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EIN ORT ZUM BLEIBEN - Roman

                                               1

 

     „Aber diesmal – diesmal wirst du wohl bleiben?“

   Er wollte es nicht wieder um ihre Mundwinkel zucken sehen. Stattdessen versuchte er, seiner Großmutter in die Augen zu blicken. Es misslang, wie sonst auch immer. Ihre Brillengläser waren dafür einfach zu dick, und ohne Brille sah sie nur blind in die Welt. Ihre Sorge um ihn war echt, ihre Treuherzigkeit gespielt und ihr Mut zusammengekratzt.

     „Ben, du musst dir immer sagen, du hast es selbst so gewollt. Und du kannst es hier auch gut haben, das glaube ich.“

     „Ja, bestimmt. Deshalb bin ich doch hier.“

     Sein Vater hatte das letzte Wort. „Einmal musst du bei einer Sache bleiben. Mein Lieber, die Welt ist nun mal nicht ideal. Und wenn es nach mir gegangen wäre – du weißt schon … Ich kann dir jetzt nur noch eines sagen: Pass dich an!“

     Darauf war nichts zu erwidern. Der Schulmeister stand ihm schlecht. Ben wusste, sein Vater hatte einmal Lehrer werden wollen, vor dem Krieg, aber er war schon an der Aufnahmeprüfung für das Seminar gescheitert.

     Der Alte griff nach der leeren Kiste, in der sie heute Morgen seine Sachen hierher gebracht hatten. Dann verließ er die Dachkammer ohne weitere Ermahnungen. Die Großmutter wandte sich in der Tür noch einmal um:

     „Und schreib jeden Tag einen Brief, hörst du?“

     Gott sei dank, sie waren endlich weg. Aber er sah ihnen doch durch das Dachgaubenfenster nach, wie sie von der Villa fortgingen, die langen Treppen durch den Garten hinunter zum Tor. Jetzt lagen dreihundert Kilometer auf der Autobahn vor ihnen, und heute am Ostermontag war der Verkehr sehr dicht. Die beiden reisten sonst nie miteinander – so weit war es also gekommen, seinetwegen. Sie mieden sich sonst, wo sie konnten, und vielleicht hasste der Vater seine Schwiegermutter sogar. In diesem Fall war er dann ja doch eines tieferen Gefühles fähig.

     Die Mutter hatte dieses Mal nicht mitkommen wollen. Sie habe genug von diesen Umzügen, sie ertrage es nicht mehr. Sie wusste sehr wenig von ihm und litt dafür umso mehr an ihm. Warum nur hatte er keine Geschwister? Als Bub hatte er sich lange einen Bruder gewünscht, und zwar einen älteren. Unmöglich, so etwas, leider.

     Die Aussicht ging über den steil abfallenden Garten bis auf den Grund eines schmalen Seitentales, das vom Stadtzentrum heraufführte. Auch am Hang gegenüber standen vereinzelte Villen in großen Gärten. Die Stützmauer einer Ausfallstraße überragte dort an einer Stelle das Tälchen. Von da kamen auch die Motorengeräusche, das Bimmeln von Straßenbahnen. Wenn er den Kopf nach links wandte, sah er unten im Dunst des Talkessels einen kleinen Ausschnitt der inneren Stadt und darüber ihre nördlichen Randberge. O, es war doch schön hier!

     Das Zimmer kam ihm bereits erträglicher vor als neulich bei der ersten Besichtigung. Frau Julianka hatte es in der Zwischenzeit für ihn neu ausmalen lassen. Es war nicht tapeziert. Und die Möbel? Sie kamen wahrscheinlich vom Trödler. Er verstaute seine Wäsche, seine Bekleidung in Schrank und Kommode. Wenn man sie altväterlich nannte, ließ sich vielleicht ein besseres Verhältnis zu ihnen herstellen.

     Er hielt sich kurz im Bad auf. Über der Wanne war eine große Menge Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Die vielen Schnüre sprachen von regelmäßiger Nutzung des Bades als Trockenraum. Er wird sich deswegen in Zukunft mit Frau Julianka abstimmen müssen.

     Jetzt aber hinaus und die Stadt besichtigt, seine neue Stadt.

     In einer Viertelstunde war er zu Fuß unten im Zentrum. Das Wichtigste dort hatte er schon früher gesehen, die weiten Plätze dieser ehemaligen Residenz, die lange Hauptstraße mit den vielen Kaufhäusern, am heutigen Feiertag alle geschlossen. Nun wollte er auch die Parks kennenlernen. Die Anlagen waren für seine Begriffe jetzt überfüllt. Der Frühling war etwas plötzlich einmarschiert. Er fand heraus, dass diese Gärten als ein langes, schmales Band von der Stadtmitte wegführten. Er ging immer weiter, ohne ein Ziel zu haben. Allmählich wurde es stiller, noch grüner, dichter.

     Das rasche Gehen regte neben dem Kreislauf auch den Fluss der Gedanken an. Aber es sollte heute keine Gedankenflucht werden, wie sonst so häufig. Er musste sich sammeln, am besten die Außenwelt ausblenden, soweit es ging. Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und was das war, lag klar vor ihm: Morgen wird er den Dienst bei der Behörde hier antreten. Zum ersten Mal etwas Geld verdienen. Und wenn es eine Lebensstellung werden könnte? Damit würde er sich abfinden. Es kam ihm jetzt, nach den Wirren der letzten Zeit, sogar höchst erwünscht vor. Nun, man wird sehen.

     Und dann ist man ja auch noch Privatmensch. Mit seiner Übersiedelung in diese große Stadt verfolgte Ben gewisse Nebenabsichten. Er hielt sich nämlich, frei herausgesagt, für homosexuell. Er hatte kaum einen Begriff von der Sache, wie sollte er auch: Er hatte noch nie einen anderen Homosexuellen gesehen, jedenfalls keinen, der es vor ihm zugegeben hätte. Keinen gesehen, keinen gesprochen und schon gar nicht in nähere Beziehungen getreten. Ho-mo-se-xu-ell, für ihn bis jetzt vor allem ein schöner Wortklang, noch schöner als in-tel-lek-tu-ell. Das war wie rasch durch einen Frühlingswald streifen, zwei Schritte hierhin, einen dahin, dann ein Sprung in die Höhe, und man kam wieder auf dem Boden auf. Dem Boden der Tatsachen? Bleibt abzuwarten.

     Ben war gerade neunzehn Jahre alt. Er war groß, dunkel, mager und sah bedeutend älter aus, als er war. Das kam vielleicht vom vielen In-sich-Hineinhören. Die Höhle im eigenen Inneren war voll bewegter Schatten, voll von gedämpften Geräuschen. Waren es Gestalten, Stimmen? Ben war so wenig sinnlich, dass er nie über Körperliches phantasierte. Er war in diesem Punkt auffallend wenig neugierig. Stattdessen berechnete er Wahrscheinlichkeiten und legte ihnen die Statistiken von Kinsey zugrunde. Diese Stadt hier hat so und so viele Einwohner, der Großraum circa … die weibliche Einwohnerschaft abgerechnet, ebenso die wirklich Alten, die ganz Jungen … ergibt, sehr grob geschätzt, sagen wir … fünfzigtausend? Unter ihnen einen Freund finden - es müsste gelingen. Er hatte keinen konkreten Begriff von dieser Freundschaft, allein einen abstrakten. Nur dass es etwas mit Zärtlichkeit zu tun haben müsste, so viel glaubte er zu wissen. Man würde ihm mit geringer Mühe sehr viel geben können.

     Ben hatte hier und da von Treffpunkten gelesen, von Lokalen vor allem. Er stellte sich diese Welt klein, abseitig und für ihn wenig anziehend vor. Darin war er noch ganz der Kleinbürgersohn, der er im Übrigen durchaus nicht mehr sein wollte. Seine Erwartungen hatten nichts mit dieser Spezialwelt zu tun. Er setzte vielmehr auf den normalen, gewöhnlichen Alltag. Die Behörde hatte, wie er wusste, mit ihm weitere junge Männer eingestellt. Er stand ihnen von vornherein freundlich aufgeschlossen gegenüber: Es werden Kollegen sein, keine Konkurrenten, vielleicht wahre Freunde.

     Unter diesen Gedanken und Berechnungen war er längst umgekehrt. Er sah den Hauptbahnhof vor sich und betrat ihn, um eine Kleinigkeit zu Abend zu essen. Als er gesättigt war, stieg er wieder in das kleine Seitental hinauf, in dem die Villa Julianka lag.

     Seine Vermieterin erschien plötzlich im unteren Hausflur und rief ihn an, als er schon auf der Treppe war. Sie habe noch einiges mit ihm zu bereden. Sie bat ihn in ihr Wohnzimmer. Es war ein großer, lichter Raum mit Fenstern nach zwei Seiten, ein Zimmer, so ganz anders eingerichtet als die Wohnräume, die er kannte. Es gab hier nichts Wuchtiges, nicht die heimatlichen Schrankwände, dafür viele Regale mit sehr vielen Büchern und noch mehr Schallplatten. Die Sitzmöbel standen nicht Parade, sondern schienen zwanglos im Raum verteilt. Sie boten sich unauffällig einer bequemen Nutzung an, falls man davon Gebrauch machen wollte. Es gab auch einen älteren Flügel und viele Pflanzen und eine Menge kleiner Kunstgegenstände zwischen Büchern und Platten.

     Frau Julianka lud ihn zum Sitzen ein. Sie war Mitte oder Ende fünfzig und alterte bereits merklich, wenn auch mit Gleichmut, wie es schien. Sie war in nichts wirklich nachlässig, was ihre äußere Erscheinung betraf, doch wollte oder konnte sie offenbar keinen besonderen Aufwand treiben.

     „So, Sie junger Mann und lieber neuer Hausgenosse – jetzt sind Ihre Leute fort und wir zwei können uns noch etwas besser kennenlernen. Wissen Sie, dass ich mich jetzt schon zum zweiten Mal ein wenig über Sie gewundert habe?“

     „Worüber denn?“ Er fragte aus Höflichkeit zurück und verbarg vage Befürchtungen, die er auch sich selbst gegenüber am liebsten nicht eingestanden hätte.

     Sie lächelte altfrauenhaft zart, bevor sie antwortete: „Darüber, dass Ihre Großmutter wieder mitgekommen ist. Wie neulich, als Sie gemietet haben. Sie wirken doch schon ganz erwachsen …“

     Tatsächlich war die Großmutter am Tag der Zimmersuche im Zug mitgefahren, doch nur, um in der Großstadt staunend mit herumzugehen. Alle Entscheidungen hier waren allein von ihm getroffen worden. Er redete sich Frau Julianka gegenüber jetzt damit heraus, er sei ja noch nicht volljährig.

     Seine Vermieterin lächelte erneut. „Ich werde Sie weiter so behandeln, als wären Sie es schon. Lassen wir also die alte Dame in Frieden heimfahren. Vielleicht hat ihr der Ausflug ja gut getan.“

     Sie ließ sich seine beruflichen Pläne darlegen. Dass er langfristig bleiben wolle, hörte sie gerne. Dann bat sie ihn um einen gelegentlichen Gefallen. Es ging um die Heizung, und zwar diejenige ihres Wohnzimmers. Sie sei oft ein oder zwei Tage verreist, sagte sie, lasse hier aber den großen Kachelofen nicht gern ausgehen. Er sei nur mühsam wieder in Gang zu bringen. Sie friere nicht gern in der Übergangszeit.

     „Im Herbst nehmen wir die Zentralheizung wieder in Betrieb. Dann werden Sie es auch oben immer warm haben. Aber jetzt ist es wohl nicht nötig. Nur hier am Garten, hinter den Bäumen, da wird es so leicht kühl und feucht. Ich muss mich vor dem Rheuma in Acht nehmen.“

     Dann führte sie ihn in den Keller, wo das Brennmaterial lag. Sie hatte ein besonderes System, ein Ofenfeuer auf die sparsamste Weise gerade eben am Leben zu halten. Stolz führte sie es ihm vor. Er sollte also eine genau festgelegte Zahl von Briketts zu einem Stapel formen und diesen mit mehreren Lagen Zeitungspapier umwickeln. Ein solches Paket ließ das Feuer lange genug weiterglimmen, wenn er es am Abend vor ihrer Rückkehr auf den Glutresten niederlegte. Sie ließ ihn selbst ein solches Paket zusammenstellen und war mit ihm zufrieden.

     Zurück im Wohnzimmer erinnerte sie ihn an die Gartenarbeit. Ja, er hatte versprochen, sie bei gröberen Arbeiten draußen zu unterstützen. Das taten auch die anderen Untermieter, die über die Feiertage verreist waren.

     „Und dass ich nachmittags oft Stunden gebe, hier genau unter ihnen, das wissen Sie auch noch?“ Es war ihm nicht entfallen.

     „Sind Sie Gesangslehrerin?“

     „Ja, auch, und jetzt nur noch. Ich bin eigentlich Opernsängerin, ich war zuletzt an der Wiener Staatsoper. Es hätte weitergehen sollen, ich hatte schon einen Vertrag für Paris. Und dann, leider, dieses Brustleiden … Nein, machen Sie doch kein solches Gesicht. Ich bin schon lange darüber hinweg. Das Talent ist eine Gabe, die von oben kommt. Man versündigt sich, wenn man dem Himmel grollt.“ Sie sah jetzt mutig und fromm aus, eine wunderliche Mischung.

     Er wollte sie für heute allein lassen. Als sie aufstand, um ihn hinauszubegleiten, sagte sie noch: „Ich singe gelegentlich immer noch. Sie werden es einmal hören. Aber jetzt sind Sie jung. Der Himmel hat sicher auch Ihnen etwas Besonderes mitgegeben. Machen Sie etwas daraus. Guten Abend und gute Nacht.“

 

 

Das Amt lag mitten in der Stadt, nicht weit von der Hauptgeschäftsstraße. Morgens ging er leichtfüßig hinunter, vom ersten Tag an, am Nachmittag brachte ihn die Straßenbahn zurück auf seine Höhe. Auf der Fahrt mit ihr genoss er ständig neue Aussichten und Tiefblicke. Dabei erholte er sich bereits von den Anforderungen des Tages. Diese waren sowohl schwierig wie auch leicht zu erfüllen. Sie absorbierten während der Dienststunden fast sein gesamtes Vorstellungsvermögen, wenigstens in den ersten Tagen. Er begann damit, Vorgaben für Lochkarten anzufertigen, wie man es ihm gezeigt hatte. Es gab da Formulare für den Eingang wie für den Ausgang, sozusagen für Introitus und für Exitus, dachte er, und Letzterer war in der Tat oft letalis. Sein eigener Einmarsch erfolgte zusammen mit dem von zwei anderen jungen Männern, zwei weitere sollten erst Tage später nachfolgen. Langjährige Mitarbeiter der Behörde wiesen sie ein, betreuten sie, wachten über sie und ihre Arbeit. Ihre Hauptaufgabe war es, Fehlerprotokolllisten zu bereinigen. Ein für sie unsichtbar bleibender Computer spuckte in kurzen Abständen solche Listen aus, Tag für Tag. Im geheimen Innersten der Dateien war so vieles nicht plausibel, das war von ihnen zu prüfen und richtigzustellen. Und eben das taten sie dann mit großen roten Filzschreibern.

     Es ging in diesen Amtsstuben sehr betriebsam zu. Unaufhörlich klappten Glastüren, Holztüren, Stahltüren. Fortwährend kamen oder gingen Angestellte, öffneten Schränke, zogen Karteien oder Kollegen zu Rat, schrieben mit der Hand oder der Maschine. Ben hatte recht anschaulich vor Augen, was das war: der Arbeitsprozess. Sein Fortschreiten oder vielleicht sogar der Fortschritt an sich wurde hier an fünf Tagen in der Woche in ständig wechselnden lebenden Bildern dargestellt.

     Das Betriebsklima kam ihm auf Anhieb recht menschenfreundlich vor, und dieser Eindruck verließ ihn bis zum Schluss nicht. Ihre kleine Truppe oder Spezialeinheit stand unter dem Befehl eines Mittfünfzigers. Er war gewissermaßen auf seine zivile Art ihr Feldwebel. Er war groß, schwer und fast immer asthmatisch keuchend. Fünf oder zehn Minuten vor Dienstschluss kam er ein letztes Mal bei jedem von ihnen vorbei und sagte jeden Tag genau das Gleiche: „Lasst es auslaufen. Noch nicht aufhören, nur langsam auslaufen lassen.“

     Wer waren denn nun Bens neue Kameraden? - Der eine von ihnen war der Sohn eines Frauenarztes. Zwischen ihm und Ben herrschte vom ersten Tag an ein Zustand friedlicher Neutralität. Er war freundlich, arbeitsam und stets ausgeglichen. Er ließ Ben vollkommen kalt.

