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1. Kurzbiographie

 

Hubert Fichte wurde 1935 in Perleberg (Brandenburg) als nichteheliches Kind geboren. Sein jüdischer Vater emigrierte bald nach Schweden, der Sohn hat ihn nie kennengelernt. Die anthroposophisch eingestellte Mutter kehrte mit Hubert ins kleinbürgerliche elterliche Heim nach Hamburg-Lokstedt zurück (Großvater Zollinspektor). Sie arbeitete als Büroangestellte und nach dem 2. Weltkrieg auch als Souffleuse oder Komparsin bei verschiedenen Theatern der Stadt, war zeitweise arbeitslos. Während des Krieges brachte sie das Kind für ein Jahr in einem katholischen Waisenhaus in Bayern in Sicherheit.

Hubert Fichte trat schon seit 1946 in Kinderrollen auf der Bühne auf. 1949 wurde Hans Henny Jahnn auf ihn aufmerksam. Der renommierte, wenn auch skandalumwitterte Autor war für mehrere Jahre eine wichtige Bezugsperson für den jungen Fichte, der bereits Gedichte und Prosa verfasste. Fichtes Einstellung Jahnn gegenüber war von Beginn an ambivalent.

1950 geht Fichte ohne Abschluss von der Schule ab, um Berufsschauspieler zu werden. Er arbeitet für den Hörfunk und als Filmstatist und scheitert an der Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule. 1951 ist er der Geliebte des Schauspielers und Regisseurs Alexander Hunzinger (1910 – 1959). In den Jahren 1952 – 1954 wiederholte, auch längere Aufenthalte in Frankreich, u.a. als Schafhirt in der Provence. 1955 - 1957 landwirtschaftliche Berufsausbildung in Schleswig-Holstein mit Abschluss. Danach vorübergehend in Niedersachsen, Schweden und erneut in der Provence. Fichte versucht sich fortlaufend in verschiedenen Literaturgattungen.

Er lernt 1961 die Fotografin Leonore Mau (geb. 1916) kennen und kehrt 1962 nach Hamburg zurück. Fortan lebt er mit Mau zusammen, unternimmt mit ihr zahlreiche Auslandsreisen, gibt später Bücher mit ihr heraus. Er selbst erfährt als Autor seit der Rückkehr nach Deutschland zunehmende Anerkennung (Kontakt zur Gruppe 47, Hermann-Hesse-Preis, Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom, rege journalistische Tätigkeit). Seine erste Buchpublikation wird der Erzählband „Der Aufbruch nach Turku“ (1963).

Fichtes Hauptwerk lässt sich zwei Perioden zuordnen. Da sind einmal die zwischen 1965 und 1974 veröffentlichten Romane „Das Waisenhaus“, „Die Palette“, „Detlefs Imitationen ‚Grünspan’“, „Versuch über die Pubertät“, alle recht erfolgreich und von der Kritik überwiegend günstig aufgenommen. Es handelt sich um zumeist autobiographische, formal sehr experimentierfreudige Werke. Auf der anderen Seite seit den siebziger Jahren Bücher ethnographischer Natur wie „Xango“, „Petersilie“ über afroamerikanische Mischreligionen und ihre Kulte. Diesem Themenkreis können im weitesten Sinn auch Werke zugeordnet werden, die Hamburger Subkulturen gewidmet sind („Interviews aus dem Palais d’Amour“, „Hans Eppendorfer. Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte“).

Unvollendet blieb das Projekt des auf neunzehn Bände angelegten Romanzyklus „Die Geschichte der Empfindlichkeit“. Aus dem sehr umfangreichen Nachlass konnten siebzehn Bände veröffentlicht werden, die eine Vorstellung vermitteln von der Dimension dieses Werkes, vom überragenden Rang des Autors – und vom Verlust, den die Literatur durch seinen frühen Tod erlitten hat.

Hubert Fichte starb 1986 im Hamburger Hafenkrankenhaus an AIDS. Gäbe es eine Rangfolge der Opfer der Seuche nach ihren Leistungen, er wäre sehr weit vorn zu finden.

2. Versuch über die Pubertät

Zu Beginn seines autobiografischen Romans „Versuch über die Pubertät“ von 1974 lässt der Erzähler in einer brasilianischen Gerichtsmedizin einen Leichnam sezieren, den er bald mit dem eines Herrn Pozzi aus Hamburg gleichsetzt. Es ist der „Gleichnam“ und Pozzi ist, wie unschwer zu entschlüsseln, Hans Henny Jahnn. Der Pathologe verwandelt sich für den Erzähler „in den umfangreichen Gegenzauberer, der den mich in dreißig Jahren enger und enger schnürenden Körperzauber kaputtschneiden könnte.“ Er, der Erzähler, versichert, er interessiere sich „nicht touristisch für die Toten, sondern für das Auseinanderfallen des Bildes, das mich (!) ausmacht.“ Am Ende des Romans ist auch die Sektion zu Ende: „Teil um Teil fällt jedes Organ, das ich mir einverleibt hatte zu dem rituellen Körper meines sinnlichen Bewusstseins, wieder ab und heraus.“ Der unbekannte tote Brasilianer ist also Pozzi, ist Jahnn und zugleich, mit den Mitteln der Magie, das literarische Alter Ego von Fichte, dem Romanautor.

