie würden sich ja morgen früh noch einmal sehen.

     Es war noch zu früh, an Schlaf zu denken, und Manfred würde ihn auch zu einer späteren Stunde jetzt nicht gefunden haben. Er wollte ihn auch noch nicht. Sich vor der Flut trüber Bilder und Gedanken in den Schlaf retten wie in einen Hafen – das war nicht seine Absicht, auch wenn er wusste, dass man dann oft die wunderbarsten Träume hat.

     Theo war also dabei, sich loszureißen, nicht sich freizuschwimmen, sondern sich forttragen zu lassen, wie ein Stück Treibgut. Er hatte ihn über die näheren Gründe seiner plötzlich bevorstehenden Abreise im Unklaren gelassen, doch soviel schien festzustehen, dass Enttäuschung an vorderster Stelle stand. Hätte er sie ihm ersparen können? Man kann es nicht, wenn einer zwangsläufig von einem besonderen Ausschnitt der Welt stark angezogen und dann ebenso heftig abgestoßen wird. Die Krise ist dann unvermeidlich.

     Allerdings konnte er sich den Vorwurf nicht ersparen, ihn zunehmend allein und sich selbst überlassen zu haben. Sie hätten mehr miteinander reden können und müssen. Nun, dieser Einwand hätte von Maximin kommen können. Es sollte angeblich erleichtern, wenn einem, dem praktisch nicht zu helfen ist, wenigstens Verständnis gezeigt wird. Wenn es nun aber gar nicht gewünscht wird? Er müsste sich sehr täuschen, wenn Theo sich nicht aus eigenem Antrieb im Verlauf seiner Affären immer mehr von ihm zurückgezogen hätte. Die Idee, etwas zu bannen, indem man es bespricht, mochte sich von magischen Zeiten und Praktiken herleiten lassen – die Überzeugung von der Wirksamkeit dieses Verfahrens beruhte meistens auf der Selbstüberredung des Intervenierenden. Im Grunde war es doch nur fauler Zauber, der dem bösen die Zauberkraft nicht nehmen konnte. Wer in der Tinte saß, bestritt mit einigem Recht dem außerhalb von ihr die Kompetenz, über ihre Beschaffenheit mitzureden. Es hinterließen daher von tausend verständnisvollen Gesprächen neunhundertneunundneunzig nur Schalheit und Verdruss. Er hat gar nichts verstanden! Oder: Er will es gar nicht anders haben. Diese verbitterten Resümees wollten so gelesen werden: Er ist gar nicht betroffen – er folgt meinem Erklärungsmuster nicht.

     Am Ende fanden sie ihr Gegengift in sich selbst oder gingen zugrunde, oder die Sache kam auf irgendeine banale Art wieder ins Reine. Erfahrungsgemäß half ihnen, wenn überhaupt etwas, am ehesten die allein körperliche Anwesenheit eines Gefährten. Ähnlich verhält es sich mit dem Schlaf, der in der Nähe anderer schlafender Menschen meistens ruhiger, tiefer, vertrauensvoller ist; wobei jeder seine ganz eigenen Träume erlebt. Dahinter verbirgt sich ein Geheimnis: das Bewusstsein vom Gesamtzusammenhang allen Lebens. Nun lief es aber darauf hinaus, dass Theo sich vielleicht auch räumlich von ihm zu trennen, sich sehr weit von ihm zu entfernen gedachte. Konnte man ihn zurückhalten? Durfte man es überhaupt – mit welchem Recht? Theo war ihm angenehm – war das genug? Wenn es allein um den eigenen Nutzen ging, durfte man nur eines: still darauf hoffen, dass die Flut, die ihn forttrug, ihn auch einmal zurückbrachte. Manfred vertraute also wieder einmal auf die großen Gesetzmäßigkeiten, denen gegenüber man sich am besten nur abwartend, beobachtend und nicht eingreifend verhält.

     Eines hing nun vom anderen ab. Wo würde er selbst in Zukunft leben und arbeiten? Würde er allein leben oder wieder einen Hausgenossen haben? Wo könnte Theo auf Dauer eine Existenz finden? Sollte man in der Stadt oder auf dem Land wohnen? Ihre bisherige Junggesellendoppel- und Vetternwirtschaft war vorerst einmal zu Ende, aber noch nicht definitiv für alle Zeit. Es gab keinen festen Boden, auf dem man fußen, planen konnte, um dann auch bei einer Sache zu bleiben. Wenn man diesen Problemwust nur an einem Punkt anfassen und sich von da aus Schritt für Schritt vorarbeiten könnte …

     Natürlich kannte er den Aspekt, unter dem eine Lösung der offenen Fragen leichter fallen würde. Es war eine Lösung im wörtlichen Sinne, eine Trennung, ein Abscheiden, und sie war so natürlich wie es der Weg des Individuums von der Geburt zum Lebensende hin eben ist. War er bereits in dem Alter und in dem Entwicklungsstand, bei dem es früher in den Romanen hieß: Er hat sich auf seine Güter zurückgezogen? Die Trennung von St. Georg war ihm schon wiederholt geglückt, versuchsweise. Bisher war es immer nur Svevos letzte Zigarette gewesen. Da die Loslösung nun vielleicht nahe bevorstand, meldete sich in seinem Kopf ein derart hässlicher Begriff wie gesellschaftlicher Tod, und er zuckte zurück. Er war nicht der Typ für einen Freitod. Was unvermeidlich war, sollte lieber von außen kommen. Ihm schwebte ein Bruch wie ein Kulissenwechsel vor. Das Leben sollte eine Art Bühnenmaschinerie sein, die sich auf einmal langsam zu drehen beginnt, und wenn sie wieder zum Stillstand kommt, hat die Dekoration vollständig gewechselt. Es war doch noch nicht so weit?

     Im ungünstigsten Fall wird er auf Theo und St. Georg verzichten müssen, dafür wird ihm der Rest der Stadt erhalten bleiben plus Friedensreich Hundertwasser. Er sah  seine zukünftige Arbeit hier in der Stadt vor sich, er dachte an Hundertwasser, der jetzt stark im Kommen war, diesen Schiele & Klimt-Resteverwerter, diesen niedrigprozentigen Gaudi-Verschnitt. Auch sein Erfolg verdankt sich allein der Reklame, nur Ausstattung, keine Qualität, wie Tucholsky über den viel beworbenen Mist seiner Zeit gesagt hat. Und wie so ein Meister des Klimbims dann als Architekt dasteht, das hat schon vor hundert Jahren ein echter Kerl wie Herman Bang klar gesehen. Im Roman Stuck charakterisiert er doch seinen Baumeister Martens, der die Kopenhagener seiner Zeit mit Glitzereffekten beglückte, auf eine den lieben Friedensreich mit vorwegnehmende Weise … Manfred schlug das Buch auf, das auf dem Schreibtisch lag und las noch einmal: …machte weiter in Fassaden, Vergoldungen und Spiegelglas, gepackt von einem wahren Fieber nach Imitation und leuchtenden Farben … Dann hatte man angefangen, über seine Bauten zu reden; und die Beachtung trieb ihn zu neuen Raffinements an … Stets aber bewahrte er sich die Vorliebe des kleinen Mannes für das Grelle in den Farben, und unweigerlich baute er alle seine Häuser … unbequem, eng, beschränkt, unbewusst den Vorstellungen des Arbeiters entsprechend, der an die kleinen Räume gewöhnt ist, deren Wände man mit den Händen greifen kann, und an dumpfe Luft.

     Der gute, alte Friedensreich, ein geschickter Verwässerer, Wein in Wasser verwandelnd, bezeugt er nicht Kontinuität über Jahrhunderte, von Gründerzeit zu Gründerzeit? Also sieht so die Zukunft für ihn selbst aus: Hundertwasser in dieser Freien und Hansestadt Hamburg, wie die Notare formulieren, als gäbe es noch eine andere, was so wünschenswert wie unwahrscheinlich ist. Es war eine grauenerregende Vision, und er flüchtete sich für heute ins Selbstmitleid, das eine bewährte Form des Selbstgenusses war. Er begann wieder zu grübeln, von wem das Zitat war, das ihm seit Tagen im Kopf herumging: Sag, aus Furcht, dass er weint, lächelte mein Mund …Er hörte es jetzt sogar singen, anschwellend kam es herüber aus zeitlicher Tiefe: … aus Furcht, aus Furcht, dass er weint … Und dann erblühend wie eine tief dunkelrote, fast schwarze Rose: …lächelte mein Mund. Natürlich, jetzt hatte er es, es war Maeterlinck. Der Text war ihm nicht mehr vollständig geläufig, doch unmittelbar davor ging es so: Wenn er fragt nach der letzten Stund … Große, heilige Gebärde, unerschöpflicher Fundus! Es war aus den Sechs Gesängen, vertont von Zemlinsky, dem Meister des lyrischen Schmerzes. Das war die richtige Musik für den Ausklang eines Festes. Er griff nach Kopfhörer und Abspielgerät, und bald nach diesem Kunstgenuss schlief er entspannt ein, gelöst von allem.

 

Es war vier Uhr morgens. Die Dämmerung war nahe. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. War es in der Wohnung gewesen?

     Manfred ging auf den Flur und fand Theos Zimmertür weit offen stehen. Im Zimmer brannte kein Licht, und es war kein Atemgeräusch zu hören. Er sah hinein und fand Zimmer und Bett leer. Keine Gepäckstücke, keine bereitliegenden Sachen zum Anziehen. Im Schrank war noch ein Restbestand an Wäsche und Kleidung. Er war also fort, ohne Abschied, ohne Verabredung. War auch das eine Botschaft?

     Er ging wieder ins Bett. Er schlief nicht mehr ein. Bis zum Aufstehen arbeitete sein Geist ununterbrochen an den Bildern der vergangenen Monate: Theo wie ein Rodinscher Melancholiker auf der Vorgarteneinfassung. Theo erstmals im Village, wie im Feindesland auftretend. Theo, wie er den Kopf des Tänzers hält – oder wie er sich über den Exhibitionisten ärgert. Wie er sich abwendet und an der Wand abstützt, um Julian nicht sehen zu müssen. Zuletzt Theo als einer von dreien. Es schien ihm, diese Bilder seien jetzt erst zu Ende entwickelt, bereit, aufbewahrt zu werden für lange Zeit.

20. Die Lesung

Montag, Dienstag, Mittwoch: Die Wochentage kamen und gingen noch immer in ihrer gewöhnlichen Reihenfolge, nur ohne irgendein Lebenszeichen von Theo. Am Freitag nahm Manfred innerlich widerstrebend am Schreibtisch Platz und klappte die Schreibmaschine auf, die seit Theos Abreise noch nicht benutzt worden war. Der Antwortbrief an Max ließ sich nicht länger hinausschieben. Merkwürdig, dass es ihm tagelang so vorgekommen war, als dürfe er den Brief an Max erst schreiben, wenn ihm der Termin von Theos Rückkehr bekannt sei. Der Cousin konnte gerade heute anrufen – oder morgen so gut wie übermorgen. Es blieb unklar, ob das noch nicht näher Definierte an seiner Abwesenheit die Lage hier eigentlich erleichterte oder eher noch verschärfte.

     Wieder einmal war es sehr unruhig im Haus, im Flur wie auf der Treppe und vor allem in der Wohnung über ihm. In seinen eigenen Räumen schien es ihm ohne Theo viel stiller zu sein. Doch war das sicher eine Täuschung. Theo verursachte sonst nicht einmal viel Geräusch, ruhig zog er hier seine Bahnen, zielbewusst, oder er war einfach nur da und lenkte so die Aufmerksamkeit auf sich, die frei geworden nun der Sippe Öztürk galt. Alles klang hier übrigens jetzt auch anders, jedes Geräusch hallte nach, als wäre ein Teil der Einrichtung entfernt worden.

     Max war natürlich willkommen, das würde er ihm als Erstes schreiben, und er setzte schon dazu an, es in die Maschine zu tippen, als er sich fragte, ob er ihn auch recht verstanden habe. Sollte Sven nun mitkommen oder nicht? Es hing von seinem Dienstplan ab: So wollte er ihn am Ende doch mitbringen? Oder wollte er ihn nur dann allein lassen, wenn er ihn in Mannheim gut beschäftigt wüsste? Seine Formulierung ließ beide Interpretationen zu. Allerdings schloss das Sofa im Wohnzimmer, mit dem Max sich begnügen wollte, doch wohl Svens gleichzeitige Anwesenheit hier aus. Manfred entschloss sich, nur mit Max rechnen zu müssen. Und war denn das überhaupt von so großer Bedeutung?

     Da zog beim nochmaligen Überfliegen des weiteren Brieftextes ein Satz erstmals seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Max schrieb am Ende seines Lamentos über die Neider, die ihm die Sitzungsgelder nicht gönnten: Allerdings hat Dich ja auch noch nie etwas von dem überzeugt, was ich unternehme …Und das war ihm bei der ersten Lektüre mehr oder weniger entgangen? Darauf musste er natürlich reagieren.

     Mit einleitenden Floskeln hielt er sich nur kurz auf und ging dann schon im zweiten Absatz zur eigenen Verteidigung über. Er schrieb:

     Für mich ist die Vorstellung, es könnte so etwas wie überzeugende Personen oder Handlungen geben, einfach absurd. Mir scheint, ich habe da ein anderes Welt- und Menschenbild als Du. Auch mein Geschichtsverständnis ist sicher ein anderes als Deines. Ich denke, dass die Prozesse, die ablaufen, dies mit einer Notwendigkeit tun, die im Geschichtsverlauf selbst begründet ist und deren Gesetzmäßigkeiten wir, solange sie ablaufen, nicht erkennen können. Ferner meine ich, dass die handelnden Personen sich in aller Regel über das täuschen, was sie bewirken. Häufig führen die von ihnen ausgehenden Anstöße zu etwas ganz anderem, als sie beabsichtigt haben. Du siehst, auf dem Boden dieser Überzeugungen wachsen keine Idole, keine Ideale, überhaupt nichts, woran man irgendeinen Halt gewinnen könnte. Und dann wird von mir erwartet, bestimmte Handlungen ausnahmsweise doch um ihrer selbst willen als überzeugend anzusehen …

     Und er kam ihm mit Schopenhauer, der im Leben jedes einzelnen ein Trauerspiel gesehen hatte, ein zwangsläufiges und ein stets missglücktes dazu, da es den Akteuren an Wert und Würde mangele, so dass sie nur läppische Lustspielcharaktere abgäben … Und Italo Svevo (von dem Max vermutlich nicht einmal den Namen kannte) hatte dazu sehr richtig bemerkt: Für Schopenhauer war der Kontemplative ein Naturprodukt, komplett wie der Kämpfer …Und, falls das noch nicht deutlich genug war, der gleiche Svevo hatte an anderer Stelle gesagt: Ehrlich gesagt, halte ich es für sehr zweifelhaft, dass sich die Menschen, die handeln, mit denen, die denken, überhaupt zusammenbringen lassen. Schopenhauer hielt sie für zwei völlig verschiedene Kreaturen.

     Er überlas das bisher Geschriebene und zog den Bogen hastig aus der Maschine: Das würde er natürlich nicht abschicken. Stattdessen schrieb er nun in wenigen Sätzen, Max sei willkommen, sowohl allein als auch mit Sven zusammen. Wenn er ihn später einmal mitbringen wolle, eigne sich dafür die zweite Septemberhälfte besonders gut. Dann sei er, Manfred, nämlich auf Urlaub und verreist. Sie könnten in zwei verschiedenen Zimmern übernachten und überhaupt die Wohnung ganz ungestört nutzen. Theo sei bis auf weiteres daheim in Süddeutschland. Er unterschrieb und verschloss den Brief rasch. Da erst wurde ihm bewusst, dass er also mit Theos baldiger Rückkehr, ja mit seiner Rückkehr nach Hamburg überhaupt schon gar nicht mehr rechnete.

     Er ging duschen und zog sich für einen Ausgang in St. Georg an. Dort würde er allerdings erst in einigen Stunden sein. Vorher war er bei Stefan zum Abendessen eingeladen. Er nahm Die Geheimnisse von Pfullendorf mit, um sie ihm nach dem Essen vorzulesen.

 

     Die U-Bahn stadteinwärts war um diese Zeit nur schwach besetzt. Dafür roch es nach Erbrochenem.

     Am Vortag hatte er es mit Stefan noch einmal telefonisch abgemacht, dass er ihm einen Text mitbringen würde. Manfred versetzte sich jetzt in die Rolle des Vorlesers eigener Texte. Er versprach sich vom Vorlesen auch eine authentischere Reaktion des Zuhörers, als er sie von einem Leser erhalten würde. Man konnte im Übrigen den Text durch die Vortragsweise, die Betonung noch unterstützen. Vielleicht hätte er es zu Hause bereits üben sollen? Diese Vorstellung war nicht frei von Komik. Was lag schließlich daran, ob seine Impressionen dem Freund zusagten oder nicht?

     Er musste am Hauptbahnhof in den Bus umsteigen. Während er die langen Rolltreppen hinauffuhr, fühlte er sich auf einmal nicht mehr als Vorleser, sondern als Zuhörer. Auch ihm war vorgelesen worden, und zwar von der Großmutter. Es war um die Zeit seiner Einschulung. Um ihn zum Lesen lernen zu bringen, las sie ihm das ganze Buch Emil und die Detektive von Kästner vor. Ja, er sah es bald ein: Lesen war eine Kunst, die ihn lockte. Geschichten wie diese spielten sich bei ihnen in Neustadt nicht ab. Glücklich, wer nach Berlin fahren durfte, glücklich schon, wer davon lesen konnte. Von Berlin lesen oder nach Berlin fahren, das war so für ihn von Anfang an dieselbe Sache, dasselbe Erlebnis.

     Später erzählte die Großmutter (wehmütig lächelnd, wie es Großmütterart ist), er, der Enkel, habe ihr damals versprochen: Schau, wenn du selbst einmal ganz alt bist und nicht mehr lesen kannst, dann lese ich dir vor … Er war sich nicht sicher, ob er das wirklich gesagt hatte. Nehmen Kinder den späteren Verfall der Großen um sie herum tatsächlich auf diese Weise vorweg? Der Tod ist für ein Kind etwas unsagbar Fremdes. Die Großmutter erinnerte sich oft in der Weise an Gesagtes, dass sie es entstellte, wenn sie es nicht überhaupt erst erfand. Immer lief es darauf hinaus, dass es mit der Familie wieder aufwärtsging, dass sie einer schöneren Zukunft entgegengingen und dass etwas Glanz auch auf sie fiel.

     Zu der Zeit, als die Großmutter schon sehr leidend war, saß er mit Pauli am Strand von Sylt und las ihm vor. Pauli war ungefähr fünfzehn Jahre älter als Manfred und hatte schon einiges veröffentlicht. Er ließ sich von ihm die ersten Seiten aus Blochs Prinzip Hoffnung vorlesen. Er war so zufrieden mit ihm, dass er ihm erklärte, er würde ihm das Amt eines besoldeten Vorlesers übertragen, wenn er einmal sehr reich sein sollte. All diese Erinnerungen hatten einen Zug ins Märchenhafte. Manfred war für zwei Tage von Berlin zu ihm nach Sylt gefahren. Ja, er war in Berlin angekommen, und rund um den Nollendorfplatz sah es noch beinahe so aus wie zu Kästners Zeit. Das Gefühl für die Atmosphäre verschiedener Abschnitte der Vergangenheit war in Manfred zeitweise stärker als das für die Eindrücke der jeweiligen Gegenwart. Jetzt war auch wieder so eine Zeit der Entrückung.

     Er verließ den Bus und ging auf das Haus mit der Jugendstilfassade zu, in dem Stefan seit einigen Jahren wohnte.

     Es war eines der Häuser, deren Inneres nicht hält, was das ziemlich prachtvolle Äußere verspricht. Stefans Wohnung war so um einen Hof herum angeordnet, dass man lange Wege zwischen den entferntesten Zimmern in Kauf nehmen musste. Der Einfachheit halber servierte er deshalb das Essen in einem neben der Küche gelegenen und nur halb eingerichteten Arbeitszimmer. Es gab gebackene Champignons und etwas Gemüse, mit Sauerrahm angerichtet.

     Stefan erzählte, er habe vor, sich im kommenden Jahr für einen Wettbewerb homosexueller Läufer in Vancouver anzumelden. Zu diesem Zweck habe er jetzt auch wieder mit dem Lauftraining begonnen. War das nicht bezeichnend für ihn und ebenso für die Atomisierung der Visionen und Bewegungen der beiden zurückliegenden Jahrzehnte? Vielleicht gab es ja auch bald schwule Bäcker, die schwule Vollwertbrötchen buken, und um sie zu genießen, muss man dann vielleicht nach Melbourne fliegen. Aber so etwas durfte man nicht sagen.

     Dann erfuhr er von ihm von einer Massenorgie in Unterhosen und Socken, die er Jack-off-Party nannte und die, wie er sagte, sein Weltbild vollständig revolutioniert habe. 

     Manfred hatte es einfach vergessen: Er war von ihm nicht nur zum Abendessen und nachherigen Vorlesen eingeladen, sondern er sollte ihn (nämlich seinen Körper) gründlich vermessen. Stefan wollte sich auf seiner kommenden Amerikareise in Portland neue Ledersachen schneidern lassen, und es war in Oregon so üblich, dass man seine Maße selbst mitbrachte. Vom Vorlesen war zunächst noch nicht die Rede.

     Sie mussten sich ins Zeug legen. Für Jacke und Hose waren vierzig Einzelmaße zu nehmen. Die Bestellung in Portland war ein Tausend-Dollar-Auftrag, und sie würden dort nicht einmal nachmessen. Also gingen sie alles zweimal durch, abweichende Werte wurden oft noch weitere Male überprüft, und über jede Unstimmigkeit debattierten sie intensiv. Einmal verwechselten sie die englischen Wörter für Hüfte und Taille und bemerkten den Fehler erst bei der allerletzten Kontrolle. Es dauerte zweieinhalb Stunden, und als sie um eins zum Nachtbus hasteten, waren sie beide erschöpft wie sonst nur nach einer ganzen langen Nacht in St. Georg.

     Wofür das alles? Wo lassen arbeiten, hieß es im alten Wien. Nur darauf kam es ihm an, sagen zu können: in Portland, bei Amerikas erstem Lederschneider. Auf der Fahrt in die Stadt deutete Stefan an, er werde es doch bei einer Jacke belassen. Wofür sie dann aber die Maße auch für die Hose genommen hätten? – Damit er (der Schneider in Oregon) die Maße schon einmal habe.

     Stefan stieg unterwegs aus. Manfred ließ ihn allein ins Village gehen. Er selbst war zu müde, vom Hauptbahnhof nahm er ein Taxi nach Hause. Er befühlte die Bögen in der Innentasche seiner Jacke: Der Text war noch da. Stefan hatte vielleicht nicht einmal mehr ans Vorlesen gedacht. Die Geheimnisse blieben also für ihn solche.

     Es war dumm von ihm, sich über den Verlauf des Abends zu ärgern. Natürlich war Stefan ein ästhetischer Snob, und das war ihm nicht einmal neu. Im Grunde wusste er seit längerem, dass Stefan die Verbindung zu ihm nur genau so lange aufrechterhalten würde, wie er sich noch in den Bars und Cafés zeigte. Für Stefan gab es das nämlich wirklich: den gesellschaftlichen Tod.

     Sie rollten über die Lombardsbrücke. Für die nächtliche Kulisse der Geschäftsstadt drüben hatte er kaum einen Blick übrig, er hatte sie zu oft gesehen, aus der Distanz wie aus der Nähe. Ihre illuminierte Silhouette schien über dem Wasser zu schweben wie das sommerliche Bühnenbild von Seefestspielen, in Bregenz oder Mörbisch zum Beispiel. Nur fehlte der Feuerwerkszauber, und die Proportionen stimmten auch nicht. Zu viel Bebauung für so wenig Wasser. Dass so viel Masse nicht einfach im Marschboden versank: Wunder der Technik.

     Es war das Problem der Masse. Im Besonderen seines Abends war das Allgemeine enthalten: Überproduktion, wohin der Blick fiel. Er musste zurücknehmen, was er neulich für sich formuliert hatte, das Gegenteil traf zu. Es herrschte jetzt in der Literatur eben kein Mangel an Fruchtbarkeit. Es gab viel zu viele, die schrieben, und zu wenige, die lasen. Unendlich viel schwieriger als einen Roman zu schreiben, war es, einen Verlag für ihn zu finden. Es war nur scheinbar paradox, dass der Querschnitt des Publizierten dabei so dürftig ausfiel. Es war wie mit einem Gartenbeet, in dem zu dicht ausgesät wurde. Die Sämlinge schossen lichthungrig in die Höhe, litten Mangel an Nahrung, Wasser und vor allem an Raum zur Entfaltung. Dass die Lektoren, diese modernen Zensoren, rigoros ausdünnten, half auch nicht mehr viel. Den verschonten Exemplaren, blass und vergeilt, wie sie waren, fehlte die Kraft, noch in die Breite zu gehen. Nun hatte zwar das eigene Samenkorn weitab vom fruchtbaren Mutterboden gekeimt, fern der dichten Konkurrenz, doch was aus Kulturpflanzen auf Ödland noch werden kann, man weiß es ja … In seinem Fall half auch die alte, formelhafte Wendung nicht weiter: XY liest aus unveröffentlichten Werken. Bei einem Manfred H. war das eben keine Empfehlung.

     Es war nur eine Spielerei, er hatte bisher nicht einmal einen Roman zustande gebracht. Es fiel weiter gar nicht ins Gewicht. Im Übrigen war es jetzt nicht das erste Mal, dass er mangelnder Resonanz begegnete. Gerade hatte er einen anderen Text aus München zurückbekommen. Unter den zweihundertsechsundzwanzig Teilnehmern jenes Wettbewerbs war ihm der einzige Preis also nicht zuerkannt worden. Er möge sich dadurch nicht entmutigen lassen und weiter produzieren, das schrieben sie ihm, wie vermutlich auch allen übrigen, den Gewinner ausgenommen, dessen Namen sie ihm nicht einmal mitteilten. Die Verlage verbanden mit ihrer Ablehnung – er hatte auch das schon erfahren – die Versicherung, ein Werturteil sei damit nicht verbunden; und das nahm er ihnen sogar ab, wenn er an die Programme ihrer Häuser dachte oder an die Sortimente der Buchsupermärkte oder an die Kassenschlager von heute, die alle nach drei bis fünf Jahren unwiderruflich im Orkus verschwanden. Der Ramsch triumphierte, doch musste er sehr bald neuem Schamass Platz machen.

     Und einer wie Bernhard Milbe heimst jetzt Preise und Stipendien ein, sieht seine rasch hingeworfenen Essays in großen und kleinen Blättern gedruckt. Es sind Versuche im ursprünglichen Sinn, schülerhafte Bekenntnisse, die nur auf einem einzigen unüberprüften Geistes- oder Gedankenblitz beruhen. Man sieht gewissermaßen beim Lesen etwas kurz aufleuchten, schwach genug, man zählt, um zu ermitteln, wie weit entfernt der Einschlag erfolgt ist: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Nichts, der Donner bleibt aus. Vielleicht nur Wetterleuchten? Aber der Blitz kommt zurück, mehrmals, wie herbeizitiert. Es ist immer der gleiche, man erkennt ihn daran, dass Milbe seinen einzigen Gedanken nie neu einkleidet. Alles Messbare kommt mir irgendwie minderwertig vor, sagt er am Anfang, und dann liest man vom Minderwert des Messbaren, vom Unsinn des Messens und auch von der messbaren Verdummung der Menschheit. Messen ist also dumm: blitzartige Erkenntnis, irgendwie einleuchtend. Aber wo bleibt die Analyse? Und: Kann Wetterleuchten aus Faulgas entstehen?

     Gewöhnlich produziert Milbe Kunstprosa von hochprozentiger Banalität. Seine Geschichten sind vorgeblich die hinter den Balken der Schlagzeilen. Tatsächlich sind seine Figuren selbst nur fette Überschriften, die er allerdings einer speziellen Diät unterworfen hat. Seine Methode besteht darin, die aufgeblasene Geschichte durch eine bis aufs Skelett abgemagerte Sprache auf ihren dürftigen Kern zu reduzieren. Das heißt dann, dickes Eigenlob, authentisch.

     Die Methode Milbe ist darin besonders erfolgreich, der Realität bei deren Widerspiegelung den letzten Rest an Komik auszutreiben. Das Authentische ist nie komisch, ist auch nie tragisch. Es ist banal, monoton, so kunstvoll wie eine millionenfach hergestellte preiswerte Dosensuppe. Dies klar zu erkennen und konsequent anzuwenden, ist nicht nur Milbes Kunst -  es ist eine, die heutzutage ankommt.

     Eine Schauspielerin vergaß auf dem Weg ins Theater ihr Vampirgebiss in einem Taxi. Durchsagen im Radio brachten es ihr nicht zurück. Eine Abendvorstellung fiel deshalb aus. Das Massenblatt brachte anderntags Fotos der Schauspielerin (mit der Hand vor dem Mund) und der inzwischen ermittelten Taxifahrerin. GEBT IHR DIE ZÄHNE ZURÜCK!

     In der gleichen Stadt betrat am Erscheinungstag als eine moderne Epiphanie eine junge Frau mit jenem Vampirgebiss die Schalterhalle einer Bank und verlangte mit gezogenem Revolver Geld vom Kassierer. Dieser hielt ihr (instinktiv, wie es später hieß) das Blatt mit der Schlagzeile und den Fotos zweier Frauen entgegen. Zumindest stellte es das Massenblatt einen Tag später so dar. Es titelte: SO SCHLUG ICH DEN GELDVAMPIR IN DIE FLUCHT und deutete ein intimes Verhältnis zwischen der Räuberin und der Taxifahrerin an. Dazu ein unscharfes, unsympathisch berührendes Foto des Geldvampirs, von der Überwachungskamera aufgenommen. Die Wahrheit wird man trotzdem nie erfahren.

     Bei Milbe beginnt die Geschichte damit, dass die Räuberin bis drei zählt, ehe sie den Revolver zieht; sehr berechnend von ihr, um nicht zu sagen kaltschnäuzig. Und wir täten es vielleicht auch so. Der Kassierer lacht erst, dann vergeht es ihm wie uns, er wird noch ärgerlich und hat dann ein bisschen Angst, nicht zu viel. Dann Rückblende: Sie hat das Gebiss am Vortag per Zufall in einer Taxe gefunden. Nun hat sie diesen Mittwoch ohnehin eine Bank überfallen wollen, der Fund passt ihr in den Kram. Als sie das Gebiss an sich nimmt, empfindet sie – nichts. Warum sollte sie etwas empfinden? Im Übrigen liest sie das Massenblatt nie. Sie bricht den Überfall ab, da sie nicht auch noch in die Zeitung kommen will. Das ist so verständlich wie das Ganze von Milbe vollkommen reizlos erzählt. Aber preiswürdig.

     Stefan hatte sich bei ihrem Gespräch mit dem Zeitungsmann nur den Anschein von Interesse gegeben. Unendlich viel wichtiger war es ihm, seinen Körper vermessen zu lassen. Dabei konnte es ihm passieren, dass er auch geistig vermessen wurde. Nun hatte bereits Maximin an ihm, Manfred, eine Neigung zum Abrechnen festgestellt. War die Grundeinstellung zu seinen Gestalten vielleicht sadistisch? Übertrug er also die Mechanismen von Village und Bronx auf die Literatur? Führte er seine Figuren vor, um ihnen die Instrumente zu zeigen? Von einem noch jungen Stammgast in den Bars war ihm berichtet worden, er fessele seine Partner, in denen er nur seine Opfer sehen wollte, und nähere sich ihnen dann drohend mit einer Rasierklinge, um ihnen dann – nichts anzutun, jedenfalls sie nicht physisch zu verletzen. Er hat sich an meiner Angst geweidet, sagte ihm jener Student, der auch noch religiös veranlagt war. Er war ahnungslos, wie er behauptete, mit ihm gegangen und hatte den Eindruck noch nicht verwunden. Wollte Stefan sich, instinktiv womöglich, nicht fesseln lassen?