     Der andere war ein großer kräftiger Dunkler, der anfangs wenig sagte, dafür scharf beobachtete und genau zuhörte. Er war noch sichtlich befangen in dieser neuen Umgebung. Gleichzeitig schien es in ihm zu arbeiten, so wie er selbst bereits fleißig und konzentriert arbeitete. Am Ende des ersten Tages war dieser Gärungsprozess zu einem gewissen Abschluss gekommen, er war nun schon viel lockerer, und es zeigte sich, dass er gern lachte.

     Der Gynäkologensohn besaß bereits ein Girokonto. Daher machten sich in der Mittagspause nur die beiden anderen auf den Weg zur Sparkasse. Dort in der Schalterhalle bot der große Dunkle Ben das Du an: „Übrigens, ich heiße Ulf.“ Gleich hinterher ein dazu passender kräftiger Händedruck.

     Als Ben zum ersten Mal von der Arbeit nach Hause kam, war die Wäsche aus dem Badezimmer entfernt. Er nutzte die Gelegenheit und duschte. Dann saß er in seinem Zimmer und schrieb drei Briefe. Er wollte auch noch sein Tagebuch fortführen, doch jetzt hatte unter ihm eine Übungsstunde begonnen. Eine junge Dame übte Koloraturen. Es war immer die gleiche Übung, ein verzerrter Hahnenschrei, wenn auch aus weiblicher Kehle. Er durchdrang Wände und Decken. In den kurzen Pausen dazwischen vernahm Ben Frau Juliankas korrigierende, manchmal auch begütigende Altstimme. Diese Kunst war schwer, sehr schwer.

     Er ließ das Heft offen liegen und bereitete sich einen Abendimbiss. Als er mit ihm fertig war, war auch die Stunde zu Ende. Er sah der Schülerin aus seinem Dachgaubenfenster nach. Es war eine junge Bürgersfrau, in ihrer Erscheinung unendlich fern von allem Divenhaften.

     Ben schrieb in sein Tagebuch: Ulf hat mir schon das Du angeboten. Und dieser Bursche ist hübsch! Er kommt mir merkwürdig zutraulich vor.

     Der erste Arbeitstag war so gut wie zu Ende, es war ein guter Tag gewesen.

 

 

Am zweiten Tag nahm die neue Berufsarbeit sie noch stärker in Anspruch. Allmählich erschien sie ihnen schwieriger, komplexer. Man arbeitete sie erst jetzt richtig ein.

     Sie hatten nun ihre endgültigen Plätze eingenommen, und Ulfs Platz war ihm gegenüber. Mittags gingen sie zu dritt in die weiter entfernt gelegene Kantine. Wie schon während der Frühstückspause, die im Keller des Amtes verbracht wurde, kamen ihre Gespräche nur mühsam in Gang. Sie misstrauten einander noch ein wenig, ohne rechten Grund, nur so aus Vorsorge. Herrn Adelmann fanden alle recht nett, das war der ältere Feldwebel.

     Der Sohn des Gynäkologen wirkte ungefähr wie Baldrian. Er wird doch nicht etwas anderes genommen haben? Jetzt hielt er ihnen einen Vortrag über die unterschiedliche Härte des Wassers in den verschiedenen Städten des Landes. Wissenschaftliche Untersuchungen hätten ergeben, dass ein hoher Kalkgehalt im Trinkwasser zu einer niedrigeren Rate an Herzkreislauferkrankungen führt – und umgekehrt. Ulf wollte sogleich wissen, wie denn das Wasser hier am Ort beschaffen sei. Der Arztsohn konnte es ihm sagen, es war ein Spitzenwert auf der Härtegradskala. Das war alles sehr beruhigend.

     Ulf, so schien es, war auch am Nachmittag stark von der Arbeit in Anspruch genommen. Nur einige Male sah er nachdenklich zu Ben herüber.

     Herr Adelmann kam und sagte wie gestern, dabei leise keuchend: „Die Arbeit langsam auslaufen lassen, noch nicht ganz aufhören, aber schon mal ans Aufhören denken. Lassen Sie es auslaufen.“ In seiner Stimme war auch ein Kratzen. War es das Asthma?

     „Du, Ben“, sagte Ulf, „ich muss erst noch kurz zu Hertie. Kommst du mit?“

     „Ja, ich hab sonst noch nichts vor.“

     Ulf musste an einer Kasse anstehen. Er hatte sich ein rotes, durchbrochenes Leibchen ausgesucht, für die kommende warme Jahreszeit. Es wird ihm gut stehen, dachte Ben, er hat dunkle Haare, es sind fast schon Schmachtlocken. Ulf sah gerade zu ihm herüber und sah ihn auf einmal strahlend an. Eigentlich war alles in seinem Gesicht zu groß und zu üppig geraten: Mund, Lippen, Nase und auch die Augen. Ben begriff das Geheimnis dieses Gesichtes, seiner mitreißenden Wirkung: Es war wohl zu markant, doch unwiderstehlich in seiner häufigen Bewegung. Kraft, Mut, Lebenslust - es war ein sehr vitales, trotz allem männliches Gesicht. Ulf drehte sich zur Seite, er war im Ausdruck wieder ernst, und jetzt im Profil stand ihm auch die Ruhe gut zu Gesicht. Nun hat er auf einmal einen ernsten Römerkopf, dachte Ben, so kommt er mir vor wie Nero beim Brand Roms, wenn er in die Glut schaut, in den Feuerbrand.

     „Kommst du mit auf ein Bier?“ fragte Ulf. Ben hatte es selbst vorschlagen wollen, Ulf war schneller gewesen. Sie gingen ins Bräuhaus, das ganz in der Nähe lag. Es war altdeutsch eingerichtet. Ben fühlte sich darin zuerst fremd.

     Sie stießen mit den Biergläsern an. Prost!

     „Und du bist also der Benny und treibst dich allein durch die Welt?“

     „Zu Hause war es mir zu eng, zu fad. Ich wär erstickt.“ Ulf sah ihn aufmerksam an. Ben skizzierte ihm seinen bisherigen Lebensweg und den Studiengang, sofern man das so nennen konnte. Dabei beschränkte er sich auf die äußeren Umstände und unterschlug die damit verbundenen Krisen und Qualen. Ulf hörte während der ganzen Zeit schweigend zu. Sein Gesicht verriet Interesse für das, was er erfuhr, vielleicht auch eine Spur Sympathie. Sollte ihm diese Abbrecherkarriere wirklich imponieren, das war doch kaum möglich.

     Ulf fragte: „Und was macht dein Vater?“

     „Er verkauft Landprodukte.“

     „Er hat einen Handel? Er ist selbständig?“

     „Ja, und er produziert auch alles selbst. Alles Spezialkulturen, Erdbeeren, Blumen, auch Eier. Es wird an Stammkunden verkauft. In der Nähe ist eine kleine Stadt.“

     „Meiner hat auch einen Laden. Er ist Schuhmacher. Wir wohnen im gleichen Haus. Und meine Mutter ist Köchin. Sie leitet die Küche im Amalienhospital. Aber sag mal, wie kommst du zu diesem Namen, das ist doch englisch. Oder amerikanisch?“

     „Richtig heiße ich Benjamin, so bin ich getauft. Später hat meine Mutter dann erfahren, dass dieser Name eher für einen jüngsten Sohn passt. Seitdem werde ich nur noch Ben genannt.“

     „Und vorher war keiner da? Bist du sicher?“ Ulf lachte laut. Wie er den Mund dabei aufriss! „Benny, ich bin auch allein da, keine Geschwister.“ Seine Gesichtsmuskeln vollführten eine Art von ekstatischem Tanz. Er sah fremdartig aus, wie ein süddeutscher Neger. Und seine Nixenaugen waren wie Bergseen. Ben, schau nicht so oft hin und nicht so tief hinein. Er ist immerhin Kollege.

     Um in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen, erzählte Ben, biblische Namen hätten Tradition in ihrer Familie. „Sogar in der Nazizeit hörten sie damit nicht auf. Ich glaube, meine Großmutter ist halb jüdisch, ich meine jetzt die Mutter meiner Mutter. Die andere stammt von Hugenotten ab.“ Da fiel ihm Frau Julianka ein: Lassen wir die Großmutter in Frieden heimfahren. Ja, alle Großmütter der Welt sollten von nun an besser in Frieden gelassen werden. Er verstummte.

      „Bei uns gab es nichts in der Art. Nichts Exotisches. Ich bin ein einheimisches Gewächs.“ Dann erzählte er, er sei erst vor zehn Tagen aus der Bundeswehr entlassen worden. Ben fühlte sich wie ein begossener Pudel, und das Wasser war sehr kalt. Ulf hatte also gedient - wie konnte er nur! Den Bund mitzumachen, so etwas fand er normalerweise unentschuldbar. Nun, vielleicht kann er bei Ulf eine Ausnahme machen.

     Ulf hatte keine großen Ansprüche an das Berufsleben. Nur Geld verdienen, ausreichend Geld für ein normales Leben, sagte er. Ulf war zwei Jahre älter als Ben, einen halben Kopf größer und viel breiter, vor allem in den Schultern und auf der Brust.

     Beim Thema Arbeit lag das Stichwort Freizeit nahe. Ulf bekam in zehn Tagen sein erstes Auto, ein Geschenk seiner Eltern zu seiner Volljährigkeit. Er schlug sogleich vor, mit Ben an den Wochenenden Ausflüge zu machen. Ben sagte gern zu. Dieses Gespräch lief sehr gut für ihn. Er fühlte sich schon besoffen vor Seligkeit, und dazu noch das ungewohnt starke Bier. Er trank sonst so gut wie nie. Und wie das Bier ihm jetzt schmeckte … Sie bestellten aber kein zweites mehr. Ulf wollte heim. Auch er nahm die Straßenbahn, es war eine andere Richtung.

     Die Fünf sauste die Hügel hinauf und hinter jeder Kurve eröffneten sich prächtigere Aussichten. Hat Ulf ihm vorhin nicht geradezu und geradeheraus auch seine Freundschaft angeboten?  

 

 

Am nächsten Tag nahm die Freude weiter zu, und, wie es aussah, nicht zum letzten Mal. Da war etwas in Gang gekommen und ein Ende nicht abzusehen. Ulf lud ihn nach Feierabend in den Hofbräukeller ein. Auch das war ein Stimmungslokal, nur größer und noch belebter als das Bräuhaus. Hierher kamen jetzt vor allem Angestellte, die sich nach ihren Dienststunden den Kopf auslüften, die Brust weiten und die Seele umstimmen lassen wollten. Manche kamen allein aus dem Grund, liebe Gesellschaft noch länger genießen zu können. Man konnte hier auch speisen. Es wurde allgemein viel geraucht. Auch Ulf rauchte. Ben war Nichtraucher, weniger aus Überzeugung – er hatte es wie so vieles noch nie versucht.

     Die Hauptsache hier war neben dem Bier die Musik. Diese Blechbläser waren verteufelt hinter der guten Laune, der echten Stimmung her. Wenn die Kapelle mit ihren schmissigen Weisen das Publikum nur so über- und zuschüttete, konnte einem das Hören schon vergehen, auch das Sprechen war dann vergebliche Liebesmüh. Blieben also die Augen, die an Ulf hängen blieben. Er sah sehr zufrieden zu Ben herüber. Sie tranken heute bereits jeder zwei Halbe, und Ulf rauchte eine Reihe von Zigaretten.

     Es war ja nicht zu bestreiten, das Bier und diese Art Musik waren eine kräftige Untermalung für etwas, das noch nicht näher definiert werden konnte. Es war vorderhand auch nicht nötig. Ben stellte befriedigt fest: Auch ich kann mich auf diese Weise amüsieren. Daheim war es ihm nie gelungen. Zwar waren die Sonne und der Hirsch bei den meisten Schülern der Oberstufe recht beliebt gewesen, aber Ben hatte sie verabscheut, diese Gelage mit Krakeel und primitiver Angeberei. Viel lieber war er mit einzelnen Freunden zusammen und redete mit ihnen über Literatur oder Politik. Es war dann fast gleichgültig, wo das Gespräch stattfand, wenn es nur ein gutes war. Und nun also doch noch: Wonnen der Gewöhnlichkeit oder etwas in der Art.

     Dann war es wieder ruhiger geworden oder er war näher an Ulf herangerückt und der Freund kam auf die Ausflüge zurück, die sie demnächst mit dem Auto unternehmen würden. Er sagte, auch seine Eltern würden hier und da mitkommen.

     Ben sah ihn überrascht an. Ulf sagte: „Sie haben noch nicht viel von der Welt gesehen.“ Ben dachte: So werde ich ihn auch in seiner Familie erleben.

     Ulf fuhr fort: „Sie haben beide keinen Führerschein. Und wie steht’s bei dir?“

     „Ich auch noch nicht. Später einmal.“

     „Wir können auch einmal auf das Frühlingsfest gehen.“

     „Ja, fein.“

     Die Fünf sauste die Hügel hinauf, und die Aussichten verschwammen ihm heute vor den Augen. Er muss das Biertrinken erst noch üben. Ulf sagt, er habe den Leerlauf beim Bund nur dank der vielen Saufgelage ertragen können.

     Ben stieg an seiner Haltestelle etwas unsicher aus der Straßenbahn und ging leicht schwankend in sein Seitentälchen hinunter. Das Hochgefühl war noch da, es kam mit ihm in die Villa. Frau Julianka gab wieder Unterricht. Es mochte eine andere Schülerin sein, doch waren es die gleichen Übungen. Später fand er, es klang immer gleich. Zur Begleitung am Flügel ein zerrissener Hahnenschrei aus weiblicher Kehle, sanft belehrende Worte der Lehrerin, neuer Ansatz zur Koloratur, so ging es eine Stunde dahin, dann eilte die Schülerin die langen Treppen den Garten hinunter. Manchmal empfand er es wie ein Martyrium, eines für alle Beteiligten. Heute allerdings nahm er es nur undeutlich war, so groß war die Freude.

 

 

Am Freitag saßen sie nach der Arbeit wieder im Hofbräukeller. Diesmal musste eine Halbe genügen, denn Ulf hatte einen Termin zu Hause. Ein Versicherungskaufmann wollte ihm eine Police für die Haftpflicht verkaufen. Und eine Woche später würde Ulf das Auto dann abholen.

     Ben lud den Freund für den Sonntagnachmittag zu sich ein. Ulf war gleich einverstanden.

     „Nur falls ich mit meinen Eltern spazieren gehen muss, könnte nichts draus werden. Kann ich dich dann anrufen?“

     Ben schrieb ihm Frau Juliankas Nummer auf einen Zettel und sagte dabei: „Meine Vermieterin … Sie war Opernsängerin. Jetzt gibt sie Gesangsstunden, direkt unter mir. Koloraturen, stundenlang hörst du Koloraturen. Es scheint furchtbar schwer zu sein, so etwas zu lernen. Es nervt mich schon etwas, aber jedes Zimmer hat irgendeinen Nachteil. Dafür ist die Aussicht auf die Stadt grandios. Schon deshalb musst du kommen.“

     „Ich komme, wenn’s irgend geht. Diese Sonntagsspaziergänge sind sowieso bald vorbei. Wird auch Zeit.“ Ben erfuhr, gewöhnlich gingen Ulfs Eltern nach dem Mittagessen mit ihm auf den Aussichtsberg ganz in der Nähe. Sie zockelten Sonntag für Sonntag, Jahr für Jahr durch die Weinberge hinauf, bestiegen den Aussichtsturm und sahen über die Flusslandschaft. Diesen Teil der Stadt kannte Ulf besser als jeden anderen, aus der Vogelschau und bei jedem Wetter. Seine übrigen Ortskenntnisse reichten daran nicht heran, er bat Ben, ihn am Sonntag im Stadtzentrum abzuholen. In Bens Stadtviertel war er kaum einmal gewesen.

     „Du, ich muss jetzt heim. – Zahlen, bitte! – Kommst du mit zur Bahn? Scheiße, dass ich heut nicht länger kann.“ Er drückte die Zigarette aus und schob Ben mit der linken Hand auf Bens rechtem Schulterblatt vor sich her zum Ausgang.

     „Also, du triffst mich am Sonntag hier. Halb drei? Nein, pass auf, viertel nach drei ist besser. Ich komme mit der Vierzehn. Mach keinen Quatsch bis dahin.“

     Er war schon weg. So schnell geht eine Arbeitswoche herum. Es war ihre erste, für sie beide die erste. Das wird sie immer bleiben und sie von allen anderen unterscheiden.

     Auf der Fahrt hinauf dachte er an Ulfs Eltern. Diese Spaziergänge …In seinem Alter noch? Ein bisschen sonderbar vielleicht. Ungewöhnlich heutzutage. Oder imponierte ihm, Ben, dieser Familiensinn? Man kann es so oder so sehen. Jedenfalls gibt es da noch richtige Eltern, ihre Präsenz ist fühlbar. Und wenn es sich auch bei ihm selbst genau entgegengesetzt verhält, er wird sich damit schon arrangieren.