Jahnn wurde ab 1949 für den pubertären und nachpubertären Fichte das große Leitgestirn mit gewaltigen Kräften der Anziehung wie der Abstoßung. Man kann sich diesem problematischen Verhältnis auch mit den Mitteln der Stadtgeographie und –soziologie nähern. Fichte reiht sich und die Seinen gern in die unteren (arbeitenden) Klassen ein, während Pozzi-Jahnn Vertreter des Großbürgertums sein soll. Das trifft so nicht zu. Jahnns Vater war nur dem mittleren Bürgertum zuzurechnen, war der Angestellte des eigenen Bruders. Zwischen den Brüdern und ihren Familien bestand ein deutliches soziales Gefälle. Hans Henny Jahnns Situation selbst blieb materiell zeitlebens prekär. Fichtes Leute nun waren durchaus keine Proletarier, sondern Kleinbürger, der Großvater Zollinspektor, die ledige und anthroposophische Mutter Bürokraft beim Arbeitsamt und später Souffleuse an Hamburger Bühnen. Ihre Lage und die des jungen Fichte waren aufgrund von häufiger Arbeitslosigkeit ähnlich unsicher wie die von Jahnn.

Auffallend ist, dass beide Autoren, wenn auch im Abstand von etwa vierzig Jahren, in unmittelbar benachbarten nordwestlichen Vororten aufwuchsen und zwar in Eigenheimen. Für Jahnn war es das damals noch selbständige Stellingen, Fichtes Großvater hatte sich etwa zur gleichen Zeit in dem ebenfalls noch nicht eingemeindeten Lokstedt niedergelassen. Beide alten Dörfer waren schon vom Prozess der Suburbanisierung erfasst und boten jeweils dem aufstrebenden Mittelstand Baugrund im Grünen. Wer es geschafft hatte, die Hamburger Gängeviertel (Robert Koch über sie: „Ich vergesse, dass ich in Europa bin!“) und Altona-Ottensen („Mottenburg“) zu vermeiden und aus Hamburg-Eimsbüttel wegzuziehen, der war hier an sein Ziel gekommen. Stellingen wurde 1927 Altona zugeschlagen und kam mit diesem 1937 zu Groß-Hamburg. Lokstedt hatte es 1927 umgehen können, Teil Altonas zu werden, indem es mit Niendorf und Schnelsen fusionierte, um dann 1937 doch in Groß-Hamburg aufzugehen. Bezeichnend ist weiterhin, dass beide Autoren im Verlauf ihres Lebens diese nordwestlichen Stadtteile verließen und später in die elitären Elbvororte umzogen und dort bis zum Lebensende blieben, Jahnn nach Blankenese, Fichte in das stadtnähere Othmarschen. Diese Parallelen schnitten sich nicht erst im Unendlichen: Beider Gräber befinden sich auf dem gleichen Friedhof Nienstedten, zwischen Blankenese und Othmarschen gelegen.

Der Roman „Versuch über die Pubertät“ spielt überwiegend in Hamburg in den Jahren 1949 – 1952. Man kann von diesem Werk sagen, was zu „Ulysses“ von Joyce bemerkt worden ist: Aufgrund des Textes könnte man die Stadt im Fall ihrer Zerstörung rekonstruieren. Fichte ist zu Beginn vierzehn und lebt in diesem „Kleinbürgerlokstedt“ in einem Einfamilienhaus im Dachjuche. „Morgens Aufstehen in den Kleingartengeräuschen des Großvaters. Ein anthroposophisches Frühstück.“  Besuchern bereitet die Großmutter einen „wilhelminischen Empfang“. Fichte sieht sich in Lokstedt und in der übrigen Stadt um. Er sucht Anknüpfungspunkte. Es gilt, sich eine Existenz zu schaffen, beruflich wie erotisch.

Nach NORDEN. Da ist Hagenbecks Tierpark. Jahnn hatte als Knabe phantasiert, dort einen Tiger zu befreien. 1943 erlebten die Fichtes, wie die Zootiere nach dem großen Bombardement wirklich durch Lokstedt liefen. Der Norden, das heißt auch: „Hier fressen sich Stadt und Land gegenseitig auf.“ Schrebergärten, Nissenhütten, eine Fabrik. Dann ein mittelgroßer Wald, das Niendorfer Gehölz. In diesem großen Bereich zwischen den Vororten macht Fichte erste sexuelle Erfahrungen mit Nachbarjungen. Sein Hauptziel da oben ist jahrelang die Musische Oberrealschule in Niendorf, die er mit sechzehn ohne Abschluss verlassen wird, um Schauspieler zu werden. Als es damit nicht klappt, holt er sich sein Arbeitslosengeld auf einer Nebenstelle des Arbeitsamtes ganz in der Nähe ab und vermeidet Begegnungen mit den früheren Mitschülern. Alles in allem keine wirklich bereichernde Gegend für ihn, dieser Norden.

Allerdings wird gerade an der Niendorfer Schule Jahnn auf ihn aufmerksam. Die Skandalgröße der Hamburger Literaturszene taucht mit Genehmigung des Direktors im Klassenzimmer auf und bittet ausgewählte Knaben, darunter Fichte, Urin abzugeben. Der Dichter ist auch Amateurhormonforscher und braut Mittelchen zusammen, die er für heilkräftig hält. Der Egozentriker Jahnn reiht den Jungen, der neben der Schule schon schauspielert und schreibt, unter die Bisexuellen ein und zieht ihn in seinen Hirschpark-Kreis. So lernt der Vierzehnjährige den WESTEN der Stadt kennen: „Parks von Reedern und Sklavenhändlern dehnen sich lieblich aus.“ Jahnn registrierte schon früher an diesen ehrbaren Kaufleuten den „Gestank ihrer Hauptbücher“. Pozzi-Jahnn ist einer von den „gescheiterten Nachkommen von großen Familien unter dem Schatten weißer Säulen …“ Hier wird nach Herzenslust debattiert, intrigiert, verkuppelt und sich getrennt. Fichte will sich nicht von Jahnn adoptieren lassen und hat eine kurze Affäre mit „Mozart“, einem frühreifen Komponistengenie in der Pubertät, das dann doch lieber die Tochter des Dichters heiratet. Fichte dazu, da sich im Hirschparkhaus alles vor allen vollzieht: „Ich beginne, eine Niederlage vorzuführen, die mein ganzes Leben dauert.“ Also ab in den Osten.