     Er verließ das Taxi an der Ecke seiner Straße, wie er es meistens tat, und ging die letzten Meter zu Fuß. Eimsbüttel war jetzt eine stille, gotisch steinerne Stadt, und sein Haus, seine Wohnung waren ebenfalls still, wie er sie wachend seit langem nicht mehr erlebt hatte. Er sollte öfter um halb zwei in der Nacht mit einem ungelesenen eigenen Text nach Hause kommen. Wie schön war die Nachtstille, wie großartig die Einsamkeit des Autors, den niemand liest, dem niemand zuhört.

     Die stille, leere Wohnung war wie ein aufnahmebereites Gefäß. Er setzte sich in sein Wohnzimmer und las

 

 

Die Geheimnisse von Pfullendorf

 

 

laut vor:

 

Es war ein kühler Septembertag, windig und regnerisch. Um fünf Uhr nachmittags sagte sich Augustin, Pfullendorf werde hoffentlich bald am Horizont auftauchen. Er war durchnässt und durchfroren. Er befühlte seine Halswirbel: Die Wirbelsäule schmerzte unter der Last des Rucksacks. Eine öde Hochebene war das! Und anödend diese Straße neben dem Zaun, an dem er seit zwanzig Minuten entlangging. Pfullendorf schien eine ziemlich große Garnison zu sein. Ein paar junge Soldaten vertrieben sich die Zeit damit, einen Lastwagen auf Touren zu bringen und durchs Depot zu jagen. Dann stellten sie ihn in der Garage ab. Mit viel Krach schloss sich das Tor. Die jungen Männer verschwanden in einer Kaserne. Jetzt lag das weite Gelände wieder ganz still da, wie tot.

     Die Stadt lag dann unten in einem Loch, ein schwäbisches Nest mit viel altem Fachwerk. Die alten, tiefen Klötze standen mit dem Giebel zur Straße und ließen seitlich einen kleinen Raum zwischen den Häusern frei, einen finsteren Spalt, in den die Sonne nie hineinschien und in dem die ewige, kalte Feuchtigkeit nie austrocknete. Die Fassaden unter den steilen Dächern und hohen Giebeln wirkten stumpf. Vorsicht, Dachlawinen! erschreckten einen auch im Sommer gewisse fürsorgliche Blechtafeln. In jedem zweiten oder dritten Haus war eine Kneipe oder ein Gasthof. Die Stadt lebte zur Hauptsache von der Garnison, aber die Soldaten zeigten wenig Lust, die Kneipen und die Stadt am Leben zu halten: es war überall ziemlich leer.

     Augustin überquerte die stillgelegte Eisenbahnstrecke und ging auf gut Glück in einen Gasthof hinein. Im Schankraum war es leer – bis auf den mageren jungen Hering hinter dem Tresen: Das war der Wirt. Nein, er vermiete keine Zimmer, aber im ersten Stock sei eine Pension, da solle er fragen. Die Treppe führte gleich vom Gastraum hinauf. Oben öffnete eine tiefsinnig lächelnde Fünfzigerin die Etagentür und zeigte ihm lächelnd ein Zimmer am Ende des langen, dunklen Flures. Dabei sagte sie ihm, sie und ihr Mann seien eigentlich die Wirtsleute hier im Hause, aber sie hätten sich teilweise zur Ruhe gesetzt und den Gastbetrieb unten verpachtet. Er nahm das Zimmer sofort, schon um nicht länger angelächelt zu werden. Das Zimmer entsprach seinen Erwartungen: Es war ebenso dunkel wie der Flur, mit vierzig Jahre alten Möbeln vollgestellt und durch den ganz nahen Dachrücken des Nachbarhauses zusätzlich verdüstert. Wie die Biberschwänze dort draußen vor Feuchtigkeit glänzten … Augustin wurde es klamm zumute, er zog die Vorhänge zu und knipste die spärliche Deckenbirne an. Eine freistehende Duschkabine rundete das Bild provinzieller Behaglichkeit ab. Er beschloss, sofort heiß zu duschen und auf diese Weise der inneren Verkühlung zu begegnen. Dann legte er sich eine halbe Stunde ins Bett. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis er seine Kuhle am Rande des großen Doppelbetts erwärmt hatte. (Überhaupt war es kühl im Zimmer und roch muffig.) Die folgende Viertelstunde genoss er wirklich.

     Um sieben ging er zum Essen hinunter. Er war nicht hungrig. Er aß bloß vorsorglich und weil er es auf Reisen immer um diese Zeit tat. Der Appetit würde sonst vielleicht in der Nacht kommen und ihn nicht weiterschlafen lassen. Der Wirt saß jetzt mit Gästen an einem Tisch zusammen, einem freudlosen Paar in den Vierzigern, dürftig gekleidete Leute, hager und faltig. Sie hatten sich zu ihrer Zerstreuung auf ein Würfelspiel mit dem Wirt eingelassen. Offenbar waren sie dabei zu verlieren. Dem jungen Wirt stand die Spielfreude ins Gesicht geschrieben. Kurz und heftig schüttelte er den Becher, energisch ließ er die Würfel über die Tischplatte rollen. Sein Geschäft belebte sich, es ging vorwärts mit dem Umsatz, er hatte alles unter Kontrolle. Mann und Frau wechselten sich beim Würfeln ab, sie spielten gemeinsam gegen den Wirt, lustlos, wie es schien. Sie rauchten ununterbrochen. Das Nikotin half ihnen, dem drohenden Spielverlust ins Auge zu sehen, so wie das Spiel das triste Lokal erträglicher machte. Und hierher gekommen waren sie vermutlich nur, um den Verdruss auf den Ämtern zu vergessen, spekulierte Augustin weiter. Ihn zu bedienen, unterbrach der Wirt das Spiel, und als er das Bier gezapft hatte und für den Wurstsalat in die Küche gegangen war, schlug die Frau dem Mann vor, aufzuhören und ins Dorf heimzufahren. Für die Taxe werde das Wechselgeld hoffentlich noch reichen. Während er aß, erfolgte die Abrechnung. So und so viele Biere und Schnäpse, eine Schachtel Zigaretten, die verlorenen Spielrunden abzüglich der gewonnenen … Der Wirt nahm den Schein, um ihn zu wechseln. Freude wallte sichtlich in ihm auf. Um sie zu verbergen, gab er sich diensteifrig, schmeichlerisch. Aber es war nur wie die Haut auf überkochender Milch. Die Frau lachte, als das Wechselgeld auf dem Tisch lag. Der Mann räusperte sich trocken, wie es starke Raucher tun. Dem Wirt war es sogar ein Vergnügen, die Taxe herbeizutelefonieren. Der Fahrer rief zur Tür herein, der Wagen sei da. Sie gingen hinaus, der Mann humpelte. Der Wurstsalat war nicht schlecht gewesen, aber in dieser Umgebung hatte er Augustin nicht geschmeckt. Er spülte den Rest Bier hinunter und ließ den Wirt wieder allein in der Gaststube.

     Sein Zimmer war durch eine vergilbte, früher weiß lackierte Doppeltür mit dem folgenden verbunden. Er nahm ohne weiteres an, dass die Tür verschlossen sei. Wie mochte es dahinter aussehen? Er bückte sich, um durchs Schlüsselloch zu schauen. Aber es war bereits zu dunkel, um mehr als nur einige graue, unscharfe Konturen gleich hinter der Tür wahrzunehmen. Er fror schon wieder und beschloss, obwohl es noch nicht acht Uhr war, zu Bett zu gehen. Der Roman lag auf dem Nachttisch bereit. Wie an jedem Abend auf seinen Reisen verirrte er sich in den unendlichen Perioden, berauschte sich an der Fülle raffinierter Gleichnisse, die wie ein feines Netz über die unfassbare Wirklichkeit ausgesponnen waren, und ließ den Band nach zwei Seiten auf die Bettdecke sinken, ermüdet und zugleich euphorisiert wie nach dem Genuss eines schweren Südweines. Er behielt ihn noch in der Hand, sein Blick verlor sich, wie vorher sein Geist in den überlangen Schachtelsätzen, in der Gestaltung des Einbandes, einer gleichsam das ganze Buch umhüllenden dichten Hecke aus stilisiertem rotblühendem Weißdorn, vegetabilisch wuchernd wie das wirkliche Leben, das faszinierende und monotone Leben draußen. In zwei, drei Minuten würde er den Band weglegen und einschlafen.

     Wirkliche Stimmen drangen vom Flur herein, zwei männliche fragende und eine weibliche, die er schon kannte. Die Pensionswirtin führte zwei neue Gäste aufs Zimmer. Er hörte, wie der anstoßende Raum aufgeschlossen wurde, Schritte in ihm auf und ab gingen. Die Inhaberin entfernte sich über den Flur. Drüben wurde noch nicht gesprochen. Wieder nur deutlich hörbare Schritte – und dann sah Augustin, wie die Klinke der Verbindungstür versuchsweise von der anderen Seite betätigt wurde. Die Tür ließ sich nicht öffnen, die Klinke schnappte zurück. Nach einigen nur gemurmelten Sätzen hörte er deutlich eine tiefe, vermutlich noch junge Stimme sagen, heute Morgen habe er den Kaffee nicht vertragen, sein Magen reagiere jetzt wieder sehr empfindlich. – „Oh, wenn ich gewusst hätte, dass du magenkrank bist, hätte ich dir Kaffee aus Holland mitgebracht.“ Der Sprecher schien von der Güte seines Kaffees überzeugt. Er sprach nachdrücklich, mit dem harten und optimistischen Tonfall der Niederländer. Er war, dem Klang der Stimme nach zu urteilen, nicht mehr ganz so jung wie sein Reisebegleiter, und seine Stimmlage war etwas höher.

     Sie gingen dann bald fort. Jetzt werden sie essen gegangen sein, dachte Augustin. Das kann dauern, wenn sie zurückkommen, schlafe ich sicher schon. Und was geht es mich an, ob der eine magenkrank ist und der andere einen guten Kaffee kennt. Er legte das Buch auf den Nachttisch zurück und löschte das Licht.

     Er war schläfrig und wusste, dass er in wenigen Minuten in tiefem Schlaf liegen würde. Wie gewöhnlich genoss er den Akt des Einschlafens und versuchte, ihn zu verlängern, dieses angenehme Entgleiten aus der Wirklichkeit des Tages. Wie eine Schlittenfahrt, dachte er, die man als Kind gemacht hat. Wenn man beinahe unten angekommen ist, bedauert man es und bremst ein wenig. Ich war noch so klein, Tante Cilly ist mit mir den Hügel zum Fluss hinuntergerodelt. Wie lange ist sie schon tot? Ungefähr dreißig Jahre … Im Roman hatte er vorhin gelesen, die Toten existierten allein noch in den Köpfen der Überlebenden – und dort leben sie dann hartnäckig viele Jahre weiter, bei besserer Gesundheit als vor ihrem Tod. Eigentlich komisch … Er wurde sich bewusst, wieder in seinem alten Bett zu liegen, dem Eichenbett, das sie in dem Jahr gekauft hatten, als er auf die Oberschule wechselte. Es stand jetzt bei den Eltern im Dachgeschoss, genau unter dem schrägen Fenster. Er sah die Sterne vom Bett aus und mitten unter ihnen Tante Cillys Kopf, wie der Vollmond in einer Mainacht. Das Gesicht der Tante sah ganz wie zu Lebzeiten aus, dennoch fürchtete er sich. Der Totenkopf – denn es war doch wohl einer – sagte: Ich war die erste, die dir weggestorben ist, die erste in einer langen Reihe. Sie haben dich nicht zur Beerdigung mitgenommen, weil du angeblich noch zu klein dafür warst. Schau, wie viele wir geworden sind, wir werden immer mehr. Damit geht es wie damals beim Schlittenfahren, es fängt langsam an, und dann geht es schneller und immer schneller … Die Sterne verwandelten sich jetzt in die Köpfe Verstorbener, lauter Menschen, die er einmal gekannt hatte. Ganz unten sein Volksschullehrer, der alte Nazi, sein Gesicht zuckte wie früher. Weiter oben die Kollegin, die sich vor zwei Jahren umgebracht hatte: mild, stumm, leidend. Dazwischen alte Leute aus der Nachbarschaft, dann ein Junge, der ihn ausgelacht hatte, weil er das Wort Peugeot nicht richtig aussprechen konnte. Er war dann in Spanien beim Baden ertrunken … Träumend empfand er wachsende Beklemmung. Die Toten schienen sich am Himmel nur aus einem Grund versammelt zu haben: um dort auf ihn zu warten. Und lebte er nur deshalb noch, um sich ihnen eines Tages anzuschließen? Die Toten waren seine Feinde. Er spürte den Sog, der von ihnen ausging. Der alte Lehrer sagte: Zähle uns, zähle deine Toten. Wie viele sind wir, sind wir in der Überzahl oder sind es deine noch lebenden Bekannten, die Freunde, die Feinde und auch die, die dir gleichgültig sind? Ich stelle dir jetzt diese Aufgabe, zähle gut … Dem Träumenden wurde bewusst, dass dieses Zahlenverhältnis sich mit jedem weiteren Jahr zuungunsten der Lebenden verschieben musste. Er begann zu zählen, Zahlen in seinem träumenden Bewusstsein zu formulieren: Sechsundzwanzig, dreizehn, siebenundzwanzig, zweiunddreißig, elf, siebenunddreißig … Und siebenunddreißig Jahre war er ja selbst, eine Tatsache, die panische Angst in ihm auslöste.

     „ … Fünfundvierzig. Fünfzig.“

     „Danke. Stimmt genau.“

     Augustin war wach. Stimmen im Nachbarzimmer hatten ihn aus seinem Traum geholt. Es war eben zwölf Uhr vorbei. Langsam erholte er sich von dem Schrecken, der sich wie ein unterirdischer See in ihm ausgebreitet hatte. Sie sprachen jetzt drüben nicht mehr.

     Aber es war nicht wirklich still. War einer von ihnen gestolpert? Vielleicht mit dem Fuß gegen ein Möbelstück gestoßen? Warum keuchte man so? Jetzt lachten beide drüben, ohne dass vorher ein Wort gefallen war. Sollte er etwa Ohrenzeuge einer Paarung sein? Kaum glaublich, die Abgesandten Sodoms waren schon bis Pfullendorf vorgedrungen. Wenn das Mayer-Vorfelder wüsste …

          Er kannte die Geräusche. Der dazu gehörende Film war oft genug vor ihm abgespult worden. Bei Bildausfall konnte er sich das Fehlende anhand der Geräusche in seiner Vorstellung ergänzen. Jedoch nahm sein Vergnügen, entstanden aus der überraschenden Situation, unterhalten von seiner Neugier am Besonderen, immer mehr ab, je länger der Akt dauerte. Ihm schien allmählich, sie lachten drüben auch über ihn. Tucholskys Verse von den Hotelgästen in ihren monogamen Betten kamen ihm in den Sinn. Er versuchte, mit Hilfe der Literatur Abstand zu gewinnen, seine unbeteiligte Überlegenheit zurückzugewinnen. Erotische Zitate schossen ihm durchs Hirn. Von wem war noch, ganz schön keck, „des Hinterfleisches kühle Doppelblust“? Ja, doch, von Thomas Mann.

     Ich kann doch nicht einfach zu ihnen hinübergehen … Außerdem haben sie sicher alles verriegelt. Er knipste das Licht an, verließ das Bett und durchquerte leise das kalte, muffige Zimmer. Zum zweiten Mal hier versuchte er, durchs Schlüsselloch zu spähen. Niemand sieht ja, wie ich mich bücke und damit erniedrige … Natürlich hatten sie das Schlüsselloch verhängt: Das Weiße vor ihm wird ein Handtuch sein.

     Er schlüpfte wieder unter die eigene warme Decke und tröstete sich damit, dass der Akt an sich nicht in jedem Fall ästhetisch wirke. Es war schon viele Jahre her, da hatte er an einem Sonntagnachmittag auf einer Lichtung zwei Männer beobachtet und zum ersten Mal gesehen, wie ein Mann in einen anderen eindrang. Er hatte es komisch gefunden und nicht das Bedürfnis verspürt, anstelle eines von beiden zu sein. Aber half ihm diese Erinnerung jetzt, wieder einzuschlafen? Nein, um seinen Frieden zu finden, bedurfte er harmonischer Bilder. Pfullendorf hatte sie ihm bisher weiß Gott nicht geboten …

     Vorige Woche in Ochsenhausen war selbst das Wetter besser gewesen. Unter einem rein blauen Himmel schlenderte er durch die Höfe des barocken Klosters. Kein Mensch begegnete ihm auf den weißen Kieswegen. Die Mönche waren lange fort, und aus der Mädchenschule drang kein Laut. Dann war er in der Kirche. Er saß im Mittelschiff und konnte sich nicht satt sehen an den vielen barock ummantelten und umspielten romanischen Pfeilern. Es war wie ein ganzer Wald blühender Obstbäume, ein lautlose Fröhlichkeit. Nachher saß er in den Wiesen unterhalb vom Kloster, heiter, seinen Roman in der Hand, ab und zu einen Satz lesend. Er hätte später nicht sagen können, worum es im Text ging. Der Inhalt sank sofort in die tieferen Schichten seines Bewusstseins und verband sich dort mit anderen Eindrücken: der weißgelb prunkenden Klosterfassade, dem farbigen Dämmerlicht in der Kirche und dem Geruch von frisch gemähtem Gras …

     Er wohnte im Adler. Beim Frühstück grüßte ihn dort ein kurz Geschorener mit den Augen – kein Mönch, er war einer aus seiner Zunft, der Reiseführer einer Gruppe gut situierter Damen. Das Zimmer ging auf die viel befahrene Bundesstraße hinaus. Abends stand er lange am Fenster, solange es noch hell war, und beobachtete den Verkehr, zumal die vielen Motorradfahrer. Für sie war die Strecke vom Allgäu bis auf die Alb sozusagen nur eine einzige lang gezogene Kurve, in die sie sich mit Genuss hineinlegten. Seine Augen folgten den lang gestreckten, abgewinkelten Gestalten, wie sie dahinflogen, diese modernen Zentauren. Die roten Tanks und Verkleidungen ihrer Maschinen kontrastierten mit dem düster glänzenden Schwarz ihrer Monturen und betonten es noch. Augustin liebte das Drohende ihrer Erscheinung, die formalisierte Aggression, wie er es bei sich nannte. Das gewaltsame Potential war ganz in Ästhetik verwandelt. Es war nur noch ein Bild, das die allgemeinen auf Selbstzerstörung gerichteten Sehnsüchte auf sich zog wie ein Brennpunkt und dann in sich aufhob. Die Zentauren bedrohten in Wirklichkeit niemand, es sei denn sich selbst. In der Dämmerung wurden sie seltener, mit der einbrechenden Nacht verschwanden sie ganz. Augustin ging dann beruhigt schlafen.

     Er schlief endlich auch in Pfullendorf wieder ein. Am anderen Morgen erwachte er zur gewohnten Zeit. Nebenan war es still. Er frühstückte allein und fragte sich, ob er die Akteure des nächtlichen Hörspiels noch sehen würde. Absichtlich zog er die Mahlzeit in die Länge, blätterte in der bereitliegenden Lokalzeitung und schwatzte beim Zahlen noch ein wenig mit der Wirtin. Kein anderer Gast zeigte sich. Er war schon beinahe mit Packen fertig, als er erste dumpfe Geräusche wie ein verschlafenes Gähnen oder das Stöhnen der Matratze beim Aufsitzen des Schläfers von nebenan vernahm. Die Zimmertür wurde leise geöffnet und wieder geschlossen. Schritte auf dem Flur. Einer von ihnen wird zur Toilette gegangen sein. Augustin warf den Rucksack über, und als er die Spülung rauschen hörte, machte er sich zum Abmarsch bereit. Sie begegneten einander da, wo der Flur sich verbreiterte. Es muss der Magenkranke sein, war Augustins erster Gedanke. Und der zweite: noch jung und schon verbraucht. Er beeilte sich, den Schlüssel abzugeben und fortzukommen. Auf der Straße stellte er fest, dass es heute kühl und trocken war. Seine nächtliche Erregung wich einer missgelaunten Nüchternheit. Dafür zwei Stunden Schlaf versäumt zu haben!

     Er verließ die Stadt auf dem kürzesten Weg und schlug die Richtung nach Meßkirch ein. Auf einem langen, geraden Waldweg sah er schon von weitem ein parkendes Auto. Es nahm fast den gesamten Querschnitt ein. Ich werde darum herumgehen müssen, schimpfte Augustin still vor sich hin. Hätte er es nicht weniger störend abstellen können, der Waldarbeiter, dem es gehören wird. Näher gekommen erkannte er jedoch auf dem Beifahrersitz einen männlichen Rückenakt, sichtbar durch die Windschutzscheibe von den Schulterblättern bis zu den behaarten Backen hinab. Vor ihm, undeutlich da unten auf der zurückgeklappten Lehne: die Partnerin in diesem Stummfilm – oder der Partner. Eine bocksfüßige Gegend. Augustin spürte die Versuchung, ins Innere des Wagens hineinzusehen, und widerstand ihr.

     Im nächsten Dorf verfolgten ihn zwei spielende junge Hunde, und als er nicht mitspielen wollte, versuchten sie, ihn anzufallen. Er hielt sie sich mit Drohgebärden vom Leib und flüchtete schließlich in die nahe Kirche. Augustin lachte, er lachte am heiligen Ort.

21. Der Aufbruch

Manfred kam keine Minute zu früh, der Zug aus Frankfurt lief gerade in die Halle ein. Er war pünktlich und glitt jetzt ungewohnt ruhig heran, beinahe wie ein Schiff, das den Pier fast erreicht hat. So sah er also aus, der neue, viel schnellere Zug, der Hamburg seit kurzem mit den süddeutschen Großstädten verband. Auch Würzburg zum Beispiel war viel nähergerückt. Manfred war in den letzten Jahren oft an den Baustellen der neuen Strecke vorbeigekommen, wenn er auf dem Weg nach Franken war, und er hatte sich von ihrer Fertigstellung einiges versprochen. Er würde nicht nur Zeit sparen, er könnte sich dann auch leichter als bisher zu einem kurzen Besuch in Neustadt entschließen. Das hatte sich inzwischen erübrigt.

     Wenn der Zug auch für ihn persönlich keinen Fortschritt mehr bedeutete, so war es doch zweifellos der allgemeine, der hier jetzt fast unmerklich am Bahnsteig zum Stillstand kam und sozusagen vor Anker ging. Es gab ihn also noch, den Fortschritt nämlich. Manfred fiel eine früher viel gebrauchte Redensart ein, mit der damals etwas ganz und gar Antiquiertes zurückgewiesen wurde: Mein Gott, wo sind wir denn – schließlich leben wir mitten im zwanzigsten Jahrhundert! – Seit Jahrzehnten hatte er das niemand mehr sagen hören. Vom Vorzug der Moderne überzeugt zu sein, gehörte noch in seiner Jugend einfach zur intellektuellen Grundausstattung. Man war den Katastrophen der ersten Jahrhunderthälfte zeitlich viel näher als heute, und dennoch sah man sich im besten aller Jahrhunderte angesiedelt. Das Mittelalter war bekanntlich finster, die Barockzeit verzopft und eine Tyrannenzeit und das neunzehnte Jahrhundert spießig, vermufft. Aber nun in den Sechzigern – o Jahrhundert, o Wissenschaft – war es eine Lust zu leben. Das hatte sich verloren, man wusste nicht, wie und wann genau. Dabei gingen die Entdeckungen und Erfindungen weiter, und das Tempo ihrer Entwicklung nahm sogar noch zu. Nur der Optimismus, das gute Gewissen waren vorerst dahin. Geduld, man wird auch noch die Verfahren finden, wie man sie synthetisch erzeugen kann.

     Der neue Zug sah ein wenig wie ein Schiff von früher aus. Gletscherweiß und mit roter Bauchbinde schien es ein später Nachfahre des Südamerikafrachters zu sein, auf dem sie neulich ihr Fest gefeiert hatten. Die Gedankenverbindung war nicht angenehm. Er dachte jetzt weder gern an den Kongress zurück noch verspürte er mehr Lust aufs Verreisen. Dabei hatte er seit gestern Urlaub. Max wird ihn vielleicht ein wenig depressiv finden, es war nicht zu ändern. Er ging die letzten Stufen der Treppe zum Bahnsteig hinunter. Jetzt öffneten sich die Wagentüren, und wie er in den neuen Zug hineinsah, war es das Innere eines Flugzeuges. Mochte dieses technische Fabelwesen allezeit so glatt dahinrollen wie eben. Wo war nun der Kreisrat?

     Es dauerte ziemlich lange, bis sich seine vertraute Gestalt aus dem Gewimmel herausschälte. Dann jedoch fand er ihn allzu vertraut, es war der alte Kreisrat, und er stach sonderbar vom Blitzblanken des neuen Zuges ab.

      Max lobte den neuen Express. Es gehe wunderbar schnell, es sei bis Hamburg nur noch ein größerer Katzensprung, er könne nun viel öfter kommen. Er lachte wie über einen guten Witz. Das Polster zwar habe er zuerst als zu hart empfunden, doch müsse er zugeben, die sonst üblichen Rückenschmerzen hätten sich heute im Verlauf der Reise nicht eingestellt. Er sah zufrieden aus. Er hatte Kritik geübt, hatte abgewogen und für gut befunden. Er sah überaus harmlos aus, er würde sich diesmal hoffentlich nicht wieder selbst demaskieren. Zu viel Material hatte sich schon angesammelt. Es auszubeuten, war nicht loyal, es war treulos.

     Dennoch beobachtete er ihn weiter scharf und hörte genau hin, wenn er redete. Nur in seinen eigenen Mitteilungen fand Manfred sich ihm gegenüber gehemmt. Das war neu, diese Furcht, etwas preiszugeben, wenn er offen über seine Verhältnisse sprach. Es konnte daran liegen, dass jetzt so vieles unsicher war. Nur wenn er schwieg, legte er sich nicht fest.

     „Was ist nun mit Theo? Ist er fort?“ (Sie saßen schon in der U-Bahn.)

     „Nein, nein … Er hat einen längeren Urlaub.“ Es hätte überzeugender klingen müssen.

     „Und du fährst auch bald weg. Wohin eigentlich?“

     „Ja, wohin? Vielleicht in die Südalpen, ich schwanke noch.“

     Auf die Südalpen war er aus purer Verlegenheit verfallen, doch erwies es sich als vorteilhaft. Max begann von seiner vorjährigen Reise ins Tessin zu erzählen. Währenddessen kam Manfred mit sich überein, ihm den Verkauf des Verlages und die sich daraus ergebenden Weiterungen zunächst zu verschweigen.

     Max, der gewöhnlich an drei von vier Wochenenden verreist war, legte ihm seine eigenen weiteren Pläne dar. Von Aufenthalten in Prag und Madrid war die Rede. Und er müsse endlich auch die USA einmal kennenlernen. Einerseits widerstrebe es ihm zwar noch immer hinüberzufliegen, andererseits komme man auf Dauer doch nicht darum herum.

     Er lebte also dahin wie vor einem halben Jahr, wie vor einem Jahr oder noch länger zurück. Svens Name war noch nicht gefallen. War er von der Agenda abgesetzt? Agenda war jetzt das kommende Wort, Max gebrauchte es häufig.

     Er wechselte das Thema. „Und was macht die Literatur? Kommst du voran?“

     „Nur langsam. Die kleine Form ist ausgeschöpft. Etwas Größeres müsste begonnen werden, ein größerer Zusammenhang.“  Das war nun doch zu viel gesagt.

     Sie gingen die Osterstraße entlang und waren dann, wie so oft schon, bei ihm zu Hause angekommen. Max bezog wieder sein altbekanntes Zimmer. Theos Hinterlassenschaft war weggeräumt worden.

     Dann kam Max mit einem Geschenk für ihn aus Theos bisherigem Zimmer heraus, dem Pullover, er war endlich fertig gestrickt. Manfred streifte ihn über, bewunderte den Sitz, die Wirkung vor dem Spiegel der Flurgarderobe. Er saß ohne Fehler. Das Hellgrau ließ einen alterslos erscheinen, und das Muster aus Ranken passte gut zu ihm, ein Muster wie das von Stricken aus Hanf oder wie verdickte Adern an einem Torso. Da war er von ihm verpackt und zur gleichen Zeit interpretiert worden.

     „Danke dir, ein wirklich schönes Stück. Ich werde es gebrauchen können in den kommenden Zeiten. Der Herbst steht uns ja bevor.“

     Max lächelte, ohne etwas zu sagen. Er gab sich bescheiden, er war es jetzt wirklich, und er war zufrieden, dass die Arbeit geglückt war. Ein Jahr lang hatte er sich damit abgemüht. Manfred unterdrückte eine Regung des Unmutes und verbannte sie tief ins eigene Innere, wo auch das schlechte Gewissen seinen Sitz hatte. Der Pullover bedeutet ihm viel mehr als mir, ich kann ihn nur unzureichend würdigen. Meine Freude über den Pullover, meine Zuneigung zu Max, all das ist eben unzureichend. Stricken, weben, malen, Brot backen, es kommt mir bei ihm vor wie kleine Fluchten – vor was? Vielleicht vor ernsthafter Arbeit an sich selbst? Dabei sollte es mir genügen, dass er sich wohlfühlt. Manfred stellte wieder einmal fest, er selbst sei unfähig zur Freundschaft, unfähig auch nur zum Wohlwollen, zur Dankbarkeit. Er vertrug es schlecht, wenn auf Dankbarkeit gerechnet, wenn auf sie auch nur gehofft wurde. Schon an den Geburtstagen seiner Kindheit hatte er sich, wenn er beschenkt wurde, verstellen müssen, hatte freudige Überraschung vortäuschen müssen. Was für ein Charakter, wer konnte es mit ihm aushalten? Einer wie Max eben. Eine schöne Wahlverwandtschaft.

     Er zog den Pullover aus, legte ihn sorgfältig zusammen und verstaute ihn zuoberst auf dem Stapel der übrigen in seinem Schrank.

     Max wollte an diesem Abend im Schanzenviertel essen. Das hatten sie dort noch nie gemeinsam getan. Erst später sollte Manfred begreifen, dass es dem Freund um eine Wiederannäherung an das Milieu ging, dem er seinen politischen Einfluss zu verdanken glaubte. Er mied diesmal die Innenstadt mitsamt ihren Passagen, und auch die Auslagen jener Herrenausstatter, deren Sortiment im höheren Preissegment angesiedelt war, interessierten ihn zurzeit offenbar nicht.

     Also galt es, den Sternschanzen-Bahnhof möglichst nicht zu berühren. In der Halle dort war aus Bettelei Wegelagerei geworden. Verwahrloste Jugendliche erhoben Tribut von den Passanten, und man durfte ihn nur gesenkten Hauptes, eine Entschuldigung murmelnd, verweigern; anderenfalls erfuhr man, wie resolut ein rauschgiftsüchtiger Siebzehnjähriger sein kann. Manfred fand den Ausweg: Sie fuhren von Eimsbüttel mit dem Bus zur Sternschanze, und vom Bahnhofsvorplatz führte er Max auf kürzestem Weg in die kleine Seitenstraße, wo sie einen Griechen fanden, wie es ihn überall in der Stadt gab. Auf ihrem Weg dorthin bekam Max das Schulterblatt, diese Magistrale eines ambitionierten Elends, nicht zu sehen.