     Er hatte endlich etwas Zeit für sein Tagebuch. Er schrieb:

     Ulf ist von all meinen bisherigen Freunden der am wenigsten intellektuelle. Er kommt wohl aus einer der unteren Schichten – aber ich doch auch! Manchmal wirkt er fast ein wenig – proletenhaft? Nein, ein zu starker Ausdruck. Immerhin sind seine Sprache und sein Benehmen gelegentlich etwas vulgär, aber da er so hübsch und liebenswürdig ist, finde ich mich mit diesen nicht unwesentlichen Merkmalen nicht nur ab, sondern lasse mich sogar ein wenig von ihnen beeindrucken. Das ist mein Hang zum Einfachen, Ursprünglichen und zur intellektuellen Fahnenflucht. Und so lerne ich von den Sehenswürdigkeiten hier zuerst die Bierkeller kennen.

     Ich mache mir übrigens nicht die geringsten Illusionen, dass Ulf homosexuell sein könnte. Bei einem Menschen seines geistigen Zuschnitts hat man sehr schnell herausgefunden, ob …Aber woher will gerade ich das eigentlich wissen? Ich glaube, man nennt das deduktives Verfahren. Gefährlich! Wie auch immer, es ist in keinem Fall gesagt, dass er für gleichgeschlechtliche Beziehungen völlig unempfänglich sein muss. Im Gegenteil, sein bisheriges Verhalten berechtigt mich zu gewissen Hoffnungen. So einfach schwarz-weiß liegen die Dinge bekanntlich nicht. Und wie würde man eine intensive Beziehung zwischen uns zu bezeichnen haben, wenn nicht als zumindest teilweise homoerotisch? Ob Ulf sich dessen bewusst wird, spielt keine Rolle, wenn er diese Kameradschaft nur lebt.

      Ein Rest von Beunruhigung bleibt. Er hat sich mir so rasch und bedingungslos angeschlossen wie ein Dreizehnjähriger, wenn er in eine neue Schule kommt.

 

 

Am Sonntag war Ben viel zu früh an der vereinbarten Stelle. Er ging länger unruhig auf dem großen Platz auf und ab. Dann kam eine Vierzehn und heraus kam ein ganz verwandelter Ulf. Er trug Sonntagsstaat, einen hellen Anzug und Krawatte, den hellen Mantel über dem Arm, alles sichtlich von guter Qualität und sorgfältigem Schnitt. Waren die Sachen am Ende sogar maßgeschneidert? Aber wie befangen wirkte er jetzt, als er auf Ben zuging, fast als trüge er Ketten. Im Amt saß er sonst, wie Ben auch, in Pullover und schlichter Hose da. Vielleicht hatten sie daheim den Sonntagsspaziergang etwas vorgezogen oder ihn seinetwegen abgekürzt. Und er, Ben, zeigte sich heute in Blue Jeans und einem alten Sportpullover.

     Ulf versuchte nichts zu überspielen. Sein Atem ging etwas schwerer als sonst. Möglicherweise war er in Eile aufgebrochen. Er sagte: „Ben, wir haben uns ja noch nichts vorgenommen. Willst du auf den Fernsehturm?“

     Ben nickte. Er war bisher noch nicht oben gewesen. Es fiel ihm ein, Ulf war es gewohnt, an Sonntagen von einem Turm herab auf Stadt und Land zu schauen.

     „Du, das Wetter kann aber schlecht werden. Hast du zu Hause etwas zum Drüberziehen?“

     „Dann fahren wir erst zu mir und gehen von dort durch den Wald hinauf.“

     Als die Bahn scharf um die erste Ecke bog und sofort ihre Steilauffahrt begann, lachte Ulf: „Ja, das ist diese verrückte Strecke. Beinahe wie eine Achterbahn, nur dass es immer bergauf geht. Wollen wir bald einmal aufs Frühlingsfest?“

     Sie blieben nur so lange auf dem Zimmer, wie Ben den Mantel heraussuchte und überzog. Währenddessen sah Ulf aus dem Fenster. Er war weniger gesprächig als an den vergangenen Tagen. Schweigend gingen beide in den Garten hinunter und schlugen dann den Weg zum Fernsehturm ein. Der Pfad zwang sie oft, hintereinander zu gehen. Dann ging Ben immer voran, ohne sich etwas dabei zu denken.

     Der Lift sauste hinauf zur Aussichtsplattform. Ulf sah erwartungsvoll aus. Dabei war er schon wiederholt oben gewesen. Sie traten hinaus ins Helle. Unter ihnen lag rundum die Stadtlandschaft mit ihren Straßen und Häusern, Hügeln und Tälern, Fabriken und Wäldern. Ulf nannte ihm die Namen von Stadtteilen. Und in jenem Viertel da drüben wohnte er selbst. Ben erkannte dort kaum etwas. Dafür fand er, ungefähr in der Mitte zwischen Turmhöhe und Stadtgrund, sein eigenes Haus, zum einen nah am Zentrum, zum anderen sich nur eben am äußersten Waldrand festhaltend, eine ungewöhnliche, prekäre Lage. Sie gingen ein Stück weiter und sahen das Gebirge vor sich wie eine Mauer aufragen, nah und doch fern, die Gartenlandschaft davor eindeutig abschließend, sich von dieser kleinen Welt wegkehrend und zugleich eine Sehnsucht weckend, man wusste nicht, wonach …

      Ben sagte, der Anblick sei großartig, einfach großartig.

      „Du wirst auch das von nahem sehen. Bald schon.“ Ulf war heute viel ernster als sonst.

      Sie konnten nicht mehr alles genau betrachten. Eine Wolkenwand trieb rasch auf den Turm zu und verhüllte ihn in Sekunden. Sie sahen in fallenden Schnee hinaus und auf nichts anderes mehr. Es dauerte länger, als sie gedacht hatten. Sie saßen im Restaurant und warteten. Ben fand die Preise überhöht.

     „Ich glaube, du hast viel Sport getrieben“, sagte Ulf.

     Ben sah ihn fragend an.

     „Du hast so eine aerodynamische Figur. Bergauf hatte ich beinahe Schwierigkeiten, mit dir Schritt zu halten. Du bist den Berg ja nur so hinaufgeflogen. Und ich bin doch vom Bund her noch gut trainiert.“

     Ben fragte: „Hast du sonst Sport getrieben?“

     „Rudern, sonst nichts, aber das jahrelang.“

     „Was ist so schön daran?“

     „Nun, man kann oft mit anderen trainieren. Und du hast nicht den Wettkampfstress wie bei Ballspielen. Fußball, Handball, das wollte ich nicht. Eigentlich schön, nur mit anderen zu kämpfen, gegen den Fluss mit seiner Strömung, gegen die Zeit.“

     „Aber es gibt doch Wettkämpfe?“

     „Ja, auch, aber auch dann sitzt du mit den anderen in einem Boot, genau wie sonst.“

     „Du bist also nicht gern Einzelkämpfer? Und du magst keine direkte Feindberührung?“

     „Benny, du Klugscheißer! Feindberührung – wenn es die gibt, dann kentern wir vielleicht alle.“  Ulf lachte laut auf, wie neulich im Bierkeller.

     „Stimmt es, dass ihr mit dem Rücken zum Bug sitzt?“

     „Ja, das ist so. - Und du? Gar kein Sport?“

     „Nein -  oder nur Sport. Ist nicht alles Bewegung?“ Ulf gab keine Antwort mehr.

     Ben hatte in der Schule für unsportlich gegolten. Dabei war er flink und nicht ungeschickt und immer viel draußen gewesen. Doch er ertrug es nun einmal nicht, sich zu produzieren – so nannte er das. Er hasste es, auf Kommando zu springen. Grässlich, dieses Bockspringen, einer über den anderen weg, und wie sie den Hintern brav hinhielten. Nicht mit ihm. Er verweigert, sagte der Sportlehrer, der den Mechanismus durchschaute. Gegeneinander antreten, Wettbewerb, Wettkampf, Kampf überhaupt, das Risiko zu unterliegen oder sich als Sieger präsentieren und dem Unterlegenen ins Gesicht sehen zu müssen – all das war ihm von jeher verhasst. Waren er und Ulf sich hierin ähnlich?

     „Das Wetter wird so schnell nicht besser. Gehen wir?“

     Doch als sie aus dem Turmfuß heraus ins Freie traten, schien bereits wieder die Sonne.

     Sie nahmen einen anderen Weg zurück. Sie sprachen jetzt kaum. Das war eigentlich auch sehr schön, ohne viele Worte miteinander durch diesen Frühlingswald zu gehen. Die Bäume waren noch kahl, über ihnen ein hellblauer Aprilnachmittagshimmel und am Boden die schon zart lindgrünen Sträucher.

     Dann saßen sie auf seinem Zimmer und redeten harmlos miteinander, über die Schule, über das Amt, über ihren Berufsweg. Ben sah einmal zu seinem Bett hinüber. Nein, das spielte hier und jetzt keine Rolle. Nicht mit ihm. Und war es denn wirklich so wichtig?

     Am frühen Abend brachte er ihn zur Straßenbahn. Auf dem Rückweg zur Villa empfand er beinahe so etwas wie Dankbarkeit.

     Dann stand er am Fenster und sah auf die Stadt da unten, in der schon die ersten Lichter aufflammten. Ben dachte: Merkwürdig, er hat bisher von keinem Freund gesprochen. Und auch von keiner Freundin. Es müsste doch neben den Eltern noch andere Menschen gegeben haben. Und warum jetzt gerade ich?

 

 

In der zweiten Arbeitswoche stellte sich bereits eine gewisse Routine ein. Es gab wohl immer noch Neues zu bewältigen, doch sie bewältigten es eben. Allerdings wurde Ulf bei Schwierigkeiten schnell nervös. Er war dankbar, wenn man ihm dann weiterhalf. Diese Reizbarkeit trat nur beim Arbeiten auf. Im übrigen Umgang war er zuverlässig und warmherzig. Er lachte nun noch öfter. Er neckte Ben häufig, auch während der Arbeit. In kurzen Abständen sah er zu ihm herüber und schien sich sehr zu freuen: einfach darüber, dass Ben da war.

     Sie gingen jeden Mittag zusammen in die Kantine. Meistens war auch der Sohn des Gynäkologen dabei, er hieß Andreas.

     Jetzt erst traten auch S. und W. ins Amt ein. Dieser S. ließ jeden wissen, er sei als Reserveoffizier aus dem Militärdienst entlassen worden. Er hatte eine prahlerische Art und kam Ben schon etwas verfettet vor. Ulf hörte ihm in den ersten Tagen bereitwillig zu. Ben verspürte erstmals leichte Eifersucht.

      Er ging wieder einmal mit Ulf nach der Arbeit zur Straßenbahn. Sie kehrten jetzt nicht mehr an jedem Feierabend im Hofbräukeller ein. Ben sagte, S. sei ihm zuwider.

     „Kann ich gut verstehen. Ich hab ihn ja zuerst bei der Vorstellung damals gesehen. Da ist er in Uniform gekommen, fand ich einfach unpassend. Sie haben ihn vor mir befragt, und er hat sich schon damals mit dem angehenden Reserveoffizier wichtig gemacht. Dann haben sie meinem Grad wissen wollen, und ich hab ganz schlicht geantwortet: Bin nur einfacher Gefreiter.“ Er sah Ben mit einer Frage im Gesicht an: Habe ich das nicht gut gemacht? Es war ihm schon bekannt, wie Ben über das Militär dachte.

     „Ganz schön ironisch, hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Ulf lächelte befriedigt, sie stimmten zum Glück auch hierin überein, wie in den meisten Dingen.

      S. hatte sich bald um jedes Ansehen geredet. Mit W. verhielt es sich anders. Auch er kam gerade vom Bund, doch war er klug genug, diese jüngste Vergangenheit hier ruhen zu lassen. Er trank als Einziger von ihnen in der Frühstückspause Sekt, und zwar täglich. Dieser Sektfrühstücker sagte gern mit wissender Miene: „Amtmann wird man immer.“ Er konnte gut Witze erzählen, richtige Zoten, und Andreas und leider auch Ulf lauschten dann hingerissen, um wieder einmal so herrlich herausplatzen zu können. Ben verzog keine Miene bei diesen Explosionen.

     Es war gut, dass sie mittags weiterhin unter sich blieben. Andreas störte sie kaum, oft hatte er anderes vor und ließ sie allein essen gehen.

     Andreas war dabei, als die Geschichte mit dem Milchreis und dem Dunkelbier passierte. Es gab also wieder einmal in der Kantine Milchreis, den Ben immer noch so gern wie als Kind aß. Er bat an der Essensausgabe um eine größere Portion.

     „Ja, geben Sie ihm recht viel, er hat heute fast noch nichts gegessen“, sagte Ulf hinter ihm.

     Und Andreas fiel ein: „Eine doppelte bis dreifache Portion, bitte.“ Die beiden erstickten fast am Lachen.

     Die Frau an der Ausgabe nahm jetzt mit der Schöpfkelle eine drohende Haltung ein und sagte: „Ja, gewiss bekommen Sie die – aber nur unter der Bedingung, dass auch wirklich alles aufgegessen wird.“ Sie häufte eine schon bedrohliche Menge von der Süßspeise an. Ben beschloss, auf jeden Fall alles aufzuessen.

      Dann wählten sie die Getränke aus. Ulf empfahl, es doch einmal mit dem dunkelbraunen, ja fast schwarzen und auch etwas zähflüssigen Bier da zu versuchen. Sie stellten sich jeder eine Halbliterflasche davon aufs Tablett und gingen zur Kasse. Bens Mahlzeit wurde zur Schwerarbeit. Auf die Hänseleien der beiden anderen konnte er nicht eingehen. Er schaffte alles und fühlte sich schwer wie ein Felsbrocken, als sie wieder an die Arbeit gingen. Magendrücken und ein benommener Kopf – der Nachmittag schleppte sich endlos hin.

     Andreas beobachtete ihn mit anscheinend wissenschaftlicher Neugierde. Ulf sah erst belustigt, dann zunehmend besorgt zu ihm herüber. „Du dummer Kerl“, sagte er zärtlich, „musste das sein? Ein Maulesel kann auch nicht eigensinniger sein, als du es bist.“

 

 

Am Wochenende darauf war Ben auf sich allein gestellt. Ulf ging am Freitag vom Amt aus gleich zur Straßenbahn, um sein Auto abzuholen. Morgen und auch übermorgen würde er mit dem Einfahren beschäftigt sein. Ben ergänzte bei sich: Und deine Eltern haben das Recht der ersten Ausfahrt. Er sagte zu dem Freund: „Wenn du dich langweilst, dann ruf mich an.“

     Am Samstagmorgen half er Frau Julianka im Garten. Sie ließ ihn die im Winter heruntergebrochenen Äste und Zweige aufsammeln und zerkleinern. Dann stopfte er alles in zwei Säcke für die Abfuhr. Während er sich damit abmühte, kam ein weiterer Untermieter durch den Garten. Sie waren sich bisher noch nicht begegnet.

     „Herr Möbius – und das ist der junge Ben.“ Herr Möbius war um die dreißig und sagte, er sei Volontär bei der Zeitung, er wolle einmal Wirtschaftsredakteur werden. Er war formvollendet in all seinen Bewegungen, ähnlich war es mit seinen Bemerkungen. Ben kam sich sehr unreif vor. Herr Möbius war heute auf der Redaktion beansprucht. Seine zwei monatlichen Arbeitsstunden im Garten gedenke er in der nächsten Woche abzuleisten. Er war beansprucht, er gedachte … Leutselig grüßte er und empfahl sich, um die langen Treppen zum Tor  … wohl hinabzusteigen. Ein derart feiner junger Herr stieg nur hinab. Schon quietschte die eiserne Gartenpforte, wie sie das immer tat.

     „Herr Ben“ – das war nun so ein Scherz von Frau Julianka, die auch Sinn für Ironie besaß – „Herr Ben, würden Sie auch noch so gut sein, das alte Laub hier und da zu beseitigen. Es ist vom Herbst übrig geblieben, und es sieht so unschön aus. Ja? Ach wie lieb, dass sie auch das noch tun wollen. Da an der Hausecke steht schon der Rechen.“ Dann sagte sie, sie wolle nachsehen gehen, warum Sammy noch immer nicht im Garten sei.

     Ben hatte die Laubreste zum größten Teil bereits zu kleinen Haufen zusammengekehrt, als die Sängerin mit einem zarten jungen Mann von malaiischem Typ erschien.

     „Sammy, hilf dem Ben beim Einsammeln des Laubs. Ihr kennt euch doch schon, nein?“

     „Ich wohne da unten“, sagte Sammy, fast akzentfrei, und wies mit Tempeltänzerinnengebärde auf ein kleines Fenster im Kellergeschoss. Es lag gerade eben über der Erdoberfläche. „Ich halte den Sack für dich auf, und du tust alles hinein. Ist es recht?“

      Er gefiel Ben sofort. Ben wühlte mit beiden Händen in den Laubhaufen und brachte ihm Händevoll für den Laubsack. Sammy zog den Sack, der kaum an Gewicht zunahm, mit gespielter Mühsal über die Rasenflächen. Das Rheuma erlaubte Frau Julianka keine praktische Mitarbeit. Dafür umflatterte sie die beiden mit Bewegungen ihrer Arme, ihrer Hände, wie segnend.