Der OSTEN, das sind die Geschäftsviertel, die Theater, Restaurants, die Hauptstelle des Arbeitsamtes, der Hauptbahnhof, die Musikhalle, die Kultur-Center der Besatzungsmächte, das Funkhaus. Jetzt erst entfaltet sich das Panorama Hamburgs in ganzer Breite. Fichte spielt Theater, Kinder- und Jugendrollen, und führt als Zwischenakte Szenen aus seinem jungen Privatleben auf. Da ist ein Schauspieler, Anfang zwanzig, der ihn allabendlich in einem Sartrestück mit den Händen erdrosselt. Fichte gewöhnt sich an, den Jungverheirateten daheim abzuholen. Die innere Stadt zwischen Schwanenwik und Poststraße wird zur Kulisse dieses Kammerspiels ohne Happy End. Fichte wird Komparse bei Filmaufnahmen und mit sechzehn der Geliebte eines Mannes von vierzig, eines Schauspielers und Regisseurs, eines Mannes, der seinerseits Frau und Kinder ganz im Westen, in Blankenese, hat. (Jetzt folgt ein Roman im Roman, den nachzuvollziehen die kurze Abhandlung sprengen würde.) Nebenbei lernt Fichte im Französischen Kultur-Institut Französisch und wird, wie früher schon Jahnn, Proustianer.

Der Mann von vierzig Jahren unternimmt einen Suizidversuch, wird möblierter Herr erst an der Alster, dann in Altona. Fichte besucht, begleitet, stützt den alkoholkranken Älteren dort und ist damit im SÜDEN angekommen, von Lokstedt aus gesehen. Dieser Südraum, das Refugium der Randgruppen, wird später mit dem Palais d’Amour, dem Ledermann Hans Eppendorfer und dem großen Auftritt im Star-Club den Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte entscheidend voranbringen. („Die Palette“ in der Neustadt ist der östlichste Außenposten dieses Bezirks.) Aber so weit ist er noch lange nicht. Er hat die bürgerlichen Milieus der Stadt in den Jahren der Pubertät schon studiert, jetzt beginnt er zu reisen, auf dem Land zu leben, in der Landwirtschaft zu arbeiten, in Frankreich, in Schweden, auch in Holstein und Niedersachsen, und zwischendurch nach Hamburg zurückkehren. Er hat den für ihn typischen Rhythmus aus Sehnsucht und Enttäuschung gefunden. 1974 wird er in „Versuch über die Pubertät“ die Beschreibung einer schönen Provence-Landschaft mit der Feststellung umkippen lassen: „Es ist fast so, als wenn man bei Billstedt auf die Elbe blickt.“ Und: „Haiti und Salvador sind banal. Obduktionen gibt es auch im Eppendorfer Krankenhaus und in Lokstedt laufen mehr Schlangen herum als am Amazonas.“

Die Reise in den Exotismus endet auf der letzten Seite mit einem Resümee, das so ernüchtert wie ehrlich ist: „Magie ist die große Einbettung ins Instinktive … Der Zauber ist zerschnitten … Ich lebe weiter in einer ganz säkularisierten Welt.“ Indessen ließ er es damit nicht bewenden. Mit der Fotografin Leonore Mau verabredete er zu Beginn der Sechziger das große Projekt der Erkundung der afroamerikanischen Mischreligionen und pendelte zwanzig Jahre zwischen Haiti und Hamburg, zwischen diesem und jenem Süden, arbeitend an den Büchern seiner Ethnopoesie und an den Hamburger Romanen.

3. Der Aufbruch nach Turku

Mit achtundzwanzig – 1963 – brachte Hubert Fichte sein erstes Buch heraus, den Band „Der Aufbruch nach Turku und andere Erzählungen“. 1985 – ein Jahr vor seinem Tod – gab es eine um drei weitere frühe Erzählungen ergänzte Neuausgabe, die diesen Zeilen hier zugrunde liegt. Sie weist nun siebzehn Einzeltexte auf, die man in drei aufeinander folgende Gruppen einteilen kann.

Die ersten sechs Texte verarbeiten Stoffe aus Südfrankreich, mit Ausnahme von „Inselbegräbnis“, das Impressionen von einer deutschen Nordseeinsel enthält. Diese französischen Texte präsentieren zumeist ländliche Käuze und Abläufe, die irgendetwas Erschröckliches oder auf andere Weise Schräges bieten. Die Handlungen spielen immer auf dem Land. Eine ausgeprägte Vorliebe für Milieuschilderung macht sich geltend. So werden dem Leser Steinbrucharbeiter und ihre Umgangs- und Ausdrucksformen recht plastisch vor Augen gestellt. Dann gibt es die junge Frau, die nur mit und für Schlangen lebt. Ob man mit diesen Texten viel anfangen kann, hängt stark vom persönlichen Geschmack an solchen Stoffen ab. Die spezielle Begabung des Autors Fichte -  sein scharfer Blick fürs Detail, sein genaues Gehör für die Sprechweise seiner Figuren – zeigt sich hier bereits.

Die folgenden sechs Erzählungen sind in Norddeutschland angesiedelt, zumeist in Hamburg, entweder im 2. Weltkrieg oder in der Nachkriegszeit. Hier gibt es keine Sonderlinge, sondern überwiegend Figuren mehr oder weniger aus der Mitte der Gesellschaft, die aufgrund der unruhigen Zeiten verstörende Erlebnisse haben, darunter Fichtes Alter Ego „Detlev“. Mag sein, dass der heutige Durchschnittsleser von diesen Texten bedeutend mehr angesprochen wird als von denen der ersten Gruppe.