     Infolgedessen fühlte er sich um etwas gebracht, er wusste wohl selbst nicht genau, um was eigentlich. Noch bevor etwas serviert wurde, äußerte er in jenem bei ihm sporadisch auftretenden Ton rebellischer Kraftmeierei, die Zustände daheim kotzten ihn nur noch an. „Wenn ich etwas nicht ertragen kann, dann ist es die Korruption. Da baut unser Landrat – natürlich von der SPD – direkt am Landschaftsschutzgebiet, und dafür wird extra der Bebauungsplan gekippt. Das bebaubare Gebiet wird einfach für unseren Oberbonzen arrondiert, und schon kann es losgehen. Das ist ein Skandal. In so einem Fall scheint auch keine Aufsichtsbehörde mehr zu existieren. Und das segnen sie auch noch ab, meine Fraktionskollegen …“ Er stärkte sich am Wein, der inzwischen vor ihm stand.

     „Du und der Rest der Fraktion, euer Verhältnis ist nicht mehr so gut?“

     „Zerrüttet. Man erwartet von mir, dass ich mich rechtfertige. Sie spielen Heilige Inquisition. Nächsten Dienstag bin ich geladen. Aber den Scheiterhaufen besteige ich nicht, ich nicht! Und wovon hätte ich denn leben sollen, ich war doch arbeitslos … Am liebsten würde ich aus der Fraktion austreten.“

     „Würde das nicht auch die Trennung von der Partei bedeuten?“

     „Eben. Ich will deshalb auch abwarten, ob ich nicht doch für den Landtag nominiert werde.“

     Manfred schwieg, und Max fuhr fort: „Ich könnte es viel leichter ertragen, wenn die private Situation angenehmer wäre.“

     „Sven?“

     „Ja, er hat sich teilweise zurückgezogen. Zwar kommt er immer noch zu mir, wir unternehmen dies und das, ich habe es dir ja geschrieben, aber im Kern funktioniert es nicht mehr. Seit drei Wochen hat er nicht mehr mit mir geschlafen.“

     Manfred erfasste zum ersten Mal, dass derart peinliche Bekenntnisse für den Kreisrat notwendig waren. Wahrscheinlich konnte er sie nur fern von Frankfurt ablegen, zum Beispiel bei ihm. Es muss also doch entlastend wirken, wenn einer zuhört. Es kommt nicht einmal auf dessen Einstellung zu der Sache an. Aber er, Manfred, hatte ihm nichts mitzuteilen.

     „Vielleicht, ja sehr wahrscheinlich ist es seine Reaktion auf die Geschichte mit dem Hund. Ich musste es ihm doch sagen, ich konnte nicht länger damit warten, und ich glaube, es kam noch ganz harmlos heraus. Also wir kamen in Mannheim durch einen Park, tagsüber, und da war ein Rottweiler, der wollte zuschnappen. Konnte er aber nicht, er wurde gerade noch rechtzeitig zurückgehalten. Und da habe ich es gesagt, etwas verschlüsselt, aber Sven hat gleich verstanden. Wenn er mich gebissen hätte, habe ich gesagt, hätte er auch sterben müssen. Seitdem ist er sehr vorsichtig, will aber nicht ausführlich über die Angelegenheit reden. Für mich allerdings hat sich bisher noch nichts geändert.“

     Das war wieder eine Gelegenheit, Sympathie zu bekunden. Doch mitleiden oder es vortäuschen, er konnte es nicht. Er sagte nur: „Ach, sterben muss jeder einmal, auch der Hund, auch Sven.“ Das war mehr als dürftig.

     „Ulrich ist schon gestorben. Das war sehr bedrückend.“ Es klang wie ein Verweis. Max litt offenbar noch immer beim Gedanken an den toten Freund. Vermutlich sah er dabei auch sein eigenes Ende vor sich. Er schwieg eine Zeitlang. Was konnte man ihm sagen? Der Tod eines nahestehenden Menschen ist eines der persönlichsten Erlebnisse überhaupt. Noch persönlicher ist nur der eigene Tod, den die Todesfurcht vorwegnimmt. Wer dem Toten fernerstand, wer dem Trauernden und Todesfürchtigen nicht wirklich nahe ist, wird das rechte Wort nicht sagen können. Sie schwiegen beide, jeder für sich. Manfreds Schweigen war wie eine Bekräftigung der Distanz, die ihr Verhältnis bestimmte.

     Die Fleischplatten kamen auf den Tisch. Sie begannen zu essen. Es fing wie ein Leichenschmaus an. Dabei stellt sich gewöhnlich das Bedürfnis nach Auflockerung ein. Max gab ihm zuerst nach. Sich immer wieder unterbrechend, abwechselnd beim Essen oder beim Sprechen, referierte er seine jüngste Rede im Kreistag. Manfred erfuhr zunächst noch nicht, worüber debattiert worden war. Es kam Max jetzt nur auf bestimmte Formen an, die Form der Anrede sowie die Geschlechtsbezeichnungen der in Rede stehenden Personen.

     „Darin schließe ich mich der Vorrednerin, der Frau Landrätin, grundsätzlich an, habe ich gesagt, oder: Wie schon die Dezernentin für das Gesundheitswesen dargelegt hat … Unruhe machte sich breit. Es wurde gelacht, es gab Zurufe: Landrat! Dezernent! Aber ich habe es durchexerziert von der Ministerpräsidentin über die Chefärztin bis zur Bauunternehmerin. Ich habe gesagt: Meine Damen von der Opposition … Dabei sind Frauen dort die absolute Ausnahme. Entsprechend laut war der Protest. Und das war mir gerade recht so, man muss sie immer wieder vorführen.“ Er war jetzt sehr zufrieden mit sich und lächelte in der Erinnerung an seinen Auftritt.

     „Worum ging es denn in der Sache?“

     „Ach, nur die Sanierung des Kreiskrankenhauses, ein Dauerthema.“ Er schnitt sich ein Stück Filet ab.

     Es kam ihm nicht in den Sinn, es könnte berufenere Verfechter der Interessen von Frauen geben als ihn. Diesen Einwand würde er nicht gelten lassen.

     „Vorhin allerdings hast auch du nur von Fraktionskollegen gesprochen. Haben die Kolleginnen alle anders abgestimmt?“

     „Natürlich nicht. Aber wir sind ja unter uns. Keiner, also keine kann sich übergangen fühlen.“

     „Ist es nicht so, dass man mit diesem Sprachgebrauch vor allem schmeicheln will? Ich habe da neulich eine Wahlkämpferin reden hören. Immer wieder führte sie ihre Wählerinnen und Wähler im Mund, aber der Steuerzahler kam ihr nur in der männlichen Form über die Lippen. Das hat mir zu denken gegeben. Ich habe überhaupt noch nie von Steuerzahlerinnen reden hören, da hört die Korrektheit auf. Liegt es daran, dass Steuerzahlen etwas Unerfreuliches ist?“

     Max lächelte nur, seiner Sache gewiss, und aß weiter. Sie vertieften es nicht.

     Manfred war wieder einmal lange vor dem Freund mit seiner Mahlzeit fertig. Er unterhielt sich damit, den Blick im gut besuchten Lokal schweifen zu lassen. Auf einer Art Galerie saß nahe der Brüstung ein dunkler Lockenkopf mit vollem Gesicht. Er aß und trank mit Behagen, sprach voller Behagen mit seinen Begleitern, es waren vielleicht Kollegen. Er kam ihm wie eine Verkörperung des Weingottes selbst vor. Und jetzt ließ Bacchus seinen Blick freundlich, wohlwollend auf ihm, Manfred, ruhen. Sie lächelten einander zu und genossen die Situation, die zu nichts verpflichtete. Vielleicht war er auch Dionysos.

     Max unterbrach ihren Austausch mit der Bemerkung, er komme auf ein Angebot von ihm zurück, er plane tatsächlich, demnächst mit Sven nach Hamburg zu kommen. Sie würden darüber noch sprechen. Manfred sagte, es sei ihm recht.

     Nachher schlug er als ortskundiger Gastgeber vor, zu Fuß nach Hause zu gehen. Dabei würden sie auch über das Schulterblatt kommen. Doch meinte er damit nur den nördlich der Bahn gelegenen Abschnitt, der viel weniger problematisch und eine ziemlich langweilige Gegend war. Max durchschaute das Manöver erst, als es zu spät war. Er sagte bloß, so habe er die Straße nicht in Erinnerung gehabt.

     „Du willst heute Abend nicht mitkommen?“ Max begann mit seinen Vorbereitungen für die Nacht in St. Georg.

     Offenbar ist es für ihn bereits das Normale, dass ich abends früh zu Bett gehe, dachte Manfred und verspürte Lust, sich ihm doch anzuschließen. Andererseits wollte er sich das Schauspiel, wie Max den Männerfang betrieb, lieber ersparen. Er fand es schlecht einstudiert und sagte in der Erinnerung daran: „Nein, es reizt mich nicht.“

     Dann lag er im Wohnzimmer und hörte seinen Waschungen zu. Da war wieder dieses Gefühl körperlicher Abneigung gegen den Gast im Badezimmer, das er vergeblich zu unterdrücken versuchte und das ihn schließlich geradezu erbitterte: gegen sich selbst. Um sich abzulenken, stellte er sich den Bacchus von vorhin vor. Sollte er nicht wieder in die Bars gehen? Doch war es eine alte Erfahrung, dass die Stadt voll erregender Gestalten war, die niemals den Weg in die Kneipen fanden. Er hatte den Verdacht, dass in den Lokalen insgeheim eine Art Zunft regierte, die den Zugang zum Handwerk ausgesprochen restriktiv handhabte. Und wie verhielt es sich mit Arthur? Ob er ihn überhaupt noch einmal sehen wird? Mit ihm hatte eine Art neuer Zeitrechnung begonnen, so dass er seither alle Ereignisse auf ihn beziehen konnte. Seit Arthur war er nicht mehr in die Bars gegangen.

     Genau genommen war Orpheus der Letzte gewesen, dem er im Milieu begegnet war. Orpheus war im Dunkeln verschwunden, und er selbst war ins Helle hinausgetreten. Aber Svevo sagt, wir gehen alle ins Dunkle. Es wurde tatsächlich allmählich dunkler in seinem Leben. Die Gestalten der alten Freunde verblassten zu Schemen. Die gewohnten Räume verschlossen sich. Das meiste neigte sich seinem Ende zu, man musste es klar sehen. Was tun? Wie organisiert man mit vierzig ein Leben neu, das bisher merkwürdig bindungslos geblieben war?

      Was bleibt zurück, wenn das fragile Gebäude einer zeitweiligen Existenz in sich zusammenfällt? Träume, Material eben – man kann es liegenlassen oder bearbeiten. Was war wertvoll gewesen, beglückend? Hatte es das überhaupt gegeben in all den Jahren hier? Ja, einige Blicke, einige Berührungen, je kostbarer, desto flüchtiger – oder gerade auch umgekehrt. Das Kostbarste waren Blicke gewesen. Hofmannsthal sagt irgendwo, der Blick sei der Berührung als erotische Begegnung weit überlegen. Da war jener Belgier, mit dem er weder Worte noch Berührungen gewechselt hatte, nur sehr intensive Blicke, und dessen Bild nicht verblassen wollte. Und dann Sigurd: Blicke und Berührungen, deren Eindruck sich nicht abschwächte, sie bezeugten Gleichmut, Begabung zum Genuss und Güte.

     Die Reihe ließ sich nicht beliebig verlängern. Er setzte sie nach hinten fort und dachte an jenen Maler zurück. Er war kein Kunstmaler, er war einer, der Häuser verschönerte. Er kam für eine Nacht aus seiner Stadt im Nordwesten und blieb eine Nacht und einen Vormittag bei ihm. Es war der reinste Eindruck, den er empfangen hatte. Vielleicht hatte es vor Jahrhunderten öfter Menschen dieser Art gegeben. Sie erschienen jetzt manchmal in Filmen über Völker fremder Kulturen, Völker in unerschlossenen Gebieten. Wie anders sahen sie in die Kamera als die Menschen des Westens. Warum musste alles erschlossen werden? Der Maler kehrte in seine Stadt zurück, und nach Monaten rief ein Freund von ihm an: Was Manfred mit ihm gemacht habe? Er sei seit jener Nacht ganz verändert.

     (Max sagte eben: Ade, bis morgen.)

     Ein Name fehlte in der Reihe: Theo. Er hatte dieselbe Ausstrahlung. Seine Wirkung auf Manfred war die gleiche: Freude und zugleich Beruhigung, Dankbarkeit.

     Es war ungewiss, ob es irgendeiner je mit ihm aushalten könnte, einer, den er auch mochte. Theo war der Einzige bisher, den er gern auf Dauer ertrug. Er war jetzt entschlossen, gleich morgen früh in Neustadt anzurufen. Und mit der Gewissheit, nun das Richtige tun zu können, schlief er bald ein.

 

Es war noch zu früh zum Aufstehen. Max musste, während er schlief, zurückgekommen sein, ohne dass er es wahrgenommen hatte. Vorhin hatte Manfred seine Stiefel im Flur neben der Garderobe gesehen. Diese Stiefel, hatten sie nicht das Autoritative, das Max vergeblich beanspruchte?

     Er zog die Vorhänge des Schlafzimmers zurück und sah dann vom Bett auf die geschlossene grüne Blätterwand der Kastanie, ein wie immer beruhigender Anblick. Die stachligen Früchte des Baumes waren schon weit entwickelt. Vielleicht würden sie während seiner kommenden Reise abfallen. Natürlich wird er doch noch wegfahren, vielleicht sogar in die Südalpen. Dann fiel ihm ein, dass er heute Morgen Theo anrufen will. Er wird sich nach den Plänen des Cousins erkundigen, er wird offen für seine Vorstellungen sein und zunächst keine eigenen Vorschläge machen. An seinem unruhigen Magen spürte er, dass er nervös zu werden begann.

     Das Wetter versprach gut zu werden. Vogellärm im Garten trieb ihn aus dem Bett und ans Fenster. Eine Katze versuchte, eine Amsel zu beschleichen. Der Vogel attackierte sie zeternd mit Sturzflügen und drehte ab, bevor er ihren Fängen nahe kam. Dann war es wieder ruhig, wie es zu einem Sonntag passte.

     Er sah auf das dürftige Gras hinab. Der Hausmeister hatte ihm erklärt, warum der Rasen hier nicht gedieh. Der Boden war vernässt und dazu auch noch steinig. Dieser Teil von Eimsbüttel war auf moorigem Grund errichtet, ein unzureichend trockengelegter Sumpf, und der Garten später mit dem Trümmerschutt des letzten Krieges aufgefüllt. Bei so schlechten Voraussetzungen durfte man nicht zu viel erwarten, er sah es ein. Und außerdem wird er ja nur noch kurze Zeit hier leben.

     Er hielt das Warten nicht länger aus und ging ins Wohnzimmer, um zu telefonieren. Theo in Neustadt (oder vielmehr in seinem Dorf in der Nähe) meldete sich nicht. Er müsste es später erneut versuchen. Er konnte nicht mehr lange im Ungewissen bleiben. Seit Wochen war er nun ohne Nachricht von ihm. Es war nach wie vor ungeklärt, ob er noch einen Hausgenossen in ihm besaß und ob er sich mit ihm über die Zukunft abzustimmen hätte. Die Entscheidungen waren dringlich geworden. Bei seiner Rückkehr ins Büro – in nur drei Wochen schon – wird er sich festlegen müssen: nach Köln gehen oder hier bleiben. Theo hätte nicht wortlos verschwinden dürfen.

     Er wollte Olga anrufen. Dann fiel ihm ein, er habe Theo vor einiger Zeit sagen hören, sie sei gerade umgezogen. Die Auskunft verschaffte ihm ihre jetzige Nummer.

     Die brüchige Stimme klang verschlafen. Offenbar hatte er sie geweckt. Er entschuldigte sich, sie ging nicht darauf ein. Theo sei am Mittwoch weggefahren, niemand wisse, wohin und für wie lange. Sie seien in Sorge um ihn, er sei sehr verändert zurückgekommen. Sie habe ihn, Manfred, selbst schon anrufen wollen.

     „Hat er seine Angelegenheiten geregelt? Das Haus, die Dinge zwischen Ingrid und ihm?“

     „Nichts, gar nichts. Und nun ist er auch noch ins Blaue gefahren, und keiner kann ihn erreichen.“ Sie wüssten nicht weiter, er solle sich etwas einfallen lassen.

     Er sagte, sie überschätzten vielleicht seine Möglichkeiten, seinen Einfluss. Er werde über die Sache nachdenken. Und jetzt wolle er sie weiterschlafen lassen, und er legte auf, zunächst einmal erleichtert, nichts erklären, nichts eingestehen zu müssen. Im Übrigen war es ein Kreuz mit diesem Cousin. Es sei sein Kreuz, und er solle es endlich auf sich nehmen: Das schien Olgas Ansicht zu sein, es hatte unausgesprochen in ihrer Stimme gelegen.

     Manfreds Stimme beim Telefonieren hatte Max aus seinem Zimmer gelockt. Als er auflegte, kam Max zu ihm herein.

     „Einen Augenblick habe ich geglaubt, du wärst gar nicht allein.“ Er dehnte und streckte die Glieder, gähnte dann voller Schlaflust und lächelte gleichzeitig mit dem Ausdruck vollkommener Arglosigkeit. Obwohl er keineswegs ausgeruht war, wollte er jetzt schon mit ihm frühstücken.

     Eine Viertelstunde später saßen sie am Tisch und sahen immer wieder auf die sonntäglich stille, leere Straße hinaus. Ihr Gespräch kam nur mühsam in Gang. Über die Abenteuer der zurückliegenden Nacht schwieg der Gast sich aus, und Manfred fiel auch nichts ein. Wo gab es noch ein unverfängliches Thema? Früher hatten sie oft stundenlang miteinander geredet.

     Max fragte nach einem Querschnittsgelähmten oder vielmehr nach dessen Freund, der ihm früher einmal von Manfred vorgestellt worden war. „Du weißt doch, wen ich meine: Sein Freund ist damals vor Thailand von einem Motorboot überfahren worden, beim Baden oder Tauchen …“

     Manfred hatte seit Jahren nicht mehr an die beiden gedacht. Warum nur kam Max jetzt auf sie zurück? Der unversehrte Teil des Paares war einmal ins Village gekommen, unmittelbar nach einem Besuch in der Klinik. Er sah ihn wieder vor sich, eine Art trauernde Witwe noch bei Lebzeiten des anderen, und die Trauer hatte einen heiteren Rand, war es Erinnerung? Und sein Schwarz so unpassend wie nur möglich.

     „Nein, man sieht ihn schon lange nicht mehr. Sie waren ja nicht aus Hamburg. Man bleibt nicht ewig in der Klinik.“ Oder der andere war noch weiter verlegt worden.

     „Ja, so sieht Treue aus.“

     Auf einem der Balkone gegenüber erschien jetzt einer Frau in mittleren Jahren. Der Schlauch eines Staubsaugers wurde über der Brüstung sichtbar, und dann hörten sie, wie dort drüben der Bodenbelag lautstark gereinigt wurde, in der akustischen Wirkung vergleichbar einem Düsenjäger über einer Waldlichtung.

     „Ja, ja, es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Max meinte es vermutlich ironisch, doch fehlte Manfred jetzt der Sinn dafür. Im Gegenteil spürte er maßlose und ihm später selbst unerklärliche Wut in sich aufsteigen. Kästner, immer und immer wieder! Er schloss das gekippte Fenster mit Wucht.

     „Ich will mich gar nicht auf den Standpunkt empfindlicher Nachbarn stellen – auch ganz allgemein gesprochen ist es fast immer so, dass das wirklich Gute darin besteht, etwas nicht zu tun, nämlich das vermeintlich Gute zu unterlassen“, erklärte er mit Schärfe.

     „Nanu, da bin ich aber anderer Ansicht.“ Der Kreisrat gab sich provozierend gelassen.

     „Dieser Spruch aus dem Schatzkästlein  … er verfolgt einen geradezu. Er verdient einen Ehrenplatz in jeder Sammlung raffiniert idiotischer Gemeinplätze.“

     Maximin lachte unbeirrt und freundlich. „Also, ich habe ihn sogar ausgeschnitten und an meine Küchenwand geklebt.“ Teufel, so war es, und Manfred war ja eben dort immer wieder auf ihn gestoßen. Man las ihn von der Wand ab, wenn man bei ihm frühstückte, zusammen mit Appellen zur Abrüstung, zum Energiesparen und gegen Fremdenhass, und an der gleichen Wand schwebte der blaue Friedensengel über einem sehr kontemplativen männlichen Rückenakt sowie Rezepten für Rotweingelee und hausgemachte Gesichtscremes.

     „Ich werde den Spruch entfernen, bevor du das nächste Mal kommst. Was liegt schon an ihm. Schließlich möchte ich nicht, dass du am Ende wieder aggressiv wirst … Aber an sich finde ich es gut, wenn du so frei sprichst, statt etwas hinunterzuschlucken. Mach öfter aus deinen Untertönen Obertöne.“

     Manfred sagte, sie sollten sich nach dem Frühstück bei einem ausgiebigen Frühstück die Gehirne durchlüften lassen. Max war gleich einverstanden.

     Manfred schlug den Volkspark Altona vor. Mit ihm verband sich für Max zunächst keine Erinnerung. Sie setzte auch noch nicht ein, als sie den Weg von der S-Bahn hinauf zu dem etwas höher gelegenen Park zurücklegten.

     „Du bist ihn auch nur nachts gegangen“, sagte Manfred und führte ihn im Park zunächst einmal zum Aussichtsberg. „Er hat etwas Altorientalisches oder vielleicht auch Aztekisches, beinahe wie eine Stufenpyramide.“ Sie stiegen hinauf und fanden beide, der Ausblick lohne den Aufstieg nicht.

     Von hier war es nicht weit bis zum Restaurant, das Max zögernd wieder erkannte.

      „War es hier? Wie lange ist es her? Ich muss ja noch Student gewesen sein.“

     „Fünfzehn Jahre. Erkennst du dich selbst noch im Rückblick?“

     „Ja, ungefähr noch. Und bin ich dann nicht bald nach Afrika aufgebrochen?“

     „Nein, am Morgen darauf bist du nach Norwegen gefahren.“

     „Richtig, Skandinavien …“ Er erinnerte beinahe an jenen Ex-Präsidenten Spaniens, der in der Agonie nach dem Namen des Landes gefragt hatte, an dessen Spitze er einst stand.

     Als sie weitergingen, kam Max auch die Erinnerung an seinen zweiten Besuch hier im Park. „Ich glaube, ich bin damals mit Gunther zum Treffen hier gewesen. Haben wir nicht bei dir gewohnt?“

     „Nur du, Gunther war im Hotel. Was macht er jetzt?“

     „Ist mir nicht bekannt. Es war unsere letzte Reise damals.“ Er sagte es leise, offenbar im Bewusstsein eines Verlustes, einer Niederlage. Etwas, das von fern für Mitleid hätte gehalten werden können, regte sich in Manfred, doch analysierte er es sogleich als verkapptes Selbstmitleid bei spontaner Identifikation.

     Sie kamen zum Dahliengarten, der nur in der Zeit der Blüte einige Wochen geöffnet ist. Die Massierung der Farben und Formen war bombastisch und ermüdend. Zudem war der Garten bereits jetzt am späten Vormittag überlaufen. Sie verließen ihn bald und durchquerten den Park nun in seiner ganzen Breite.

     Manfred war sich bewusst, beim Frühstück überreizt und falsch reagiert zu haben. Um es wieder gutzumachen, erneuerte er die Einladung an Max und Sven für die Zeit seiner eigenen Abwesenheit. Max sah ihn dankbar an. Das sei eine gute Idee von ihm gewesen, er habe es schon im Einzelnen mit Sven besprochen. Sie würden am letzten Freitag im September kommen, wenn er einverstanden sei.

     „Ja, ihr habt die Wohnung für euch. Ihr könnt auch zwei Schlafzimmer benutzen.“

     „Das war gerade nicht meine Absicht. Sven geht davon aus, dass wir uns mit dem Gästezimmer begnügen müssen und dass dort nur ein schmales Bett für uns zwei steht. Daran will ich nichts ändern. Das ist doch die Geschäftsgrundlage.“ Er sah Manfred in die Augen, und in seinem Blick lag mancherlei: Durchsetzungswille, List, Triumph und die völlige Gewissheit ihres Einverständnisses über den letzten Punkt.

     Manfred war entsetzt und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er ist ja wirklich korrupt, dachte er, ich habe mit dieser Vorstellung von ihm seit langem gespielt, aber er ist es tatsächlich, und nun überrascht es mich. Ich bin wieder einmal perplex … Der plötzliche, tiefreichende Einblick in die Mechanik eines fremden Willens war großartig, wie es manchmal Tiefblicke im Gebirge sind. Max war damals mit ihm vom Piz Umbrail nach Santa Maria abgestiegen und im oberen Drittel hatten sie den Ort passiert, an dem man eine Schwelle überschreitet und dann in einen jäh sich öffnenden Abgrund hineinsieht. Dort hinunter muss man, ins Tal zurück. Man spürt den Sog, der von der Tiefe ausgeht, wie einen nadelspitzen Schmerz und hält sich mit Mühe aufrecht … Doch das Gefühl des Schwindels rührte jetzt von folgendem her: Max hielt ihn für ebenso korrupt wie sich selbst, und er glaubte sich in seinen Absichten in völligem Einverständnis mit ihm. Er öffnet sich mir, dachte er, da er glaubt, es gefahrlos tun zu können. Er sieht insofern keinen Unterschied zwischen uns. Das ist einfach unerträglich, ganz und gar unerträglich.

     Er wusste, es war das Ende, es war der Bruch, jedenfalls von seiner Seite her.

     „Du bekommst die Schlüssel, bevor du abreist.“ Er bedachte jetzt nicht, dass Max die Schlüssel ja schon besaß. Max schien seine Beherrschung nicht einmal zu bemerken. Von da an redeten sie nur noch über Gleichgültiges.

     Nach ihrem Spaziergang zog Max sich in sein Zimmer zurück. Er wolle einige Stunden schlafen, um am Abend wieder frisch zu sein.

     Manfred stand am Wohnzimmerfenster und sah auf die Straße hinaus. Er überdachte das Ergebnis dieses Ausfluges, seinen Entschluss, sich vom Kreisrat zurückzuziehen. War es selbstgerecht, ihn so scharf zu verurteilen? Man konnte es so sehen, und diese Haltung hatte er dann ihm gegenüber schon lange eingenommen. Auch sein eigenes Gesicht war zeitweise von einer Maske bedeckt, und sie war immer öfter darüber geglitten, es war eine strafende, rächende Maske. Er durchschaute sich einigermaßen und sah auf dem Grund seiner Passivität, seines unverbesserlichen Hanges zur Kontemplation davon sehr verschiedene und wiederum damit im Zusammenhang stehende Elemente: enttäuschtes Bedürfnis nach Harmonie, Lust am Urteilen, am Richten, an der Verneinung. Aber das war es nicht, was ihn sich nun von Max trennen ließ, auf dieser Basis hatte ihre sonderbare Freundschaft seit langem beruht, vielleicht von Anfang an. In Max’ Augen hatte vorhin etwas aufgeleuchtet, als er vom Bett als der Geschäftsgrundlage sprach. Es schien ausdrücken zu wollen: Du machst es doch ebenso, darin unterscheidest du dich doch nicht von mir. Gerade dies musste zurückgewiesen werden.

     Dann kam ihm ein neuer Einfall: Es hängt mit dem Bett zusammen, nämlich dem konkreten Möbel in Theos bisherigem Zimmer. Darin hatte Theo viele Nächte gelegen, es würde (lächerlich genug, es zu denken) beschmutzt und entweiht werden. Seine Analyse begab sich, um von dieser Tiefe oder auch Untiefe wegzukommen, an die Oberfläche der Fakten. Da war ein sich progressiv gebender Lokalpolitiker, der dieses Bett benutzte, um einen wenig bemittelten jungen Mann in eben dieses zu zwingen. Es würde Svens erste Reise nach Hamburg werden, ohne die freie Unterkunft würde er sie sich nicht leisten können, und er schien überhaupt wenig selbständig zu sein. Manfred wurde dieser Sven allmählich sympathisch. Es war schmutzig, einen solchen Plan mit ihm zu verfolgen …

     Das alte Bett war auch einmal das Bett seines eigenen Vaters gewesen, er hatte als junger Mensch darin gelegen. Diese Vorstellung stieg aus einer Schicht des Nichtaufgehellten, des Dunkel-Chaotischen zur Oberfläche empor, wie eine Blase aus trübem, schlammigen Wasser, die an der Luft zerplatzt. Er konnte den Fluss der Assoziationen nicht schnell genug unterbrechen, er sah sich schon selbst, wie er dem Vater warmen roten Wein über die Brust gegossen, und er sah noch das Eisenbett im Krankenhaus vor sich, an dessen Gitter er sich den Schädel eingeschlagen hatte. Es würde zu weit führen, noch einmal hinabzusteigen und dort unten zu graben. Auch die Selbstanalyse hatte ihre Grenze. Nein, aus Untertönen Obertöne zu machen, es war nicht seine Sache.

     Und Theo? Er wollte ihn wiedersehen und ihm sagen, dass er seinen Aufbruch sehr gut begreift und dass er auch fortgeht. An einem anderen Ort wieder oder überhaupt erst richtig neben ihm als sein sehr naher Verwandter zu leben: Das war ein Ziel, das sich lohnte. Da sein und das Bett nicht teilen, das schien ihm sein Weg zu sein. Mochten die Psychologen darüber denken, wie sie wollten, wenn es gelang, war es seine Art, sich auszudrücken, seine Leistung, seine Form – Selbsterlösung.

     Nun war es klar, morgen wird er nach Neustadt fahren und Theos Spur aufnehmen. Manfred begann sofort, seinen Koffer für eine Reise von drei Wochen zu packen.

     Als Max sich später halb ausgeschlafen zeigte, erfuhr er zu seiner Überraschung, sie würden morgen früh gemeinsam zum Bahnhof fahren, um zwei verschiedene Züge zu benutzen.

     „Und die Schlüssel für die Wohnung behältst du einfach gleich“, sagte Manfred, „sonst müsstest du sie dir bei Stefan abholen. Wirf sie bei eurer Abreise in den Briefkasten.“

     Beim Abendessen – noch ein letztes Mal an der Osterstraße – beobachtete Manfred den Gast schon mit anderen Augen als bisher. Er sah nun die Person der Zeitgeschichte in ihm, zu der man ihn zurechtmachen würde, wenn die Zeit des Rückblicks gekommen war. Max fürchtete ganz zu Unrecht den nicht von ihm selbst kontrollierten Nachruhm. Auf die berufsmäßigen Apologeten ist meistens Verlass. Das rührt daher, dass ein so großer Bedarf und Verschleiß an positiven Helden besteht, ein Bedarf, der gar nicht zu befriedigen ist. Max war die ideale Ikone: insgesamt eher wenig bekannt, so dass die Züge seiner lebendigen Person dem großen Publikum verborgen bleiben, dafür leicht auszustaffieren mit den Versatzstücken des politischen Kitsches: mutig, wahrhaftig, progressiv und tragisch. Der Erfolg war garantiert, da vielfach erprobt. Aber wie es mit Abziehbildern so geht: Sie haften nicht lange.

     Vielleicht fürchtete Max insgeheim nur seine wenigen Freunde und an ihnen die Kraft wahrer Erinnerung. Könnte aus ihr nicht etwas von längerer Dauer entstehen?

     Ein Zwischenfall im Lokal unterbrach Manfreds Gedankengang. Am Tisch schräg gegenüber verlor man jetzt die Geduld: Wie lange das hier heute dauerte. Endlich kam der Kellner, um die Bestellung zu notieren, und erschien etwas aufgelöst, weniger im Äußeren als in seinem Betragen.