     Als sie hinter dem Haus, oben am Waldrand, beschäftigt waren und Frau Julianka gerade nicht in der Nähe war, wies Sammy auf das Gartenhäuschen: „Und da wohnt der Maler mit seiner Frau.“

     „Wer? Da wohnt auch noch jemand?“

     „Ja, die Frau vermietet, wo sie überhaupt nur kann. Sie stopft alles voll.“ Er war alles andere als respektvoll. Er war zierlich, er war ganz anders als Ulf. Er war entzückend. Ben erfuhr, Sammy sei angehender Ingenieur.

     „Und wo ist der Maler?“

     „Auf dem Land. Mit seiner Frau verreist.“

     Sammy fuhr sich bald immer wieder über die Stirn, als wäre da Schweiß. Frau Julianka gab sich für diesmal zufrieden. Der Garten habe bedeutende Fortschritte gemacht.

      Ben dachte: Das hier ist ja fast eine Landkommune.

     Den Sonntag verbrachte er mit einer langen Wanderung durch die Wälder der näheren Umgebung. Er lernte dabei eine Reihe von Vororten der Stadt kennen. Wie viele Villenviertel es hier gab … Er stand auf einem Aussichtspunkt und blickte über das Haupttal. Ungefähr dort drüben muss Ulf wohnen. Ben begann mit der Idee eines Umzuges in seine Nähe zu spielen. Natürlich nicht so bald, seine Landkommune gefiel ihm doch auch recht gut.

      Die Bilanz im Tagebuch fiel so aus: Ein Wochenende ohne Ulf ist nur eine halbe Sache.

 

 

Als S. und W. kaum eingearbeitet waren, wurden sie auch schon einer anderen Arbeitsgruppe zugeteilt. Gut so, nun war man wieder unter sich. Sie sahen die beiden allerdings noch in der Frühstückspause.

     Herr Adelmann hatte seit langem zwei Gehilfinnen. Frau Schiller, die Jüngere der beiden, imponierte Ben mit ihrer Tüchtigkeit, ihrem großen Fleiß. Sie ackerte wirklich acht Stunden lang, von zwei kurzen Pausen abgesehen, und zwischendurch lachte sie auch noch immer wieder herzlich. Ihrer Fürsprache war es mit zu verdanken, dass Ulf und Ben bei Herrn Adelmann hatten bleiben dürfen. Sie war eine verheiratete, schöne junge Frau, noch in den Zwanzigern.

     Frau Stiegler dagegen näherte sich schon dem Rentenalter. Sie kochte gern Kaffee für jeden, der es wollte. Sie war eine kleine, schmale Frau, deren Haarfarbe sich allmählich von Aschblond in Eisgrau verwandelte. Gab es auch einen Herrn Stiegler? Ben erfuhr darüber nichts. Frau Stiegler ermahnte die jungen Männer mit ihrer vom vielen Rauchen kratzig klingenden Altstimme zur Schönschrift: „Schön schreiben, sauber, ordentlich, schön. Das mögen die Vorgesetzten. So könnt ihr was werden. Denkt daran, ihr jungen Herren.“ Auch sie war arbeitsam. Im Unterschied zu Frau Schiller suchte sie auch körperliche Nähe. Im Gespräch mit einem Kollegen den Arm in dessen Nähe auf der Schreibtischplatte aufstützen, sich dann gemeinsam über ein Schriftstück beugen, die Ellenbogen sich berühren lassen, aufseufzen: Ben nahm es wahr und fand nichts dabei.

     Ulf sagte: „Die Stiegler streicht ständig um einen herum, ist es dir nicht auch aufgefallen? Ich glaube, am liebsten würde sie einem den Hosenstall aufmachen. Ein geiles altes Weib!“

     Herr Adelmann sorgte für gleich bleibend hohes Arbeitstempo. Und zum Feierabend ging er herum und sagte im Umhergehen: „Bald auslaufen lassen, ihr wisst schon, noch nicht aufhören, allmählich auslaufen lassen.“ Auch seine Stimme klang versehrt. Er hatte im Vorjahr eine Kehlkopfkrebsoperation überstanden. Seit Weihnachten galt er als geheilt. „Ich habe Glück gehabt, ihr Buben. Wenn ich diesen Professor nicht gehabt hätte …“

 

 

Dann kam wieder ein Freitag. Ulf holte Ben am Spätnachmittag mit dem Auto von der Villa ab. Ben verstand nichts von Autos, von Motoren. Ulf versuchte nicht einmal, ein Gespräch über so etwas in Gang zu bringen.

     Sie fuhren eine Schleife durch die innere Stadt, dann hinaus in den Vorort, in dem Ulf immer gewohnt hatte. Ulf zeigte ihm seine Schule, das Stadion, die weltbekannten Fabriken. Dann besuchten sie das Frühlingsfest. Einen so großen Rummel hatte Ben noch nie erlebt. Die halbe Stadt war jetzt hier.

     Ulf regte sich über einen jungen Mann auf, der vor ihnen herging und rechts wie links einen Arm um die Hüfte je einer jungen Frau gelegt hatte. „Da hört sich doch alles auf! So ein Lustmolch!“ Ben wurde erst dadurch aufmerksam und besah sich die eng umschlungene Dreiergruppe. Ja, sie drückten und rieben sich beim Gehen ein wenig aneinander. Was war dabei?

     Er fuhr mit Ulf mehrmals Karussell. Sein Freund entschied, in welches sie einsteigen sollten. Im Unterschied zu Ben kannte er sich da aus, er hatte seine Vorlieben. Sie stiegen immer nur in kleine Gondeln für zwei Personen. Sie waren sehr eng, man musste hintereinander Platz nehmen. Ulf als der Größere saß hinten. Ihre Schenkel pressten sich zwangsläufig aufeinander, es ging nicht anders. So ließen sie sich herumwirbeln. Es war ungewohnt – zumindest für Ben. Ulf lachte harmlos. Der Fahrtwind ins Gesicht ließ auch ihn schwerer atmen. Ben war sich unsicher, wie er die Fahrt eigentlich empfand. War sie lustig, amüsant? Ja, das war sie, weiter wohl nichts. Dann war die Fahrt zu Ende, und sie beide, diese zwei großen Kerle, befreiten sich mühsam aus ihrer Umklammerung, lösten sich im Aufstehen voneinander. Sie standen auf dem Holzpodest und gingen zwischen den Liebespaaren die wenigen Stufen hinunter. 

     Nachher saß er mit Ulf in einem Bierlokal im Zentrum der Vorstadt. Sie tranken nur wenig. Ulf musste sich etwas zurechtgelegt haben. Das war so seine Art, unbemerkt über einem Plan zu grübeln, und wenn er fertig war, brachte er ihn beiläufig vor. Seine Stimme klang dann anders als sonst, anschmiegsam, einfühlsamer. Und immer kam er zwar mit der Sprache heraus, doch meist nicht bis zum Kern der Sache. Der würde sich von selbst ergeben. Er erinnerte Ben bei seinem Vorgehen an eine sich anschleichende Großkatze, vielleicht an einen Panther in freier Wildbahn. Oft vermittelten auch seine Bewegungen diesen katzenhaften Eindruck, selbst wenn er nur herumging und einem gerade nichts schmackhaft machen wollte. Es gab da eine den wechselnden Situationen gut angepasste Geschmeidigkeit, die nicht ganz geheuer war.

     Ulf sagte: „Ich kann dich ja auch einmal an einem Wochenende zu deinen Eltern nach Hause fahren. Aber erst kommst du morgen zu uns.“ Ben nickte zweimal rasch hintereinander und sagte. „Ja … Ja.“ Der Besuch bei Ulfs Eltern war schon verabredet, über den anderen Vorschlag musste er erst nachdenken.

     Der Antrittsbesuch bei den Eltern wurde schon am Samstag absolviert, denn am Sonntag wollte Ben nach Mannheim fahren. Dort studierte ein Schulfreund von ihm, mit dem er noch häufig Briefe wechselte.

     Ulf holte ihn mit dem Wagen von der Straßenbahn ab. Seine Straße bestand nur aus monotonen älteren Wohnblocks. Die schönen Grünanlagen machten die Gegend erst erträglich.

     Vom Vater kann er seine Statur nicht haben, dachte Ben, als Ulfs Eltern ihn freundlich begrüßten. Der Schuhmacher war wohl nie besonders vital und kräftig gewesen, und man sah ihm die Jahre und Jahrzehnte durchaus an. Ganz anders die Herrin über die Töpfe und Pfannen im Amalienhospital: eine große, kräftige, noch immer blühende Frau. Diesem körperlichen Eindruck entsprach der seelische. Ulfs Vater war alles andere als lebhaft, die Mutter dominierte entschieden. Die Eltern gaben sich gastfreundlich und herzlich, indessen waren doch beide keine echten Frohnaturen. Genüge deiner Pflicht, schien das Motto ihrer Lebensführung zu sein. Sie versüßten es sich mit standardisierten Dekorationen wie zwei sehr unnatürlich wirkenden Alpengemälden im Wohnzimmer. Ben durfte alles ansehen, Ulfs bescheidenes Zimmer, das keinerlei Aufschlüsse bot, sogar die Werkstatt des Vaters. Hier stand ein Vogelbauer. Der Kanarienvogel darin hieß Werner.

      „Du, Mama“, sagte Ulf, „Ben kennt sich jetzt schon hier in der Stadt besser aus als ich.“ Vermutlich wollte er den Freund, dessen tatsächliche Aufnahme in die Familie ja noch nicht beschlossene Sache war, damit herausstreichen.

     Das imponierte der Mama auch wirklich. Sie richtete sich noch mehr auf und sagte mit gewisser Strenge im Ton: „Das ist sehr gut für ihn. Und warum ist es so bei ihm, Ulf? Weil er es muss!“ Hierin irrte sie nun gründlich. Sich in immer neuen Umgebungen schnell zurechtzufinden, war vielmehr eine zweckfreie Leidenschaft von Ben. Er hatte dieses leichte räumliche Orientierungsvermögen und das starke Interesse fürs Geographische ausgerechnet von seinem Vater geerbt. Es war klar, gerade eine solche Veranlagung würde der Hospitalküchenoberin keine Bewunderung abnötigen. Frei vagabundierend taugte Ben ihr nicht als Vorbild für diesen Sohn, den sie sich zwar aktiver, bestimmender und nicht nur in räumlicher Hinsicht ausgreifender gewünscht hätte, doch eben nicht von jedem Ursprung fortstrebend. Ihr Ton ihm wie auch ihrem Gatten gegenüber verriet schon zum guten Teil, warum seine Entwicklung nicht vollkommen wunschgemäß verlaufen war: In diesem Haushalt stand nur ein Paar Hosen zur Verfügung. Aber Männer ohne Hosen waren wiederum auch nicht ganz ihr Geschmack.

     Merkwürdig, wenn Ben mit Ulf zusammen war, übernahm der Freund doch zumeist die aktive Rolle. Ulf hatte ihn als Freund ausgesucht. Die meisten Vorschläge, die Entwicklung der Freundschaft betreffend, kamen von ihm. Hier im Haus wirkte er nun sehr verwandelt. Ulf war kein Muttersöhnchen, das nicht, er war ein braver, anhänglicher Elternsohn. Nur das familiäre Parallelogramm der Kräfte musste einem Fremden als stark aus dem Lot geraten erscheinen.

     Ulfs Vater blickte auf den weiteren Gang ihrer Ausbildung voraus. Sie würden Prüfungen ablegen müssen. Er seufzte, als müsste er sich ihnen auch unterziehen. Pflicht und Pflichten! Herr Schuhmacher, wir werden auch unsere Jugend genießen müssen. Meister von der Ahle, sehen Sie nicht, wie kräftig ihr Sohn gebaut ist, stark und ansehnlich? Ist es nicht eine Freude, dieses schöne junge Blut anschauen zu dürfen? Sie dürfen stolz sein, Sie und die Mama resoluta haben mit ihm etwas sehr Erfreuliches in die Welt gesetzt und zu einem hübschen, lieben Kerl großgezogen.

     Sie tranken Kaffee im Wohnzimmer. Dabei lief das Fernsehgerät. Man sah auf den Bildschirm und unterhielt sich nebenbei zerstreut.

    Später fuhr Ulf mit Ben spazieren. Ben blickte aus dem Wagenfenster auf Weinberge, auf den Fluss. Sie vertraten sich auch einmal die Beine.

     Dann gab es Abendbrot. Er durfte bleiben. Sie aßen wieder vor dem laufenden Fernsehapparat und plauderten gleichzeitig. Nachher brachte Ulf ihn mit dem Auto nach Hause. Alles an Ulf duftete jetzt wieder nach Kameradschaftlichkeit und rechtschaffener Männlichkeit. Vielleicht besaß er eine spezielle Drüse, mit der er ein Sekret hervorbrachte. So stark war der Geruch bisher noch nie gewesen wie jetzt, nach diesem Nachmittag in der Familie.

     Der Ausflug nach Mannheim verlief enttäuschend. Der Schulfreund war ein lieber, gesprächiger Gastgeber und Ben ein in sich gekehrter, mit sich selbst überaus stark beschäftigter Gast. Sie sahen sich einen Blumencorso an und versuchten, wie früher miteinander zu reden. Es war kaum noch möglich. Drei Wochen in der anderen Stadt und er begann, ein anderer zu werden.

 

 

Um diese Zeit fand eine Zusammenkunft der Amtsangehörigen in der Kantine statt. Man konnte es als eine Instruktionsstunde auffassen. Sie saßen auf Reihen von Stühlen, die eigens hereingeschafft waren. Der Raum war überfüllt und überheizt. Der Stellvertreter des Amtsleiters sprach lange und umständlich – worüber eigentlich? Bens Konzentration schwand rapide. Warum kann der da vorne seinen breiten, bäurischen Akzent nicht etwas zügeln? Ja, wir können alles, außer Hochdeutsch. Ben döste jetzt die meiste Zeit.

     Dann ließ er zur Abwechslung seine Blicke umherschweifen. Herr Adelmann sah vor sich hin, Frau Schiller zur Decke und Frau Stiegler in ihren Schoß. Neben ihm saß Ulf mit einer bewundernswert undurchdringlichen Miene, die ins Nirgendwo gerichtet schien. Ben verspürte auf einmal großes Verlangen nach Ulf. Es hatte sich so deutlich noch nie gemeldet. Wo war übrigens Andreas? Er entdeckte ihn sehr weit vorn, wo auch S. und W. saßen. Und er hier hinten mit Ulf in der letzten Reihe. Er würde jetzt gern den Arm auf seiner Stuhllehne um ihn legen.

     Gerade dieses Manöver mit dem Arm sollte er besser bleiben lassen. Er hatte es in Mannheim einmal bei Ingo während einer Vorlesung versucht. Die Wirren der griechischen Geschichte im Peloponnesischen Krieg hatte er als Hintergrund für diese schüchterne Annäherung gewählt. Ingo, der sonst stets heitere und zutrauliche Ingo, der ihn nicht einmal sehr stark anzog, war offenbar kein Lakedämonier – er war in einer Sekunde zu Eis erstarrt.

     Ben blieb jetzt seinerseits steif auf seinem Stuhl sitzen. Dann geschah etwas, vielleicht eine Aufforderung, lebendiger zu werden. Ulf stützte sich seitlich mit dem Ellenbogen bei ihm auf. Dabei berührte er Bens Unterarm. Er ließ ihn einfach dort liegen.

     Ben zögerte. Dann wählte er den Mittelweg, er legte den linken Arm vorsichtig auf Ulfs Stuhllehne, ohne den Freund zu berühren. Er legte den Arm dort wie einen Gegenstand ab. In Gefahr und Not bringt der Mittelweg den Tod? Nein, er brachte einen Fortschritt. Ulf legte sich nach kurzem weiter zurück und mit dem breiten Rücken gegen den Arm. Dann traten bis zum Ende der Instruktion keine Veränderungen mehr ein. Ben spürte den Körper des Freundes. Er kam ihm breit und warm und zärtlich vor.

 

 

Ben besuchte erstmals nach seinem Umzug wieder einmal seine Leute daheim. Er fühlte sich dort jetzt noch fremder als in Mannheim. Wenn sie mit ihm über seine Angelegenheiten sprechen wollten, dann kam er sich auch selbst fremd vor. Sie legten Gewicht nur auf die ihm nebensächlichsten Dinge, und was ihm selbst bedeutend erschien, konnte er ihnen nicht mitteilen.

     „Ulf wird vielleicht einmal mit hierherkommen“, sagte er. Da gab er nun doch etwas preis.