Einer von ihnen – „Der dreiundzwanzigste Juli“ – könnte mit guten Gründen ein Text für die Schullesebücher sein. Gemeint ist der Juli 1943 mit den verheerenden Bombardements auf die Hansestadt. Bei diesen Luftangriffen handelte es sich um den ersten und weitgehend erfolgreichen Versuch, eine Millionenstadt mit Spreng- und Brandbomben auszuradieren. Detlev ist, wie Fichte selbst, zu der Zeit acht, lebt mit der Mutter bei den Großeltern in einem Vorort. Nach einer ersten Welle steht das Einfamilienhaus noch, ist aber wie der Garten stark ramponiert. Die Villa gegenüber ist schon Ruine, unter der die Hausfrau noch liegt. Zootiere galoppieren durch die Straßen und ausgebombte Verwandte treffen ein. Detlevs Familie will Hamburg verlassen und sich in Schlesien aufs Land flüchten. Nach einem stundenlangen Marsch durch die zerstörte, noch brennende Stadt erreichen sie einen Bahnhof. Die Erzählung endet mit der Abfahrt des Zuges und einem Detlev, der sich darin jungen Soldaten anschließt, um mit ihnen zu singen. All das ist ausschließlich aus der Perspektive eines Achtjährigen erzählt und geschrieben in einer Prosa, so glatt wie polierte Kieselsteine.

Die letzte Gruppe bilden die schwedischen Texte. Fichte war als junger Mann eine Zeitlang Hilfswärter in einem Heim für psychisch erkrankte Jugendliche nahe Stockholm. In vier der fünf Texte porträtiert er ebenso scharf wie verständnisvoll je einen der Insassen dort. Abschließend erleben wir in der Titelgeschichte eine Mittsommernacht, die „Axel“ (Fichte) mit der Suche nach zwei Ausbrechern verbringt.

„Lef“ dürfte innerhalb dieser Gruppe der literarisch gelungenste Text sein. Hier kümmert sich der Erzähler um einen Jungen sozial schwacher Herkunft, er ist vital und doch schon deformiert. Lef und Axel lesen sich, um das Schwedisch des Deutschen zu verbessern, gegenseitig „Nils Holgerssons wundersame Reise“ vor. Der Junge hat keine gute Prognose, muss die Stadt wechseln, bevor sie mit dem Buch fertig sind. Später trifft ihn Axel zufällig noch einmal und macht sich klar, wie unzusammenhängend seine Eindrücke von dem jetzt Betrunkenen sind. Das ist ganz bewusst und ebenso schlicht wie souverän der Kern: das rettungslos Fragmentarische, einfach Zerfließende eines Stoffes, der sich zur Erzählung nicht mehr runden will, die Parallelität von abgebrochener Lektüre und abgebrochener Beziehung, der andere als ein Text, den man zu etwas Brauchbarem letztlich nicht mehr zusammensetzen kann.

Fazit: Fichtes erstes Buch enthält nichts Missglücktes, einiges Mittelmäßige, viel gut Lesbares und mindestens zwei Texte, die einen stark berühren können.

4. Das Waisenhaus

„Das Waisenhaus“, erschienen 1965, war Fichtes zweite Buchveröffentlichung und sein erster Roman. Er verwertet darin Erinnerungen an eine Unterbringung 1942/43 im Waisenhaus von Schrobenhausen, das im Roman Scheyern heißt. Bei dieser Gelegenheit: Die kleine oberbayrische Stadt ist bisher die einzige, die eine Straße nach Hubert Fichte benannt hat. Hamburg, Fichtes Heimat, glänzt insoweit wieder einmal durch Ignoranz. (Tipp: Am U-Bahnhof Lutterothstraße in Eimsbüttel ist ein großer Platz noch ohne Namen.) Der Verfasser dieser Zeilen hat gerade in mehreren Buchhandlungen in Hamburg und Berlin nach vorrätigen Titeln des Romanciers Ausschau gehalten – an der Spree wurde er wiederholt fündig, die Regale der Hansestadt dagegen kennen Hubert Fichte nicht mehr.

Im Schrobenhausener Roman werden die verschiedenen Milieus und Motive wie üblich mit Fichtescher Prägnanz und Gründlichkeit behandelt: die kleine Stadt und ihr katholisches Waisenhaus, der Krieg und die Bombenangriffe, Hitlerei und Religiosität. Was man ist – von Beruf – und was man isst – kriegsbedingt oft Minderwertiges -, wie die Dinge riechen, wie sich etwas anhört, all das wird einem unmittelbar aus dem Erleben eines damals Sieben- oder Achtjährigen nahegebracht. Detlev, Fichtes Alter Ego, zieht dabei immer wieder Verbindungslinien vom katholisch-kleinstädtischen Süden zum evangelisch-großstädtischen Norden. Hamburg, das sind auch die Großeltern dort, ihr Garten, Hagenbecks Tierpark. Detlevs Mutter ist Büroangestellte auf dem Rathaus in Bayern und wechselt häufig ihre kleinen möblierten Zimmer, zu klein, um das Kind auch noch darin unterzubringen. Auch lässt sich im Waisenhaus vielleicht eher verheimlichen, dass Detlev einen jüdischen Vater hat, der im Ausland verschollen ist.