     Der Gast, um Fassung bemüht: „Wohl viel zu tun heute, gestresst?“

     Der Kellner, keinesfalls um Wahrung des Scheins besorgt: „Ich kann dich ja noch mal `ne Viertelstunde warten lassen. Mal sehen, wer dann gestresst ist. Was ist jetzt, möchtest du was?“ Es kam nicht mehr zur Bestellung. Sie beide konnten zum Glück bald zahlen und auch gehen.

     Er ließ ihn am anderen Morgen vorausfahren und nahm den nächsten folgenden Zug, der über Würzburg nach München fuhr. Die Fahrkarte musste erst noch besorgt werden. Da er selbst Gepäck mit sich trug, ging er nicht mit ihm auf den Bahnsteig hinunter. Nach einem kurzen Abschied sah er ihm vom oberen Ende der Treppe nach. So wird sein Biograph, der einen Film über ihn dreht, ihn zum Schluss zeigen: im Getriebe der Welt verschwindend, mit ihr eins werdend, sich auflösend. Alles in allem ein Held unserer Zeit.

22. Ein dritter Ort

Da saß er nun selbst im neuen Express. Die Elbbrücken und Harburg, die liebliche Vorstadt, lagen schon hinter ihm. Mit weniger Fahrgeräusch als früher, auch fast erschütterungsfrei schoss der Zug durch die Elbmarsch. Lüneburg glitt in einer langgezogenen Kurve vorüber. Dann die Heide mit ihren sehr großen Wäldern, in denen kleine Nester noch immer großen Abstand voneinander hielten. Kleine Häuser aus rotem Backstein, Teiche, selten eine kleine Stadt mit unverhältnismäßig hohem Kirchturm: Das war alles noch wie früher.

     In Hannover füllte sich das Abteil bis auf den letzten Platz. Es zeigte sich nun, dass der Raum für Reisegepäck neuerdings knapp bemessen war. Die neue windschlüpfrige Form hatte das alte Tonnengewölbe der Abteildecke zusammengestaucht und an den Seiten nur Nischen übrig gelassen, in die kein Koffer mehr passte. Der Herr, der ihm gegenüber den reservierten Mittelplatz jetzt einnahm, fand die Ablage über seinem Sitz schon vom Gepäck seiner Nachbarin in Anspruch genommen. Er schlug vor, den Platz dort oben besser auszunutzen. In der Tat hatte die Dame ihre drei Gepäckstücke da verteilt, ohne mit dem knappen Raum hauszuhalten. Sie schenkte ihm indessen nur einen knappen, kühlen Blick. Da nahm er in seiner Not, um Platz für die eigene Reisetasche zu schaffen, einen ihrer Beutel herunter und legte ihn ihr wie zur Verehrung zu Füßen, indem er bemerkte, mit der Reservierung habe er doch wohl Anspruch auf eine minimale Ablagefläche erworben.

     „Zu beanspruchen haben wir gar nichts“, beschied sie ihn, unpersönlich wie ein Gesetzgeber, worauf er entrüstet zurückgab: „Das sagen Sie, nachdem sie sich selbst breit gemacht haben!“

     Manfred wollte ihm Recht geben, doch hatte er auf seiner Seite hier mit Koffer und Rucksack auch schon mehr als die Hälfte der für drei Sitze verfügbaren Fläche belegt. Es erwies sich wieder einmal, dass jeder Fortschritt seinen Preis hatte. Wer viel schneller vorankommen wollte, durfte keinen Ballast mehr mit sich führen. War das nicht sogar ein Grundgesetz dieser Zeit: sich von allem Überflüssigen zu trennen, um das Tempo immer mehr erhöhen zu können?

     Der Zug selbst beschleunigte stark, als er jetzt das Leine-Tal verließ und in einer langen Reihe rasch aufeinanderfolgender Tunnels verschwand. Von nun an hatten die Augen es schwer, sie mussten in kurzem Abstand jeweils die Umstellung von Tageshelle auf Kunstlicht und umgekehrt bewältigen. Doch lohnte es am Ende gar nicht mehr, die Ausblicke auf die Landschaft waren auf Schießschartengröße reduziert. Immer verschluckte ein neuer langer Tunnel den kurzen Querschnitt eines Tales, in dem alles noch wie früher schien. Manfred schloss hinter Kassel ermüdet die Augen. In Würzburg dann ungewohnt früh eingetroffen, fand er, der Reisende von heute benötige die ersparte Zeit, um sich wieder in den leidlich ausgeruhten Zustand zu versetzen, in dem er früher sein Ziel auch schon erreicht hatte.

     Die Weiterfahrt mit einem sehr viel langsameren Zug hatte etwas Qualvolles, das er sonst so nicht empfunden hatte. Man gewöhnt sich also sehr rasch an die Beschleunigung, auch wenn sie einem nicht nur angenehm ist, und vermisst sie dort, wo sie noch nicht erreicht ist.

     Olga wird ihn in Neustadt am Bahnhof abholen, er hatte sie am Abend davor noch verständigen können. Dass sie ihn erwartete, war das ein Grund, das Ende dieser Bummelei durch Unterfranken herbeizusehnen? Wie die Dinge lagen, doch wohl eher nicht.

     „Ich glaub es nicht“, sagte Olga, „ich glaub es nicht, dass du wirklich hier bist. Keiner von uns hat noch mit dir gerechnet. Du fremder Mensch, lass dich anschauen.“

     Sie sagte vielleicht mit Absicht nicht, er habe sich wenig oder im Gegenteil sehr verändert. Das ersparte ihm eine entsprechende Replik. Tatsächlich hatte er sie auf dem Bahnsteig nur an ihrer unangemessen festlichen Garderobe erkannt. Sie trug Schwarz und Dunkelblau, Samt war auch im Spiel, dazu eine Juwelenkollektion. Er stand sehr einfach gekleidet neben ihr, ja sogar etwas vernachlässigt im Äußeren. Sie deutete später an, gerade daran habe sie ihn zuerst wieder erkannt. Es sei ja bekannt, sagte sie, er lege keinen Wert darauf, sich für Frauen schön zu machen. Und dabei lächelte sie, und er spürte freundlichen Respekt.

     Unterwegs zum geparkten Auto sagte sie weiter noch nichts. Sie keuchte ein wenig, und ihm fiel es schwer, sein Schritttempo ihr entsprechend zu vermindern. Er betrachtete sie. War das die schöne, immer noch jugendliche Schwägerin, war dieser Ruf jemals berechtigt gewesen? Vor sich sah er eine Mittfünfzigerin von auffallend schlechter Körperhaltung. Ohne dick zu sein, wirkte sie verfettet allein aufgrund gewisser An- und Aufschwemmungen, die das erschlaffte Gewebe der Haut bei jeder Bewegung rhythmisch vorführte. Unter dem edlen Stoff ihres Oberkleides zeichnete sich unübersehbar der Ansatz eines Buckels ab. Sie kam ihm jetzt auch viel kleiner vor als früher. Nur das Haar, das kräftig-dunkle Haar der Aufwinds hatte sich ursprünglich erhalten und war dabei doch, anders als das gealterte Fleisch, kaum mehr als absterbende Materie, verhornende Zellen der Oberhaut. Wenn sie jetzt auch schwieg, so leuchteten ihre Augen auf ganz eigene Weise, und das von der Zeit entstellte Gesicht bemühte sich nicht vergeblich, freundlich, gefällig zu wirken; eine reife mimische Leistung, Schönheit nur durch den seelischen Ausdruck zurückzuzaubern auf ein Antlitz, das sie rein physisch vollkommen eingebüßt hatte.

     Er verstand nichts von Automarken und beurteilte den Grad von Nobilität einer Karosse allein danach, wie gut er saß und wie angenehm man dahinrollte. Daran gemessen waren Olgas Mittel vermutlich recht beschränkt.

     Sie sagte, sie lade ihn zum Kaffee in ihre neue Wohnung ein. „Sie ist nicht sehr groß, nur zwei Zimmer. Ich schlage daher vor, du schläfst bei Theo …“

     „ … was er mir ja früher schon angeboten hat.“ Der Doppelsinn ging ihm zu spät auf. Olga hatte ihn gewiss nicht beabsichtigt. Warum war er ihr dann ins Wort gefallen? Vielleicht um den Grad ihres Einverständnisses ins rechte Licht zu rücken.

     Sie werde ihm zeitweise mit dem Wagen zur Verfügung stehen und ihn bei Bedarf vom Dorf in die Stadt und zurückkutschieren. Sie habe gerade genügend Zeit dafür, denn sie hätten die Oma zu ihrer Schwester nach Hassfurt gebracht, für einige Tage, nein, nicht seinetwegen. Sie sei jetzt manchmal recht verdrießlich, daran seien die Umstellungen der letzten Zeit schuld.

     Manfred sagte, er bleibe nur zwei oder drei Nächte. Dann hoffe er klarer zu sehen.

     „Lass es uns nachher in Ruhe bereden.“ Sie hielt vor einem neuen zweistöckigen Haus am Rand der Altstadt.

     Die Wohnung lag ihm ersten Stock. Der Blick ging über Gärten auf die Stadtmauer. Manfred sagte, er beneide sie, ein solches Zuhause sei in der Großstadt nicht zu bekommen oder, wenn doch, nicht zu bezahlen. Überhaupt lebe man in einer kleinen Stadt viel angenehmer, sie sei hoffentlich zufrieden mit dem Stand der Dinge.

     Ja, das sei sie, alles in allem, wenn sie bedenke, dass sie das hier für sich aus dem Zusammenbruch habe retten können. Dann ließ sie ihn eine Weile allein, um Kaffee zu brühen.

     Der Zusammenbruch also – das war einmal das Synonym für das Jahr fünfundvierzig gewesen und meinte den verlorenen Krieg, Flucht und Vertreibung, das Ende des alten Systems, die Entwertung des Geldes wie der Ideen und noch vieles mehr. Es blieb damals von der alten Ordnung der Dinge die Neigung zum Gemütlich-Gediegenen, und sie schuf sich eine neue Welt, die vielleicht nur eine Variation auf die alte war. Er erkannte hier, in den hierher verlagerten Resten des Hauses Aufwind, die Zeit seiner Kinderjahre wieder, diese Wohnzimmer, in denen man sich bis zum Ersticken behütet vorkam. Auch dieses Zimmer war übermöbliert, vor allem mit einer Vielzahl voluminös-schwellender Polstermöbel, bei denen unklar blieb, wer sich auf ihnen noch lagern sollte. Die freien Wandflächen waren mit Fotos, Familienbildern hinter Glas, tapeziert und konterkarierten mit ihrem Wirrwarr von Spiegelreflexen und Fragmenten von Körpern den Blick nach draußen, der in eine intime Weite sich hätte richten und die Seele dabei hätte beruhigen können. Vollends deplaciert wirkten in diesem modernen Gehäuse die neobarocken Eichenschränke: unglaublich diese Formen. Nachher erfuhr er von Olga ihre Geschichte: Sie waren erst vor zwei Jahren für ihre bisherige Wohnung angeschafft worden und hatten sich hier durch das zu enge Treppenhaus nicht herauftragen lassen. So waren sie vom Tischler eingekürzt worden und ähnelten jetzt den grotesken steinernen Hofzwergen im Park von Veitshöchheim.

     Aber Olga war zufrieden, und das allein zählte jetzt. Die Oma, wie gesagt, finde sich nur schwer ins Neue, dafür gehe es ihrem Bruder nun bedeutend besser. Sie gönne es ihm, dass er die Last los sei. Nur – ja, nur?

     Womit sie bei Theo waren. Olga sagte, er habe keinen Boden mehr unter die Füße bekommen.

     Manfred konnte sich kein Bild von den Wochen machen, die der Cousin zuletzt hier verlebt hatte. Schweigsam sei er geworden, ein ungutes Lächeln habe er mitgebracht. Sprachen sie ihn auf die Zukunft an, sagte er: Später, jetzt habe er erst mal Urlaub, er müsse erst mal durchatmen. Er sei tagsüber und auch in der Nacht viel mit dem Motorrad herumgefahren, ohne dass sie Näheres darüber wüsste. Bei schlechtem Wetter habe man ihn zu Hause vor dem Fernsehgerät angetroffen.

     „Hat er sich mit Ingrid getroffen?“

     „Ja, einmal. Er wollte sie sehen. Sie hat ihn ins Lamm bestellt. Er hat gar nicht erst versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Ingrid hat sich nachher gefragt, warum er sie eigentlich sehen wollte.“

     „Was hat er von Hamburg erzählt?“

     „So gut wie nichts. Dass er nicht zurück will. Und über dich durfte man gar kein Wort sagen. Er ist sonst aus dem Zimmer gegangen. War etwas zwischen euch?“

     Manfred verneinte stumm. Gern würde er mit ihm reden. „Er ist also einfach fort?“

     „Ja, und er hat bloß kurz vorher bei mir angerufen. Er sei jetzt erst einmal weg und würde sich wieder melden.“

     „Ich habe ja Zeit“, sagte Manfred, „mir würde er vielleicht sagen, was er vorhat, wenn er es schon weiß. Aber wo kann man ihn suchen?“

     Sie standen vom Kaffeetisch auf, und er ließ sich von ihr hinüber ins Dorf fahren.

     Sie rollten über die Brücke. Der Fluss war aus dem Wagen heraus nicht zu sehen. Dann das jenseitige Ufer: Er hatte bis vor kurzem geglaubt, für immer von ihm losgelöst zu sein. Schweigend passierten sie die Abzweigung zur Sandgrube. Das Dorf erkannte er nur in seinem Kern wieder. Das Neubauviertel mit seinen Jägerzäunen und Essigbäumen wirkte städtisch-vorstädtisch. Die Vielzahl der Bauformen und –stile verhinderte einen deutlich wahrnehmbaren Eigencharakter der Siedlung. Es war ein Viertel wie Tausende andere.

     Sie betraten den Bungalow. Olga zeigte ihm die wichtigsten Räume. Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sie nicht. Er könne in Theos früherem Zimmer schlafen, Theo habe es in den letzten Wochen selbst wieder genutzt. Sie wies auf das Bett, das von ihr schon frisch bezogen worden war.

     „Sollte er überraschend zurückkommen, müsst ihr euch halt einigen, wer wo schläft.“

     „Vielleicht wird er mir im Traum erscheinen. Oder ich habe sonst eine Eingebung. Darf ich mich denn hier ein wenig umsehen?“

     „Du sollst es sogar. Ich habe ja auch schon gesucht, aber nichts Besonderes gefunden.“ Sie müsse ihn jetzt allein lassen und nach dem Bruder sehen. Später werde sie ihn zum Abendessen abholen, etwa um sieben. Er bekam den Schlüssel für das Haus.

     Er war allein und ging langsam noch einmal durch alle Räume, jetzt auch durch das Schlafzimmer. Es roch im ganzen Haus unbewohnt, nach mangelnder Belüftung, nach älteren Möbeln, es waren schmucklose Stücke der siebziger Jahre. Hier und da klafften kleine Lücken, vielleicht hatte Ingrid Einzelnes mitgenommen. Die Wohnung erinnerte ihn an einen bestimmten Typ von Behausung, es war ihre Ähnlichkeit mit Ferienwohnungen, die er im Lauf der Jahre gehabt hatte. Sie sind fast immer sehr zweckmäßig eingerichtet, man findet, was man unbedingt benötigt, und darüber hinaus als Zugabe eine Auflage vorgespiegelter Individualität, hübsche, zweckfreie Sachen, die niemand stören können und die keinen Zusammenhang mit irgendeinem Menschen aufweisen.

     Tatsächlich war auch hier der Mangel an persönlichen Spuren bei vorgetäuschtem individuellem Geschmack kennzeichnend. Ähnlich würde er sich im Möbelhaus einer Kleinstadt vorkommen, in dem man ihn bei Geschäftsschluss versehentlich eingeschlossen hätte. Wie hatten sie hier wirklich gelebt?

     Er wollte jetzt nicht in den Schränken und Schubladen stöbern, in den Papieren, die dann in Zahlen und Fakten das einzig Persönliche aufweisen würden, das es hier zu entdecken gab. Vielleicht würde er auf Steuerbescheide, Röntgenbilder und Familienstandsurkunden stoßen – wozu? Außerdem würde es vielleicht nicht recht von ihm sein.

     Er fühlte sich entmutigt, niedergeschlagen. Dieses Gehäuse war sichtbar verlassen, frei von eindeutigen Spuren noch andauernden Lebens. Theo war wieder einmal fort, und er, Manfred, glaubte zu begreifen warum. Er legte sich im Wohnzimmer auf das Sofa und versank für ein oder zwei Stunden in einen Halbschlaf.

     Wieder bei vollem Bewusstsein, fühlte er sich merklich erfrischt. Er hatte geträumt, doch nicht vom Cousin. Plötzlich sah er klar, ohne über den Zustand der Wohnung noch einmal nachgedacht zu haben: Olga hatte hier am Morgen aufgeräumt und Spuren beseitigt. Sie hatte das Bett neu bezogen und sich auch sonst schon umgesehen … Er wäre besser unangemeldet gekommen. Wo war der Abfall? Alle dafür bestimmten Gefäße waren geleert. Die Mülltonnen würde er vermutlich im Garten oder im Keller finden. Doch interessierte er sich nicht für Pizzaverpackungen. Gab es Papiere aus den Tagen vor Theos Aufbruch, Briefumschläge, Rechnungen, Eintrittskarten?

     Der Papierkorb im Wohnzimmer war leer, nein, nicht ganz. Das winzige Stück Papier erwies sich auseinandergefaltet als Kassenbon einer Würzburger Buchhandlung. Dort hatte Theo zwei Tage vor seinem Verschwinden eine Zeitschrift gekauft. Es gab hier keinen Zeitungsständer und überhaupt wenig Gedrucktes im Haus. Das Telefonbuch, wenn es reden könnte, wo war es zuletzt aufgeschlagen? Er nahm es vorsichtig aus einem Regal und entdeckte dabei, was er suchte: Unter ihm lag eine Zeitschrift rund ums Motorrad, vor zehn Tagen erschienen. Ihr Preis war der auf dem Kassenbon. Durfte er schlussfolgern, Theo habe nicht lange vor seiner Abfahrt eine in dieser Ausgabe enthaltene Nummer gewählt?

     Er studierte die Kleinanzeigen: Verkäufe, Ankäufe, Maschinen, Ersatzteile, Bekleidung, umständehalber abzugeben … Ferner boten Frauen sich an oder wurden nachgefragt, und einzelne Männer suchten diskret Geschlechtsgenossen, Sodom in der Diaspora – aber nirgendwo ein Zeichen, dass etwas auf Interesse gestoßen sein könnte. Manfred durchblätterte den Textteil: viel Technik, neue Maschinen wurden wie Bücher oder wie Premieren besprochen. Der Reiseteil? Ja, hier war eine halbe Seite herausgerissen.

     Als er kurz darauf bei Olga im Wagen saß, sagte er, er müsse morgen für ein paar Stunden nach Würzburg fahren. Ob sie ihn am Vormittag zum Bahnhof bringen könne?

     Olga trug jetzt ein braunes Seidenkleid. Sie hatte es eilig, in die Stadt zurückzukommen: Das Abendessen für sie beide befinde sich noch im Backofen.

     Manfred wollte von ihr wissen, ob Theo vorige Woche einmal in Würzburg gewesen sei.

     „Ja am Dienstag, er hat mir etwas aus einer Parfümerie mitgebracht.“ Sie konnte sich genau an den Tag erinnern. Da nun aber der Kassenbon vom Montag war, musste er annehmen, Theo sei an zwei Tagen hintereinander nach Würzburg gefahren. Vielleicht wird ein Blick in jene Zeitschrift (und zwar in ein unversehrtes Exemplar) näheren Aufschluss bringen. Und wo sonst sollte er auch ansetzen? Hatte er sich schon einmal so viel Mühe mit dem Cousin gegeben?

     Nur zum Servieren streifte Olga eine Kittelschürze über, um sich gleich wieder von der Köchin in die Gastgeberin zurückzuverwandeln. Es gab einen komplizierten Auflauf, dessen Bestandteile er nicht herausschmeckte.

     Sie sprachen über die verkauften Grundstücke. Überall standen größere Veränderungen bevor oder waren schon im Gang. Die Häuser in der Stadt würden im Herbst, spätestens jedoch im Frühjahr abgerissen werden, und in der Sandgrube …

     „Ja?“

     „ … lichten sie den Urwald jetzt aus. Man kann es vom Tal aus sehen.“

     „Vernünftig. Ich würde es auch tun.“

     Sie schwieg, und er begriff, was sie denken mochte: Aber er hat es nicht getan, er hat es weggegeben.

     Es brach dann aus ihr heraus: „Dass es so kommen musste! Es ist nicht recht, nein, es ist nicht recht.“

     Er wollte sich nicht rechtfertigen und auch niemand sonst. Er sagte nur: „Immerhin leben wir noch und nicht schlecht, wie mir scheint.“

     Nein, sie wolle sich gar nicht beklagen, nur müsse man jetzt erst recht zusammenhalten. Dass er sich weiter um Theo kümmern wolle, das sei schon viel, sie könne es nicht mehr …

     Ihre Bewegung war ihm peinlich, und als sie kurz darauf vorschlug, er solle auch noch mit Ingrid reden, sagte er ja, ohne sich davon etwas zu versprechen. Auf dem Weg zurück ins Dorf lud sie ihn für den nächsten Morgen zum Frühstück gemeinsam mit ihr und Onkel Georg ein.

     Sie setzte ihn vor dem Haus ab und kam nicht mehr mit hinein. Es war, als liefere sie ihm den Bungalow aus, als lade sie jede Verantwortung bei ihm ab. Drinnen fand er sich anfangs nur mit Mühe zurecht. Er hatte die Lage der Zimmer zueinander noch nicht oder nicht mehr im Kopf. Das Haus, mit dem er kaum vertraut geworden war, schien ihm schon wieder verwandelt. In allen Räumen tastete er nach den Schaltern und ließ das Licht aufflammen. Hell erleuchtet wirkten die verwaisten Zimmer, die banalen Möbel beinahe feindselig. Er zog sich in Theos altes Zimmer zurück und ließ nur eine kleine Lampe brennen.

     Da verbrachte er nach Jahren wieder einmal eine Nacht allein in einem leeren Haus. Doch diesmal empfand er keine Beruhigung. Es gab Häuser, über denen das Verhängnis brütete, in denen zum Beispiel dem Hauseigentümer eine Reihe aufeinander folgender Mieter jeweils bald nach ihrem Einzug wegstarben, ein Hohn auf jede statistische Wahrscheinlichkeit. Der Eigentümer zog am Ende selbst in jenes Haus und starb seinerseits in Jahresfrist. Die Nachbarn hier konnten diesen Bungalow für ebenso verhext halten: Wahnsinn, Selbstmord, Homosexualität … Er hörte Max protestieren; vielleicht hatte er jetzt den Gedanken nur formuliert, um in sich den Kreisrat zum Widerspruch zu reizen. So war er also doch nicht vollständig allein hier.

     Er war überreizt, erschöpft von der Reise, vom Hin- und Herfahren zwischen Stadt und Dorf, und er glaubte nicht mehr an den Erfolg seiner Nachforschungen. Schon im Voraus resigniert, ging er früh schlafen und zog sich in den eigenen Schlaf zurück wie in einen letzten Zufluchtsort.

     Am anderen Morgen konnte er sich an keinen Traum erinnern. Immerhin war er ausgeruht und bereit, die Suche nach dem Verschwundenen fortzusetzen.

     Olga klingelte gegen halb acht an der Haustür. Auch sie hatte sich gefangen. Unterwegs erwähnte sie, der Garten werde jetzt vom Onkel betreut.

     „Und er möchte ihn bald los sein?“

     „Nein, so ist es nicht. Sollte Theo ganz weggehen, ist geplant, dass mein Bruder das Haus übernimmt. Er hat deshalb nur eine Mietwohnung genommen.“

     Diese Wohnung lag in der Nähe der Kuranlagen im ersten Stock eines älteren Hauses. Manfred hatte den Onkel als einen Mittvierziger im Gedächtnis behalten und musste nun sein Bild von ihm, als sie sich an der Wohnungstür begrüßten, im Verlauf von Sekunden der Erscheinung ihm gegenüber anpassen. In solchen Fällen verlangt die Rücksicht auf den Gealterten, dass man sein Erschrecken verbirgt. Früher war er ihm zupackend und dabei etwas kurz angebunden vorgekommen, jetzt sah er einen mürrischen und verbrauchten älteren Mann vor sich.

     Theos Onkel belebte sich im Gespräch, das sie während des Frühstücks führten. Sie sprachen über die Stadt und wie sie sich entwickelt habe, seit Manfred fortgegangen war. Aus Neustadt könne noch etwas werden, jetzt ohne die Grenze, meinte Manfred (Das war nur eine neuerdings übliche Redensart, und er genierte sich vor sich selbst, während er sie gebrauchte.)

     Der Onkel sah das ganz anders: Es bleibe nun erst recht ein unbedeutendes Nest im Abseits, und je mehr Grenzen fielen, umso härter werde die Konkurrenz zwischen immer mehr Kleinstädten ohne Zukunft. Dem Mittelstand gehe langsam die Luft aus, und was sei das flache Land ohne ihn: ein grüne Wüste. Die Jugend wandere ab, die Gegend vergreise. Und was für das flache Land im Ganzen gelte, sei erst recht für den einzelnen Betrieb richtig: Er müsse wachsen oder  - müsse sterben. Es gebe kein Gleichgewicht von längerer Dauer.

     Es entging Manfred nicht, dass seine eigene Erscheinung den Onkel erheblich irritierte. Sein Blick ging meist an ihm vorbei und heftete sich mit vorgeblichem Interesse an die vertrauten Gegenstände im Zimmer. Mich geradeaus anzusehen, dachte Manfred, das empfindet er schon als Bedrohung. Es könnte die Distanz verringern, und die möchte er unbedingt aufrechterhalten.

     Olga stand immer wieder auf, um sie beide zu bedienen. Wiederholt fragte sie mit gespielter Unsicherheit: „Kann man es essen?“ Beim Kaffee gestern hatte sie natürlicher, lockerer gewirkt. Auch die teilnahmslose Haltung des Onkels ihr gegenüber gehörte zum Ritual. Die familiäre Hierarchie jedenfalls hatte den Zusammenbruch überlebt.

     Der Onkel schnitt schließlich das sie jetzt allein interessierende Thema an: Theo müsse sich bald entscheiden, er könne das Haus nicht auf Dauer blockieren.

     „Wenn ich mit ihm reden könnte“, sagte Manfred, „würde ich es ihm klarmachen.“

     Damit war das Wesentliche schon gesagt. Sie alle betrachteten stillschweigend Theo als einen, der einen Vormund braucht, und die Vormundschaft war jetzt auf Manfred übergegangen. Was speziell Olga betraf, so gehörte sie zu jenen Frauen, deren Einsatz nur den dauernd in der Nähe Anwesenden gilt. Theo war kein Hiesiger mehr, er war noch einmal auf Urlaub gekommen, wie Manfred früher schon, und jetzt war er wieder fort. Das war von jetzt an der Normalzustand, sie hatten es längst akzeptiert und wünschten nur noch, dass der verbliebene Schutt weggeräumt würde.

     Olga sagte: „Die Oma wird es allerdings nur schwer verkraften, wenn sie dann noch einmal umziehen muss.“ Dass sie ihre Mutter so nannte, war eine sentimentale Gewohnheit aus Theos Kindertagen.

     Es war Zeit, sich von Olga zum Bahnhof bringen zu lassen. Er erfuhr noch, Ingrid erwarte ihn um fünf Uhr in einem Café in der Altstadt, das er noch nicht kannte.

     Im Zug resümierte Manfred: Die Firma existiert nicht mehr, demnach wird Theo als Nachfolger nicht mehr gebraucht. Er ist ihnen schon fremd, vielleicht hat er etwas von meinem Geruch angenommen. Wenn er keine wirkliche Rolle mehr spielt, soll er auch keine Probleme machen. Die Welt dieser Kleinstädter ist recht einfach strukturiert. Und was ist mit Ingrid und der Kleinen? Das wird er heute auch noch erfahren.

     Wie in all den vergangenen Jahren besserte sich auch dieses Mal seine Stimmung mit jedem Kilometer, den der Zug sich von Neustadt entfernte. Abreisen, nicht nur von Neustadt, bedeutete von jeher: sich frei machen, Neues beginnen, das eigene Leben erst leben. Es war ihm wieder, als könne er nur dort, wo er herstammte und wo der Rest der Familie noch verharrte, in vollem Umfang in Mithaftung genommen werden. Und Theo? Er war selbst fortgegangen, und vielleicht wird er ihn an einem dritten Ort wiederfinden. Dritter Ort, dritter Weg, Theo als einer von dreien – schon vorbei?

     Auch das war eine mögliche Variante der Geschichte vom verlorenen Sohn: zurückzukehren, um endgültig fortzugehen. So gesehen befand er, Manfred, sich jetzt vielleicht in Theos Nachfolge. Das Geflecht ihrer Beziehungen war so dicht geworden mit all seinen Imitationen, Identifikationen und Wiederholungen, dass nicht immer zu entscheiden war, wer vorausging und wer die Spur aufnahm. Nach Würzburg, nach Würzburg …

     In Schweinfurt musste er umsteigen. Der vom Ortswechsel herrührende anhaltende Schwung ließ es ihn kaum bemerken, und er kam fast euphorisch in Würzburg an. Vielleicht hätte er jene Zeitschrift auch in Neustadt bekommen können, doch hätte er sich dann um das Vergnügen gebracht, die leicht abfallende Kaiserstraße hinuntergehen zu können; sie war, wenn er von daheim aufbrach, die erste schon großstädtische Straße mit Kinos, Kaufhäusern, Straßenbahnen und Buchhandlungen und einer Menge fremder Menschen, die das auch bleiben würden. So war sie für ihn ein Tauentzienstraßenersatz gewesen. (Immer wieder Kästner, auch damals schon auf seinem eigenen Weg zum Nollendorfplatz.) Manfred, der die Großstädte zuzeiten beinahe hasste, verspürte jetzt wieder das Glück des Siebzehnjährigen, der er einmal gewesen war, der für einige Stunden der Sandgrube entronnen war und sich hier die unbedingt notwendigen Eindrücke verschafft hatte. Schon damals waren es vor allem Bilder gewesen, Bilder, herausgeschnitten aus flüchtigster Anonymität.

     Allzu bald stand er vor dem kleinen Buchladen. Die gleiche Nummer der Zeitschrift war noch vorrätig, er kaufte ein Exemplar und schlug draußen sofort die ihn allein interessierende Seite auf. Es waren nicht die Südalpen. Theo zog es ins Rheinland. EIFEL – MOSEL – AHR, so stand es in blutigen Lettern auf grünem Grund. (Die Titelseite des besprochenen Buches war in den Text eingerückt.) Manfred ließ sich vom Menschenstrom zum Marktplatz weitertreiben und versuchte innerlich, der Sache mit dem Rheinland auf ihren grünen Grund zu kommen. Er selbst, Manfred, hatte diese Gegenden nie besucht. War es nicht das Hinterland von Köln? Und, immer vorausgesetzt, Theo war dorthin aufgebrochen: Deutete sich damit ein vorläufiges Ende ihres gemeinsamen Romans schon an? Wollte Theo auf diese Weise am künftigen Text mitschreiben? Literarisch betrachtet war der Einfall allzu naheliegend für einen guten Schluss. Aber das galt nur für ein etwaiges Publikum, er selbst, Manfred, war jetzt  wieder einmal perplex. Und ahnungsvolle Vorfreude durchrieselte ihn.