     „Oh, ich habe es ja gewusst“, sagte die Großmutter, „dort wirst du dich einleben. In der Fremde ist ein treuer Freund Gold wert. Halte ihn dir warm.“ 

     Am Sonntag darauf, es war Muttertag, durfte er Ulf und seine Eltern auf einem Ausflug begleiten. Sie fuhren am späten Vormittag ab. Ihr Ziel war ein altes Städtchen im Unterland. Dort lebte ein Kriegskamerad von Ulfs Vater, sie hatten sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Der Schuster belebte sich immer mehr, je näher sie dem Ziel kamen.

     Sein Kamerad war älter, er war schon Rentner. Er wohnte mit seiner kaum jüngeren Frau in einer gepflasterten Gasse, die vom kleinen Marktplatz abging. Sie aßen bald zu Mittag. Auf die Vorbereitung des Mahles war viel Zeit und Mühe verwendet worden. Die Hausfrau schien ein wenig erschöpft. Ulfs Mutter lobte alles und erkundigte sich nach den Rezepten. Die beiden älteren Männer setzten mehrmals dazu an, sich den Verlauf ihres Lebens seit dem Krieg zu erzählen. Sie kamen über die Ansätze nicht hinaus. So viel Entscheidendes kann man nicht zwischen Suppe und Braten, zwischen Braten und Nachtisch unterbringen. Das festliche Essen behauptete sich gegenüber einer Vergangenheit, die jetzt vor allem mühselig erschien, vielleicht auch nicht mehr in allem vollkommen verständlich. Manchmal brachen sie mitten in einem Satz ab und hingen schweigend ihren Erinnerungen nach, jeder seinen eigenen. Es war, als suchten sie selbst den Sinn im Gewesenen. Von der Kriegszeit sprachen sie gar nicht. Der Schuster lenkte schließlich Aufmerksamkeit und Gespräch auf die beiden jungen Männer. Die Kinder der Gastgeber lebten an anderen weit entfernten Orten.

     Ben mochte für das fremde Ehepaar wie ein unscheinbarer und dennoch exotischer Vogel sein, der statt zu singen in rätselhaftem Schweigen verharrt. Ulf war kaum mitteilsamer. Sein Sonntagsanzug, obwohl gut geschnitten, beengte ihn. Ben kannte das schon. Das Jackett ließ die gewohnten Bewegungen nicht zu, das freie Spiel von Muskeln und Gliedern. Vielleicht versagte er es sich auch nur. Der Hals kam recht steif und etwas schief aus dem weißen Kragen heraus. Der Panther saß vor-übergehend in der Falle – kein schöner Anblick.

     Der Kriegskamerad führte sie nach dem Essen durch die kleine alte Stadt. Die Hausfrau kam nicht mit. Ihr Gastgeber zeigte ihnen das Rathaus, die Kirchen, die Türme. Sie bestiegen einen von ihnen und sahen weit über das Land. Dort oben wurde Ulf von Ben fotografiert, Ulf, mit schiefem Hals und vom Sonnenlicht etwas geblendet.

     Diese Führung war sicher schon öfter gemacht worden. Es ging dabei nur um den Ort, der teils auf museale Art poliert, teils aber auch verwohnt und sogar ein wenig verwahrlost erschien. Ihre persönlichen Verhältnisse blieben während des Rundganges unberührt. Das änderte sich erst, als ihr Gastgeber sie vor die Stadt und in seinen Obstgarten führte. Nun wurde ihnen jeder Apfel- und jeder Birnbaum wie ein teures Familienmitglied oder ein alter Duzfreund vorgestellt. Der Kriegskamerad belebte sich noch mehr, als er von der Kunst des Kelterns erzählen konnte. Ulfs Vater hörte ihm nun mit sichtlich mehr Interesse zu als vorhin. Wenn sie über die verschiedenen Brände sprachen, kam endlich Wärme in ihre Stimmen. Der Schuster war gewiss kein Trinker, dennoch belebte ihn die Vorstellung eines guten Obstlers jetzt in einem Maß, das man an ihm sonst nicht wahrnahm.

     Auf dem Rückweg wandte sich Ulf mit einem Vorschlag an Ben: „Du könntest doch später bei meiner Tante wohnen. Sie vermietet auch ein Zimmer, es ist allerdings gerade nicht frei.“ Ben wusste, diese Tante lebte in der gleichen Straße wie Ulf. Er nickte und war sich innerlich unsicher. Sollten die Familienbande enger und enger geknüpft werden, wünschten sie beide sich denn gerade dies?

     Es folgte der Nachmittagskaffee. Dazu wurden auch Obstschnäpse angeboten. Ulf musste leider auf das Probieren verzichten, da man bald heimfahren wollte. Die Älteren redeten jetzt viel mehr und oft schon durcheinander. Alle Themen wurden nur angeschnitten: Politik, die kommenden Wahlen, Gelddinge, moderne Kunst, Kriminalverbrechen … Man war sich merkwürdig schnell einig in allem. Ben sagte fast nichts. Ulf versuchte mitzuhalten. Er wirkte auf Ben weniger stark durch das, was er sagte, als vielmehr durch seinen um größtmögliche Loyalität bemühten Tonfall. Dieses Bemühen um Bravheit hatte Züge, die an Leidenschaft grenzten. Wenn man es doch auf andere Ziele lenken könnte … Nicht vorzustellen die dann zu erwartende Seligkeit.

     Nach dem Kaffee trat man die Rückfahrt in die Großstadt an. Sie durften sich größere Mengen von Birnenmost mitnehmen. Ben verzichtete, er habe keine Möglichkeit der Lagerung.

     Ulf sagte einige Tage später: „Sei froh, dass du nichts mitgenommen hast. Der Most ist uns daheim ganz schnell sauer geworden.“  

     Ben notierte über den Ausflug in seinem Tagebuch: Ich war ganz verliebt in Ulf und es fiel mir schwer, mich zu beherrschen. Ich will aber sehr vorsichtig sein bei der Dosierung und langsamen Steigerung der Zärtlichkeiten. Bloß nichts überstürzen! Warum nur erregt mich gerade die Vorstellung so sehr, ihm in Gegenwart seiner Eltern oder von Kollegen um den Hals zu fallen? So etwas Törichtes könnte ich doch gar nicht tun. Es ist also eine Zwangsvorstellung. Von fixen Ideen befreit man sich, habe ich gehört, indem man sie einmal verwirklicht.

 

 

Es ging auf Mitte Mai. Die Arbeit ging gut voran. An einem Vormittag war Ben vorübergehend beschäftigungslos. Er kam auf den Einfall, Ulf in seiner Arbeit zu unterstützen. Sie kamen dann rasch zu dem erwünschten Abschluss.

     Bevor sie sich neuen Aufgaben zuwandten, machten sie eine winzige Pause. Diese kleinen Unterbrechungen wurden fast immer mit einem Scherz eingeleitet. Ulf bedankte sich jetzt betont ironisch für die geleistete Unterstützung: „Du bist ja ein Prachtkerl, du hast wohl Schappi gefressen.“

     Herr Adelmann hörte es und blickte interessiert herüber. „Lassen wir mal das Hundefutter … Und dann sagen Sie mir doch, meinten Sie das eben ernst mit dem Prachtkerl?“

     Ulf ließ Hundekuchen und Ironie beiseite und sagte in seinem gewöhnlichen Alltagston: „Ja, doch.“

     „Es war tatsächlich Ihr Ernst?“

     „Aber ja, gewiss.“ Er scherzte offenkundig nicht, er war jetzt so ernst, als müsste er sich vor einem Tribunal rechtfertigen. War das nun eine Liebeserklärung, öffentlich bekannt gemacht, indem dreimal hintereinander vor fünf Zeugen abgegeben? In diesem Fall müsste man jetzt eigentlich verlegen werden. Aber Ben, der vor sich auf die Tischplatte sah, tat nur so.

     Etwa zwei Stunden später war er kurze Zeit beinahe allein mit Ulf. Nur Frau Stiegler mühte sich in ihrer Ecke mit einem für sie schwer lösbaren Problem ab. Ulf wollte etwas sagen, er sah mit diesem Pantherblick herüber. Dann kam es, nicht laut, nicht leise: „Sag mal, Ben, wie machen die das nun in Holland? Da haben doch neulich zwei Homosexuelle geheiratet - gelten die dann beide als Haushaltungsvorstände?“

      Er hat es zuerst ausgesprochen, dachte Ben. Er antwortete nicht. Dafür lächelte er, und sein Lächeln konnte Überraschung und Freude ausdrücken. Wurde überhaupt eine Antwort erwartet? Ben wusste, worauf Ulf sich bezog. Ein holländischer Priester hatte im Winter zwei Männer in seiner Kirche gesegnet, das war alles. Darüber war weit hinten in der Zeitung unter Vermischtes an beinahe versteckter Stelle eine Dreizeilenmeldung zu lesen gewesen. Er hat sie also auch gelesen und behalten und ruft sie sich gerade jetzt ins Gedächtnis zurück.

     Tags darauf gab es noch ein Echo auf Ulfs öffentliche Erklärung. Herr Adelmann machte einen Vorschlag. Ulf und Ben sollten wie die übrigen jungen Männer im Herbst auf verschiedene Außenstellen verteilt werden. Nun hörten sie, Herr Adelmann wolle sie beide für wichtige, dringende Arbeiten noch drei Monate länger hier im Amt behalten. Er werde sich bei der Zentrale dafür einsetzen, ihr Einverständnis vorausgesetzt. Und ob er es hatte! Noch nicht aufhören und auch nichts auslaufen lassen. Jetzt erst richtig anfangen.

 

 

    

                                              2

 

Noch im Mai wurde es auf einmal schwül-heiß. Zweiunddreißig Grad im Schatten – und das war erst ein Vorgeschmack auf den Sommer in dieser Stadt. Zwischen den Geschäftshäusern der Innenstadt gab es nur glutheiße Luft. Sie hatte sich an den steilen, der Sonne ausgesetzten Hängen aufgeheizt und vermischte sich auf dem Grund des Talkessels mit der Abluft aus Büros und Kaufhäusern und den Benzinschwaden aus hunderttausend Auspuffrohren. In den Straßenbahnen wurde man geröstet. Alles erschien Ben verändert, wenn er sich in der Stadt umsah. Die Konturen der bereits vertrauten Gebäude verschwammen in der vor Hitze flimmernden Luft.

     Ben notierte in seinem Tagebuch: Dieses Backofenklima macht mich gleichzeitig schlapp und fiebrig-nervös. Ich habe ständig das Gefühl, als ob die Hitze meine Hirnmasse zusammenpresste, und handele entsprechend unvorsichtig. Es kostet mich eine wahnsinnige Anstrengung, die Zärtlichkeiten für Ulf in einem gerade noch vertretbaren Maß zu halten. Ich möchte ihn streicheln und küssen – und flüchte mich zu freundschaftlichen Knüffen. Ich lege ihm bei jeder Gelegenheit die Hand auf das Schulterblatt, und meine Augen kann ich schon gar nicht mehr beherrschen. Ulf leidet alles gutwillig lächelnd – und bleibt selbst passiv. Würde er auch nur für einen Augenblick die Initiative ergreifen, wäre es aus und vorbei mit jeder Disziplin. Und ich will doch nichts überstürzen, nichts Falsches tun.

     Ulf kam vom Personalarzt. Ben hatte die Einstellungsuntersuchung noch vor sich. Er sah dem Termin mit Unruhe entgegen. Würde der Arzt ihn nach der Musterung fragen? Er hatte nicht gedient, er hätte es in keinem Fall getan, und sie wollten ihn nicht einmal. Ausgemustert, ein hässliches Wort. Man mustert sonst Verschlissenes, Unbrauchbares aus. Es ist für den Kehricht bestimmt, nicht tauglich für irgendeinen vernünftigen Zweck. Und genau das war er: untauglich. Was an ihm störend und weshalb er für ihre Ziele nicht zu gebrauchen war, das umschrieben sie mit nur einem Wort: Leistungsfunktionsstörung. Sonderbares Wort.

     Er hatte davon gelesen. Und wie einfach es dann zu erreichen war … Er gab es ihnen auf dem Kreiswehrersatzamt in Mannheim schon zu Beginn schriftlich, als er den Fragebogen vor der Untersuchung ausfüllte. Der Stabsarzt reagierte frostig. Er halte es für eine Schutzbehauptung, man werde ihm das Gegenteil nachweisen. Und dem Staat könne er dann auch sonst nicht dienen. Er ließ einen Sekretär beim Gerichtspsychiater anrufen: Wir haben da wieder einen … Wozu muss ein Psychiater eine Urinprobe nehmen? Für die Hormonforschung? Es verlief im Übrigen harmlos und war schnell vorbei. Und dann hatte er den Bescheid: Dauernd ausgemustert. Hieß einmal die Wahrheit sagen, immer die Wahrheit sagen müssen?

     „Hat er sich für andere Krankheiten interessiert?“ fragte er Ulf am Mittag.

     „Ich hab ja keine. Ich hab nur unterschreiben müssen, dass er überall Auskunft bekommen kann.“

     Ben schmorte den Nachmittag über in der Hitze und vor Angst. Und dazu die Sehnsucht.

     Bei Dienstschluss fragte er Ulf: „Und was machst du morgen am Vatertag?“

     Ulf konnte noch nichts planen. Seine Eltern wollten sich wieder einmal von ihm irgendwohin fahren lassen. Sie missbrauchten ihn jetzt immer öfter als Chauffeur. Und nun hatte er nicht einmal am Vatertag frei.

     „Wenn es irgendwie geht, dann komm morgen Nachmittag noch zu mir. Ich fühl mich ziemlich mies …“

     „Was ist denn mit dir? Verträgst du das Wetter nicht?“

     „Ja, das auch nicht … Ich glaub, ich hab so was wie Existenzangst. Komisch, nicht?“

     Ulf hakte nicht nach. Er sagte, er werde versuchen zu kommen.

      Ben ging einkaufen. Bier, Chips, Erdnüsse.

      Nachts regnete es und kühlte etwas ab. Ben beruhigte sich am Morgen mit seiner gewöhnlichen Formel: Es wird schon irgendwie klappen.

     Ulf kam mitten am Nachmittag. Er hatte es eilig und war die Treppen hinaufgelaufen. Er keuchte etwas. „Kann nicht lange bleiben, nur eine Viertelstunde. Dann muss ich sie wieder abholen. Nein, kein Bier … Also? Was ist los? Weshalb bist du so in Panik?“

      Ben sagte ihm fast alles. Dass er im Jahr davor gemustert und für untauglich erklärt worden war. Ulf sah ihn überrascht an: „Kaum zu glauben, wenn man dich anschaut ...“

     „Doch“, sagte Ben, „und zwar aus einem heiklen Grund. Er könnte mich auch hier die Anstellung kosten. Und ich will ihn nicht preisgeben, wenn sie nach der Musterung fragen.“

     „Sie fragen nicht danach. Sei ganz ruhig.“ Und er wollte den Grund auch nicht wissen. Schade, dachte Ben, er macht es uns zu einfach. Ihm auch das noch sagen zu können, und dann legt er den Arm um mich, wie schön wäre das … Dann würde er nicht mehr schwindeln müssen, wie damals beim Psychiater. Der Arzt hatte nämlich wissen wollen: Verkehren Sie mit wechselnden Partnern oder haben Sie einen festen Freund? Ben hatte mangels jeder Erfahrung die freie Wahl beim Lügen gehabt und geantwortet: Immer mit demselben. Zum Glück hatte er dann keine Details erfinden müssen.

     Ulf war erst zum zweiten Mal in Bens Zimmer. Das Bett war inzwischen doch wichtig geworden. Er müsste der Erste sein, dachte Ben, unbedingt er, wenn es überhaupt im Leben mit rechten Dingen zugehen sollte.

     „Niemand will deinen Wehrpass sehen“, sagte Ulf. „Die sind froh, wenn du nicht fort musst. Alles andere interessiert die nicht, egal, wie du es gemacht hast.“ Er schilderte ihm den Ablauf der Untersuchung – Blutentnahme, EKG, Abhorchen – mit einer Stimme, die Ben an ihm noch nicht kannte. Sie war dunkel, zärtlich, tröstend – so lockt man einen Kater aus seinem Versteck. Aber er kam nicht weiter hervor. Sie waren beide auf der Hut.

     „Ich muss schon wieder weg, tut mir Leid. Wir sehen uns dann morgen beim Betriebsausflug.“

     „Dank dir, dass du gekommen bist. Geht mir schon wieder besser.“

     Das Bier und die Snacks wollte er dann nicht für eine andere Gelegenheit aufheben. Er lud Sammy ein, der unten auf der Terrasse in einem Buch las. Sammy kam sofort zu ihm auf sein Zimmer. Er lachte Ben an und behandelte ihn wie den Bruder, zu dem man ganz offen sein kann. Erzählte von der Missionsschule und davon, wie man den guten Christen mimt. Alles an ihm war graziös, selbst sein Zynismus. So offen zu sein, beneidenswert.

      „Dann hab ich hier ein Zimmer im Jungmännerwohnheim gehabt. Du weißt Bescheid?“

      „Nein.“ Ben war ahnungslos.