Das Buch hat seine Höhepunkte – ein nächtlicher Fliegeralarm, das Weihnachtsspiel mit den Kriegsversehrten. Das schimmelige Brot im Waisenhaus riecht nach dem im Rathaus aufgebahrten toten Gauleiter. Kennen Sie noch Hauchbildchen? Da liegen zwei ihrer Art beieinander: „Meerstern ich dich grüße“ und „Unser Führer war ein Mauermann“. Es wird darüber getuschelt, was der Stadtpolizist mit den polnischen Kriegsgefangenen anstellt, und in einem Nachbarort ist einer Volksheiligen der Herr Jesus auf einem halbverfaulten Birnbaumblatt erschienen. Schwester Silissa ermahnt die Waisen: „Nichts Unkeusches sehen lassen.“ Das alles ergibt ein sehr lebendiges Panoptikum, ein Panoptikum als Mikrokosmos.

Und doch trübt etwas die Freude an der Lektüre. Um den Stoff zu literarisieren, hat Fichte dem Kindheitsroman eine wahrhaft Proustsche Konzeption verpasst. Die Rahmenhandlung: Detlev steht Ostern 1943 auf dem Waisenhausbalkon und erwartet seine Mutter, die mit ihm nach Hamburg zurückkehren wird. Er erinnert, wie es hartnäckig auf Hamburgisch immer wieder heißt, er erinnert alles bis ins geringfügigste Detail. Aus der kleinen Madeleine, Prousts erinnerungsträchtigem Teegebäck, ist jetzt etwas „wie ein trockener Suppenwürfel“ geworden. Bergson und die Spekulationen über die Zeit lassen grüßen: „Jedes Zucken der Wimpern dauert einen Tag lang, eine Woche lang, einen Monat lang.“ Gleich noch ein Beispiel für diesem Stoff Unangemessenes: „Detlev hatte das Gefühl, als fiele die Dunkelheit mit allen Sternen hinten in seinen Kragen.“ Und ich sehe dabei den sehr ambitionierten jungen Autor Fichte sich am Schreibtisch abmühen … Mag sein, dass ihm diese Literarisierung damals Aufmerksamkeit verschafft und erste Anerkennung eingebracht hat. Heute dürfte sie der Wiederentdeckung des Romans kaum förderlich sein. Das ist schade, das Buch hat ja dennoch hohe Qualität.

5. Die Palette

Fichtes bei weitem erfolgreichstes Buch war sein Roman „Die Palette“, erstmals erschienen 1968. Was zunächst nur das Denkmal für eine schon 1966 geschlossene Szenekneipe in der Hamburger Neustadt zu sein scheint, erweist sich im Lauf der Lektüre als etwas vielfach darüber Hinausreichendes. Das Buch verkörpert unter anderem den Typ des modernen Großstadtromans. Hamburg hat es mit ihm, reichlich spät zwar, doch immerhin, in die Liga der Städte geschafft, von denen bereits literarische Röntgenbilder angefertigt waren: Joyce’ Dublin, Svevos Triest, Dos Passos’ New York, Döblins Berlin, Celas Madrid.

Am Anfang steht Jäcki, Alter Ego von Fichte, Ende 1962 auf dem Hamburger Gänsemarkt und macht sich auf, erstmals in die „Palette“ hinabzusteigen, die er danach jahrelang regelmäßig besuchen und immer genauer kennenlernen wird. Dieser Beginn auf einem unbelebt scheinenden Platz in einer scheinbar wenig spektakulären Stadtgegend, das ist vergleichbar dem Anschauen einer alten Schwarzweißfotografie: Gänsemarkt und ABC-Straße als altertümliche Vedute oder wie ein Stadtmodell im Museum für Hamburgische Geschichte oder wie das Schauspielhaus unmittelbar vor dem Vorstellungsbeginn – das Bühnenbild komplett vorhanden, doch die Schauspieler haben es noch nicht betreten.

Dann setzt eine fast 350 Seiten andauernde Prozession ein: Kellner und Schauspieler, Freaks vieler Spielarten, Gammler, Hippies und ihre Mädchen, Strichjungen und Freier. Sie alle werden wie in einem rasanten modernen Ballett vorgeführt, mit immer neuen Einsätzen, neuen Begegnungen, überraschenden, oft irrwitzigen Aktionen. Fichte schafft so ein immer dichteres Netz von Beziehungen zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und Jäcki, der eine Art Forschungsreisender zu sein scheint. Jäcki beobachtet intensiv, redet mit allen, macht Interviews mit ihnen und zieht mit ihnen durch die Stadt oder deren Umgebung. Neben den zumeist fragmentarischen, gelegentlich auch bohrend intensiven Dialogen tritt die Wiedergabe von Gerüchen und Geräuschen, von Fakten, Dokumenten und Zitaten und vor allem immer wieder von Assoziationen. Die reale Stadt Hamburg und die reale Palette erhalten fortwährend  Jäckis sehr zum Spielerischen neigendes Bewusstsein von ihnen an die Seite gestellt. Jäcki bezieht darüber hinaus Figuren ein, die entweder das Souterrainlokal nur einmal betreten, wie Liana Pozzi alias Witwe Jahnn, oder gar nicht dort verkehren, wie die Fotografin Irma, Jäckis Lebensgefährtin, oder seine Hamburger Verwandten.

Die Handlungssplitter erstrecken sich allmählich auf eine Vielzahl weiterer Orte quer durch Europa, von Portugal über Paris bis zu den Schauplätzen des noch keine Generation zurückliegenden Weltkriegs. Ist es nicht zu viel an Material, das hier ausgebreitet wird? Dieser Eindruck kommt dank der von Fichte angewandten Technik des permanenten Überblendens, Überlagerns und Alles-mit-allem-in-Verbindung-Setzens nie auf. Man kann das mit Jackson Pollocks Dripping vergleichen. Nichts wirkt hier konstruiert, am Schreibtisch ausgedacht, sorgfältig auf Wirkung berechnet; dafür durchgehend der Eindruck von sehr spontan Geschaffenem, einer kreativen Spontaneität, die ihrer Mittel, vielleicht nur halb bewusst, sehr sicher war – und dabei kann es sich durchaus anders verhalten haben: Fichte hat mehrere Jahre an diesem Buch geschrieben. Das Ergebnis ist ein Stadt-, Zeit- und Gesellschaftsbild von großer Farbigkeit und Lebendigkeit – und es hat sich bis heute jugendfrisch erhalten.