     Er ging eine Kleinigkeit essen, und während er aß, fiel sein Blick noch einmal auf die Titelseite mit ihrer Übersicht der wesentlichen Artikel der Nummer. Und nun las er, schwarze Großbuchstaben auf sattgelbem Grund: NÜRBURGRING: DIE EWIGE FASZINATION. Richtig, auch der Ring war eine der Attraktionen der Eifel. Und Gelbschwarz galt seit Lüscher als eine dem Selbstmord wesensverwandte Farbkombination. Faszination in Verbindung mit ewig erschien ihm daraufhin höchst suspekt. Wollte sich der Cousin am Ende dort den Schädel einrennen?

     Er fragte vergeblich in zwei Buchhandlungen nach Theos Reiseführer. Dann war es auch schon Zeit, zum Bahnhof zu gehen und zurückzufahren, wenn er Ingrid nicht umsonst ins Café kommen lassen wollte.

     Im Zug verschob er es auf den Abend, mehr über den Nürburgring zu erfahren. Stattdessen griff er zur Süddeutschen und überflog zunächst alle Überschriften von der ersten bis zur letzten Seite, wobei er die wenigen ihn besonders interessierenden Artikel auch schon las. Was übrig blieb, war wie immer entmutigend viel an weiterem Lesestoff. Aus Pflichtgefühl unternahm er eine zweite Sichtung, nun in umgekehrter Reihenfolge, mit dem letzten Blatt beginnend. Musste man das alles lesen? Er verzichtete auf die Lage der Opposition in Burkina Faso, las dafür ein halbe Seite über die Entwicklung der mexikanischen Wirtschaft, verweigerte sich Klangexperimenten in Regensburg, informierte sich über Fälle von Korruption in einem Berliner Bezirksamt und immer so fort … Er las, verzichtete, las und verzichtete. Schon das Auswählen absorbierte ein Gutteil seiner Konzentrationsfähigkeit und belastete ihn mit dem zunehmenden Gefühl, seiner Zeit nicht gewachsen zu sein.

     Als er in Neustadt aussteigt, lässt er – ein Akt der Befreiung – die nur zu einem Viertel ausgelesene Zeitung mit Absicht im Abteil liegen. Und wie viel vom Gelesenen ist ihm noch präsent? Draußen vor dem Bahnhof findet er als Erstes heraus, er hat zusammen mit der Süddeutschen versehentlich auch die Zeitschrift zurückgelassen. Kann er sie noch einmal irgendwo bekommen?

     Er ging rasch ins Stadtzentrum, fand das Café in einer Seitenstraße und entdeckte an einem der vorderen Tische allein Olga. Ingrid habe nicht kommen können, ein wichtiger Kunde habe sich kurzfristig für den Nachmittag angesagt.

     Um wiederholtes Hin- und Herfahren zwischen Stadt und Dorf (wie von Olga beabsichtigt) zu vermeiden, lud er sie zu einem verfrühten Abendessen in der Nähe ein. Der hiesige Grieche öffnete schon um halb sechs, er kannte das Lokal von früher. Es war unverändert, noch immer saß man dort zwischen Aquarien und blickte auf Plakate mit blauen Ansichten von südlichen Inseln. Lichtstrahler waren auf ein Wasserbecken gerichtet, und das gefilterte Licht tauchte rundum alles ins Grünliche.

     „Nein“, wies er Olgas Angebot zurück, doch noch etwas zu arrangieren, „diesmal jedenfalls werde ich Ingrid nicht treffen. Ich fahre morgen schon weg, ins Rheinland. Da wird er irgendwo sein.“

     Olga fragte nicht einmal, wie er zu dieser Gewissheit gekommen war. Stattdessen versicherte sie ihm, er und Ingrid würden sich wider Erwarten gut verstehen. Ihr eigenes Gefühl sage ihr das. „Ihr drei, das wäre auch so eine Art Familie.“

     „Ist das ein neues Projekt von dir?“ Es war Zeit abzureisen, er wurde schon ironisch.

     Sie versprach, ihn früh am nächsten Morgen zum Bahnhof zu bringen. Er wollte erst in Würzburg auf dem Bahnhof frühstücken.

     Wie am Vortag setzte sie ihn wieder vor dem Haus ab, ohne mit hineinzugehen. Er fand sich schon besser zurecht. Man würde sich auch hier für eine gewisse Dauer einrichten können. Das Gebäude war großzügig, die Einrichtung zweckmäßig, nichts an ihr forderte zur Bewunderung heraus. Hier könnte man unabgelenkt arbeiten, Betrachtungen anstellen, zum Beispiel über alles Vorläufige unserer Existenz. Jede Bleibe war auf längere Sicht nur eine Zwischenstation. Umziehen verjüngt, er hatte es früher wiederholt an sich erfahren. Es kam nur darauf an, ohne Bedauern fortzugehen und es anderswo erträglich zu finden. Dieses Haus war auch ein Gleichnis. In zwölf Stunden wird er es vermutlich für immer verlassen haben.

     Er rief die Zugauskunft in Würzburg an. Als er das Telefonbuch zurücklegen wollte, entdeckte er auf seinem rückseitigen Deckblatt eine handschriftliche Ziffernfolge, offenbar eine auswärtige Telefonnummer und ein zweistelliger Markbetrag. Es sah nach Theos sauberer Schülerhandschrift aus. Er wählte die Nummer, und es meldete sich ein Gasthof.

     „O, habe ich nicht das Hotel Eden in Bonn?“

     Die Frauenstimme wiederholte geduldig den Namen der Herberge, es sei in Kobern-Gondorf. Er ließ sich den Ortsnamen wiederholen, um ihn zweifelsfrei zu verstehen, und bedauerte dann die Störung. Nur konnte er dann nicht mehr nach einem Zimmer für sich und einem Gast namens Aufwind fragen; was vielleicht auch übereilt gewesen wäre.

     War die Spur absichtlich gelegt? Harmlose Erklärungen bieten sich immer an. Man notiert Telefonnummern, wo man Platz dafür findet. Preisauskünfte hält man gern schriftlich fest. Wenn aber die Nummer des Gasthofes der Zeitschrift oder dem Reiseführer entnommen war, wozu war sie dann vor dem Anruf abgeschrieben worden? Hatte der Cousin damit gerechnet, einer werde kommen und das Telefonbuch benutzen wollen? Würden Olga oder Ingrid in diese Lage kommen können? All das blieb ohne Antwort, und wo das unbekannte Kobern-Gondorf liegt, wird man ihm morgen in Würzburg auf dem Bahnhof sagen.

     Manfred war sich nicht einmal darüber im Klaren, in welchem Maß er Theo für berechnend hielt. Bei seiner ersten Ankunft im März schien er es sehr wenig zu sein. Hatte er seitdem eine Schule durchgemacht? Wie wenig man sich kennt.

     Es war vielleicht seine eigene letzte Nacht in Neustadt. Es gelang ihm, früh zur Ruhe zu kommen, indem er, statt über Theo und die Reise zu ihm nachzudenken, andere Gestalten und Situationen heranrief. Es gab da seit langem eine größere Auswahl. Möglich, dass ihm jener Maler aus der Stadt im Nordwesten gegenwärtig wurde.

     Olga kam doch noch darauf, ihn zu fragen, wieso er Theo  im Rheinland vermute.

     „Es würde zu umständlich sein, es dir im Einzelnen zu erklären. Mir ist etwas eingefallen, ein Gespräch, das wir in Hamburg am Ende geführt haben. Erst jetzt habe ich den richtigen Schluss daraus ziehen können.“

     Sie fand das offenbar unbefriedigend. Beim Abschied vereinbarte er mit ihr, sie jeden zweiten Abend anzurufen und nachzufragen, ob Theo sich gemeldet hätte. „Du kannst ihm dann auch sagen, dass ich in seiner Nähe Urlaub mache. Es wird ihn nicht einmal überraschen.“

23. Strandbilder

Der Rheingau hat mich hervorgebracht ... nein, ihn nicht, in seinem Fall war es das Grabfeld, und das war allerdings ein Unterschied. Manfreds Zug hatte Mainz vor einer Viertelstunde verlassen und sauste jetzt durch Obstbaumhaine. Der Blick ging hinüber zu den berühmten Lagen jenseits des Stromes, eine musikalische Landschaft, zugegeben, und die chemischen und anderen Fabriken, die hin und wieder die Aussicht verstellten, waren zeitgemäße Dissonanzen. Sein Zug war einer aus der vorigen Generation mit viel Platz für das Gepäck und Polstern, die sich noch knautschen ließen. Wenn man sich in sie hineinlümmelte – er war allein im Abteil -, schien man es gleichzeitig zurück in die eigene Jugend zu tun. Wer das könnte: sich mit der Reife des Alters gemütlich in der eigenen Jugend einrichten - Glück der Regression, schon auf die bloße Vorstellung hin stellt sich Glücksgefühl ein. Und er war auf dem Weg zu diesem Kindskopf, diesem Seitenableger.

     Vom langen Sitzen, seit Würzburg her, begann sein Rücken zu schmerzen. Er stand auf und blickte vom Gangfenster auf die herantretenden Wände des Binger Lochs: immer noch Wein, ausschließlich Wein an diesen extremen Hängen, Triumph der Kultur über die Natur, ohne sie zu vernichten. War der Anblick dieses massiert-organisierten Grüns, dieser Spaliere von Reben wie Zahlenkolonnen nicht doch etwas monoton? Der Zug rollte langsamer durch eine kleine Station, zwischen dem Bahnhof und dem Strom die örtliche Kläranlage. Enten schwammen in den Klärbecken, sie hielten sich im Takt mit den Rührlöffeln, oben auf der Dünung, Triumph der Restnatur über die Kultur; es waren unreine Tiere.

     Die Szenerie draußen wurde zusehends wilder: Ruinen von Burgen und Ruinen von Hotels, fast überwuchert, nicht mehr vom Wein, sondern vom Gestrüpp. Zwar erkannte sein von anderswoher geübtes Auge noch die Rebterrassen, die hängenden Weingärten, die zerbröckelnden Mauern, doch unverkennbar war der Weinbau im Großteil des Tales aufgegeben. Verwilderte Rebstöcke noch in Reih und Glied erkennbar, das war nur das erste Stadium des Verfalls, da wo die Pflege erst vor ein paar Jahren aufgehört hatte. Insgesamt vorherrschend war schon der dichte grüne Pelz des nachwachsenden mitteleuropäischen Urwaldes, der sich hier im feucht-milden Klima bald alles unterwarf. Es müsste herrlich sein, dort auf den alten Wegen umherzustreifen, solange es noch möglich war.

     Es war nicht nötig, dort hinaufzugehen. Hier war alles Neuland, nie gesehen. Das Stromtal, die Täler der Nebenflüsse und das Gebirge überhaupt waren neu für ihn. Was die Urgroßväter entdeckt und intensiv bereist hatten, war in der Zeit versunken und lag für Grabungen bereit. Und dann war doch jede Reise nur vordergründig ein Unternehmen zur Erkundung der Außenwelt, bedeutsamer war sie als Expedition ins eigene Innere. Es fiel ihm auf, dass der Rhein und seine Ufer viel belebter waren als die Elbe. Er nahm es als Zeichen auch für die eigene Lage. Es kam für ihn etwas in Fluss, das längere Zeit gestockt hatte. Gewiss, er war auch mit einer ganz bestimmten Absicht unterwegs, es war ihm gegenwärtig. Doch zunächst genügte es, dass der Cousin sich im gleichen Rahmen bewegte.

     Er musste dieses enge Tal schon einmal vom Zugfenster aus betrachtet haben. Es lag an die zwanzig Jahre zurück, es war in jenem August gewesen, in dem er sich eine Hütte in den norwegischen Bergen mit einem Frankfurter teilte. Sie flohen vor dem nasskalten Wetter, sie flogen vorzeitig zurück. In Frankfurt blieb er dann nur vierundzwanzig Stunden, Zeit genug, drei verschiedene Betten kennenzulernen – die Erinnerung an ihre Besitzer war längst überwuchert wie die Weinberge hier im Tal. Er nahm damals den Zug nach Amsterdam. Vom Aufenthalt dort war im Sieb des Gedächtnisses nur ein Kalifornier hängen geblieben, der nachher den Namen des Erlösers wie eine Selbstverwünschung hervorstieß: „Jesus!“

     Er deponierte sein Hauptgepäck im Koblenzer Bahnhof. Bevor er mit dem Rucksack in einen Zug moselaufwärts stieg, sah er sich das Zentrum der Stadt an. Von den Städten im Rheinland kannte er bisher nur Bonn, Köln und Düsseldorf. Dieses Koblenz überraschte ihn durch viele Züge, die er von Berlin kannte. Es war eine Art Wilmersdorf am Rhein, ordentlich, wohlanständig, beamtenhaft. Früher hätte ihn das gestört. Jetzt ging er hier die breiten Straßen entlang, die sich rechtwinklig kreuzten, und vorbei an Gebäuderiegeln, die etwas Zeiten Überdauerndes hatten, und dachte: eine Stadt wie ein Mantel, passend zu Herbsttagen oder für einen Vorfrühling, der auch noch kommen kann. Da hatte er auf seiner Reise in kurzer Zeit bereits zwei divergierende Elemente vorgefunden: eine sich auflösende Kulturlandschaft und eine Stadt der anscheinend unerschütterbaren Ordnung. Das waren zwei Pole oder zwei Themen: Mal sehen, was daraus noch werden kann.

     Dann stand alles unvermittelt nebeneinander, aus dem Nacheinander dieses Nachmittags ergab sich für ihn noch kein Zusammenhang. Die Brücke über die Mosel, der Vorortbahnhof, an dem er den Zug verließ, Gärten mit Obstbäumen, ein Weg, der hinaufführte in felsdurchsetzte Weingärten … Von dort oben dann die erste Übersicht über die neue Gegend. Der Fluss ähnelte allzu sehr einem Kanal, das war enttäuschend, doch die steilen, waldbedeckten Anhöhen jenseits machten es wieder gut. Im Westen war das Bild des Tales wie gerahmt, dort führte eine sehr hohe Brücke von der einen Hochfläche auf die andere hinüber. Nach einem Zwischenabstieg ging es noch weiter hinauf in die Weinberge, und dann überquerte er auf kleiner Brücke die Autobahn, von der jener große Viadukt nur ein Teil war. Unablässig donnernd ergoss sich der Verkehr von beiden Seiten auf die Brücke, so das Tal unter sich verschonend. Der Fluss beschrieb von hier aus eine weit nach Norden ausschwingende Kurve, ihr Ende war nicht abzusehen. Sein eigener Weiterweg führte ihn hinter der Autobahn sehr bald in dichten Wald hinein und dann steil hinab in ein weltfernes Seitental. Indessen war es nur kurz und er befand sich schon wieder auf der Sohle des Haupttales und in unmittelbarer Nähe des Flusses, von ihm und der Uferstraße nur durch den Damm der Eisenbahn getrennt; auf der anderen Seite traten schiefrige Felswände dicht an die kleine Senke heran. Der Boden musste hier kostbarer sein als am Rhein, denn selbst dieser Graben zwischen Bahndamm und Felskante diente dem Weinbau.

     Vor sich sah er die ersten Häuser von Kobern-Gondorf. Dieser Gang von drei Stunden war kurzweiliger als vermutet gewesen. Manfred stellte bei sich fest, dass er hier herumging nicht wie einer, der ein bestimmtes Ziel verfolgt. Warum war er nicht sofort von Koblenz mit dem Zug weitergefahren? Sicher, es war auch sonst seine Gewohnheit oder Marotte, einen neuen Übernachtungsort möglichst zu Fuß zu erreichen. (Dabei konnte man sich auf Seume berufen oder an Jean Paul denken. Immerhin hatte das bürgerliche Zeitalter mit solchen Fußreisen begonnen. Der aufgeklärte Bürger ging zu Fuß, einer besseren Zukunft entgegen, während der Adlige auf seinem Abstieg noch immer ritt. Wohin führte denn der Weg des Bürgers, seitdem er die ihm angeborene Fortbewegungsart weitgehend vermied und stattdessen lieber Fortbewegungsmaschinen bediente?) Er hatte die Verzögerung vorhin sich selbst gegenüber so begründet: Wenn der Cousin gerade heute weiterreist, dann hat er es schon am Vormittag getan. Also genügt es, am Abend in Kobern-Gondorf einzutreffen und die Spur aufzunehmen. Die Eindrücke des Nachmittags – und wie er sie aufgenommen hatte – legten einen anderen Schluss nahe: Er selbst war neugierig auf diese Landschaft und deshalb bereits in Güls ausgestiegen. Am Ende war er doch schon so gut wie entschlossen, auf jeden Fall ins Rheinland zu gehen.

 

Der Gasthof war noch geschlossen – Mittagspause bis halb sechs. Ein anderes Haus war mehr um Kundschaft bemüht und bot um diese Zeit Kuchen und Eis an, sogar draußen im Freien. Es war am Marktplatz mit seinen Fachwerkfassaden. Manfred wollte hier jetzt Eis essen und Tee trinken, ein plötzlich unabweisbar gewordenes Bedürfnis nach Erfrischung.

     Der sich altdeutsch gebende Platz war fast verwaist. Die Umsätze, die zählten, wurden hier offenbar zu anderen Zeiten gemacht. Nur ein Gast saß außer ihm noch im Vorgarten, ein nicht mehr ganz junger Motorradfahrer, einer von denen, die mit Anfang Vierzig noch immer sehr jung erscheinen. Hatte Manfred ihn überhaupt bemerkt, als er sich vorhin zur Einkehr entschloss? Seine Maschine stand schräg gegenüber an einer Ecke des Platzes, das Nummernschild war vom Tisch aus nicht zu lesen. Theo fuhr ein anderes, ein größeres Modell der gleichen Marke.

     Von seinem Tisch aus konnte Manfred ungestört das schmale, längliche Profil betrachten, der andere hatte ihn nicht im Blickfeld. Haar und Schnauzbart kurz und tiefschwarz, die Haut stark gebräunt, die Züge glatt und gefällig bis zum Ausdruck von Selbstzufriedenheit: Er war gewiss das, was man anziehend nennt, und war es vermutlich mehr, als gut war – für andere. (Anziehend war auch das Licht einer Flamme – für die Motten.) Er hatte die schwarze Lederjacke mit den dunkelgrünen Schulterstücken über die Lehne des weißen Plastiksessels neben sich gehängt und wies bei sonst schlankem Oberkörper, an dem nichts bemerkenswert erschien, kräftig-sehnige Arme vor.

     Jetzt brachte man ihm sein Eis. Die Kellnerin versuchte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Es kam zunächst nur mühsam in Gang. Am Anfang verstand Manfred kaum etwas. Der rheinische Akzent des nicht mehr ganz jungen Mannes wirkte herablassend, doch tut er das oft auf Fremde, man konnte es ihm nicht anlasten. Er bemühte sich sichtlich, im Gespräch ein Lächeln zustande zu bringen, wie um die Kellnerin damit zu beschenken. Fast schien es, er wolle sich damit loskaufen; denn unverkennbar hatte sie es auf einen harmlosen Flirt angelegt. Endlich erschien etwas Kristallartiges auf seinem Gesicht, umspielt wie von kaltem Feuer, nicht entflammt vom Geschauten, sondern von den glatt geschliffenen Kanten des eigenen Selbst. Die Sonne, ja das Universum meinten es allezeit gut mit ihm. Manfred erlebte dieses Schauspiel nicht zum ersten Mal auf einem fremden Gesicht, es war ihm ziemlich geläufig, erstaunlich war nur, dass es sich ihm gerade hier und am Beginn seiner Reise präsentierte. Es war ein sieghaftes Lächeln wie ein Abwehrfeuer, im Bewusstsein, mehr noch: im Vollbesitz (und dem Genuss daran) der eigenen Integrität und das heißt voller Abwehr des von außen Kommenden.

     Manfred verstand jetzt, was die Kellnerin sagte: Das Wetter sei gut, aber sie könnten noch mehr Gäste gebrauchen. Daraufhin der mit den grünen Schulterstücken: „Ich sollte schon vorgestern hier sein. Vielleicht bin ich umsonst gekommen. (Er konnte es sich seinem Ausdruck nach durchaus nicht vorstellen.) Aber man kann nie wissen.“

     Er bestand darauf, sofort zu zahlen. Dennoch saß er noch immer an seinem Tisch, als Manfred aufstand und zur Platzecke ging. Das Nummernschild wies ein K für Köln auf. Im gleichen Augenblick fühlte Manfred sich ertappt: Der andere hatte ihn scharf im Visier, doch war sein Ausdruck jetzt vollkommen neutral. Das Lächeln war nicht zu befürchten. 

     Manfred wandte sich vom Platz weg und folgte einer Quergasse. Vielleicht würde sie ihn in einem Bogen zu jenem Gasthof führen, in dem er eine Spur von Theo zu finden hoffte. Doch die Gasse wollte ihm diesen Dienst nicht erweisen, sie strebte direkt dem Steilhang zu, um ihn im letzten Augenblick zu umgehen und den Anstieg von der Seite zu bewerkstelligen. Er kam also von seiner Richtung ab, es ging da steil hinauf zu einer Niederburg und weiter noch zu einer Oberburg, wie Schilder am Wegrand besagten. Es rächt sich immer, sein Ziel nicht unmittelbar zu verfolgen, es nicht von vorn anzugehen. Warum war er am Markt nicht einfach umgekehrt und den ihm schon bekannten Weg zurückgegangen? Einem Zwang gehorchend, hatte er den fast leeren Marktplatz noch einmal überblickt, wobei er und der Schwarzgrüne sich neuerdings musterten, und dann dem Bedürfnis nachgegeben, sofort von der Bildfläche zu verschwinden. Als gelte es, eine Entscheidung zu vermeiden.

     Die sich vortastende Selbstanalyse ließ ihn zwar noch nicht klar sehen, dafür führte die dabei frei werdende Bewegungsenergie ihn rasch bis zur Niederburg hinauf. Diese Ruine hielt das untere Ende des schmalen, steil abfallenden Bergsporns besetzt; von hier aus schon ein Tiefblick auf Markt und Gassen, dem nichts entging. Und Manfred sah, wie der Gast von vorhin eben vom Markt wegfuhr. Gut so.

     Nieder- und Oberburg verband ein durch Weingärten und an Felsabgründen vorbeiführender Kreuzweg. An jeder Leidensstation eröffneten sich neue Ausblicke auf Ort und Landschaft. Noch mehrmals geriet der Kölner, immer kleiner werdend, in Manfreds Blickfeld. Es kann doch nicht schwierig sein, den Weg aus diesem (wenn auch recht großen) Dorf herauszufinden. Anscheinend unentschlossen fährt er unsystematisch die Straßen ab. Oder er sucht jemanden … Sollte dies die Folge ihres ganz und gar harmlosen Blickwechsels sein? Manfred kehrte noch nicht um. Erst als er einen Blick auf die obere Burg und einen auf die Matthiaskapelle daneben geworfen hatte, sagte er sich, jetzt sei es Zeit, im Gasthof nach dem Zimmer zu fragen.

     Auf dem Weg hinunter ging ihm der Kopf des Apostels, dessen die Koberner sich seinerzeit im Orient bemächtigt zu haben glaubten, nicht aus dem eigenen. Ein Kopf immerhin, das war schon etwas in der Hierarchie der Reliquien, mehr als ein Zahn, ein Knochensplitter oder ein Stück vom Gewand. Merkwürdig, dass gerade der starke, gute, ursprüngliche Glaube sich an reale Dinge zu halten sucht, an möglichst handfeste. Und wenn später die Kunst die Stelle der Religion einnimmt, tritt eine Verschiebung in Bezug auf das Anbetungswürdige ein, von den realen Sachen hin zu den Bildern. Vielleicht werden die Bilder einmal so bedeutungslos sein wie die Reliquien.

     Er näherte sich dem Marktplatz, da sah er den mit den grünen Schulterstücken auf sich zufahren. Unmöglich, seinen Gesichtsausdruck durch das Helmvisier zu entziffern. Die eigene Neugier perlte am Plexiglas des anderen ab, der ihn ansah, dann aufdrehte und zügig davonfuhr.  Es war die Richtung flussaufwärts, nach Cochem.

     Was für ein Glück, so empfand es Manfred sogleich, was für ein Glück – aber inwiefern eigentlich? Wie auch immer, es war Zeit, sich um den Gasthof und das Zimmer zu kümmern.

     Er wäre heute in jedem Fall zu spät gekommen. Herr Theodor Aufwind war schon am Vortag abgereist. Die Auskunft wurde nach nur kurzem Zögern erteilt. Man fand ihn, Manfred, demnach seriös und als Vetter glaubhaft. Er war erleichtert und enttäuscht.

     Die kleine Dame an der Rezeption sagte noch: „Richtig, sie haben ja deshalb auch angerufen. Er hat sie wohl schon früher erwartet.“

     „Wohl kaum“, sagte Manfred, „wissen Sie, wo er von hier aus hingefahren ist?“

     „Wohin schon: moselaufwärts, denke ich, wie die meisten, wenn sie in der Gegend hier Urlaub machen. Wir haben am wenigsten davon.“

     „ … wo es doch auch bei Ihnen hier sehr ansehnlich ist. Die schönen Häuser hier am Markt, die Burgen … Ich habe mich vorhin schon umgesehen. Und dann die Reliquie, ich meine den Kopf des Matthias …“

     Aber der sei schon seit ewigen Zeiten in Trier, sagte sie. Sie händigte ihm den Zimmerschlüssel aus. Es bleibe also dabei: nur eine Nacht?

     Zu Abend aß er gleich hier im Gasthof. Er war angeregt, merkwürdig heiter. Es war hoffentlich keine heitere Verstimmung, nein, diesmal nicht. Er war wirklich befriedigt seit dem … ja, wie sollte man das nennen, diese Nichtbekanntschaft vorhin, ein Suchen und Nichtfinden mit dem Ergebnis unbeschreiblicher paradoxer Befriedigung. Er hatte noch einmal ein schönes Bild gefunden, und Komplikationen waren zum Glück ausgeblieben. So war seit langem das Grundmuster seines Verhaltens: Interesse und Flucht. Das Glück bestand gerade darin, die sichere Enttäuschung zu vermeiden. Die Flucht war ihrerseits mit Lust verbunden, sie war Lösung, Befreiung. Wer wollte, konnte das pathologisch nennen – woraufhin man sich verteidigen würde. Es ging auch darum, die Bilder, jene Zeichen des Glücks, in anbetungswürdigem Zustand zu erhalten.

     Was ihn überraschte, war, dass ein Erlebnis dieser Art den Auftakt seiner Reise bildete. Das alte Spiel ging also weiter, nur in einem viel größeren Rahmen. Wozu noch länger im Village verkehren? Er hatte sich dort selbst kennengelernt und blieb auch ohne die Bars der, der er immer schon gewesen war.

 

Auf dem Weg zum Bahnhof kaufte er anderntags eine Karte der Gegenden an der unteren und mittleren Mosel. Er entfaltete sie, bevor er seine Fahrkarte flussaufwärts verlangte; der Plan wird ihm hoffentlich einen Fingerzeig geben. Das Kartenbild war eigentümlich und zugleich sehr klar in seiner Struktur. Alles bezog sich hier auf den vielfach gewundenen Fluss, sein Tal war die Hauptstraße des Lebens, und links und rechts auf den Höhen breiteten sich die Einöden aus. Wer hier reiste, tat es im Tal oder wurde früher oder später auf diese Hauptachse verwiesen. Es kam darauf an, sich an einem zentralen Punkt festzusetzen und die Augen offen zu halten.

     Aber es gab kein Zentrum, nur lineare Ausdehnung. Es war schwer zu fassen: Cochem war nach fünfzig Kilometern die erste Stadt, wenn man von Koblenz hinauffuhr, und nahm auf dem Blatt Papier vor ihm verschwindend wenig Raum ein. Dennoch war es der einzige Ansatz zu einer Kristallisation, es blieb nichts weiter übrig, als sich für einige Tage dort einzuquartieren.

     Die vielen kleinen Dörfer zogen am Zugfenster vorbei, ihrerseits von Strom und Durchgangsstraße in die Länge gezogen. Der Zug schien langsam tiefer ins Gebirge einzudringen, enger und kurvenreicher das Tal, steiler die jetzt meist bewaldeten oder auch wieder verbuschten Hänge. Das Tempo war und blieb moderato, die Fahrweise gleichmäßig schlingernd wie schicksalsergeben. Einmal war der Zug gerade abgefahren und kam sogleich abrupt wieder zum Stehen. Draußen zeterte der Schaffner, und der Fahrgast, der beim Aussteigen zuerst getrödelt und dann die Notbremse gezogen hatte, entschuldigte sich: Um den Anschluss an seine Reisegruppe wieder zu erreichen, habe er nur noch dieses Mittel gehabt. Nur nicht den Anschluss verlieren, das rechtfertigt im Extremfall fast alles.

     Manfred stieg in Klotten aus und ging auch hier die letzten Kilometer zu Fuß. Er suchte den Weg hinauf in die Weinberge und kam dann oben auf breitem Weg rasch voran. Das Tal sah von hier noch respektabler als gestern aus, ein Durchbruch, der nicht enden wollte. Höhere oder am Rand gelegene Teile der Stadt kamen schon ins Blickfeld, da war auch die Burg, der aus Büchern oder von Kalenderblättern vertraute Anblick. Die Stadt als Ganzes entzog sich noch. Erst musste auf der Höhe ein Wald durchquert werden, in dem nacheinander Wildpark, Märchenzoo und Sesselbahn auf das Kommende einstimmten. Endlich gab eine Biegung den Blick frei wie auf eine Bühnendekoration, die mit einfachsten Mitteln eine großartige Wirkung erzeugt. Da unten, ein gutes Stück zu beiden Seiten des Flusses, die unteren Hänge betastend und sich in ein Seitental hineinspreizend, da lag Cochem und, wie zu erwarten, glänzten seine Türme in der Mittagssonne. Wie schafft es eine so kleine Stadt, derart grandios zu wirken? Der schmale Zickzackpfad hinunter verlangte einem schon etwas ab, wie sonst nur in den Alpen.

     Unten fand er eine dem ersten Anschein nach normale kleine alte Stadt vor, einen Organismus aus großen und kleinen Plätzen, langen und kurzen Gassen, mit allerdings unverhältnismäßig hohen und schmalen alten Häusern. Er geriet nach kurzem auf die Hauptgasse, die den Fußgängern vorbehalten ist und in leichter Steigung zum Marktplatz hinaufführt, bevor sie wieder etwas an Höhe verliert, ohne so bald in die breite Uferstraße zu münden.

     In einer der langen, steil bergwärts führenden Straßen fand er in einer Pension ein Einzelzimmer für sich; die seien hier rar wie Gold, sagte man ihm, doch war der Preis mäßig. Der Blick aus dem Fenster umfasste einen charakteristischen Ausschnitt: geschweifte Turmhaube über schiefergrauer Dachlandschaft vor beinahe lotrechter Waldwand. Das Licht der neuen Straßenlaternen im alten Stil war etwas zu grell, und die bunt bedruckten Vorhänge waren durchscheinend, so dass man nachts in unruhig farbigem Dämmerlicht lag und der Schlaf oberflächlich war. Im Zimmer lag ein herbsüßer Geruch in der Luft. Manfred fand oben auf dem Schrank, hinter seinem Hut, die verräterischen Kugeln, die Duft spendeten, ohne den Muff des alten Gemäuers zu vertreiben.

     An sich war die Gasse ruhig, doch gerade in den Nächten auf Samstag und Sonntag zogen draußen gruppenweise „Wochenendschreihälse“ vorbei, so nannte sie die Wirtin, sich durch den harten Ausdruck für den Missstand entschuldigend. Auch ihr nahrhaftes „erweitertes“ Frühstück stimmte nach solchen Nächten versöhnlich. Abends hatte man die Wahl zwischen den Schnitzelpalästen unten an der Uferstraße mit Aussicht über den Fluss und verschiedenen Griechen, Italienern und Spaniern, verstreut in der Altstadt. Ein kleines griechisches Restaurant lag im ersten Stock über einem Stimmungslokal zu ebener Erde. Die Hellenen trugen Schmackhaftes, Vorzügliches auf und bedienten gleichbleibend freundlich, gelassen, während der Lärm der ordinären Bier- und Weindestille mit Krakeel und Potpourri-Schmalz die Treppe heraufbrandete und der Gast sich bald wieder fortwünschte.  