      „Das war nicht so gut, weißt du. Da gibt es welche, die wollen sich an dich heranmachen. Und das geht bei mir nicht, mach ich nicht mit.“ Er lächelte jetzt nicht mehr, er machte ein Gesicht wie ein Schwertkämpfer vor dem entscheidenden Streich. Mit genau diesem Gesicht hat er sich verteidigt, das ist klar, dachte Ben. Verteidigt was? Das Grazile, das er aufsparen will. Aber bei mir hat er nichts zu befürchten. Fürs Bett ist er mir zu zierlich.

 

 

Jeden Tag und beinahe jede Stunde hatte die Stiegler sie auf den Betriebsausflug einzustimmen versucht. Als ob Gefahr bestanden hätte, dass sie wegblieben. Daran war natürlich nicht zu denken gewesen.

     „Und es wird getanzt werden, ihr jungen Herren. Wunderbar wird das werden … Freut euch doch!“

     Sie machten beide ein saures Gesicht. Was das Tanzen anging, sagte Ulf sogar: „Bin daran desinteressiert“.

     Frau Stiegler fehlte dann bei der Abfahrt der Busse. Sie hatte gar nicht vorgehabt mitzukommen, erfuhren sie von Frau Schiller. Bens Platz war natürlich neben Ulf. Herr Adelmann schob sich schwer atmend durch den Mittelgang, um alle zu begrüßen.

     Unter Mundharmonikaspiel ging es durch weite Fabrikviertel hinaus aus der Stadt. Die älteren Bürodamen sangen dazu Volkslieder aus ihrer Schulzeit. Ihre ungeübten Altstimmen hörten sich wehmütig an. Die älteren Kollegen begannen sich Herrenwitze zu erzählen. Sie dämpften ihre Stimmen nicht, nur bei den Pointen kaschierten sie die anstößigen Stellen, indem sie kurz sehr laut auflachten. Dazu machte Ulf zu Bens großer Freude wiederholt ein angewidertes Gesicht.

     „Ich hab gerade beschlossen, heute den Kanal voll laufen zu lassen“, sagte Ulf. „Aber du sei vorsichtig.“

     „Bin ich doch immer.“

     Da es im Bus nichts zu trinken gab, fingen sie ein ernsthaftes Gespräch an. Sie mussten auch einmal über Politik und ihre Weltanschauung reden. Wie schön, dass sie beide neuerdings liberal dachten. Diese Sympathien für den Sozialismus waren doch schon etwas überholt. Sie würden sich also nicht über Politik streiten. Ben erklärte Ulf, was ein Agnostiker ist, und Ulf sagte, dass sei immer schon auch seine Meinung gewesen.

     Der Bus hielt in einer kleinen Stadt. Alle stiegen für eine halbe Stunde aus, um sich Bewegung zu verschaffen. Die jungen Männer stürmten die Fußgängerzone hinunter. Einige wussten, dass es unten am Fluss eine Trinkhalle gab. Also anstehen, Bier kaufen und schnell austrinken, bevor es weitergeht.

     Ben hatte nach seiner Gewohnheit nur wenig gefrühstückt und jetzt wie die anderen eine Halbe getrunken. Auf der Weiterfahrt fühlte er sich leicht angesäuselt. Er schnitt im Gespräch mit Ulf weitere ernste Themen an, die Weltgeschichte, das Universum. Und dann die Sache mit der Rotverschiebung, war das nicht ungeheuerlich? Alles entfernte sich mit ständig zunehmender Geschwindigkeit voneinander. Ulf sah ihn ruhig und zufrieden an. Der Krakeel rundherum störte sie jetzt viel weniger. Kommt ein Viehjud in die Stadt, fing einer schräg hinter ihnen an, und die Männer über vierzig lachten schon lauthals. Die Mundharmonika versuchte es mit Auf der schwäbschen Eisenbahne, und einige von den reiferen Damen fielen unsicher ein.

     Sie kamen etwas verspätet zu ihrem Mittagessen in einer Miniaturschwarzwaldlandschaft an. Das Programm für diesen Tag war, wie sich allmählich zeigte, mit Attraktionen überfrachtet. Der Abstecher in die andere genauso reizvolle Gegend wurde nach dem Kaffeetrinken kurzerhand gestrichen.

     Die Busse nahmen den Rückweg über die Autobahn und luden sie alle am Rand der Großstadt wieder aus. Die Festsäle dicht bei der Straßenbahnendstation erwarteten sie schon, grell erleuchtet und etwas sparsam ausgeschmückt. Nur einer von ihnen war für sie reserviert, am Tag nach Himmelfahrt wollten auch andere feiern.

     Ulf sorgte dafür, dass sie mitten unter den jungen Leuten saßen. Auch Frau Schiller fand Platz an diesem Tisch der Jugend. Ben sah sich erst um und kam dann bald mit Jungen und Mädchen ins Gespräch, an denen er bisher im Amt nur vorübergegangen war. Jungen und Mädchen? Ja, das waren sie jetzt viel eher für ihn als junge Männer und Frauen. War es nicht wie früher in der Sonne oder im Hirsch, nur dass er jetzt mitredete, mittrank und sogar mitrauchte?

     „Anders herum!“ rief jemand und meinte damit bloß, er solle seine erste Zigarette umdrehen und statt am brennenden Ende lieber am Mundstück ziehen. Tatsächlich hatte er sich schon über den Geschmack nach Asche und Kohle gewundert. Sie lachten, es klang gutmütig, sie lachten ihn nicht aus. Später rauchte er noch eine Zigarette.

     Es gab da einen schmalen Rotblonden, so still und fein, dass er ihn immer wieder ansehen musste. Das Gespräch mit ihm beschränkte sich darauf, dass sie sich ihre Vornamen nannten. Seiner lautete Olaf. Neben ihm saß ein naiver Frechdachs, er hieß Alex und wollte unbedingt in der kommenden Woche mit Ben mittags essen gehen. Zutraulich wie ein junger Hund - am Ende wird er noch den Kopf an Bens Knie reiben.

     Die Lange aus der Schalterhalle, wie sie von den jungen Leuten des Amtes genannt wurde, überragte alle um ein bis zwei Köpfe, nur Ulf nicht, mit dem sie an diesem Abend noch kaum ein Wort sprach. Sie hätte auch als die Hübsche bezeichnet werden können, sie war in der Tat die reizvollste unter den jungen Frauen. Sie hatte etwas von einem großen, hübschen, schlanken Jungen und war zur gleichen Zeit bereits perfekte junge Dame. Sie hatte ja im Amt Kontakt mit dem Publikum und wusste, wie man gut auftritt. Ben unterhielt sich gern mit ihr, ohne nachher noch zu wissen worüber eigentlich. 

     Das Tanzen blieb ihnen nicht ganz erspart. Ben und Ulf wurden jeder einmal von etwas älteren Bürokolleginnen aufgefordert. Beim Wiener Walzer bewegten sie sich auf dem schmalen Grat zwischen schlecht und gar nicht tanzen können. Sie hatten sich nicht verweigert, das musste man ihnen zugute halten.

     Ben sah, wie Frau Schiller zu einem weiter entfernten Tisch hinüberwinkte. Dort saß Herr Adelmann und hielt seine kleinen Vorträge, wie sonst auch. Frau Schiller sagte und jeder am Tisch der Jugend konnte es hören: „Der Mann ist krank, sehr krank.“

     Viel wichtiger als das Tanzen war das Trinken. Es geschah nebenbei und wie von selbst, so wie man beim Reden eben auch atmet. Ohne Vorwarnung wurde es Ben auf einmal speiübel. Er rannte zu den Toiletten. Nur noch dort drinnen ankommen, bevor es losgeht. Ulf kam schnell hinterher, er war schon in seiner Nähe. Ulf hielt draußen Wache, während Ben in der Kabine würgte und kotzte.

     Sie kehrten zu ihrem Tisch zurück. Die Unterhaltung war noch in vollem Gang. Ben fühlte sich erleichtert, er trank allerdings von da an nichts mehr. Eine halbe Stunde später meldete sich die Übelkeit plötzlich zurück. Die vorherige Szene wiederholte sich, und Ben übergab sich mit noch mehr Getöse, wie in einem Krampf. Er dauerte länger, mit Eruptionen, denen täuschende Stille oder leises Stöhnen folgte, bevor es wieder losging.

     Ulf hörte alles vor der Tür mit an und rief ab und zu in die Toilette hinein: „Ben, hörst du mich? Geht es noch? Wird es schon besser?“ Seine Stimme klang gerade so einfühlsam und tröstlich wie am Tag davor auf Bens Zimmer.

     Ben wankte aus der Kabine, erschöpft zitternd und doch schon getröstet. Ulf stützte ihn beim Gehen. Als sie bei den anderen ankamen, fanden einige, es sei jetzt die richtige Zeit heimzufahren. Alle standen auf und gingen langsam zur Bahn. Ben und Ulf kamen als Letzte dort an und saßen ohne die anderen in einem Wagen für sich. Auf der langen Strecke ins Zentrum ging es Ben wieder zunehmend schlechter. Um nicht auch in der Bahn kotzen zu müssen, verhielt er sich meist still und saß leicht gekrümmt da. Einmal weinte er sogar, vor Übelkeit und vor Wut und weil es auf seine Weise doch auch schön war.

      „Lass doch, das geht wieder vorbei“, sagte Ulf, im gleichen Ton wie vorhin.

      „Herrgott, ich lebe so gern …“

      „Recht so, das tun doch alle.“

      „Aber ich kann es nicht richtig.“

      „Unsinn, red am besten gar nichts.“

     In der Stadtmitte setzte ihn Ulf in die andere Bahn und kam selbst mit hinauf. Ben fand immer mehr Geschmack an der Situation. Er sagte wiederholt: „Du bist ein verdammt feiner Kerl, Ulf.“

     Die Villa stand vollkommen dunkel da oben in ihrem Garten. Alle anderen Bewohner waren verreist. Ulf sah hinauf und sagte: „Kommst du jetzt auch allein zurecht? Wenn ich die letzte Vierzehn erwischen will, muss ich gleich wieder hinunter.“ Er wollte zur Haltestelle zurück.

     „Ja, wird schon gehen …“ Ben stand auf der stark abschüssigen Straße unter ihm. Er müsste noch irgendetwas aus dieser Lage machen können. So versuchte er, Ulfs Wange zu streicheln, und erreichte mit der Hand doch nur seine Halspartie. Ulf sah lächelnd zu ihm herunter. Es war auch ein verlegenes Lächeln, gewiss. Aber das war es nicht allein, was lag sonst noch darin: immer noch Sympathie oder auch schon Trauer?

     Ben lag zwei Tage allein in der Villa und erbrach sich alle ein bis zwei Stunden. Am Schluss kam nur noch Galle.

 

 

Heute die Untersuchung beim Personalarzt glücklich überstanden. Alles verlief glimpflich. Der Komplex Bundeswehr und Musterung wurde überhaupt nicht angesprochen. Und sie haben auch sonst nichts Auffälliges gefunden. Mit mir ist alles in bester Ordnung. Nur dass ich jetzt so leicht nervös werde … Aber das weiß außer mir und Ulf keiner. Auch für ihn ist dieser Punkt erledigt, das hat er ausdrücklich festgestellt. Und meine Annäherungsversuche am Freitagabend haben offenbar auch nicht geschadet. Ulf gibt sich unverändert. Allerdings hat er heute doch einmal etwas an mir auszusetzen gehabt. Ich soll nicht so oft zur Antwort geben: „Das glaube ich nicht!“, wenn er etwas sagt. Wirklich nur eine dumme Angewohnheit, diese Redensart, ich muss sie mir abgewöhnen, ich habe es versprochen.

     Nur dass es Ben nicht so leicht fiel. Am Tag darauf hatte Ulf für die kommenden Tage gutes Wetter vorausgesagt, als Ben erneut seinen Lieblingssatz anbrachte.

     Ulf monierte es sogleich und geriet immer mehr in Zorn. Seine Erregung stand in keinem Verhältnis zu ihrem Anlass. „Das glaube ich nicht! Das glaube ich nicht! Schon wieder … Merkst du nicht, wie mich das nervt? Es gibt besseres Wetter  - er glaubt es nicht. Es gibt schlechteres - er glaubt es nicht. Es bleibt, wie es ist – er glaubt es wahrscheinlich auch nicht. Wenn ich dir sage, Herr Adelmann ist bald wieder gesund, kommt dann auch wieder dieser Spruch?“

      „Damit hast du hoffentlich Recht … Und das andere tut mir leid“, sagte Ben leiser. „Es ist nur so dahergesagt, es hat gar nichts zu bedeuten. Aber du wirst es nicht mehr von mir hören.“

     Das Thema war damit erledigt, die Verstimmung zwischen ihnen klang nicht so rasch ab. Herr Adelmann war tatsächlich seit zwei Tagen krank. Frau Schiller konnte die Lücke nicht ganz ausfüllen, die Arbeit kam hier und da ins Stocken, und dann fühlten sich alle überfordert, Ulf am meisten. Der Alte wird doch bald wiederkommen? Sie wünschten es ihm und sich selbst auch. Keiner wusste Näheres über seine Erkrankung oder er behielt es für sich.

     In der Mittagspause unterhielt sich Ulf fast nur mit Andreas. Ben war anzusehen, dass er darunter litt. Ulf akzeptierte seine Zerknirschung. Am Nachmittag lächelte er ihm wieder zu. Dann witzelten sie beide und fühlten sich bald so wohl und so sicher, wie es in den Wochen davor für sie normal gewesen war.

      „Wenn du noch daran interessiert bist“, sagte Ben, „könnten wir vielleicht wirklich einmal zu meinen Eltern fahren.“

     „Ja, gute Idee von dir. Vielleicht im Juni, wenn der Dienstag frei ist. Das wären dann vier volle Tage.“

     „Übrigens war es deine Idee.“

     „Musst du immer alles so genau nehmen … Du Querkopf, Quertreiber!“ Ulf sah aus, als ob er den Querkopf gern einmal gequetscht hätte. Ben fühlte es schon. Auch das war Glück.

 

 

Ben hatte am nächsten Vormittag einmal in einer anderen Abteilung zu tun. Dabei lief ihm Alex über den Weg und erinnerte ihn daran, dass sie miteinander essen gehen wollten. Ben sagte, heute passe es ihm. Ulf musste mittags zum ersten Mal mit Andreas allein zur Kantine gehen. Als er davon hörte, war ihm nichts anmerken.

     Ben traf Alex um halb eins am Ausgang des Amtes. Er hatte Olaf und zwei Mädels mitgebracht. Keiner von den anderen war älter als siebzehn. Sie nahmen Ben in die Mitte, er hatte die Girls auf seiner rechten Seite, die Boys auf der linken. Das ging schon wie von selbst: die angehenden jungen Männer am Straßenrand, die jungen Damen rechts von ihnen. Alle gingen in einer Reihe und zwangen so Entgegenkommende, auf den Fahrdamm auszuweichen. Die Mädels schnatterten ununterbrochen, sie gingen den Verlauf des Vormittags unter sich noch einmal in allen Einzelheiten durch. Wer hat wann was gesagt? Und was hat man ihm oder ihr darauf entgegengehalten? Und dann hat sie … Und da hab ich ihr … Wie findest du das? Unverschämt, würde ich sagen … Was der sich einbildet … Es waren zwei Monologe, die da gehalten wurden, geschickt als Dialog getarnt.

     Alex ging so dicht neben ihm, dass sie sich immer wieder an den Ellenbogen berührten. Der Jüngere genoss Bens Begleitung wie eine Auszeichnung, die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben. Obwohl sie gleich groß waren, sah er oft schräg von unten zu ihm herauf. Dazu musste er den Kopf schief halten. Alex wollte wissen, wie sie untereinander und mit den Vorgesetzten auskämen. Er sprach schnell und verschluckte viel. Ben fand ihn zur gleichen Zeit unfertig und zutraulich. Wenn er einem munteren und treuherzigen jungen Hund glich, welcher Rasse dann? Gar keiner, er war eine vitale Promenadenmischung. Und Schläge hat er, wie es scheint, auch schon geschmeckt. Da war unter seiner  Munterkeit etwas Gedrücktes zu spüren. Sein Körper zeigte kräftige, etwas abgerundete Formen. Ben stellte sich vor, Alex würde sich auf einmal wirklich in einen Hund verwandeln. Dann würde er vermutlich bald an ihm hochspringen, ihm die Pfoten auf die Schultern legen und ihn im Gesicht ablecken.

     Olaf schwieg fast die ganze Mittagspause über. Er bewies mit seiner Schüchternheit, dass nicht alle Rothaarigen zwangsläufig lebhaft sein müssen. Er war sehr hübsch. Und er schien sich vor Ben in Acht nehmen zu wollen. Ben dachte: Da er schon rötlich ist, könnte er sich kaum noch weiter verfärben, gesetzt den Fall, mich überkäme die Lust, ihm näher kommen zu wollen. Und davon war Ben jetzt nicht weit entfernt. Aber Olaf blieb auf seine stille Art trotzig. Nur wenn ihn die anderen einmal ins Gespräch zogen, hellte sich sein Blick auf. Er war wie eine Blüte, die sich nur bei Berührung öffnet – aber nicht durch seine. Schade, wirklich schade.