Ich blättere im Roman und will mir sozusagen malerische Höhepunkte in diesem Rausch aus Farben und Formen vergegenwärtigen. Vielleicht das: die Episoden um Reimar Renaissancefürstchen, die Legende von der guten Blume zu Saaron, oder, fast am Schluss, Heidis Wehen in der Wilfredo-Bar … Man muss das gelesen haben. Und dann wird einem neben dem Eindruck großartiger Vitalität zugleich vieles unklar geblieben sein. Das Buch ist so voll mit nicht leicht durchschaubaren Bezügen und Anspielungen, mit speziellem Wortschatz, mit übermütigen Sprachexperimenten … Bis heute ist es eine Blütenwiese für bienenfleißige Literaturwissenschaftler geblieben. Fichtes Nachwirkung ist charakterisiert von anhaltendem Interesse der Fachwelt bei noch deutlich steigerungsfähigem des großen Lesepublikums. Um es mit Tucholsky zu sagen: ein Jahrhundertkerl (nur zu wenig gelesen).

6. Detlevs Imitationen "Grünspan"

- Diesmal statt einer wirklichen Rezension eher subjektive Leseeindrücke -

 

In Hubert Fichtes Gesamtwerk bin ich jetzt bei „Detlevs Imitationen ‚Grünspan’“ angelangt. Das erscheint mir von den bisher gelesenen Werken das überzeugendste, souveränste und amüsanteste. Es mag auch am autobiographischen Hintergrund liegen. Zwischen „Die Palette“ und „Detlevs Imitationen ‚Grünspan’“ ist nämlich die Großmutter gestorben und deren Haus in Lokstedt von der erbenden Mutter verkauft worden. Jetzt erst gestaltet Fichte die Familiengeschichte in Kriegs- und Nachkriegszeit frei von Rücksichten. Opa, der Zollinspektor, war also bis 1945 Parteimitglied und es gab seinerzeit beträchtliche Spannungen innerhalb der Familie. Oma kommt insgesamt bei ihm am besten weg. Richtig lustig wird es, wenn der Erzähler sich im Roman vor das verkaufte Haus stellt und kritisch-bissig anmerkt, wie die neuen Eigentümer das Grundstück verschandelt haben. Im nächsten Roman „Versuch über die Pubertät“ wird er dann auch noch Straßennamen und Hausnummer angeben. Die neuen Bewohner dort werden begeistert gewesen sein, und das erklärt z.T. wohl das Fehlen einer Gedenktafel am „hässlichen Spitzdachhaus“. Sie wäre auch überflüssig, Fichte hat sie in seinen Büchern schon selbst dort angeschraubt.

Sehr amüsant ist in diesem Roman auch die Schilderung eines Besuchs von Irma und Jäcki bei der Mutter Dora Fichte, die nun in einer Ein-Zimmer-Wohnung östlich der Alster lebt. Gibt es in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts eine zweite Autorenmutter, die literarisch derart ausgebeutet wurde? Mir kommt mir das vor wie eine Vorwegnahme von Gebräuchen im Internet - das Privateste in die Öffentlichkeit. Hier findet sich auch die Wiedergabe eines (authentischen?) Briefes von ihr, der sie sozusagen geistig nackt vorführt: eher oberflächlich, dabei kulturell ambitioniert und zugleich hoffnunglos altmodisch in ihrem Verhaftetsein an das in den Zwanzigern einmal modern Gewesene. Da äußert sich eine zutiefst reaktionäre Möchtegern-Progressivität. Im Roman endet der etwas disharmonische Familienbesuch auf eine für Fichte typische Weise – über alle Ambivalenz siegt eine Trotzdem-Verbundenheit.

Und dann gibt es in diesem Buch noch die Protokolle von Jäckis Besuchen beim St. Pauli-Zuhälter Wolli, ebenfalls vorzüglich. Ferner Jäckis Recherchen nach jenen fürchterlichen pathologischen Experimenten, die mit den Bombenopfern von 1943 gemacht wurden …

Fichtes Orthographie ist wieder einmal recht angreifbar: von Salvadore (!) Dali bis zu „Fließen“, wenn  es um Kacheln geht. Allerdings vermute ich zumindest teilweise Absicht dahinter. Wollte er Jahnn auch insoweit kopieren und übertreffen, unbewusst, halb bewusst oder mit voller Absicht? Gut möglich, er war ja in literarischer Hassliebe fixiert auf ihn. Dazu kommen noch zahlreiche Errata, die eher auf den Setzer zurückgehen dürften. Das Lektorat scheint gar nicht eingegriffen zu haben. Noch ein Riesenforschungsfeld für bienenfleißige Literaturwissenschaftler!

Jetzt habe ich auch die Stelle gefunden, die die Rockband Tocotronic vor ein paar Jahren für ihre Fichte-Hommage verwendet hat. Das ist nicht so einfach, wie einem der gesungene Text zunächst suggeriert. Tatsächlich sitzt da der Erzähler in der Disco „Grünspan“ und lässt sich zudröhnen und seine Gedanken spazieren gehen. Ein Gewirr von Assoziationen, in dem dann diese Verse auftauchen, wie eine Pseudo-Simplizität, typisch eher für alkoholbedingtes Sinnieren und insofern auch gelungen. Aber ob Tocotronic das auch so empfunden hat? Dieser Abschnitt im Roman endet folgerichtig in totaler Konfusion und sinnlosem Gestammel.