     Zu allen Tageszeiten und vor allem dann abends wogte eine beinahe orientalisch dichte Menschenmenge durch die altdeutsche Kulisse – denn als solche betrachtete sie Manfred nach Ablauf weniger Tage. Die Gäste kamen zumeist vom Niederrhein, von der Ruhr oder aus Holland, oft nur für Stunden. Fast nur auf ihre Bedürfnisse war das Angebot der vielen Läden hier ausgerichtet. Die Versorgung mit rasch zu konsumierendem Eß- oder Trinkbarem, mit leicht wiedererkennbarer Musik, mit leicht transportablen Kleinigkeiten von keinem anderem als Erinnerungswert, das war der ökonomische Grundumsatz, der die Temperatur der Geschäfte auf gleichbleibend subfebrilem Niveau erhielt.

     Manfred betrachtete die Menschen. Ihr Gesichtsausdruck war überwiegend friedfertig, manchmal sogar glückselig. Ein Gemeinschaftserlebnis lag in der Luft, eine Art Geistesausgießung war wohl schon am Werk. Sie sahen aus wie Heimgekehrte, entkommen den Ballungsräumen, den Stadtlandschaften, Trabantenstädten und jedwedem Zeitgeist. Sie waren Asylanten im eigenen Land, ausgerechnet hier in dieser toll gewordenen Kleinstadt. Sich geborgen fühlen in einer kleinen Welt (mit allem modernen Komfort, versteht sich) und dabei genügend zahlreich sein … Was war Gemütlichkeit? Vielleicht das Behagen, das sie durch die Projektion gemeinschaftlicher Sehnsüchte auf diese alten Mauern und ihre Rückstrahlung auf sich selbst erst erzeugten. Manfred war sich bewusst, ihnen bei aller Distanz nicht wirklich fremd zu sein. Auch er war auf einem Weg zurück, den es in Wirklichkeit vielleicht nicht einmal gab.

     Von Zeit zu Zeit rief er Olga an. In Neustadt hatten sie noch immer kein Zeichen von Theo. Olga verstand es, ihm zu demonstrieren, sie sei vollkommen ratlos. Wiederholt brach sie mitten im Satz ab und schwieg ausführlich. Manfred sagte, er verfolge eine frische Fährte, doch behielt er die Details lieber für sich. Er kam sich vor wie ein Kriposprecher, der sagt: aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen. Diese waren in der Tat seit Tagen nicht mehr vorangekommen.

     All das ist erst einige Jahre her; es waren die letzten, bevor fast jedermann beinahe jederzeit erreichbar wurde. Nur ein paar Jahre später und auch Theo hätte seine elektronische Fußfessel getragen. Manfred wäre ihm nicht hinterhergereist, er hätte ihn auch an einem unbekannten Ort anrufen können, vielleicht viel zu früh.

     Olga indessen fürchtete damals, er könne zu spät kommen. Sie deutete es nur an. Theo sei doch vorbelastet, von beiden Seiten her, fügte sie hinzu. Es muss nicht erörtert werden, fand er, von welcher Verwandtschaft die größere Last herrührte, aber der Gedanke formulierte sich wie von selbst: Sie meint, meine Tante war eine Selbstmörderin und sie selbst ist die Schwester eines Irrenhäuslers.

     „Nein, nein, wie ich ihn kenne, steht er plötzlich wieder vor uns. Vielleicht etwas zerknittert, aber er ist wieder da.“ Das musste für heute als Schlusswort reichen. Er rufe sie in zwei Tagen wieder an.

     Wirklich, die Ermittlungen gestalteten sich schwierig. Dabei saß er hier wie die Spinne im Netz. Aber diese Redensarten halfen in der Sache nicht weiter. Unter den Massen von Motorrädern war Theos Maschine nicht zu entdecken gewesen, oder er hatte sie übersehen. Er hatte es wieder einmal mit dem Phänomen der Masse zu tun. Massenhaft: es hatte eine Zeit gegeben, da man dieses Wort nur mit leuchtenden Augen aussprach: Umschlag von Quantität in Qualität. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Woche für Woche kamen hier Tausende schwerer Maschinen durch, die Fahrer durchkreuzten die Eifel und fuhren dann die  Serpentinen nach Cochem hinunter, um dort zu pausieren und dann die Mosel abwärts zu fahren. Theo hätte unter ihnen sein müssen, wenn er hier war.

     Wenn er am späteren Nachmittag von einem Ausflug zurückkehrte, ging er als Erstes die Uferstraße entlang und suchte die Parkplätze in der Nähe der Moselbrücke ab, und abends schlenderte er nach dem Essen die Brückenrampe hinauf und sah auf die Motorisierten hinunter. Immer neue Gruppen, Paare und manchmal auch Einzelfahrer fuhren vor, stiegen ab, saßen herum, konsumierten eine Kleinigkeit und bereiteten sich dann so umständlich, wie sie eingetroffen waren, aufs Weiterfahren vor. Sie traten vor allem in Gruppen auf und boten als Horde zunächst einen imponierenden Anblick, bis ihre Mitglieder anfingen, sich auszupacken. Welche Enttäuschung in den allermeisten Fällen, wenn zutage trat, aus welchen Individuen eine derart prachtvoll geschirrte Kohorte sich zusammensetzte: höchst kleinbürgerliche Pärchen, blasse, unsicher wirkende Jünglinge oder Männer in mittleren Jahren wie Möpse. Es gab unter den Männern auch derbe und kräftige Gestalten, deren nackte Gesichter vollkommen geistlos wirkten. Ihre Gegenstücke waren bebrillte Bartträger, die sich in einer permanenten peinlichen inneren Verlegenheit zu winden schienen. Wenn hin und wieder ein bemerkenswert hübscher, intelligent oder gutartig aussehender junger Mann unter ihnen war, fragte man sich unwillkürlich: Wie ist der da hineingeraten?

     Gewöhnlich war die Desillusionierung also vollkommen. Der Gegensatz zwischen aufwendig ästhetisierter und sicher auch kostspieliger Aufmachung und den höchst mittelmäßigen Inhabern all dieser Attribute und Insignien ließ sich nicht mehr mit dem bekannten und verständlichen Bedürfnis nach Kompensation erklären, er war ein Phänomen eigener Art, das nicht ableitbar war. Wenn man den Kontrast länger auf sich wirken ließ, bekam er eine starke Faszination von beinahe perverser Färbung.

     Manfred nahm diese Subkultur nur von außen wahr, er lebte nicht unter ihnen wie ein Ethnologe, der die Sitten und Gebräuche fremder Völker studiert. Sein Blickwinkel war ein ästhetisch verengter, er sah nur die Oberfläche und versuchte, Schlüsse aus ihr zu ziehen. Beim Versuch einer Theorie kam er nicht weit. Es schien sich um einen primitiven Eskapismus zu handeln, eine verspätete Jugendlichkeit, eine nicht sehr ernst gemeinte Protest- und Absetzbewegung. Gab es Überschneidungen mit jener anderen Subkultur, in der er viele Jahre so viel Lust wie Unlust gefunden hatte? (Das äußere Bild dieser Versammlungen unter freiem Himmel ähnelte in der Tat einem Ledertreffen.) Auch dort hatte er Uniformierung und Inszenierung vorgefunden und eine Zeitlang für sich übernommen, und es waren zum Teil die gleichen Materialien, das gleiche Zubehör. Zubehör und Material hatten im Umkreis der Bars magischen Charakter. Sollte es hier ebenso sein? Vielleicht ist die Auswahl an Ausdrucksmitteln doch ziemlich beschränkt. Wenn er sich nicht täuschte, gab es das auch hier: die nicht dienende, sondern beherrschende Rolle der Accessoires, ebenso die Wirkung von  Signalen, von Schlüsselreizen, die Faszination, die man gegenseitig empfand und ausübte … Er kam ihnen nicht näher und wollte nicht weiter spekulieren.

     Allmählich fiel ihm auf, dass Einzelfahrer, die er so häufig auf den Landstraßen sah, auf diesen Sammel-, Tummel- und Schauplätzen deutlich unterrepräsentiert waren. Auch in dieser kleinen Welt schien es staatenbildende Mehrheiten und Einzelgänger zu geben, die sich von den großen Auftrieben fernhielten. So gesehen, war es vielleicht wenig wahrscheinlich, dass er Theo auf den Parkplätzen entdecken würde, ja, er hoffte es dann auch nicht mehr. Er ging von ihnen weg und auf den Kern des Städtchens zu.

 

Eines Abends zog in all der Mittelmäßigkeit ein ungewöhnliches Duo seinen Blick auf sich. Sie saßen sehr lange auf der Rundbank vor dem Eissalon, zwei junge Männer um die zwanzig, vom Niederrhein, wie sich später ergab. Auf den ersten Blick hätte man sie für Zwillinge halten können, beide dunkelhaarig, die Statur weniger rundlich als vielmehr etwas bullig. Beim genaueren Hinsehen entdeckte er jedoch zu viele physiognomische Ungleichheiten, als dass sie so nahe miteinander hätten verwandt sein können. Sie hatten sich  bewusst und vielleicht auch schon unbewusst im Aussehen einander stark angeglichen. Beide trugen künstlich ausgebleichte Blue Jeans, dazu identische karierte Hemden. Es war etwas gewollt Knabenhaftes an ihnen, das bei jungen Männern verblüffte. Sie schauten die meiste Zeit um sich, betrachteten die Maschinen und die Menschen und tauschten offenbar laufend ihre Meinungen darüber aus. Wenn sie miteinander sprachen, geschah dies mit allen Anzeichen des Verbundenseins, der wechselseitigen Sympathie, die sie wie ein unsichtbares, dennoch deutlich wahrnehmbares Band umschlang und gleichzeitig von der Umwelt absonderte. So waren sie, obwohl nichts Eindeutiges vorfiel, anhand von Mimik und Gestik leicht als Pärchen herauszuerkennen.

     Später gingen die falschen Zwillinge zu ihren eigenen Motorrädern zurück. Sie fuhren natürlich dasselbe Modell, Maschinen mit zierlich vernickelten Tanks. Sie bosselten lange an ihnen herum. Einzelne junge Burschen traten auf sie zu und suchten das Gespräch mit ihnen wie mit Autoritäten. Dann plauderten die beiden leutselig mit ihnen, ohne dass sich der Abstand zwischen ihrer Einigkeit und der sie umgebenden Vielheit verringerte.

     Auf dem Balkon eines Restaurants ganz in der Nähe aßen zur selben Zeit zwei ältere Homos zu Abend, beide sicher jenseits der fünfzig. Der eine von ihnen unterbrach sich häufig beim Essen, um den Blick immer wieder auf das reizvolle Doppelbild da unten zu richten. Es war eine sehr unruhige Mahlzeit für ihn, während sein Gegenüber gleichgültig oder ahnungslos immer nur ruhig weiteraß. Schließlich entdeckte der faszinierte Beobachter oben den zweiten unten auf der Straße. Er sah Manfred länger an, und der Ausdruck von Nervosität auf seinem Gesicht wich dem eines eifersüchtigen Neides, als hätten sie Konkurrenten sein können. Manfred ging amüsiert weiter.

     Von diesem Abend an besserte sich seine Stimmung wieder. Die Pseudozwillinge bewiesen etwas, es ließ sich nur nicht ohne weiteres herausfinden, was eigentlich. Er war jetzt weit entfernt, Theo noch wirklich auf der Spur zu sein. Vielleicht würde seine Reise insoweit ohne Ergebnis bleiben. Die Vorstellung von den Zwillingen machte den Gedanken daran für ihn erträglich. Er ging dem Zusammenhang nicht auf den Grund.

     Er musste auch noch an seine Gesundheit denken, ehe er sich wieder in den Arbeitsprozess eingliedern würde. Tagsüber war er vor allem damit beschäftigt, sich zu erholen. Er ging Tag für Tag sechs oder sieben Stunden zu Fuß. Am liebsten war er auf den Hochflächen unterwegs. Dort verschwand für ihn der Eindruck, in ein Gebirge geraten zu sein. Die wellige Hochebene ließ ihn leichter vorankommen. Sie ließ ihn, während er ging, seine Lage insgesamt allmählich neu einschätzen. Die Zukunft war ja schon gebahnt. Immer so mühelos durchs Leben gehen zu können, es war möglich. Der tief eingeschnittene Fluss blieb so lange außer Sichtweite, wie man nicht unmittelbar am Rand des Canyons stand. Erst wo das Gelände jäh abbrach, wurde die Aussicht spektakulär, und es war dann bald vorbei mit stundenlanger Einsamkeit und der Illusion von mühelosem Umherschweifen. Jetzt im September war hier Hochsaison, und die Gäste sammelten sich an solchen Punkten und Kanten. Die weite Landschaft wurde zu einem Landstrich. Er sah es nicht gern mit an, wenn die Fremden den Winzern die reifen Trauben stahlen. Eine Frau wollte ihren Mann auf den rechten Weg zurückführen: Komm zurück, lass uns auf dem breiten Weg hier bleiben, sonst gibt es wieder ein Fiasko wie neulich …

     Das Haupttal und die breiten Wege, sie führten nicht durch seine Seelenlandschaft, keine Kongruenz von Innen und Außen. Lieber waren ihm die engen Seitentäler, einsam, friedvoll, oft erstaunlich lang. Jedes war ein Stück vom Ende der Welt. In den kürzeren waren jetzt im September die kleinen Bäche oft trocken gefallen. In den längeren standen Ruinen von Mühlen, manche dienten Menschen zeitweise oder dauernd als Wohnung, Menschen, die so unsichtbar wie unhörbar blieben. Vielleicht war so ein Ort das ewige Haus, zu dem Der Meister und Margarita hingeführt worden waren, um in der Lautlosigkeit dort bis in alle Ewigkeit Schubert zu hören.

     Er musste dieses Elysium nicht einmal ironisieren, um sich zu verdeutlichen, dass es nicht für ihn bestimmt war. Seine Sache war es allein, zu entdecken und zu betrachten, den Eindruck davon in sich aufzubewahren. Auf dem Umweg über Bulgakow verstand er jetzt die Bedeutung des Zwillingsbildes. Auch mitten im Leben gab es solche Bezirke, aber er würde sie nicht betreten. Wozu noch auf Theo warten? Es musste ihm genügen, immer so weiterzuleben.

 

Bernkastel war touristisch womöglich noch belebter als Cochem. Die Fremden bestaunten das moselfränkische Fachwerk; es glänzte dank unermüdlicher Pflege wie Linoleum, das täglich gewachst und gebohnert wird, und sah ungefähr so echt aus wie die Holzschnitzereien aus Plastik, die man in billigen China-Restaurants findet.

     Die Ufer waren in Parkplätze verwandelt. Von der Stadt führten Treppen hinunter. Am oberen Ende von einer saß erhöht auf einer Mauer ein einzelner Mann, Anfang Zwanzig, dunkelhaarig, hübsch, und sah zur Stadt hin. Seine Maschine hatte er ganz in der Nähe am Fluss geparkt, ab und zu drehte er sich nach ihr um: ob sie noch da war. Er fiel Manfred, der am Straßenrand gegenüber stand und über längere Zeit das Gewimmel betrachtete, dadurch auf, dass er, wie er selbst, die Passanten registrierte, taxierte und wohl auch sortierte. Es war nicht schwer, den Mechanismus seiner Rasterfahndung zu verstehen. Er belebte sich jedes Mal und achtete aufmerksam gerade auf die Männer – und ausschließlich auf sie -, denen er selbst aufgefallen war. Manfred stand in einem Geschäftseingang, und der Strom der Vorübergehenden verbarg ihn wie ein Perlenvorhang vor dem suchenden Blick des anderen.

     Als der junge Mann nach einer halben Stunde aufstand und dicht an ihm vorüberging, sah er ein Gesicht vor sich wie ein noch fast unbeschriebenes Blatt, mit nur wenigen Zeilen und diese unentzifferbar. Er ging noch tiefer in die Altstadt hinein, als ob er ein Ziel hätte. Manfred folgte ihm, und es gelang ihm, den Abstand sich nicht vergrößern zu lassen. Die Orientierung war leicht: Der vor ihm trug weite schwarze Sachen; so wirkte er wie ein Negativ unter lauter entwickelten Bildern. Die wattierte Jacke war tailliert und reichte noch ein gutes Stück über die Hüften und verdeckte so den sehr weiten Boden seiner Motorradhose. Diese Aufmachung verhüllte den Körper etwas zu betont. War er einem schon aufgefallen, fand man die Betonung des Asexuellen in der Kleidung und den Verzicht auf den beliebten Klimbim nicht mehr ganz unverdächtig. Seine Keuschheit im Äußeren war demonstrativ und dadurch erregend wie die totale Verschleierung einer Mohammedanerin, die nur den Augenschlitz freilässt. Am oberen Ende der Altstadt kehrte er plötzlich um, ohne ein Ziel erreicht zu haben. Manfred verlor ihn bald darauf an der Abzweigung mehrerer Gassen aus den Augen, und sein Motorrad stand dann auch nicht mehr am Fluss.

     Ob sich der Cousin auf seiner Reise ebenso verhielt? Es war damit zu rechnen. Es lag, wie die Dinge standen, in der Natur der Sache. Auch Theo würde seinen Weg fortsetzen. Welcher Unsinn, sich mit ihm zu verbinden.

 

Die einsamen jungen Männer traten häufiger auf. Wenn man nicht annahm, es handele sich um einen Fall von ungeschlechtlicher Vermehrung, musste man es auf andere Ursachen zurückführen, vielleicht auf Lockstoffe, die in der Luft lagen. Einer fegte in Cochem aus einer Seitengasse und stürmte durch die belebte Fußgängerzone, als wäre er eine plötzlich in Bewegung geratene Rodinsche Plastik: Der Fliehende. Jedes Detail von Gestalt und Bewegung zog zwangsläufig Verfolgung auf sich, in Form von ausschließlich auf dieses Objekt gerichteter Aufmerksamkeit. In seinem Fall verdeutlichte das glatte, schwarz glänzende Material der Oberfläche alle Merkmale dieses einmaligen Körpers. Die zweite Haut schien zur ersten geworden zu sein. Er war wie ein Block, aus einheitlichem Stoff herausmodelliert, vermutlich weichem, dann erstarrtem und jetzt wieder in dynamische Bewegung geratenem. Seine natürlichen Formen hatten etwas stark Herausforderndes.

     Das fliehende zweibeinige Kunstwerk verschwand im Innern einer Konditorei. Doch war er dann nicht unter den Gästen. Man vermietete dort auch Zimmer. Der kurze rasante Auftritt war derart von Leben erfüllt gewesen, dass er einer zweiten Ebene von Wirklichkeit anzugehören schien. So sehr unterscheiden sich sonst nur wirklich gelungene Filmaufnahmen in ihrer betont kraftvollen Nachahmung des echten, ursprünglichen Lebens von dessen tatsächlicher Dürftigkeit. Dieses Bild voller Bewegung verkörperte etwas: die Überwindung des Lebens durch die Kunst mit dessen eigenen Mitteln.

     Genau betrachtet, war es so abgelaufen: Eine ungewöhnlich lebendige und dabei sehr ästhetisch wirkende Aktion war von seinem in Teilbereichen überaus empfindlichen Gehirn belichtet worden, und das Ergebnis war der Eindruck eines Kunstwerkes, den er zwar vorerst allein genoss, den herauszustellen, aus sich herauszuarbeiten jedoch sein stärkster eigener Antrieb war. War das die Mechanik der Produktivität?

     Das Leben half der Produktivität auf die Sprünge, es führte ihm eine weitere erregende Verkörperung vor Augen. Die Idee dahinter war noch freizulegen. Es war am Freitagabend, zu Beginn der Dämmerung. Er musste der gleichen Truppe angehören wie jener, der durch die Altstadt gestürmt und auf seiner Flucht in einem Café verschwunden war. Der hier, Anfang zwanzig, war groß, blond, starkknochig, sein Stiernacken zu den Schultern hin breit auslaufend. Stoppelhaarschnitt, eine ärmellose Lederweste, schwarz, wenig Muskeln an den nackten Armen. Schwarze Schnürlederjeans und ein weißes T-Shirt mit einer Botschaft auf der Brust: Follow me. (Gewöhnlich lassen sie sich das auf das Rückenteil drucken, er wird seine Gründe haben.) Unter dem Leibchen der Ansatz eines sich erst entwickelnden Speckbauches, der beim Ausschreiten in Wellen schon sichtbar wurde. Er floh nicht, er stampfte durch die Altstadt, womöglich auf nach der Suche nach was? Betrat ein Stimmungslokal, voll von Weinseligkeit und, jetzt schon, Wochenendschreihälsen. Er bahnte sich seinen Weg durch sie, kam schnell wieder heraus, enttäuscht, wenn er dieses Gefühls fähig sein sollte. Stampfte weiter durch die Gassen, holte sich Bargeld aus dem Automaten am Marktplatz und fuhr rasch entschlossen fort. Etwas Animalisches war deutlich an ihm wahrzunehmen. Er war kräftig, körperlich geschickt, hübsch, doch ungezähmt, schon ein wenig verwildert. Welchen Titel muss man ihm geben: Sucher, Entdecker, Eroberer? Nüchtern betrachtet, wird er vermutlich das frische Geld zur Steigerung seines Lebensgefühles verwenden, bei einer Nutte oder indem er Pillen schluckt. Dann war das die zutreffende Bildunterschrift: Einer, der sich verausgaben will. Denn alle Lust will Ewigkeit? Ach was, sich erschöpfen ist ihr Ziel.

     Er dachte an ein Etablissement in Chicago, auch ein Stimmungslokal, eine Fress-, Tanz- und Bumshöhle auf verschiedenen Ebenen. Gleich hinter dem Entree erfolgte die Speisenausgabe in einem Raum nur so groß wie der Eingang eines Vorstadtkinos. Üppige Steaks, dicke Weißbrotscheiben, geröstet und mit Butter bestrichen, etwas Grünzeug, um den Prozess der Verdauung zu fördern, viel Coke natürlich – alles rasch aufs Tablett gepackt und bezahlt, keine Zeit verlieren, und dann ging’s die kleine Treppe hinauf in den Saal, wo man die nahrhaften, die Säfte anregenden Dinge auf roten Plastiksesseln und vor weißen Kunststofftischen sitzend hinunterschlang und die Blicke gleichzeitig schweifen ließ. Dieses erste Bedürfnis war fast befriedigt, das nächste sollte nicht warten müssen. Und wenn prompt der noch unbekannte Galan in seiner Samstagabendpracht herüberkam, deodorierte sich die dunkle Schöne ungeniert gegen den Bratendunst und entschwand sogleich an seiner Seite, Knochen und sonstige Speisereste hinter sich lassend, in den ziemlich dustren, geräumigen Hintergrund. Dort konnte zu sinnlich anregender Musik getanzt werden, was hier bedeutete: gesundes, zuckendes Fleisch zur Schau stellen, dessen Bereitwilligkeit rhythmisch vorführen. Man bekam immer schnell ein Taxi oder ging gleich in den Waschraum. Es wurde einem dort unverblümt vorgeführt, wie eng Essen und Vögeln zusammenhängen. Die Umwandlung der Stoffe kommt, wie man sah, auch ganz ohne Verzierung aus.

     Man müsste es sich noch einmal ansehen können. Aber deswegen nach Chicago fliegen? Er ging in den großen Schnitzelpalast mit der überdachten, verglasten Veranda. Von hier oben war er vor ein paar Tagen böse angefunkelt worden. Noch ergiebiger als bloß andere zu beobachten, ist es, anderen zuzusehen, die selbst interessante Objekte ins Auge fassen. Der einfache Beobachter fühlt sich zunächst immer als Herr der Lage und lässt Vorsicht nur gegenüber den von ihm Observierten walten. Muss er feststellen, dass er dabei selbst von dritter Seite aus unter Beobachtung steht und mehr von sich preisgibt als er in Erfahrung bringt, fühlt er sich betrogen und reagiert ärgerlich. Das ist besonders dann der Fall, wenn er vermuten muss, dass jene perfide Gegenspionage die gleichen Interessen verfolgt wie er selbst, was er impulsiv verurteilt und, wie er unmittelbar danach fühlt, sich selbst damit auch.

     Abgesehen von der Aussicht gab es hier wenig zu genießen, indessen auch wenig zu bemängeln. Die Standardgerichte der rheinischen Massenverpflegung kamen durchgehend und prompt auf den Tisch, der offenbar möglichst oft neu besetzt werden sollte. Aus Rücksicht auf die ökonomischen Interessen des Hotels hatte Manfred sich selbst unaufgefordert an einem kleinen Tisch vor der Rückwand placiert. Jenseits des breiten Mittelgangs war noch eine Viererkoje mit Moselblick zu bekommen.

     Heute spielt sich natürlich nicht mehr alles bloß unter zweihundert Leuten ab, es dürfen jetzt schon zweitausend sein. Auch dann ist es noch kein Riesenzufall, wenn man beim Abendessen zwei von denen wiedererkennt, die einem am Vortag auf Straßen der kleinen Stadt begegnet sind. Manfred erfasste bald, dass es da drüben am Vierertisch nun à la Locarno zuging. Wenn er es nacherzählen sollte, würden die drei zuletzt eingetroffenen Gäste zweckmäßigerweise Namen bekommen. Und er nannte sie Ajax, Rico und Eva.

     Ajax, der Stampfer von gestern, forderte immer noch dazu auf, ihm zu folgen: Follow me! Wenn das T-Shirt seitdem nicht gewechselt war, war der Geruch seines Körpers, der sich im Baumwollstoff anreichert, jetzt wie ein Befehl. Entsprechend dominant saß er da, mit auswärts gestellten Füßen, mitten auf seiner Zweierbank. Manfred sah sein Profil samt dem kolossalen Nacken schräg von hinten. Zum Glück war die Achse der Tische zueinander verschoben wie bald auch die Verhältnisse drüben. Rico, gestern auf der Flucht, bewies im folgenden Beharrlichkeit. Eva, die am Fenster saß, eine klassisch ernsthafte Brünette wie von Feuerbach, konnte auch seine Schwester sein, wahrscheinlicher war sie seine „Braut“.

     A la Locarno muss noch erklärt werden. Vor Jahren war er dort einmal mit Maximin essen gegangen, und im Restaurant wies ihn der Psychologe auf ein Naturschauspiel seltener Art hin: wie ein blutjunger Mann die junge Frau an seiner Seite vollkommen vergaß und sich vom Geschlechtsgenossen gegenüber fesseln ließ. Es fehlte nicht viel und er hätte ihn quer über den Tisch umhalst. Während er so nahe an einen kleinen Skandal geriet, ging der Frau an seiner Seite jedes Verständnis für die Szene ab. Sie bemühte sich weiterhin um ein ruhiges Tischgespräch zu dritt!

     Das Trio hier gab jetzt eine Pantomime für ihn. Er saß einige Meter entfernt, und Restaurantgeräusche und Musik überdeckten, was sie sich zu sagen hatten. Ihr Gespräch, zu Beginn gleich unterbrochen vom Studium der Speisekarten und der Bestellung, war anfangs nicht sehr lebhaft. Wie die beiden, Eva und Rico, Ajax dabei ansahen, taxierend, abwartend, es verriet, dass ihre Bekanntschaft mit ihm noch nicht lange dauern konnte. Sie warteten mit jener gewissen Befangenheit, dass Ajax sich äußere, dass er die Richtung vorgebe. Während Eva sich bald eine Zigarette anzündete und sich dann zurücklehnte, schien Rico ihrem Gegenüber kurze Fragen zu stellen und wartete dann jeweils mit nervöser Gespanntheit auf die Antwort.

     Ajax war sparsam mit Worten und spielte den Vorteil seiner machtvollen Physis aus. Mit verschiedenen Gesten unterstrich er die Bedeutung, das Gewicht seines Körpers. Er dehnte, halb zurückgelehnt, den Brustkorb, ließ die Kugeln seiner Schultergelenke rollen, und die linke Hand vollführte bei abgespreiztem Daumen eine Art von gravitätischem Tanz auf dem massigen Oberschenkel. Manfred sah nur die Linke, was die Rechte tat, blieb ihm verborgen.

     Rico sah in seinem einfarbigen dunkelblauen Hemd sehr jung aus. Eva blies den Rauch wiederholt von sich weg, zur Fensterscheibe hin, wo er schon dichter wurde. Sie schaute auf Rico, nachdenklich, in einer Mischung aus Sympathie und ihr selbst vielleicht kaum bewusster Besorgnis. Vermutlich hatte sie ihn gewählt, nicht umgekehrt. Rico war schon lebhafter geworden und sprach jetzt von ihnen am meisten und ausschließlich an Ajax gewandt. Sein länglich-ovales Gesicht unter dem dichten braunen Haar zeigte einen zarten Rosaton. Die Linie des Kinns verlief streng horizontal, ein abrupter, fast brutaler Abschluss eines sonst sanften Gesichtes.

     Sie mussten ein ergiebiges Thema gefunden haben, der Faden des Gespräches riss nicht mehr ab. Rico beherrschte es, er aß nur nebenbei und gestikulierte nun auch mit Messer und Gabel zu Ajax hinüber. Auch Eva wandte sich wiederholt an ihn, doch viel ruhiger im Ausdruck. Ihre Miene schien zu besagen: Erkläre es mir mal genauer, ich bin noch nicht ganz überzeugt. Ajax gab nur wenig zur Antwort, ein amüsierter Klotz, der abwarten konnte. Ricos Gesicht bekam rote Flecken.

     Sie hatten ihre jeweilige Rolle gefunden und behielten sie bis zum Ende der Mahlzeit bei. Rico produzierte sich für Ajax, der es sich geschmeichelt gefallen ließ, und Eva blieb bei ihrem nüchternen Debattenstil. Sie insistierte, auf Aufklärung bestehend, wahrscheinlich ohne sie tatsächlich zu wünschen. Rico zahlte für sie beide, Ajax für sich selbst.

     Wenn sie die Richtung auf die gestrige Café-Pension in der Herrengasse einschlagen sollten, konnte er sich anschließen; sie lag auf seinem Heimweg. Das taten sie nicht, sondern bogen zur Moselbrücke ab. Manfred folgte ihnen trotzdem. Es war ein lauer Spätsommerabend, eine Stunde vor Sonnenuntergang.

     Ricos körperliche Vorzüge wurden auf der Brücke von allen Seiten sichtbar. Seine rückwärtige Frontlinie verlief so erregend, dass auch Eva nicht darüber hinweggesehen haben konnte. Er trug die gleiche enge schwarze Lederhose wie gestern und stiefelte jetzt hinüber nach Cond, Eva den Vortritt lassend, sich im Gespräch mit Ajax, der hinter ihm ging, dauernd umdrehend. So wichen sie auf dem schmalen Gehweg Entgegenkommenden aus. Diese Art Prozession wurde Rico lästig, er betrat die Fahrbahn und ging neben Ajax her, der ihn, obwohl nicht größer, nun einen Kopf überragte. Das verschaffte Rico das zusätzliche Vergnügen, zu ihm aufblicken zu können. Sie lächelten einander zu. Rico achtete nicht auf den Verkehr, bis Ajax ihn – ein Wagen fuhr gerade auf Rico zu – an der Schulter packte und in ihre vorige Reihe zurückzwang.