     Während alle fünf in der Kantine anstanden und auch während sie aßen und dann noch eine Weile am Tisch zubrachten, änderte sich an ihrem Verhältnis zueinander nicht mehr viel. Seine endgültige Form war schon gefunden. Erstaunlich, wie schnell so junge Menschen dahin gelangen können. Für Ben kam nur Alex in Frage, und Alex war ihm zu jung und außerdem vermutlich ein problematischer Fall, wie er selbst.  

     Ulf kam zu ihrem Tisch herüber. Er sei mit Essen fertig und wolle schon wieder zurück ins Amt. Andreas habe etwas zu erledigen. Er selbst würde drüben noch eine Weile im Pausenraum sitzen und etwas trinken. Ben verstand: Er sollte nachkommen. Aber die anderen hatten es nicht eilig, und als er endlich ins Amt zurückkam, war Ulf schon an der Arbeit. Ben fing auch wieder damit an. Der Nachmittag verlief wie sonst auch. Zwischen ihnen war offenbar alles unverändert. Ben kam zu dem Schluss, vermutlich sei er selbst also doch monogam, so wie er es dem Psychiater damals schon erklärt hatte.

 

 

Ulf kam weiterhin mit der Straßenbahn zur Arbeit. In der Nähe des Amtes war kein Parkplatz zu bekommen. Ben ging wie bisher nach Feierabend mit ihm zur Haltestelle. Und gelegentlich bogen sie unterwegs ab und schlugen den Weg zum Hofbräukeller ein. Am Tag nach seinem Essen mit Alex wollten sie beide wieder dorthin, als plötzlich die Lange aus der Schalterhalle von irgendwo herangeweht erschien und neben ihnen herging. Sie begrüßte sie beide und begann dann ein Gespräch nur mit Ulf allein.  

     Es war einer der Fälle, in denen Blitz und Donner fast in eins fallen, die überhelle Erleuchtung und der krachende Einschlag gleich neben einem. Mein Gott, sie reden ja schon recht vertraut miteinander … Wo hat er sie bloß näher kennen gelernt? Es kann nicht auf dem Betriebsausflug gewesen sein, Ben hätte es mitbekommen. Vielleicht gestern Mittag im Pausenraum?

     Sie wollten noch in den Hofbräukeller, sagte Ulf, und lud sie zu Bens Erleichterung nicht ein, mit dorthin zu kommen. Im Bierkeller waren sie also noch vor ihr sicher. Umso entsetzter war er, als Ulf ihr dann vorschlug, demnächst einmal mit ihm einen Ausflug in seinem Wagen zu unternehmen. Sie zeigte sich gleich interessiert, und sie begannen schon, einen geeigneten Zeitpunkt dafür herauszufinden. Ulf schlug das Wochenende nach Pfingsten vor. Es war der Termin, an dem Ben selbst Besuch erwartete, seinen alten Freund aus Mannheim, und gerade darüber war Ulf am Vormittag von Ben ins Bild gesetzt worden.

     Das Weibchen – denn das war sie nun für Ben, so nannte er die Lange jetzt bei sich – das Weibchen ging hinüber zur Haltestelle und sie beide weiter zum Hofbräukeller. Ben fing sich schnell. Nur keine Bestürzung verraten, besser sich jetzt verstellen. Und Ulf zeigte selbst auch keine Regung. Er sah aus wie sonst auch, er sprach normal weiter über irgendetwas, das Ben nun nicht mehr interessierte. Die Lange war kein Thema, sie verloren beide kein Wort über sie. Die ideale Welt müsste so aussehen, dachte Ben, dass man in ihr vor solchen Überraschungen sicher wäre.

     Ulf kam auf ihren gemeinsamen Reiseplan zurück. Er hoffe sehr, dass er sich verwirklichen lasse. Nur müssten sie den Montag unbedingt frei bekommen. Und wie er es einschätze, so werde es wohl auch klappen. Ben murmelte: „Ich glaube es auch.“

     Bevor sie austranken, sagte Ben scheinbar nebenbei: „Übrigens, ich hab neulich über das andere nachgedacht, ob ich mal wieder umziehen soll … Ja, ich kann es mir vorstellen, ich meine, falls das Zimmer bei deiner Tante mal wieder frei wird.“

     Dieser Fall war noch nicht abzusehen, aber er konnte unerwartet schnell eintreten. Ulf sagte mit seiner biedersten Stimme: „Du wirst es sofort von mir erfahren, wirklich als Erster.“

 

 

Dann kamen zwei, drei kritische Wochen. Ulf und Ben stritten sich täglich, bei der Arbeit, in den Pausen. Kleine Meinungsverschiedenheiten eskalierten in Sekunden zu heftigen Debatten. Immer schien es für sie um alles oder nichts zu gehen. Sie stritten sich wie ein altes Liebespaar, bei dem sich bald herausstellen muss, ob es zusammenbleiben oder auseinandergehen wird.

     Der Ablauf war jeden Tag derselbe, er war vorhersehbar wie das Wetter in den Tropen. Man musste nur wissen, in welcher Jahreszeit man sich befand. Ihre war jetzt der Monsun. Der Arbeitstag begann schon etwas diesig, keine Rede mehr von Morgenfrische. Tatsächlich wurde es in der Stadt von Woche zu Woche wärmer und feuchter. Und wenn sie morgens am Schreibtisch Platz nahmen, erinnerten sie sich an alles: den Zank vom Vortag, die Verletzungen, das Gebrüll, das beleidigte Schweigen – und an die unvermeidlich folgende Versöhnung. Sie sprachen sich hinterher nicht aus, sie neckten sich einfach wieder und waren dann so glücklich, wie sie es in den ruhigeren Zeiten nie gewesen waren.

     Jeden Vormittag ging Ben mit Ulf und Andreas frühstücken, und im Pausenraum trafen sie S. und W., es war nicht zu umgehen. Lieber einen ganzen Tag lang Koloraturen anhören als fünfzehn Minuten W.’s Witze! Diese Vermischung von Sexual- und Fäkalsphäre, angereichert mit Fremdenhass, Lob der Besäufnis und Lust an der eigenen Erniedrigung … Die anderen hatte alle gedient und jeder schien mehr als einmal vor einem Schleifer im Dreck gelegen zu haben und von ihm übel schikaniert worden zu sein – und sie waren auch noch stolz darauf! Ich will ja gar kein Mensch sein, hätte Ben gern zitiert, aber W. hätte ihm daraufhin nur zugeprostet: Auf dass die edle Jauche Wellen schlage in dem Bauche!

     Ulf hörte nicht mehr nur hingerissen zu, er gab neuerdings selbst dies und das zum Besten. Der Beifall der Mehrheit war ihm sicher. Nur Ben schnitt eine angewiderte Grimasse, besser noch, wenn sie höhnisch herauskam. Er fürchtete immer, dass er auch Schwulenwitze mitanhören müsste, aber es war sonderbar, dieses Genre schien keiner zu kennen.

     Herr Adelmann war wieder im Dienst. Die Arbeit ging ihnen flinker als je von der Hand. So hatten sie oft etwas Zeit und Konzentration für Nebengespräche übrig. Ben sagte nie mehr: „Das glaube ich nicht.“ Er stellte jetzt Fragen, wenn Ulf etwas behauptet hatte, er hakte nach, wollte alles noch genauer erfahren. Alle Einzelheiten kennen und sich erst dann eine Meinung bilden. Er wollte kritisch überprüfen. Mit dieser Methode brachte er Ulf jedes Mal, wenn er sie anwandte, in kürzester Frist erst zur Weißglut, dann zur Explosion.

     Ulf hatte also wieder mit dem Rudertraining angefangen, gut so. Und wie viele machten noch mit? Wie alt waren sie im Durchschnitt? Aus welchen Berufen kamen sie? Und wer von ihnen - - - Ulf herrschte ihn an: „Was fragst du so viel? Du kommst ja doch nicht mit. Also was soll’s?!“

     Er ruderte wieder, wie er sagte, um nicht noch weiter zuzunehmen. Seit er den Bund verlassen hatte, war sein Gewicht langsam, doch stetig nach oben gegangen. Um wie viele Kilo? Und was hatte er vor der Dienstzeit gewogen? Ulf winkte nur ab: „Weiß nicht mehr genau. Und wozu willst du das so genau wissen? Kannst du nicht einmal etwas hinnehmen?“

     Ben konnte es nicht oder nicht mehr, einfach etwas hinnehmen. Wie alt war ihr Kanarienvogel zu Hause? Hatten sie früher schon einen gehabt? Was stellten die beiden Alpengemälde im Wohnzimmer dar? Ulf sagte verärgert, er könne von nichts mehr anfangen, ohne dass Ben gleich eine Geschichte daraus mache. Ben sagte schon lauter, das sei wohl sein Recht, er sei eben keiner, der sich so leicht abspeisen lasse. Ulf schrie: „Willst du wissen, was du für einer bist? Du bist nicht ganz dicht!“ Oder sonst etwas in der Art. So steigerten sie sich immer mehr in einen Krach hinein und wurden mit jeder Antwort lauter, heftiger, verletzender, bis wieder diese Stille eintrat, in der sie beide das Misstrauen und die Zwietracht geradezu hören konnten.

     Am Nachmittag warf Ulf plötzlich mit Papierkügelchen nach Ben. Oder er versteckte ihm den Filzstift und amüsierte sich, wenn Ben die Tischplatte absuchte. Er lachte ihn an. Immer war es Ulf, der auf diese Weise alles wieder ins Lot brachte. Dann waren sie ausgelassen, lachten über Frau Stiegler, deren Gehör schon nachließ und die nicht immer alles gleich verstand. Oder über Andreas, der oft so langsam reagierte, dass man auch ihn leicht für begriffsstutzig hätte halten können. Sie fühlten sich den anderen gemeinsam überlegen und gingen nach Dienstschluss wie früher zusammen zur Straßenbahn, als ob kein Streit gewesen wäre. Sie lächelten beglückt. Sie gaben sich die Hand. Ben legte dem Freund die Hand auf das Schulterblatt. Ulf sagte: „Aber morgen wieder im Hofbräukeller, ja?“

 

 

Über Pfingsten fuhr Ben nach Hause. Im Tagebuch erwähnte er es kaum. Er bekam Besuch aus Mannheim und hielt auch davon keine Einzelheiten fest. Dafür notierte er: Gestern kam es doch nicht zu dem Ausflug, den Ulf mit der Langen vorgehabt hatte. Ihre Beziehungen scheinen sich nicht zu entwickeln, glücklicherweise.

     Er kaufte sich eine Jacke aus dickem, glattem, braunem Nappaleder und genoss es, darin von Ulf bewundert zu werden. Wenn er sie trug, kam er sich sicherer vor, fast schon unangreifbar. Die Jacke würde ihn vor weiteren Verwundungen schützen, also konnte er in Zukunft auch viel gelassener reagieren. Doch leider gerieten sie nur zu bald wieder in Streit, und diesmal ergriff Andreas Partei für Ulf. Wieder einmal ging es um den Wehrdienst. Andreas maulte, Ulf und er hätten damit viel Zeit verloren und seien eigentlich zu spät ins Berufsleben gestartet, jedenfalls verglichen mit ihm.

      „Nicht meine Schuld, wenn ihr so blöd wart, diese achtzehn Monate zu vertrödeln.“

      „Na hör mal, schließlich geht es fast allen so.“

     „Weil sie sich immer nur anpassen …“

     „Du natürlich nicht! Und darauf auch noch stolz zu sein!“

     „Bin ich sogar. Auf Dummheit und Konformismus kann man es allerdings nicht …“

     „Ich halte auch nichts von der Bundeswehr“, sagte Ulf scharf, „aber ich …“

      „Hast dich doch in die Hammelherde einreihen lassen …“

     „Freundchen, jetzt reicht’s aber!“ – „Nun mal langsam, bleib mal auf dem Teppich, mal runter vom hohen Ross!“

     Und dann brüllten sie sich noch drei oder vier Minuten an und warfen sich Dinge an den Kopf, die sie unmöglich ernst meinen konnten. Frau Stiegler brachte sie zur Ruhe: „Scht, scht, wollt ihr wohl damit aufhören. Ihr könnt ja denken, was ihr wollt, ihr jungen Männer, aber tut euch deswegen doch nichts an. Ist es das wert?“

     Mittags ließen die beiden ihn im Regen stehen. Sie hatten alle drei miteinander verabredet, bei Hertie zu essen. Draußen im strömenden Regen machten Ulf und Andreas plötzlich kehrt, ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen. Er ging allein noch ein paar Meter weiter, ehe er sie vermisste und sich nach ihnen umsah. Er rannte ihnen nach ins Amt. Ben tobte, als er bei ihnen im Trockenen war. Das sei eine Sauerei, ihn so einfach allein weiterlaufen zu lassen, wie könnten sie nur so etwas mit ihm machen …

     Natürlich gab es dann bald wieder die übliche Versöhnung zwischen ihnen beiden. Keine Aussprache, nur Gesten, Blicke, Späße.

 

 

An einem der folgenden Tage ging Ben mittags allein mit Ulf essen. Es sah schon wieder nach Regen aus, Ulf beklagte sich wortreich darüber. Ben schwieg vorerst noch.

     Alle redeten sie dauernd über das Wetter. Es war das Lieblingsthema dieser Normalmenschen. Ben wollte jetzt nicht über das Wetter sprechen. So viel Wichtigeres war zwischen ihnen noch unangesprochen. Ungeduld, enttäuschte Erwartung, Verdruss, alles stieg wie eine heiße Welle in ihm auf, und er verlor wieder einmal die Kontrolle über das, was er in diesem Zustand so leicht hervorstieß: „Blödes Geschwätz!“

     Ulf blieb stehen, in Zehntelsekunden aus großer Friedfertigkeit heraus rasend gemacht: „Du“, schrie er, „hast du heut noch nicht geschissen – oder was?!“

     Ben hatte sich schon wieder in der Gewalt. Er entschuldigte sich sofort. Das Wetter sei auch daran schuld.

     Ulf ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihn wieder einmal ordentlich herunterzuputzen. „O nein, nicht so billig! Du hast dich da eben verraten, es ist dir mal wieder herausgerutscht … Wir sind dir nicht gut genug, wir alle nicht. Du … ich will dir was sagen: Du bist ganz anders als ich, das ist es. Du passt nämlich nicht zu uns, überhaupt nicht in unsere Welt hier. Und was mich direkt angeht: Denk nur nicht, dass ich mich dir aufdrängen will. Ich kann auch ganz gut allein zum Essen gehen.“

     „Nein, nein, ich geh ja gern mit dir …“

     „Nein, so auch wieder nicht, nein, so nicht.“ Er unterlegte also Bens Redewendung diesen Nebensinn, den der Freund gerade nicht gemeint hatte, gerade jetzt einmal nicht. Ben war viel zu erschrocken, um sich dagegen empören zu können: Ulf missverstand ihn in diesem Augenblick wie mit Absicht. Und dabei wand sich sein großer, kräftiger Körper, und sein Hals kam wieder so schief aus dem Kragen heraus wie damals, als er ihn auf dem Stadtturm geknipst hatte. Ben schwieg und kam sich selbst demütig vor. Oder sollte man es schuldbewusst nennen? Ulf war ja zu Recht in Rage geraten. Eigentlich fand er den Freund in seinem Zorn besonders anziehend, Ben wurde sich dessen zum ersten Mal bewusst. So gesehen war es fast schade, dass er sich rasch wieder beruhigte. Aber Ben wagte es nicht, ihn noch einmal zu reizen.

     Ulf sagte abschließend noch: „Ben, es wird dir nicht gelingen, mich zu ändern.“ Als ob der Freund das je gewünscht hätte.

     Ihr Nachmittag verlief dann besonders harmonisch, es konnte nicht anders sein. Und sie beschlossen, den Feierabend im Hofbräukeller zu begießen.

     „Ich muss aber vorher noch zur Post. Kommst du mit?“ fragte Ben. Er wollte zum ersten Mal in seinem Leben Geld überweisen. Er verdiente jetzt selbst und wollte gern etwas teilen. Eine Ahnung beschlich ihn: Ulf, so warmherzig er auch war, viel mehr als er selbst, Ulf würde so etwas nicht tun. Fraglich, ob es ihm auch nur gefallen könnte, dass ein anderer es tat. Und doch würde er ihn gern damit beeindrucken, wenn es nur möglich war. Auf jeden Fall musste die Zahlkarte erst einmal richtig ausgefüllt werden. Deshalb war es gut, dass der Freund in der Nähe war. Er fragte Ulf, auf welche Linien man was zu schreiben hatte.