Bei mir hat die Fichte-Lektüre jetzt noch eine besondere Wirkung: Zu einem Zeitpunkt, da mir Hamburg schon etwas gleichgültig geworden ist, bringen mir seine Texte die Stadt, in der ich so lange gelebt habe, auf eine literarische Weise wieder nahe. Heute las ich die Stelle, an der er aus dem halben Zimmer im Dachgeschoss des Lokstedter Hauses auf den Wasserturm in der Nähe blickt – ach, wie oft sind wir da an Sonntagen oder Mittwochen vorbeigekommen …

7. Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte

Die Reise, zu der Peter Braun die Leser in seinem 2005 als Fischer Taschenbuch erschienen Werk einlädt, ist eine durch die Lebens- und Schaffenszeit Fichtes und zugleich eine, die wichtige Schauplätze seiner Bücher nacheinander vorstellt. Er folgt insofern der dem Werk Fichtes immanenten Struktur, die er knapp und zutreffend als „ortsgebundenes Erzählen“ charakterisiert. Tatsächlich war Hubert Fichte als Schriftsteller ein moderner Homo viator. Die zehn Kapitel des Buches tragen folglich als Titel Ortsbezeichnungen, durch eine knappe Ergänzung jeweils näher charakterisiert. Nun umfasst Fichtes veröffentlichtes Werk bei weitem mehr als nur zehn Bände. Braun hat also oft mehrere Werke einem Ort zugeordnet, auch wenn die jeweiligen Werke sich insgesamt auf unterschiedliche Orte beziehen – und dass ein einzelnes meist die Erfahrungen an mehreren Orten widerspiegelt, macht die Sache noch verwickelter. Braun kann sich wohl auf inhaltliche Zusammenhänge berufen, doch seine Systematik ist enger, schematischer als die des Autors Fichte. Wir wollen das im Einzelnen untersuchen …

Kapitel 1 – „Schrobenhausen (Scheyern) – in der Welt der Katholiken“ folgt  interpretierend durchaus dem Stoff von Fichtes erstem Roman „Das Waisenhaus“, der u.a. vom Gegensatz bayrisch-katholische Kleinstadt – norddeutsch-protestantische Großstadt geprägt ist. Einige kritische Anmerkungen löst dieses einleitende Kapitel dennoch aus. Es mag kleinlich erscheinen, doch der um genaues Lesen Bemühte stößt sich bereits daran, dass einer der Zöglinge des Waisenhauses bei Braun ein Genitiv-S zu viel hat, aus dem „Joachim-Teufel“ wird ein „Joachims-Teufel“. Schwerer wiegt schon, dass die Flucht nach Bayern zuerst mit der Bombardierung Hamburgs, zwei Seiten später dann zutreffender mit der halbjüdischen Abstammung der Hauptperson Detlev begründet wird. Die extrem kurze Zeitspanne der Rahmenhandlung stellt Braun als für Fichte spezifisch heraus, dabei handelt es sich um eine von Proust, Joyce usw. herrührende allgemeine literarische Methode oder Mode jener Zeit. Während der Roman selbst mehrfach die Überschneidungen zwischen dem Nationalsozialismus und dem zeitgenössischen Katholizismus vor Ort thematisiert, sieht Braun dagegen „Scheyern in seiner katholischen Identität gefestigt genug“.

Kapitel 2 heißt: „Hamburg, Lokstedt – der Garten des Großvaters“. Diese Überschrift wirkt merkwürdig unpräzise. Steht das Komma für einen Bindestrich? Oder verkehrt sie, im Sinne einer Aufzählung, den realen Werdegang, ausgehend vom Großelternhaus über dessen nähere Umgebung zur ganzen Stadt hin, in sein Gegenteil? Auch den Text des Kapitels prägt diese zu enge Abgrenzung – und damit ein Zerschneiden von Entwicklungslinien. Tatsächlich wechselt der Autor Fichte permanent innerhalb Hamburgs den Schauplatz, die Stadt ist für ihn stets ein Ganzes, Zusammenhängendes, schon in den frühen Texten mit der Darstellung der Bombardements von 1943. Mit dieser Tendenz Brauns zur willkürlichen Auswahl hängt wohl auch zusammen, dass in der Liste der von ihm hier herangezogenen Hamburger Werke ausgerechnet „Die Palette“ und „Versuch über die Pubertät“ fehlen – gerade in ihnen hat Fichte sowohl Lokstedt als auch ganz Hamburg besonders eindrucksvoll porträtiert. Es spricht im Übrigen nicht für besondere Vertrautheit des Biographen mit den Hamburg-Texten, wenn er „Onkel Karl“ für den Bruder der Mutter hält, er dürfte eher der Bruder der Großmutter gewesen sein.

Allzu sektoral dann auch die dritte Kapitelüberschrift: „Die Provence – Fluchtrouten, Sehnsuchtsorte“. Zwar werden hier die Eindrücke Fichtes aus dem übrigen Südfrankreich mitbehandelt, doch fehlen Paris und der für Fichtes Entwicklung nicht unwichtige Abbé Pierre fast ganz. Allmählich verdichtet sich der Eindruck, der Biograph interessiere sich primär für die Fluchtpunkte und eher weniger für die Orte, an denen Fichte die längste Zeit gelebt hat und die ihn ausweislich seiner Texte auch am meisten geprägt haben. Dazu passt, dass „Versuch über die Pubertät“ nun erstmals im Zusammenhang mit der Provence und „Die Palette“ erst im späteren Portugal-Kapitel vorkommen.