     Drüben in der Vorstadt bogen sie in eine lange Seitenstraße ein, jetzt zu dritt nebeneinander. Rico ergriff Evas Hand. Da er Ajax gleichzeitig nicht aus den Augen ließ, konnte man darin die Vorbereitung eines Verrates sehen. Endlich standen sie vor einer einfachen Pension und berieten sich neben zwei dort geparkten Motorrädern. Ajax kam nicht mit hinauf, doch fuhr er auch nicht sogleich fort. Er schien sich sehr langsam auf einen bevorstehenden Aufbruch vorzubereiten.

     Als Manfred das Ende der Straße erreichte, kehrte er um und ging langsam zurück. Richtig, Rico war wieder auf dem Parkplatz, jetzt mit Jacke und Helm, bereit zum Aufsteigen. Ajax startete seine eigene Maschine, und in den Lärm hinein rief Eva recht laut vom Zimmerbalkon herunter: „Riskiert nichts!“

     Beide fuhren rasch davon, dem Anschein nach flussaufwärts aus der Stadt hinaus.

     Allerdings konnten ihre Maschinen wenig später bei den letzten Häusern abgestellt gesehen werden. Hier begann ein Kreuzweg durch die Weinberge zum Wald hinauf. Seine Leidens- in Freudenstationen umzuwandeln, sie konnten es kaum erwarten. Er hatte schon zu viel gesehen.

     Und die Betrogene unten? Wenn sie ihre übrigen Sinne nicht zu gebrauchen verstand: Nahm sie später am Abend an Rico nicht einmal den Geruch des anderen wahr?

 

Ja, so würde es immer weitergehen. Der Kreislauf des Begehrens, ewig erregt und zumeist auch befriedigt, kam nicht zum Stillstand.

     Jetzt, am Tag danach, war Sonntag, und es regnete anhaltend. Die bisherige Schönwetterphase war erst einmal vorbei, wenn auch die Wirtin beim Frühstück das Herannahen eines weiteren Hochs versprach. Vielleicht hoffte sie, ihn damit zu längerem Bleiben zu bewegen. Die Saison wurde schon schwächer.

     Manfred war unschlüssig, ob er abreisen solle. Er hatte den Cousin nicht gefunden und glaubte nicht mehr daran, ihm hier noch zufällig zu begegnen. Er selbst wird bei seiner Rückkehr nach Hamburg im Verlag erklären, er sei zum Wechsel nach Köln bereit. Seine Arbeit wird dann weiter darin bestehen, die Erinnerung an Vergangenes am Leben zu halten. Kunsthistoriker sind nun einmal Museumswärter.

     Er wird die Stadt da oben nicht vermissen, das will er stark hoffen. Und, nun ja, er war allein, nur auf sich gestellt, doch daran schon lange gewöhnt. Das Leben wird ihm weiterhin Ansichten und Einsichten bieten, die er dann schreibend vertiefen kann.

     Er sagte der Wirtin, es bleibe dabei, er reise morgen ab. Er plante, auch noch die Lahn hinaufzufahren. Auch in Ems war er noch nie gewesen.

     In einer Regenpause ging er noch einmal hinüber nach Cond. Keine Spur mehr von Rico und Ajax, auch nicht von Eva. Sie werden abgereist sein. Er dachte jetzt mit Sympathie und Trauer an sie. Er wird ihnen kaum noch einmal begegnen. Eine Spur von ihnen wird bleiben. Er kann sich ihre Gestalten vergegenwärtigen, und sie werden ihm mal näher, mal ferner sein.

     Ja, sein Weg war gebahnt. Immer so mühelos voranzukommen … Dabei fühlte er in Wahrheit Furcht vor einer Zukunft, die alles in allem nicht viel anders sein würde als die Vergangenheit. Dem Gewicht dieser Welt, so leicht es auch war, fehlte das Gegengewicht.

     Abends erfuhr er von Olga, Theo habe sich am Vortag doch noch gemeldet, am Telefon, endlich. Er sei gar nicht an der Mosel. – Sondern wo? – Im Ahrtal. Ob das weit von ihm sei? – Nah genug. In zwei Tagen höre sie dann wieder von ihm.

     Halt, nicht auflegen! Sie müsse ihm doch noch den Ort nennen und wo er ihn dort finden könne.

     Dabei hatte er das Gespräch noch gar nicht beenden wollen. Er war erstaunt, wie überrascht er im Inneren war, so dass er erst einmal abwarten wollte. Die Freude stellte sich mit Verzögerung ein wie ein Schmerz nach der Betäubung.

24. Das Provisorium

In Stuttgart kann er es auch noch versuchen. Ja, genau, Stuttgart … Er lachte in sich hinein. Es ging ihm jetzt viel besser, er fühlte es selbst: Er war über dem Berg. Nicht einmal der kleine Unfall konnte daran etwas ändern. Trotzdem blieb es ärgerlich, das Rindvieh hatte ihm seine letzten Tage hier vermasselt. Dumme Kuh, muss ausgebrochen sein. Sie stand plötzlich auf dem schmalen Verbindungsweg, gleich hinter einer Kurve, glotzte reglos – und beim Versuch, ihr auszuweichen, stürzte er. Sie machte ein paar Sätze, und er war gleich wieder auf den Beinen. Der Kawa, als er sie aufgestellt hatte, war nichts anzusehen; minimale Lackschäden vielleicht, das wollte er später untersuchen. Aber dann sprach die Lenkung nur mit Verzögerung an, und er brachte die Maschine lieber gleich nach Neuenahr in die Werkstatt. Das war am Vortag, am Mittwoch, gewesen, tags darauf hätte er sie abholen können. Er fuhr dann mit der Bahn das Tal hinauf.

     Vielleicht war er vorher durch die Fahrt mit der schwer zu steuernden Maschine abgelenkt gewesen – später beim Einsteigen in den Zug tat die linke Schulter weh. Der Bahnsteigboden lag sehr tief unter dem Einstieg, er wollte sich gleich hinaufziehen und musste schnell den Arm wechseln. Er untersuchte sich in der Pension, es war äußerlich nichts zu sehen.

     Man weiß ja, bei Distorsionen wird es erst nach Stunden richtig schlimm. Über Nacht war es zumindest nicht besser geworden. Er schonte den Arm und rief in der Werkstatt an: Er hole die Maschine einen Tag später ab. Kann er denn nun am Samstag nach Hause fahren und endlich anfangen, alles zu regeln? Mit dieser Woche sollte der ausgiebige Urlaub zu Ende sein, den er sich selbst bewilligt hatte.

     So kam es, dass er erstmals zu Fuß durch das Tal ging und sich die senkrechten Wände von unten ansah. Es war schön hier, aber er war schon so gut wie fort. Seit der Termin seiner Abfahrt in Frage gestellt war, begann er sich ernsthaft mit der Zukunft zu beschäftigen.

     Dass er Neustadt verlassen muss – und zwar endgültig -, ist ihm schon dort klar geworden. Aber wohin dann in Zukunft? Hamburg kennt er ja … nur zu gut inzwischen. Manfred muss ihm seine restlichen Sachen schicken, das wenigstens wird er noch für ihn tun können. Frankfurt? Soll eine brutale Geldstadt sein, hatte man ihm gesagt – er kannte nur den Flughafen. Köln war ohne diesen Nils für ihn neuerdings nicht mehr vorstellbar und somit erledigt, denn ihm wollte er nicht einmal mehr zufällig begegnen. München, wo er schon einmal gearbeitet hatte, für die Gebrüder Aufwind nämlich, konnte er sich als Ort zum Leben vorstellen – bis ihm Matz einfiel: Ob er noch nie abends in der Münchnerstadt ausgegangen sei? Das gerade wollte er auch in Zukunft bleiben lassen. Blieb von den großen Städten tatsächlich nur Stuttgart übrig. Man soll da nicht schlecht verdienen.

     Am Freitag holte er das Motorrad ab und brachte es mit viel Mühe gerade eben bis Altenahr. Der linke Arm war nicht viel besser geworden, er konnte ihn kaum einsetzen. Also verschob er die Rückreise um ein, zwei Tage. Vielleicht würde ein Arzt ihn schneller in Ordnung bringen. Aber dann fiel ihm die Sache mit der Krankenversicherung ein. Am Ende war er gar nicht mehr versichert. Er hatte die Urlaubstage im August zu Ende gehen lassen und war dann weggefahren, ohne sich arbeitslos zu melden. Egal, es kann sich nur um Tage handeln, dann wird er wieder zupacken können.

     Nun musste er noch den Freitag herumbringen. Er unternahm erneut einen Gang in die Umgebung des Dorfes, wobei er auch jetzt das Tal nicht verließ. Später saß er lange auf einer Bank in der Nähe des Bahnhofes, da wo die Hauptstraße den Fluss quert. Er beobachtete den Verkehr. Zweimal in der Stunde kam ein Zug an, er sah die Ausgestiegenen an sich vorbeigehen. Man könnte auf den Gedanken kommen, er warte auf jemand – ganz falsch! Er war jetzt so ausgeruht, dass es ihm in der Nacht schwer fallen wird durchzuschlafen.

 

Bei seiner Rückkehr nach Neustadt hatte er zunächst nicht genug Schlaf bekommen können. Es war früher Nachmittag, als er den Bungalow nach fünf Monaten zum ersten Mal wieder betrat. Das Haus kam ihm größer als früher vor. Er hatte zuletzt in einer viel kleineren Wohnung gelebt, und Ingrid hatte ihre Sachen mitgenommen. Es war beinahe wieder so wie in den Jahren vor der Hochzeit. Es war sehr still. Nach der langen Fahrt und dem dauernden Krach unterwegs tat ihm das gut. Ja, er war hier noch immer zu Hause. Wie lange noch – egal.

     Er rief Olga an, ohne sie viel reden zu lassen. Er sei wieder da, auf Urlaub, aber jetzt todmüde. Morgen komme er zum Frühstück vorbei. Dann suchte er eine dünne Decke heraus und legte sich in seinem früheren Zimmer nieder. Er versank wie ein Stein im tiefsten Wasser. In der Dämmerung erwachte er, vermutlich da er hungrig war. Er ließ etwas kommen, das war jetzt auch hier möglich. Dann schlief er noch einmal elf Stunden, ohne dazwischen ins Bewusstsein zurückzufinden.

     Diese erste Woche verschlief er zum größten Teil, ohne sich im Wachen an Träume erinnern zu können. Der Schlaf tat ihm körperlich gut. Er sah wieder frisch und gesund aus, fand er, wenn er sein Aussehen kontrollierte. Aber das extreme Schlafbedürfnis hielt noch einige Tage an. Der Schlaf schien innerlich an ihm zu arbeiten, ganze Schichten von Ablagerungen dort zu beseitigen. Er spürte, wie etwas mit ihm vor sich ging. Er entfernte sich sehr rasch von den zurückliegenden Monaten.

     Bei diesem Prozess störten ihn seine Verwandten nach Kräften, ohne ihn letztlich aufhalten zu können, glücklicherweise. Sie fielen ihm mit Fragen und Vorschlägen lästig, die er von sich wegschieben musste, wollte er wieder auf die Beine kommen. Olga war jetzt geradeso neugierig auf Manfred und sein Leben in Hamburg, wie es bis zu einem gewissen Zeitpunkt Ingrid gewesen war. „Dann fahr doch selbst hin“, fuhr er sie an. An den Cousin wollte er nicht einmal denken.

     Ihre neuen Wohnungen! Er begriff nicht, warum der Onkel eine Wohnung nur gemietet hatte. Jetzt konnte er doch keine laufenden Kosten mehr von der Steuer absetzen. Olga dagegen hatte zu einem sehr hohen Preis etwas ziemlich Kleines gekauft. Wie sie selbst sagte: ein Schmuckstück (passend zu ihren übrigen). Für das Geld, dachte er, hätten sie in der Umgebung fast schon ein altes Haus bekommen und reichlich Platz für alle drei alten Leute gehabt. Und doch verstand er seine Tante: Endlich allein! Die Familie sei die kleinste Zelle der Gesellschaft, hörte er im Radio einen Politiker sagen. Zelle hörte sich nach Gefängnis an, und außerdem zeigte sich immer wieder, es konnte auch noch unkontrolliert zur Zellteilung kommen, wie bei Krebs. Auf diesen Gedanken war er gleich stolz. Müsste man irgendwo im Gespräch anbringen. Nur bei wem?

     Da er es nicht tat, schwärmte Olga von ihrer neuen Wohnung: ruhig und sehr zentral. Theo sah die steile Rampe der Tiefgarage vor sich. Wenn sie dort hinauffuhr, sah sie aus wie einer, der beim Achterbahnfahren Schiss hat.

     „Miete dir auch so eine Wohnung“, sagte Olga, „es sind noch zwei in der Anlage frei.“ Ein absurder Vorschlag, fand er. Seit sie nicht mehr im Schwarzen Bären wohnte, war seine Tante nicht mehr ganz dieselbe Person.

     Er fuhr ins Kurviertel und staunte, als er vor dem Haus stand: Was für ein Kasten, sieht ja aus wie in Langenfelde. Wie kann man sich das antun und noch der Oma dazu!

     Die Oma – und das war nun wirklich ein Schock – erkannte ihn anfangs nicht wieder. Zufällig war sie allein in der Wohnung, als er das erste Mal zu ihnen kam. Die Haustür stand offen, und er fand ihre neue „Unterkunft“ – er distanzierte sich von ihr, indem er die Anführungszeichen mitdachte, wozu er erst neuerdings neigte, auch ein Fortschritt -, er fand sie im ersten Stock, und die Oma öffnete nach kurzem die Wohnungstür einen Spalt. Sie sah ihn wie früher an, mit Vogelaugen aus einem starren Raubvogelgesicht. Allerdings hatte er nicht mit dem Folgenden gerechnet:

     „“Zu wem wollen Sie? Mein Sohn ist grad nicht daheim.“

     Erst als er seinen Namen nannte, vor Staunen, dem auch etwas Grauen beigemischt war, mit Verzögerung, da kam eine Spur von Leben in ihre Züge. „Der Theo?“ Sie erinnerte sich, doch glaubte er, nicht an den Klang seiner Stimme, nur an den Namen.

     Später beklagte sie sich über die Nachbarn. Sie spionierten dauernd herum. Sie selbst könne nicht mehr weggehen, denn diese Leute hätten Nachschlüssel zur Aufwindschen Wohnung. Es seien schon Kleider weggekommen. Aber der Onkel erlaube es nicht, dass sie es der Polizei melde.

     Sie fragte nicht nach seinen Verhältnissen. Sie sagte nur, als er nach einer halben Stunde aufbrach: „Du wärst besser nicht mehr gekommen.“ Womit sie, wie er allmählich einsah, wahrscheinlich Recht hatte. Allerdings musste jeder irgendwo wohnen, und wenn’s nur unter einer Elbbrücke war. Von den verdammten Elbbrücken war in Hamburg in diesem Zusammenhang oft die Rede gewesen. Die Elbbrücken, das war eine Vorstellung, die ihn jetzt zum Lachen reizte.

     Bei seinem nächsten Besuch dort gebrauchte der Onkel bald eine Wendung, die Theo zumindest in Neustadt noch nie gehört hatte: marktübliche Miete. Er sagte das in jenem kurz angebundenen Gesprächston, den er früher bei Verhandlungen mit nicht sehr solventen Kunden verwendet hatte. Theo war im Rückstand und bekam eine Frist: erster Oktober. Onkel Georg hatte gewissermaßen sein Büro hierher verlegt. Die Gesamtliquidation war noch nicht vollständig abgewickelt.

     Und wenn ich einfach bleibe und nicht zahle, fragte sich Theo, wird er mich zwangsräumen lassen? Er begann, sich den Skandal auszumalen, und auch diese Vorstellung heiterte ihn vorübergehend auf. Er zog es vor, dem Onkel bis auf weiteres keine Besuche mehr abzustatten.

     Und was zahlte man hier üblicherweise für ein Haus dieser Größe und in dieser Lage? Er studierte Angebote und erschrak: Wer konnte sich das denn überhaupt leisten, vielleicht Ärzte oder Unternehmer, deren Geschäfte sehr gut gingen. Er fing noch einmal an, alles durchzurechnen, wobei er die im Frühjahr von Ingrid verworfenen Angaben nur im Hinblick auf Miete und Alimente korrigierte. Das Ergebnis war eindeutig und niederschmetternd. Es war klar, dass er dann nicht bleiben konnte.

     Allmählich kam es ihm so vor, als hätten sich die übrigen Glieder der Ex-Familie alle gut arrangiert und ließen ihn allein zahlen. Sie sollten sich verrechnet haben – er wird doch bleiben. Sie werden sich mit dem zufrieden geben müssen, was er erübrigen kann, und wie viel das ist, bestimmt er selbst.

     Dann sagte er sich, es sei nicht richtig, alles nur vom Materiellen her zu betrachten. Einfach widerlich, immer nur: wie viel, wie viel … Jahrelang ist er gut mit Ingrid ausgekommen. Sie hat ihn geliebt. Und das alles soll jetzt auf einen Geldanspruch reduziert sein? Er müsste mit ihr reden können, vielleicht gibt es noch andere Lösungen. Er hütete sich, es sich im Einzelnen vorzustellen, und bat Olga, Ingrid kommen zu lassen.

     Sie war nicht bereit, in den Bungalow hinauszukommen. Er bekam einen Termin im Lamm. Beide trafen fast zur gleichen Zeit ein. Sie kam ohne Stefanie. Er hatte vorher nicht daran gedacht, ob sie das Kind mitbringen würde – jetzt vermisste er es und fühlte sich gekränkt. Er war unwürdig, als Vater unwürdig.

     Er müsse sie um Geduld bitten, fing er an, als sich die Kellnerin entfernt hatte, sein Arbeitsvertrag in Hamburg sei ausgelaufen, nur etwas Befristetes, wenn auch gut bezahlt. Er mache erst mal Urlaub und orientiere sich dann neu. Dann komme alles auf eine ganz neue Grundlage. Er sah sie an und sah sich in einem Pfeilerspiegel, wie er sie ansah: offen und ernsthaft, so musste es sein.

     „Ja, das muss ich verstehen“, sagte sie. Er wartete, dass sie noch mehr sagen würde, aber sie schwieg schon wieder. Sie hatte es ruhig gesagt, leise und allem Anschein nach nur wenig von der Angelegenheit berührt. Er begriff, dass sie inzwischen mit ihm abgeschlossen hatte, er war ein erledigter Posten in ihrer Gesamtrechnung. Sie würde es ihm nicht zu schwer machen, doch darüber hinaus hatte er nichts zu erwarten.

     Er fragte nach der Firma Leberecht. Dem Malergeschäft ging es gut. Ingrid war im Büro gut ausgelastet und Stefanie tagsüber bei der Großmutter. „Um diese Zeit schläft sie.“

     Da es nichts weiter zu bereden gab, wollte er etwas aus der Vergangenheit wiederaufleben lassen. Sie sollten sich bestätigen, dass es seinen Wert gehabt hatte, etwas, das sich nicht in Geld ausdrücken und durch Geldansprüche ersetzen ließ, so dachte oder vielmehr fühlte er. „Wir haben es uns damals anders gedacht, ich meine, wir alle beide … Es lief doch lange Zeit zwischen uns recht gut – oder?“

     „Ja und nein. Du hast dich selbst täuschen wollen, aber das geht nur eine Zeitlang.“ Sie lächelte beinahe und sagte noch, wenn er klarer sehe, solle er sie anrufen. Dann könnten sie sich wieder hier treffen. Jetzt müsse sie ins Büro zurück, da sei sonst keiner. Sie stand schon auf und ging zum Tresen und zahlte dort für sich selbst.

     Knapp zwanzig Minuten, stellte er fest, mehr investiert sie nicht in diese Angelegenheit. Sie hat nicht mal Scheidung verlangt, so wenig bedeutet es, mit mir verheiratet zu sein oder nicht.

     Er fuhr ins Dorf heim. Das Wort Täuschung ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte es aus dem Lamm mitgebracht, und nun schwebte es, vermutlich gasförmig, in allen Räumen des Hauses. Sie hatte nicht behauptet, sie sei von ihm getäuscht worden, nein, viel schlimmer, er selbst habe nicht klar sehen wollen oder können. Da sie wenig von seinem Leben im Norden erfahren haben konnte, eigentlich nichts, musste sie aufgrund von Eindrücken hier zu diesem Ergebnis gelangt sein. Die Täuschung, die Selbsttäuschung hatte also ihrer Meinung nach auch in diesen Räumen hier stattgefunden. Mein Gott, wenn sie recht hätte … Es schwindelte ihm, doch im Gegensatz zu früher, wenn er sich aufgeregt hatte, geriet er nicht in Wut. Es war niemand mehr da, gegen den sie sich hätte richten können, niemand mehr außer ihm selbst.

     Nehmen wir an, sie hat frühzeitig etwas bemerkt – was kann ihr aufgefallen sein? Oder seit wann hat sie irgendetwas auch nur geahnt? Dass er sich in der Ehe oft unfrei gefühlt hat, es stimmt ja. Ist es daher auch für sie unbefriedigend gewesen? Nur sehr vorsichtig näherte er sich dem Kern der Angelegenheit. Was war dieses Es, das damals schon, vor Hamburg, zwischen sie getreten sein oder woran es gemangelt haben könnte? Hat er sie denn nicht auf die Weise begehrt, wie es zwischen Mann und Frau üblicherweise geschieht? Hat sie ihm genau das irgendwann nicht mehr geglaubt? Das war ganz neu für ihn, sich so zu befragen.

     Es war ihm, mit seinen seitherigen Erfahrungen, unmöglich, sich in die Zeit der Verlobung und die erste Zeit nach der Hochzeit zurückzuversetzen. Das hieß, dass er entweder ein anderer geworden war oder dass er zwar noch derselbe wie damals war, dass er aber das frühere Bild von sich selbst nicht wiederherzustellen vermochte. Ingrid, soviel begriff er, behauptete ja, es sei nie realistisch gewesen. Sie bestritt ihm damit das Recht, sich auf irgendetwas in der Vergangenheit zu berufen.

     Es war vielleicht nur eine Finte von ihr. Sie wollte alle Schuld auf ihn abwälzen. In Wahrheit hatten sie, auch als Mann und Frau, nicht zusammengepasst.

     Aber es gelang ihm nicht mehr, sich zu beruhigen. Er erlebte jetzt viele Tage lang starke Unruhe bei niedergedrückter Stimmung. Dass man so nervös sein kann, wenn man sich gleichzeitig so schlecht fühlt. Zu Hause hielt er es jetzt nicht mehr lange aus. Er fuhr ganze Tage oder Nächte durch die Landschaft, ohne viel von ihr wahrzunehmen. Es ging ihm darum, alles rasch hinter sich zu lassen. Er lebte nur noch, so schien es ihm, indem er sich rasend entfernte, wovon: egal. Er wusste, dass er fort musste. Irgendwo ganz neu anfangen.

     War das Wetter schlecht, blieb er im Haus und ließ den Fernseher laufen. Je dämlicher ein Programm, umso lieber war es ihm. Er hatte früher gar nicht bemerkt, wie idiotisch die Masse der Sendungen war, und jetzt lachte er über den größten Quatsch. Vorübergehend war das wie eine Erlösung.

     Auf einer seiner Fahrten kam er in der Nähe der Homburg vorbei. Die Ruine tauchte am linken Rand seines Gesichtsfeldes auf ihrem Bergkamm auf und blieb da über eine gewisse Zeit. Er fuhr noch schneller, aber es war schon zu spät, die Erinnerung ließ sich nicht mehr abschütteln. Auch dort oben war er mit Ingrid gewesen, vielleicht einige Monate nach der Hochzeit. Sie waren nicht allein, bei dem schönen Wetter waren viele Ausflügler da, vor allem aus Würzburg und aus Schweinfurt. Unter ihnen entdeckte er damals zwei feminin wirkende junge Männer, ziemlich bunt angezogen, ein Pärchen für sich. Er verzog gleich das Gesicht und sah weg, und Ingrid lachte dazu leise. War das sein Fehler gewesen – und hatte es am Ende noch weitere Vorfälle dieser Art gegeben?  Hatte ihn ein anderes Mal jemand mit den Augen gegrüßt und er, von Ingrid überwacht, hatte es registriert, dem Anschein nach nicht gerade unangenehm berührt? Er ließ also zumindest auf der Burg schon erkennen, dass er erkannt hatte, und Ingrid nahm genau dies wahr. Rückblickend musste er sich nun sagen, er hätte von diesem Anblick in keiner Weise berührt werden dürfen. Sie gaben sich doch im Übrigen recht unauffällig und entschwanden seinem Bewusstsein sofort, um dort erst jetzt nach Jahren fatale Auferstehung zu feiern, wie frisch aufgetaute Leichen.

     Alles hier war ihm verleidet, das Haus, die kleine Stadt, das Land rundherum. Man müsste es abschalten können wie einen Fernsehapparat. Und dann? Er war nicht imstande, Entschlüsse zu fassen, die über diesen langen Urlaub hinausreichten. Erst mal entspannen, erst mal richtig Urlaub machen. Das Konto gab es noch her. In Hamburg hatte er sparsam gelebt, Manfred sei Dank. Wäre der nur sonst nicht in allem so knapp gewesen …

     Der Gedanke an den Cousin brachte ihn auf den Vater in der Anstalt. Sein Besuch dort war lange überfällig. Eigentlich war heute am Montag keine Besuchszeit. Er fuhr trotzdem hin und begründete sein Kommen mit der bevorstehenden Abreise. Sie ließen den Alten kommen, und er ging mit ihm im Park spazieren.

     Der Vater war unverändert, er allein war sich treu geblieben. Er redete abgebrochen, läppisches Zeug. Ungebrochen war sein Interesse an Frauen, Theo nahm es schwermütig grinsend zur Kenntnis, was den Vater zu heute erstmals zusammenhängendem Bericht ermunterte. Er stand im Briefwechsel mit der Milva. Sie schrieb ihm, sie werde auf ihrer nächsten Tournee bei ihm vorbeikommen, sie werde ihn mitnehmen. „Vielleicht braucht sie mich, verstehst du, so als eine Art Privatsekretär.“ Er lachte zufrieden, von dieser Vorstellung geschmeichelt. Theo dürfe es der Mutter nicht sagen. Die Frauen daheim müssten nicht alles erfahren, die Welt sei so groß … Er machte eine weit ausgreifende Armbewegung. Der hohe Maschendrahtzaun existierte offenbar für ihn nicht. Sie hatten ihm auf ärztlichen Rat den Tod seiner Frau bisher verschwiegen. Er würde es nicht mehr einordnen können. Tatsächlich verlangte er nie, dass auch Theos Mutter zu Besuch käme. Ingrid schien er jetzt ebenfalls nicht zu vermissen. Er ging hastig ins Haus, um die Briefe der Sängerin zu holen.

     Theo blieb auf einer Bank zurück. Weiter entfernt gingen andere Insassen auf und ab. Es war warmes, trockenes Spätsommerwetter. Eine adrette Vierzigerin nahm neben ihm Platz; wäre nicht nötig gewesen, es waren in der Nähe genügend Bänke frei. Sie sprach ihn auch noch an!

     „Entschuldigen Sie, dass ich gerade hier Platz genommen habe …“ Er rückte fast unmerklich etwas zur Seite. „Aber ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Wohnen Sie jetzt auch hier?“

     Da sagte er ihr unverzüglich, das sei ein Missverständnis. Sie war der Situation gewachsen und plauderte munter weiter: Sie mache ja auch draußen nie ein Geheimnis daraus, wenn sie zum Beispiel im Gasthof oder bei einer Veranstaltung einen Fremden kennen lerne. Man erfahre es ja doch … Seit zwölf Jahren lebe sie schon hier unter den mehr als tausend Patienten. Damals sei sie aus Bamberg hierhergebracht worden, und in Bamberg lebe noch immer ihr Bruder, der sich gar nicht für sie interessiere. Vor drei Jahren sei er zuletzt auf Besuch gekommen und sei so kalt gewesen. Im Übrigen gehe es ihr nicht schlecht, nur eine richtige Arbeit fehle ihr. Und dann diese Anfälle, zuerst ein leichter Schwindel, dann ein richtiger Rausch. Bald erscheine ihr die Jungfrau Maria … Die Schwester sorge dann dafür, dass sie allein in einem besonderen Raum bleibe, und die Schwester habe auch ein Mittel, irgendeine Spritze, dann sei sie bald wieder ganz normal, wie jetzt. Aber manchmal dauere es auch länger, dann sei ihr auch der Herr Jesus schon erschienen, und sie habe vor ihm niedergekniet. Er habe ihr die Hand mit dem Ring hingehalten, und sie - sie habe den Ring geküsst …

     Sie wurde immer lebhafter und kam Theo allmählich noch näher. Er rückte seinerseits zur Seite und hatte fast schon das Ende der Bank erreicht, als sie plötzlich „O, nein!“ hervorstieß, rasch aufstand und davonging. Sein Vater kam mit langen Schritten auf ihn zu, voller Empörung und gefolgt von einem Pfleger.

     „Die Briefe, die Briefe! Weg – gestohlen. Du musst verlangen, du …“ Er keuchte und wurde unverständlich. Der Pfleger führte ihn energisch ins Haus zurück. Theo folgte betreten bis vor sein Zimmer. Es war nicht der erste kleine Anfall, den er miterlebte. Auch ihm würden sie jetzt etwas geben, und dann würde er – na ja, normal nicht gerade wirken. Sein Abschied ging in der Szene unter, und schon stand er draußen auf dem Parkplatz.

     Ja, der Alte war er selbst geblieben, aber er, Theo, hatte es viel leichter verkraftet als früher. Es ging ihm jetzt besser, merkwürdig, besser als die ganzen letzten Tage. Der kurze Aufenthalt in der Anstalt hatte ihm offenbar gut getan (ohne dass er ihn zu verlängern oder bald zu wiederholen wünschte). Wofür war das ein Zeichen? Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er fühlte, dass er gern in Massen von Menschen eintauchen würde, am besten ihm ganz fremde Menschen.

     Er fuhr sofort nach Würzburg, parkte am Hauptbahnhof und ging beschwingt wie früher einmal die Mönckebergstraße jetzt die Kaiserstraße hinunter.

     Er kam an einer Buchhandlung vorbei. Der Zeitungsständer im Eingang erinnerte ihn daran, dass er jene Zeitschrift kaufen wollte. Später saß er im Selbstbedienungs-Restaurant eines Kaufhauses und blätterte in ihr. Jene Anzeigen – warum eigentlich nicht? Sie sucht Ihn: man könnte es sich wieder einmal beweisen … Später, kommt auch noch dran. Sein Blick glitt weiter die Spalte herunter. Er sucht Sie – das schon weniger, es war unter jedem Gesichtswinkel eine verächtliche Sache. Es wäre ihm unmöglich, sich Frauen so anzubieten. Meistbietend! Und dann noch: Sonstige Bekanntschaften. Er ging diese Rubrik jetzt nicht zum ersten Mal durch, aber heute blieb sein Interesse nicht mehr theoretisch. Warum eigentlich nicht? Die Szene – Manfred sagte immer Subkultur, also die Szene war erwiesenermaßen nichts für ihn. Einige Monate in ihr hatten ihm genügt, um das festzustellen. Für ihn war dabei nichts herausgekommen, nur Überdruss, der bis zum Ekel ging. Männer, die Männer liebten, sollten nach seinem Gefühl besser nicht in Massen auftreten. (Er hätte nicht sagen können, warum nicht.) Aber der Geschmack des Einzelnen an einem anderen Mann, das war eine feine Sache: Die Praxis hatte es gezeigt. Und man musste es niemand erklären. Wenn zwei sich dabei wohl fühlten und kein Rest übrig blieb, dann gab es dazu weiter nichts zu sagen. Es ging nur die beiden etwas an, und ihr Glück, das fühlte er undeutlich, lag gerade auch in ihrer Isolation. Das hatte er gleich beim ersten Mal gespürt: Mark und er ohne den Rest der Welt. Ja, doch, in gewissen Momenten ist es das Glück gewesen.

     Sie warteten in Lübeck, Balingen und Köln. Der Text ihrer verklausulierten Anzeigen unterschied sich wenig voneinander. Er beschloss, den Kölner anzurufen. Die Rheinländer hatten doch den besten Ruf.

     Abends lernte er Nils am Telefon kennen, seine halbdunkle, angenehme Stimme. Er sprach flüssig, fast wie Manfred, doch mit rheinischem Akzent, und seinen Vornamen sprach er ungefähr wie Ni-ils oder Ni-hils aus. Theo dachte, als er ihm zuhörte, an ein Boot, das leise schaukelnd im Wasser liegt und zum Einsteigen auffordert.

     Unterfranken, sagte Nils, das sei ja noch nicht aus der Welt, es sei ja gleich hinter Frankfurt, keine Entfernung für sie. Ob sie sich am Wochenende treffen könnten, vielleicht irgendwo in der Mitte?

     Als er erfuhr, Theo mache jetzt Urlaub und wolle noch wegfahren, schlug er ihm gleich die Eifel vor. Sie könnten dort zwei Tage gemeinsam herumdüsen und sich nebenbei kennenlernen.

     Nils kannte ein kleines Hotel an der Mosel. Er legte zwischendurch auf, um die Nummer herauszusuchen, und Theo schrieb sie dann auf der Rückseite des Telefonbuches mit. Er bestellte anschließend dort ein Zimmer für sich ab Mittwoch. Jetzt konnte doch noch eine gute Zeit für ihn kommen. Dazu passte auch, dass seine Zeitschrift die Eifel gerade in dieser Nummer als Reiseziel beschrieb. Es gab da ein neues Buch, er wollte es gleich morgen in Würzburg kaufen.

     Anderntags erreichte er nichts in Würzburg. Das Buch hätte erst bestellt werden müssen, und für einen zweiten Bluttest war es noch zu früh, sagte man ihm in der Beratungsstelle. Seiner guten Laune tat beides keinen Abbruch. Ein Hoch näherte sich für ihn, er fühlte sich im Steigen und fuhr am Mittwochmittag wie mit vollen Segeln nach Westen, einer für ihn neuen Welt entgegen.

     Seine ersten beiden Tage an der Mosel … vielleicht waren es seine besten, seitdem er Hamburg verlassen hatte. Die wirklich gute Zeit würde erst noch kommen, glaubte er damals. Große, unbestimmte Vorfreude erfüllte ihn. Später warf er sich seine Naivität vor. Er dachte nicht daran, dass Nils und er füreinander jeweils eine individuelle Erscheinung darstellen würden, auf die sie auf die verschiedenste Weise reagieren könnten, von eindeutiger Zustimmung bis zur heftigen Ablehnung. Nils erhielt in seiner Vorstellung keine unverwechselbaren persönlichen Züge, daher stellte sich die Frage nicht, ob er ihn anziehend oder abstoßend finden würde. Nils war jetzt einfach der, den er immer schon erwartet hatte, einer, mit dem man seine Zeit verbringen und um den man von Zeit zu Zeit den Arm legen konnte. Selbst dieser noch immer sehr allgemeinen Vorstellung von dem Mann an seiner Seite war er sich erst seit seinen Hamburger Tagen in diesem Grad bewusst, vorher hatte sie sich nur in viel diskreterer Form geäußert. Nils sah für ihn nicht viel anders aus als ein beliebiger, schwarz gekleideter Motorradfahrer, bevor er den Helm abnimmt.

     Allerdings hatten sie versucht, sich am Telefon ihr Äußeres zu beschreiben, um sich bei der ersten Begegnung rasch identifizieren zu können. Nils war also, wie er schon wusste, schwarzhaarig, groß, schlank, und mit gewissen Abstrichen bei der letzten Eigenschaft – hier waren es eher Zugaben – konnte man sein Bild genauso zeichnen, und das hatte er auch getan. Unter anderem lag es an diesen von ihnen festgestellten Übereinstimmungen, dass er die Wartezeit als in keiner Weise beunruhigend empfand. Er fühlte sich seiner sicher und vor unangenehmen Überraschungen ebenfalls, ohne dass er sie überhaupt in Erwägung gezogen hätte

     Nur ein schon relativ individuelles Merkmal kannte er: Nils trug eine schwarze Jacke mit grünen Schulterstücken. Das sah man in der Tat nicht oft. Übrigens hatte er sein Alter mit vierunddreißig Jahren angegeben.

     Er verzichtete darauf, jetzt bereits allein durch die Eifel zu fahren. Nils würde ihm die schönsten Straßen erst zeigen. Da er nicht gern lange auf der belebten Talstraße blieb – er kam nicht einmal bis Cochem -, fuhr er vor allem auf den Höhen des Hunsrücks herum. Von hier sah er zu den Kegeln und Kuppen der Eifelberge hinüber.

     Nils sollte am Freitagabend gegen zehn Uhr im Gasthof eintreffen. Er blieb aus und war am Telefon nicht zu erreichen. Nach unruhig verbrachter Nacht erfuhr Theo am anderen Morgen von der Wirtin, es habe am Vorabend keine Reservierung für ein weiteres Einzelzimmer vorgelegen, also sei auch niemand ausgeblieben. Erregt und verwirrt wollte Theo sofort telefonieren und erreichte Nils jetzt schon beim ersten Versuch.

     Nils erklärte sein Ausbleiben mit Überstunden. Sie waren plötzlich, unerwartet angefallen. Wusste Theo noch nicht, dass er Polizist war? Und er lasse nie ein Zimmer für eine Wochenendnacht reservieren. Wenn etwas dazwischenkomme, müsse man trotzdem zahlen. Heute sei er definitiv ab acht Uhr abends frei. All das klang einleuchtend. Die Stimme war unverändert sympathisch. Theo fühlte sich erleichtert.

     Nils war noch entgegenkommender als neulich. Allerdings lief sein neuester Vorschlag wieder darauf hinaus, dass Theo ihm entgegenkam, nämlich –fuhr.

     „Wir könnten uns schon in der Mitte treffen. Sagen wir am Laacher See, das ist dicht an der Autobahn, wir können uns da gar nicht verfehlen.“ Theo solle um elf auf dem großen Parkplatz sein, da sei um diese Zeit sonst niemand mehr. Und dann könnten sie noch eine Nachtfahrt unternehmen. Ob ihn das nicht reize?

     Tatsächlich, so könnte es anfangen. Theo wandte nur ein, wo er, Nils, danach noch ein Zimmer finden wolle. Daraufhin kam der weitergehende Vorschlag, später in der Nacht nach Köln zu fahren und gemeinsam in Nils’ Wohnung zu übernachten. Theo fühlte sich auf sehr angenehme Weise überrumpelt.

     Er blieb den Tag über am Ort, um nachts ausgeruht zu sein. Es lohnte sich nicht, für eine Nacht das Zimmer hier aufzugeben. Am Nachmittag stieg er zu den Burgen hinauf und besah sich das Dorf von oben.

     Wirklich, ihr Treffpunkt war für ihn leicht zu erreichen. Von Kobern war er schnell auf der Autobahn, und dann ging es auf einer sehr hohen Brücke über das Tal hinweg. Der Verkehr war jetzt gering, die Strecke frei. Es schienen erst wenige Minuten vergangen, und er war schon an der Abfahrt zum Laacher See. Die letzten Kilometer führten bald ansteigend in einen Wald hinein, dann leicht abwärts zum See. Rechts auf einmal die vieltürmige Abteikirche, massig und drohend vor dem Nachthimmel. Der riesige Parkplatz lag auf der anderen Seite der Straße. Man war hier auf jeden Ansturm vorbereitet. Jetzt lag das Areal fast verlassen da, kein weiteres Motorrad zu entdecken, nur drei verlassene Autos, weit voneinander entfernt geparkt.

     Er brachte die eigene Maschine in der Nähe einer Laterne zum Stehen. Nils sollte ihn bei seinem Eintreffen gleich finden. Es waren noch einige Minuten bis elf. Er saß quer auf der Sitzbank und wartete. Vom See her roch es nach Süßwasser. Die Wellenlinie der Bergkämme rundum lief in sich selbst zurück. Es sah nach erloschenen Vulkanen aus – würden sie noch einmal aktiv werden? Die Glocke des ziemlich dunklen Nachthimmels lastete über dem Seebecken. Der Anblick schien etwas ausdrücken zu wollen – nur was? Vielleicht das Gefühl einer gewissen Ausweglosigkeit; als ob man sich unter Wasser befände, am Grund eines Meeres.

     Schon zwanzig Minuten nach elf. Sollte er doch von ihm genarrt werden? Theo stand auf und machte sich Bewegung. Ohne es beabsichtigt zu haben, schlenderte er quer über den Parkplatz, bis zum anderen Ende. Ob die Fahrer der geparkten Autos am Seeufer waren? Oder in den Wäldern?

     Gerade jetzt fuhr einer der Wagen, die er für verlassen gehalten hatte, los. Brauste anscheinend rasch davon, rollte dann aber dicht neben seinem Motorrad aus, dort mit noch laufendem Motor wartend. Theo ging zum Laufschritt über, dabei eine innere Stimme: Wollen mal sehen, ich stelle mich … In einer halben Minute war er drüben.

     Er konnte gerade noch ins Wageninnere sehen. Der andere starrte ihn aus den Schlitzen einer schwarzen Motorradmaske an und wendete gleichzeitig den Wagen. Dann raste er zur Ausfahrt, um dort schon wieder zu halten. Theo machte sich zügig abfahrbereit. Man ließ ihn fast herankommen und das Kölner Kennzeichen noch erkennen und zog ihn dann in rasantem Tempo hinter sich her. Es ging zurück zur Autobahn. Nein, nicht versuchen, ihn zu überholen; ist zu gefährlich. Und wenn er’s trotzdem täte: was dann? Doch kochte er: Dieses Aas! Abschütteln wird er mich nicht! Der mit der Maske bog an der Auffahrt nach Köln ab und signalisierte mit den Bremsleuchten, Theo solle ihm folgen. Aber Theo schoss geradeaus weiter, ohne einen Gedanken dabei, nur aus Instinkt. Nachher fand er es richtig: was für ein Spiel, nicht mit ihm. Er wendete im nächsten Ort, fuhr zur Autobahn zurück und war um halb eins auf seinem Zimmer. Er schlief sogar einige Stunden und kam dafür später als sonst zum Frühstück.

     Mit dem Ei wurde ihm noch eine Nachricht serviert. Vorhin sei ein Anruf für ihn gekommen, von Nils, solle man ausrichten. Gestern Abend habe es leider nicht geklappt, nun komme er am Montagabend hier in den Gasthof. Theo solle ihn erwarten.

     „Ich reise am Dienstagmorgen ab“, sagte Theo. „Machen Sie mir bitte vorher schon die Rechnung fertig.“

     Er wollte ihn doch noch kennenlernen, zumindest das Gesicht einmal betrachten, das sich unter einer Maske dem Blick entzogen hatte. Warum – das beschäftigte ihn sehr. War er so abstoßend? Es gab Brandverletzte, die furchtbar aussahen. Oder vielleicht ein Elefantenmensch? So wenig ihn das konkrete Äußere von Nils bisher beschäftigt hatte, nach dieser ersten Begegnung kam er in Gedanken immer wieder darauf zurück. Es war schon klüger, vorher Fotografien auszutauschen. Und der andere war jetzt im Vorteil, er hatte ihn sich in voller Beleuchtung präsentieren lassen. Immerhin – und das war doch ein Trost – schien seine Erscheinung akzeptiert worden zu sein.

     Was konnte er ihm eigentlich vorwerfen? Nils war pünktlich gewesen, stand für die vereinbarte Nachtfahrt bereit und lud ihn noch einmal ausdrücklich ein, ihn nach Köln zu begleiten, alles so verabredet und von ihm eingehalten. Er, Theo, stand dumm da. Sich vor einer Maske fürchten … Er hätte ihn, vielleicht durch Handzeichen, bitten können, die Maske abzulegen.

     Natürlich ist das alles Unsinn. Er ist vielleicht ein Verrückter. Auch unter Polizisten gibt es Psychopathen. Mit den kommenden zwei Tagen ist vermutlich nicht viel anzufangen.

     Am Sonntag fuhr er, um sich abzulenken, nach Trier. Das war, bezogen auf Köln und von seinem Quartier aus gesehen, die entgegengesetzte Richtung. Er parkte an der Porta Nigra und folgte langsam der breiten Fußgängerstraße dahinter. Sie mündete in einen trichterförmigen Platz, von dem zwei der ersten sehr ähnliche Straßen wie Speichen eines Rades abzweigten. Er ging auch sie ab. Viele schöne Fassaden, prächtiger als in Würzburg, lange Zeilen von jetzt geschlossenen Geschäften und viele Menschen, einzeln, paarweise oder in Gruppen. Sie spazierten langsam herum wie in einem Garten. Es konnten nicht alles Fremde wie er sein. Er verstand nicht, weshalb sie dann so ziellos wie er selbst hier unterwegs waren. Die Stadt war ansehnlich, aber wenn man sie schon kannte?

     Er stand wieder auf dem Hauptmarkt. Eine Steinsäule endete in einem Kreuz aus Stein. Er hockte sich auf den leeren Sockel, das Eckhaus mit seinen Arkaden, den hohen Fenstern und dem steilen Hut obendrauf im Blick. Von rechts war er vorhin gekommen, dorthin musste er zurück. In der Mitte der Straße war ein Abgang, vermutlich eine Bedürfnisanstalt. Er hatte gerade kein Bedürfnis, außer dem, in sich hineinzuhorchen. Wenn er sich nicht täuschte, dröhnte es im Innern dumpf. Ein Hohlraum, in dem eine Glocke schlug: wumm, wumm – das Herz. Darauf konnte er sich verlassen.

     Jetzt kam da drüben einer die Treppe herauf, ein Motorradfahrer mit graumeliertem Bart. Langsam näherte er sich und ließ sich dann neben ihm nieder, wobei er ihm zunickte, auch etwas in seinen Bart brummte. So ein Bart ist praktisch: Man sagt etwas zu dem Nebenmenschen, muss sich aber nicht verständlich machen. Als erstes holte er eine Pfeife und einen Tabaksbeutel aus der Innentasche der Jacke und begann zu stopfen, langsam, unendlich geduldig, wie es schien. Als dann der Rauch aufstieg, sah er herüber und fragte:

     „Von weit her?“

     So kamen sie ins Gespräch, Theo und der Arzt aus Düsseldorf, Herzspezialist (ausgerechnet), wie er hinzufügte. Es klang abwiegelnd, als wolle er sagen: Dann ist es wohl nicht so schlimm, oder? Er sagte, er drehe seine übliche Eifelrunde am Sonntag, die Frau bleibe lieber zu Hause. Hier in Trier, am Wendepunkt, sei der richtige Ort, die richtige Zeit für die Pfeife. „Besser als Koffein und Sahnetorte. Und, im Vertrauen gesagt, die Summe unserer Laster bleibt sich im Ergebnis meistens gleich. Nur wenige weichen da vom Mittelwert stark ab. Ja, ja, das Leben, es verbraucht sich halt …“

     Als er erfuhr, Theo logiere noch an der Untermosel, spuckte er tatsächlich aus, als ob er einen Priem im Mund hätte, und sagte: „Ach nee, Winningen und so weiter, ich weiß schon. Da gibt’s aber Besseres, mein Lieber. Fahr mal ins Ahrtal.“ So bekam Theo den Tipp, sich etwas in Altenahr zu suchen. Als die Pfeife ausgeraucht war, gingen sie in verschiedene Richtungen auseinander.    

     Am Montagabend wollte er nicht nur warten. Er packte nach dem Essen und studierte danach die Straßenkarte. Er würde morgen nicht auf dem direkten Weg zur Ahr fahren, er wollte nicht zu früh ankommen. Für einen Umweg bot sich das Innere der Eifel an. Der Nürburgring! Auch er wollte ihn einmal abfahren.

     Er legte die Karte nicht so bald aus der Hand, begann sich Touren auszuarbeiten. Er sammelte seine Ideen und schrieb sie auf. So ging die Zeit herum. Er wird nicht mehr an ihn denken, er versprach es sich selbst und hielt sich meistens daran. Nur eines ging ihm unmittelbar vor dem Einschlafen noch durch den Kopf: So wie es bisher gelaufen ist, wird wieder einmal von ihm erwartet, dass er den nächsten Schritt tut – am Telefon. Er soll wieder eine Nummer wählen und voller Angst das Klingeln mitverfolgen, immer und immer wieder. Nein, es wird überhaupt nicht mehr telefoniert. Es wird auch nicht annonciert oder herumgeschrieben. Wer ist er denn … Von Angesicht zu Angesicht … oder gar nicht … Dann muss er eingeschlafen sein.

     Am Nürburgring verglich er den geforderten Preis mit dem einer Übernachtung mit Frühstück, wie er ihn sonst in der Gegend zahlte. Sollte er nicht allmählich sparsamer wirtschaften? Er war nicht in Hochstimmung, und so fiel der Verzicht ihm leicht. Er sah sich die Knaben an, denen es das hier wert war. Sie hatten etwas brennend Entschlossenes. So rennt man im Schwimmbad über das Sprungbrett und dann: Kopfsprung!

     Viele geben sich selbst immerzu Befehle. Dazu fühlte er neuerdings immer seltener Lust. War die Luft bei ihm raus? Kein Kumpel, die Ehe kaputt, das Vaterhaus weg. Er bringt es nicht mal zum Meister. Auch keinen Sohn gezeugt …

     Es ging ihm nicht gut, und er war froh, dass er allein war. Wenn er sich schon selbst Leid tat, war es besser so. Niemand sollte es mit ansehen dürfen. Diese Regung der Scham war der Anfang seiner Genesung.

     Er wohnte in einer Café-Pension an der Hauptstraße von Altenahr. Das Frühstück in einem sehr plüschigen Salon gefiel ihm, ein Gefühl von Luxus. Man verwöhnte ihn.

     Das Wetter war anhaltend schön, ideal zum Herumfahren. Er genoss die Landschaft, er liebte die Hochflächen, die Abstürze in die Täler. Das Sich-wieder-Hinaufarbeiten. Auch wenn er rasend schnell fuhr, floh er nicht mehr. Wovor oder vor wem hätte er noch fliehen können, wenn nicht vor sich selbst. Was ihm durchaus fern lag. Hier war alles neu für ihn. Eigentlich nicht schlecht, dass er es allein entdecken kann. Als er das dachte, stand er auf einem Parkplatz im Südwesten der Eifel, an der großen Straße nach Trier. Das Hochland dehnte sich vor ihm, riss den Blick mit ins Weite. So flieht alles vor uns, Raum und Zeit. Drüben erkannte er die lange Linie der Hunsrückhöhen. Über die Höhenstraße ist er vor einer Woche gefahren und hat herübergesehen und geglaubt, das Beste käme erst noch. Na ja, dachte er, so ganz falsch war das gar nicht.

     (Wenn Theo sich so schnell selbst repariert, liegt es nicht nur daran, dass diese Geschichte allmählich, das heißt recht bald zu Ende gehen muss und wird. Als echter Aufwind liegt er nie wirklich am Boden oder doch nur kurze Zeit. Man sieht es auch an Olga, die schon wieder Wurzeln schlägt, oder an Theos Vater in der Anstalt, wie er noch eine bedeutende Rolle zu spielen hofft. Es muss etwas in ihnen sein, das Manfred als ihren festen Kern oder die Abwesenheit jeder gallertartigen Masse dort bezeichnen würde. Vielleicht ist es einfach nur – Vitalität. Der Lebenswille, zurückgeworfen auf sich selbst, mobilisiert den Eigennutz, der dann bald wieder weniger krass erscheint, wenn die Krise vorüber ist. Dann beginnen die abgerissenen Fäden zur Mitwelt bald nachzuwachsen. Man wird es gleich sehen.)

 

Der Schulter ging es langsam besser, er konnte schon wieder fahren. Allerdings musste er von Zeit zu Zeit anhalten und den Arm entspannen, er ließ ihn dann eine Weile herunterhängen. Am Sonntag rief er Olga erstmals seit Wochen an, um ihr zu sagen, Anfang der kommenden sei er zurück in Neustadt.

     Manfred war also in seiner Nähe. Er brauchte nicht zu überlegen: „Sag ihm, er soll herüberkommen.“

     Sie würde ihn erst am Sonntagabend sprechen können. „Dann warte ich den Montag auf jeden Fall noch ab.“

     Demnach war er dieses Mal nicht in die Alpen gefahren. Theo zweifelte zunächst nicht daran, dass sich der Cousin seinetwegen im Rheinland aufhielt. Olga konnte ihm nicht sagen, wie er es herausgefunden hatte, sie schien da etwas zu verschweigen. Dann fiel ihm ein, Manfred hatte zuletzt von einem möglichen Umzug nach Köln gesprochen – daran hatte er seitdem kein einziges Mal mehr gedacht. War er am Ende schon umgezogen? Also jetzt Köln? Nein, nicht noch einmal von vorn anfangen.

     So wartete er schon wieder. Um sich abzulenken, fuhr er noch einmal zum Laacher See. Spätsommersonne auf den grünen Hügeln und ein Riesentrubel von Wochenendausflüglern auf dem Parkplatz: Er war enttäuscht. Trotz allem war es ihm nachts lieber gewesen.

     Am Sonntag regnete es, und er verließ die Pension nur zweimal für jeweils kurze Zeit. Am Montag ging er vom späten Vormittag an jede Stunde einmal zum Bahnhof, immer wenn ein Zug vom Rhein zu erwarten war. Manfred traf gegen zwei Uhr ein.

     Sie sahen sich auf dem Bahnsteig an, sie betrachteten sich länger, beide vorerst ohne ein Wort zu sagen. Vielleicht versuchten sie damit, den Anschluss an etwas lange Zurückliegendes zu gewinnen. Dann, als sie zu sprechen anfingen, blieb unklar, ob es ihnen gelungen war. Sich schweigend anzusehen, hatte jedem die Präsenz des anderen fühlbarer gemacht, als eine wortreiche Begrüßung es vermocht hätte.

     „Bleib noch zwei Tage“, sagte Manfred als Erstes.

     „Wenn du es so willst …“

     Theo dachte: Er ist schmaler geworden und noch schärfer als früher. Allmählich sieht er doch wie ein Vierziger aus. Und er brachte ihn gedanklich auf eine ihm selbst unklare Weise mit dem eigenen Vater in Verbindung: Natürlich, der ist noch viel schlechter dran. Er hätte ihn nicht so lange sich selbst überlassen dürfen, nicht den Vater, dem fehlt das Gefühl für die Zeit … Nein, um Manfred muss man sich kümmern. Von wegen Großer Cousin - das war einmal. Er sieht mich auch ganz anders an als früher.

     „Ich habe dir schon ein Zimmer für heute Nacht reservieren lassen. In meiner Pension.“

     „Das ist gut. Und wir gehen jetzt gleich dahin?“

     Ihre Befangenheit legte sich erst, als sie nachher eine Stunde im Café saßen. Manfred erzählte von seinen Tagen in Cochem – ein toller Ort, toll in der ursprünglichen Bedeutung. Allmählich kam er beim Reden wieder in sein gewöhnliches Fahrwasser. Für eine kurze Zeit wurde es Theo deutlich, dass sein Cousin durch flinkes, kluges Reden erst das Bild von sich schuf, das man sich von ihm machte. Wenn er allein mit sich war, wer war er dann?

     Theo fragte ihn nicht danach, der Cousin ließ von selbst durchblicken, er habe sich schon einmal mit seiner neuen Umgebung vertraut machen wollen, bevor er diesen Herbst nach Köln wechsele; hauptsächlich deswegen sei er an die Mosel gefahren und doch nicht in die Südalpen.

     „Dann ist die Entscheidung ja gefallen?!“ Und er ging, ohne es sich noch einmal bestätigen zu lassen, zu etwas anderem über, den Eindrücken von der eigenen Reise. Von der Mosel habe er gar nicht so viel gesehen. „Weißt du, die Höhen sind mir lieber …“

     „ … mir eigentlich auch, in jeder Beziehung und Bedeutung.“

     Die dumme Kuh kam zur Sprache, und Theo vergaß auch den Herzspezialisten nicht. Er musste ihn wie das Rindvieh anschaulich geschildert haben, denn Manfred lachte aus vollem Hals, was bei ihm selten vorkam. Ja, sie hatten beide eine schöne Zeit gehabt.

     Manfred wollte dann auspacken, er hatte wieder sein gesamtes Gepäck dabei. Theo vertrieb sich die Zeit, indem er vom Fenster seines Zimmers aus die Straße beobachtete.

     Sie saßen beim Abendessen, als Manfred ihn fragte: „Und du, wo willst du in Zukunft leben?“

     „Nicht in Köln. Nicht in so einer Stadt.“

     „Und wo dann?“

     „Ich weiß noch nicht. Wo es Arbeit gibt und wo ich gut bezahlt werde.“

     Manfred sagte, auch er denke nicht daran, in Köln zu wohnen. „Vielleicht eine kleinere Stadt am Rhein, oberhalb von Bonn, Koblenz zum Beispiel oder ein Ort dazwischen … Das kann dich doch nicht wundern. Oder am Ende doch? Du weißt ja, was ein Coming out ist. Es ist fast dasselbe. Sieh mal, die Bühnenmaschinerie des Lebens dreht sich und dreht sich, immer schön langsam, damit einem nicht schwindlig wird, und wenn sie zum Stillstand kommt, geht man auf einmal in Koblenz spazieren und nicht mehr in St. Georg. Ist ja auch besser für die Gesundheit.“

     „Du ziehst dich zurück?“

     Das sei ein viel zu starker Ausdruck. Für ihn werde sich kaum etwas ändern. Theo sah das anders, nach diesem Sommer. Aber er behielt es für sich.

     „Ich würde dich gern wieder für einige Zeit in der Nähe haben. Willst du?“

     „Ja“, sagte Theo, und dann aßen sie schweigend weiter.

     Nach dem Essen nahmen sie einen Weg am Fluss entlang. Manfred sagte, für ihn, Theo, werde es auch in Koblenz wieder eine Zwischenstation sein. „Du bist  noch so jung. Das ist sonst nur eine Phrase, es stimmt aber in deinem Fall. Am Ende heiratest du wieder.“

     „Ich bin ja noch verheiratet.“

     „Oder du versuchst es zur Abwechslung mal wieder mit Männern.“

     „Da hat sich zuletzt nichts mehr abgespielt. Scheint vorbei zu sein.“

     „Lassen wir das offen. Was jetzt kommt, ist in jedem Fall ein Provisorium, vielleicht ein längeres Provisorium.“

     „Bestimmt länger als in Hamburg.“

     „Auf die Länge kommt es am wenigsten an.“

 

 

Die letzten zwei Tage gingen sie höher in die Wälder hinauf. Sie saßen lange auf Lichtungen, sprachen miteinander und schwiegen noch länger.

     „Heute Morgen“, sagte Manfred, „habe ich an meinen anderen Cousin gedacht.“

     Theo stutzte – von ihm war ja noch nie die Rede gewesen.

     „Ich hatte ihn selbst vollkommen vergessen, seit Jahrzehnten schon. Es war so: Ich lag mit acht im Krankenhaus, und als der Blinddarm fort war und es mir schon etwas besser ging, sagte Mama: Weißt du, wer noch auf der Station liegt – dein Cousin Roland. Der war mir bis dahin gar kein Begriff, Vetter x-ten Grades, und er hieß Leibfried. Die Leibfrieds sind mit Mama verwandt gewesen. Sie holte ihn an mein Bett. Er war viel älter als ich, schon vierzehn. Er war sehr freundlich und  … mir schon damals nicht gleichgültig. Solange ich noch im Krankenhaus war, sah ich ihn oft. Meine Erinnerung ist schwach, aber ich weiß, dass ich ihn vermisste, als ich wieder zu Hause war. Da sagte Mama eines Tages: Er feiert jetzt Konfirmation. Du bist eingeladen … Er hatte an mich gedacht. Wir fuhren hin. Es waren sehr viele Leute da. Er war unverändert, freundlich – aber ich fühlte mich fremd in seiner Umgebung. Die Sache war die, dass er zu allen im Haus freundlich war und dass ich es nicht zu allen sein konnte. So einfach war das, ich fühlte es. Ich habe ihn dann nicht mehr gesehen  … Na ja, das war also der Ur-Cousin. Aber in deinem Fall … war alles ganz anders.“

     Theo blieb stumm. Darüber wird er noch nachdenken. Sie wechselten das Thema, und Theo wurde ärgerlich, als er von Manfred erfuhr, Onkel Georg wolle selbst den Bungalow im Dorf beziehen. „Ich bin wie immer der Letzte, der so etwas erfährt. Dann muss er aber marktübliche Miete zahlen, das soll er nicht vergessen.“

     „Wir werden es beide im Auge behalten.“

     Sie vereinbarten, Theo solle für sie eine größere Wohnung am Rhein suchen und eine Vorauswahl treffen. Dann werde Manfred aus Hamburg kommen und sich für eine entscheiden und sie kaufen. Nein, kein Haus, das sei zu groß und vielleicht auch zu teuer hier am Rhein.

     „Ja, wenn es nur ein Provisorium ist …“

     Manfred legte ihm rasch den Arm um die Schultern, eine von ihm nicht gewohnte Geste, die er verlegen und ungeschickt ausführte. Man müsste es ihm mal vormachen. Er sagte: „Nein, nein, es tut mir leid, ich hätte es nicht so nennen sollen. Du bist nur frei, ich meine, du kannst gehen oder bleiben, zu jeder Zeit. Mit einem Haus würden wir uns übernehmen.“

     Wenn einem frei sein aber jetzt nicht mehr so viel bedeutet? Er sagte es nicht. Er war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er den Cousin körperlich nicht begehrte, ihn nie begehrt hatte. Umgekehrt war er sich nicht so sicher. Wie kann man das wirklich von einem anderen wissen? Vielleicht liebte ihn Manfred, doch seiner Natur nach nur aus einem gewissen Abstand heraus? Dann sollte er, Theo, diesen Abstand nicht verringern. Es blieb aber unbefriedigend: große Sympathie und kein körperlicher Ausdruck dafür? Er wird ihn manchmal doch anfassen. Sie teilten ja auch die Atemluft.

     Er sagte zu ihm: „Du bist wirklich ein alter Junggeselle. Es ist nicht bös gemeint. Wie wird man so?“

     „Das ist ein Roman für sich.“

     „Schreibst du ihn?“

     „Noch nicht, später vielleicht. Setzen wir uns?“

     Manfred ließ sich auf einem Baumstamm nieder. Da lagen Buchenstämme parallel zum Weg, entrindet und zum Abtransport bereit, ihr Stapel bildete eine Treppe. Manfred saß schon auf einer der oberen Stufen, die Füße weiter unten abgestützt und die Ellenbogen auf den weit auseinandergestellten Knien. Theo hockte sich ihm zur Seite zwei Stufen tiefer hin und nahm die gleiche Haltung ein. Dann legte er den Kopf gegen Manfreds Knie. Vielleicht erträgt er es so? Manfred ließ ihn da ruhen.

     „Vermeide es doch, Theo, wenn es irgend geht“, fing er zögernd an (ja, was denn?), „also wenn es dir möglich ist, wollte ich sagen, dann solltest du vor dem Winter nicht wieder mit der Arbeit anfangen. Stattdessen kannst du mir helfen, bei der Wohnungssuche sowieso und dann noch mehr beim Umzug. Bis der Winter da ist, sind wir dann am Rhein. Das ist gar nicht mehr viel Zeit. Und es soll nicht für Gotteslohn sein, wie Olga immer so hübsch sagt. Nein, sei still! Ich weiß ja, du willst schon lange den Meisterkurs machen, und  ich, ich habe ja die Mittel dafür …Theo, du sollst Meister werden.“

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Tag der Veröffentlichung: 14.07.2014

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