Braun ist Germanist und Ethnologe. Das erklärt bis zu einem gewissen Grad, dass seine Reise durch das Werk Fichtes deutlich an Fahrt aufnimmt, wenn er sich den außereuropäischen Kulturen zuwendet, soweit Fichte sie bereist und studiert hat. Ob Brasilien, die Karibik oder Westafrika, die Darstellung von Aufenthalten und Ergebnissen wird nun breiter und kann bei einem durchschnittlichen Leser, der wenigstens „Die Palette“ schon kennt, dafür „Die Geschichte der Empfindlichkeit“ eher nicht, durchaus Neugierde auf die jetzt besprochenen späteren Werke wecken. Fichte wird als Vier-Sparten-Autor dargestellt: politischer Journalist, Mitarbeiter an Fotodokumentationen, Ethnologe und Romancier. Täuscht sich der Rezensent, wenn er den Eindruck gewinnt, bei Braun komme der Dokumentarist besser weg als der Journalist? Bezeichnend erscheint bereits die Reihenfolge der Begriffe, wenn der Autor vom „doppelten Transfer zwischen Ethnologie und Literatur“ spricht. Und wenn es um Fichtes Studien in New York geht, wiederholt sich das Muster aus Europa, der Titel des Kapitels bei Braun lautet verkürzend: „New York – in der Schwarzen Stadt“. Doch Fichtes Interesse endete keineswegs an den Grenzen von Harlem.

So hinterlässt das gut lesbare, detail- und kenntnisreiche Buch einen zwiespältigen Eindruck. Es regt zur weiteren Lektüre Fichtes an und rückt den Schriftsteller zugleich noch mehr hinaus aus seinem deutschen und europäischen Kontext. So kann es ungewollt jene Entwicklung seiner Rezeption verstärken, die ihn von einem Autor mit Breitenwirkung zu einem für einen kleinen Kreis von Spezialisten hat werden lassen. Wer entgegen den Proportionen in Fichtes Werk den Damen im brasilianischen Haus der Mina mehr Aufmerksamkeit und Raum widmet als der Mutter Dora Fichte, trägt wenig zur weiteren Popularisierung des Autors bei.

8. Wer war Dora Fichte?

Dora Fichte (1904 – 1990) war die Mutter des Schriftstellers Hubert Fichte (1935 – 1986). Damit ist noch kaum etwas über ihre individuelle Rolle und Lebensleistung gesagt. Autorenmütter gibt es unzählige, was war so bemerkenswert an Dora Fichte? Sie gehörte jenen unglücklichen Geburtsjahrgängen um 1900 an, die so viel zu durchstehen hatten: zwei Weltkriege, Diktatur mit Rassenwahn, zwei Geldentwertungen. Die junge Dora Fichte verdiente ihren Lebensunterhalt als Stenotypistin. Ihr reges Interesse an Geistigem ließ sie früh zur Anthroposophin werden. Damals lebte sie noch im Hamburger Haushalt ihrer typisch kleinbürgerlichen Eltern. Zur Zeit von Hitlers Machtergreifung war sie mit einem Kaufmann jüdischer Herkunft liiert. Noch während ihrer Schwangerschaft emigrierte er nach Schweden und blieb dort bis zu seinem Tod. Dora zog sich auf einen anthroposophisch geprägten Bauernhof bei Perleberg zurück, brachte Hubert zur Welt und kehrte mit ihm zu den Eltern nach Hamburg zurück. 

Ihr wurde bewusst, wie gefährdet ihr Kind aufgrund seiner Abstammung war. Um behördliche Nachforschungen zu erschweren, nahm sie selbst 1941 eine Stelle bei der Stadtverwaltung Schrobenhausen (Oberbayern) an und zog mit Hubert dorthin um. Sie lebten einige Zeit in möblierten Zimmern, dann fand es die Mutter sicherer, den Jungen im örtlichen katholischen Waisenhaus unterzubringen. 1943 kehrten beide in den großelterlichen Haushalt in Hamburg zurück. Sie blieben auf der Hut, schafften es, unversehrt durch die immer chaotischer werdenden Zeitumstände zu kommen. 

Dora Fichte arbeitete nach dem Krieg länger als Souffleuse an Theatern der Stadt. Ihr heranwachsender Sohn bekam dadurch früh Kontakt zu den in der Nachkriegszeit dort maßgeblichen kulturellen Kreisen. Er begann zu schreiben und entwickelte sich allmählich zu einem der bekannteren Autoren der jungen Generation. In seinen autobiographisch inspirierten Romanen tritt häufig eine von Dora Fichte abgeleitete Muttergestalt auf. Sie wird ambivalent dargestellt, einerseits als gefühlvolle, sorgsame Mutter, andererseits mit einer gewissen geistigen Beschränktheit, aus der manche Konflikte zwischen Mutter und Sohn resultierten. Erst im Spätwerk unternahm Fichte den Versuch, seiner Mutter gerechter als bisher zu werden. Es dürfte in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts nur wenige Mütter von Autoren geben, die so ausgiebig porträtiert worden sind. 

Dora Fichte überlebte als sehr alte Frau ihren an Aids gestorbenen Sohn – er war ihr einziges Kind geblieben - um einige Jahre. Solange sein Werk im Gedächtnis bleibt, wird auch die Erinnerung an sie sich lebendig erhalten. Ihr Verdienst: mit Hilfe von Instinkt wie durch kluge Überlegung diesen Sohn erst in die Nachkriegszeit gerettet und ihm dann die richtige Umgebung für seine Entwicklung verschafft zu haben. Auch nach ihr könnte in Hamburg eine Straße benannt werden.

 

INHALT

1. Kurzbiographie

 

2. Versuch über die Pubertät

 

3. Der Aufbruch nach Turku

 

4. Das Waisenhaus

 

5. Die Palette

 

6. Detlevs Imitationen "Grünspan"

 

7. Peter Braun, Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte

 

8. Wer war Dora Fichte?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.07.2014

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