     „An wen soll denn das Geld gehen?“

     Ben verdeckte seine Zettel. „Das geht dich doch nichts an!“

     Augenblicklich las er Ulf die nächste Sturmwarnung vom Gesicht ab. Der Freund war mehr als nur zornig, er hatte ihn  beleidigt.

     „Da, es ist für Brot für die Welt. Soll nach Afrika gehen. Dieser schreckliche Krieg da, weißt du …“ Er schob ihm die Papiere hinüber, und Ulf überzeugte sich. Der Sturm würde trotzdem kommen. Ben füllte rasch das Formular aus und zahlte den Betrag ein. Als sie hinausgingen, begann er sich zu entschuldigen. Sein Bedürfnis, sich klein zu machen, war jetzt sehr groß. Sich klein und schlecht zu machen - und er spürte darin auch etwas Köstliches: Könnte man es Restsüße nennen? Ulf war nicht so leicht zu versöhnen. Er antwortete nicht.

     Sie gingen schweigend in die Bierhalle hinüber. Als sie saßen, bat Ben: „Jetzt sag mir alles, was du an mir auszusetzen hast. Wenn es schlechte Angewohnheiten sind, will ich mich bessern. Wirklich, das will ich, glaub mir.“

     Und Ulf tobte diesmal dann doch nicht. Er legte ihm nur traurig dar, wie er selbst von Anfang an versucht habe, Bens Kamerad zu sein. Doch Ben habe sich, von seinen guten Tagen abgesehen, immer mehr hinter Misstrauen und Geheimnissen verschanzt. „Du wirst mir jetzt immer fremder …“ Ben sah ihn auf eine Weise an, dass er es gleich teilweise zurücknahm: „Nein, das war eben übertrieben, ganz so schlimm ist es zum Glück nicht.“

     Er hatte offenbar keine Lust, ihm schon wieder eine Strafpredigt zu halten, nicht zweimal an einem Tag. Er sagte nur noch: „Du hast da oft einen Ton an dir, weißt du, so rüde … Das ist sonst in meinen Kreisen nicht üblich.“ Was waren seine Kreise? Die Frage stellte sich sogleich für Ben, doch die Frage jetzt laut zu stellen, verbot sich natürlich für ihn.

     In China machte man früher in seiner Lage rasch Kotau. Schade, dass so etwas hierzulande nicht üblich war. Er gelobte sehr ernsthaft Besserung und sah so zerknirscht aus, dass Ulf bald Absolution erteilte. Er lächelte sogar schon wieder und richtete ihn auf, ohne viel zu reden, nur mit seinem Charme. Dieses Leuchten, dieser goldene Schimmer, das geht unwillkürlich von ihm aus, dachte Ben, es ist sein Normalzustand in der Ruhe, seiner, meiner nicht. Er fühlt sich von Natur aus wohl. Muss ich ihn deshalb lieben? Oder zur gleichen Zeit lieben und auch schon ein wenig  -  hassen?

      Tags darauf ging Ulf mit der Langen essen, ohne es Ben vorher zu sagen. Und als es am Freitag ins Wochenende ging, begleitete er sie, nicht Ben zur Straßenbahn. Entwickelten sich da doch noch Beziehungen? Ben formulierte für sich allein: Nun ja, pragmatisch sein, herausholen, was drin ist. Zwar werde ich bei solchen Überraschungen zuerst immer wütend, ich nehme mir sogar vor, bei der nächsten Gelegenheit alles auf eine Karte zu setzen und Ulf zu verführen. Aber es wäre kindisch, ich will nicht, dass nach ein paar Stunden alles vorbei ist. Also: sublimieren, sublimieren, sublimieren. Man muss nicht immer haben wollen. Jene Kreise stehen mir immer noch offen – wenn sie mir denn offenstehen. Nach dieser Woche erscheint es mir wieder ein wenig wahrscheinlicher, dass ich doch dorthin unterwegs bin.

 

 

Am Samstag war er wie die übrigen Untermieter zu Frau Juliankas sommerlichem Liederabend eingeladen. Da es regnete, musste er vom Garten ins Haus verlegt werden. Frau Julianka hatte bei der Einladung hinzugefügt: „Wenn meine anderen Gäste Sie darauf ansprechen, dann sagen Sie bitte nicht, dass Sie bei mir zur Untermiete wohnen. Sie sind einfach ein Gast von mir, wie alle anderen auch.“ Sie konnte sich offenbar nicht vorstellen, wie sehr ihr diese kleine Eitelkeit in seinen Augen schaden musste. Oder kam es auf seine Meinung von ihr nicht an?

     Die Bandbreite ihres Repertoires war erstaunlich. Zunächst das Übliche: Lieder von Mendelssohn und Brahms, dann etwas von Bartók, wobei sie anscheinend mühelos ins Ungarische wechselte, um sich kurz darauf bei einem Gospel im Nigger-Englisch als ebenso sattelfest zu erweisen. Ihr Programm nahm die Kurve vom Kultivierten zum Ekstatischen. Es begann im Salon und endete in der Kirche, und sie benötigte dafür nur eine knappe Stunde, in der sie das Tempo allmählich immer mehr steigerte. Man fand es bravourös, zwei Dutzend Gäste überschütteten sie mit Applaus. Sie zeigte sich gerührt, wenn nicht tief ergriffen. Dann gab es Erfrischungen.

     Ben ging zwischen den Gästen herum und wich Gesprächen mit Sammy, Herrn Möbius und auch dem Maler und seiner Frau nach Möglichkeit aus. Sie waren ja alle nur zufällig hier zusammengekommen. Er schnappte Konversationsbrocken auf: „Erstaunliche Heiterkeit der alten Dame … naive Religiosität … wahre Herzensbildung …“

     Als Frau Julianka ihn später einlud, mit ihr und einigen wenigen Gästen ein Abendbrot einzunehmen, lehnte er ab. Er habe noch zu tun. Seine Eltern würden ja morgen kommen und den ganzen Tag mit ihm verbringen.

      An diesem Sonntag regnete es einmal nicht.

      Schon um neun sah er vom Fenster aus seine Eltern den Garten heraufkommen. Zu Hause war also das Vieh früher als sonst versorgt worden. Wie langsam sie die Stufen nahmen, so lange Treppen kannten sie daheim nicht. Und sie brachten also die Großmutter heute nicht mit hierher … Der Vater sah sich verkniffen und zugleich befriedigt im Zimmer um, sicher erleichtert darüber, dass in diesen zwei Monaten hier alles unverändert geblieben war, und wenigstens für die Möbel traf das auch zu. Er trug diesmal seinen dunklen Anzug, ein seltener Anblick.

     „Und – gefällt es dir noch?“ fragte die Mutter, zweifelnd, besorgt, wie sie das immer war. Offenbar war sie gestern beim Friseur gewesen, das schon dünner werdende braune Haar frisch getönt und dauergewellt. Sie sah sich zum ersten Mal in diesem Zimmer um. Es gab so wenig zu betrachten, sie blickte ihm wieder ins Gesicht. Und dann kam er, ihr Lieblingssatz, er war unvermeidlich: „Und sonst – ist noch alles in Ordnung?“ Wie oft schon gehört, und er kannte die tiefere Bedeutung: Losgerissen bist du von der mütterlich nährenden Erde der Heimat, es kann nicht gut gehen. Ben fühlte den alten, vertrauten Hass in sich aufsteigen. Warum waren sie nur gekommen? Er ging mit ihnen zum Fenster, um die Aussicht zu erläutern. Sie blieben stumm.

     Sein Vater zwang sich zu Ironie und künstlicher Munterkeit: „Und -  wie sieht nun dein Festprogramm für diesen großen Tag aus?“

     Ben sagte, er brauche heute ungefähr zwei Stunden für sich, er habe Heimarbeit aus dem Amt mitgenommen. Er verschwieg, dass er sie ursprünglich erst nach ihrer Abfahrt hatte erledigen wollen. Der Blick seines Vaters wurde geringschätzig: Amt und Arbeit, sollte das heißen, dass ich nicht lache …

     Sie einigten sich darauf, dass die beiden schon einmal ohne ihn die Stadt besichtigen könnten. Dann würden sie ihn zum Mittagessen abholen. Sie mussten natürlich mit dem Auto fahren, er gab ihnen seinen Stadtplan mit. Als er allein war, empfand er das alte Schuldgefühl wieder, ein schlechter Sohn zu sein, einer, der seine Eltern fast nicht ertrug. War es - unnatürlich? Umso leichter fiel ihm die Arbeit.

     Sie waren wieder im Zimmer, hatten Frau Julianka im Garten getroffen. Seine Mutter sagte: „Eine ordentliche Frau.“ Das war weniger ein Lob als ein Vorschuss auf Vertrauen. Sein Vater schimpfte auf den patentgefalteten Stadtplan, es war ihm nicht gelungen, ihn nach Gebrauch zusammenzulegen. Ben brachte es in Ordnung. Auf der Fahrt ins Zentrum mäkelte die Mutter an den Tunneleinfahrten, den Stützmauern herum: So viel Beton, das gefalle ihr nun einmal nicht. Ben wurde heftig und wies sie zurecht: Die Stadt sei doch besonders grün, reich an Gärten und Parkanlagen.

     Er suchte etwas Billiges, wo er mit ihnen essen gehen konnte, ohne dass es viel kostete. Das Schnellrestaurant an der Hauptstraße war zum Glück heute geöffnet. Wie unsicher die beiden in allem waren: bei der Auswahl der Gerichte, bei der Wahl eines Tisches … Sie waren viele Jahre in keinem Restaurant mehr gewesen und führten ihm jetzt vor, was niedrige Abstammung ist. Er kam sich hässlich vor, hässlich in seinen Gedanken, in seinen Gefühlen.

     Danach gingen sie spazieren, die Fronten der Kaufhäuser entlang, durch den zentralen Park. Seine Mutter hatte für nichts Augen, sie machte stattdessen viele Vorschläge, wie er sich auf seinem Zimmer besser einrichten könne. Er sah, dass sein Vater inzwischen aufgetaut war. Der Alte beteiligte sich nicht am Gespräch, dafür beobachtete er die Passanten, die Fahrzeuge. Gewiss war sein Vater der Klügere von beiden. Ohne ihn zu lieben oder ihn auch nur ein wenig zu schätzen, fühlte er sich ihm manchmal sehr ähnlich. Er wollte nicht darüber nachdenken.

     Als sie wegfuhren, nahmen sie ihn ein Stück im Auto mit hinaus in die Wälder. Er ging erleichtert allein eine Stunde spazieren und nahm den Bus zurück in die Stadt.

 

 

Bens Reise mit Ulf zu den Eltern rückte nahe heran. Er nahm sich sehr zusammen, und es kam vor ihrer Abfahrt zu keinen weiteren Zusammenstößen. Ulf war immerzu ausgelassen, fröhlich wie ein kleines Kind über Weihnachten. Ihre Arbeit war jetzt so leicht geworden, sie unterbrachen sie häufig und neckten sich. Ben ging auf jede Albernheit dieses großen Kindskopfes ein, der sein Freund war.

     Leider konnten sie nicht schon am Freitagmittag abfahren, wie es eigentlich geplant war. Ulf musste am folgenden Morgen eine Tante mitnehmen – es war nicht diejenige, die ein Zimmer vermietete - und sie zu einer anderen Schwester seiner Mutter bringen. Wie viele Tanten und Schwestern gab es denn noch?  

     Es war ein Umweg von gut hundert Kilometern. Sie setzten die Tante an ihrem Ziel ab, es war in der Nähe von Mannheim, das Ulf noch nicht kannte. Ben zeigte ihm die Stadt, in der er selbst vor kurzem gescheitert war. Das waren schmerzliche Erinnerungen, er wurde rasch einsilbig. Ulf ging ruhig neben ihm her. Das Leben verlief hier unverändert, wie Ben sich überzeugte. Dieselben Kaufhäuser, die Menschenströme anzogen und wieder ins Freie entließen. Hausfrauen mit vollen Plastiktüten in beiden Händen, oft plärrende Kinder hinter sich. Klingelnde, schmutzig gelbe Straßenbahnen. Jeden Morgen hatte er in einer gesessen und aus ihr heraus die Passanten beobachtet. Da war oft einer von den Norwegern zu entdecken gewesen, die hier Volks- oder Betriebswirtschaft studierten. Er war knabenhaft schön und streng gewesen, wie Olaf. Ob er noch immer in der Stadt lebte?

     Er fühlte sich freier, als sie die Stadt und die Ebene hinter sich hatten und in die Schatten der Waldhügel hineinfuhren. Sie aßen in einem alten Forsthaus zu Mittag. Es lag still an einem Weiher, abseits der Straße. Jetzt waren sie beide ruhig.

     Spät am Nachmittag bogen sie von der Asphaltstraße in den schmalen Feldweg ein. „Fahr vorsichtig. Es gibt Schlaglöcher, richtig große Kuhlen voll Wasser und auch ganz bucklige Stellen.“

     Ulf fuhr sehr langsam weiter. „Ich hoffe nur, es kommt uns hier keiner entgegen.“ – „Kommt so gut wie nie vor.“ Ulf sah die hohen Robinien über ihnen zusammenwachsen, das Gestrüpp sich von den Wegrändern herandrängen. Ein Zweig streifte den Wagen, wurde mitgezogen und schlug dann zurück gegen die Lackierung. Ulf zuckte ein wenig zusammen.

     Dann fuhren sie hinaus auf die kleine Lichtung mit den Gärten und mitten darin das weiße Haus vor der grünen Kante. „Mensch, Benny, richtige Felsen!“ – „War früher ein Steinbruch, jetzt fast alles zugewachsen.“

     Ben sah das Gesicht seiner Großmutter, das sich im Dachgeschoss gegen das Giebelfenster drückte. Seine Mutter wartete nicht ab, dass sie klingelten. Als der Wagen auf dem holprigen Grasplatz hinter dem Haus zum Stillstand kam, erschien sie schon lächelnd in der Haustür. Wie auf Kommando, dachte Ben. Während sie auf das Haus zugingen, hörte man den Unimog herantuckern. Sein Vater hielt neben dem fremden Auto und sprang rasch ab, flink für sein Alter. Die Wagentür war im Sommer ausgehängt.

     Ben stellte den Freund in der Diele vor, wo sie eine Weile zusammenstanden. Er bekam nicht heraus, wie seine Eltern jetzt auf Ulf wirkten, und ebenso blieb es für ihn offen, welchen Eindruck er auf sie machte. Die Gesichter der Alten waren freundliche Masken. Ulf erschien gelassen, unbefangen, alles an ihm drückte gute Erziehung und wohlwollende Neutralität aus. Bens Eltern waren zeremoniös, noch mehr als sonst, wenn er selten einmal einen Freund mitgebracht hatte. Sie sagten, dass sie sich freuten, dass er sich als ihr Gast wohlfühlen möge. Dass sie hoffentlich gutes Wetter hätten. Und ob sie eine gute Fahrt hinter sich hätten – dies war schon die persönlichste ihrer Fragen. Der Vater musste gleich wieder an seine Arbeit. Die Mutter zeigte Ulf den vorbereiteten Schlafplatz auf der Couch im Wohnzimmer. Sie wollten jetzt keinen Kaffee trinken? Die Mutter zog sich in die Küche zurück, um einen Kuchen zu backen. Besser, wenn sie morgen noch einen mehr anzubieten hätte.

     Sie gingen hinauf, klopften an die Tür und betraten auf das Herein seines Großvaters das verräucherte Zimmer. Erblickten den Achtzigjährigen in der Haltung von Franklin Delano Roosevelt in seinem roten Plüschsessel inmitten der Qualmwolken, die in kurzen heftigen Stößen aus der Pfeife entlassen wurden. Ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, noch unter ihnen anwesend und doch schon fremd, auf seine Weise ein Unberührbarer. Er hatte gerade Zeitung gelesen. „Und jetzt fliegen sie bald zum Mond, verrückte Menschheit … Ja, ihr kommt also jetzt aus … von da unten, hab ich gehört. Bin nie da gewesen und sonst früher doch viel herumgekommen … Wien, Prag … Berlin, Paris … Und Dresden, ja, Dresden, dort war es am besten. Vor dem ersten Krieg, bis dieser verdammte Krieg kam …“ Gemeint war der Erste Weltkrieg, vor dem er jahrelang als Handwerksbursche durch halb Europa gezogen war. Mit Bens Vater, seinem Schwiegersohn, sprach er so gut wie nie, nur das Allernotwendigste, solange Ben sich erinnern konnte.

     Jetzt kam die Großmutter und glich mit ihrem Gefühlsüberschwang das bisherige Defizit an persönlicher Zuwendung seitens der anderen mehr als aus. Die kleine alte Frau stand vor seinem großen Freund, nahm dessen beide Hände in ihre. Sie wird sie ihm doch nicht küssen wollen ... Es zuckte in ihrem Gesicht, um diese Andeutung eines Damenschnurrbartes herum. Und dass so eine mürbe Altfrauenstimme noch solche Höhen erreichen kann. „Wie froh ich bin! Sie können sich bestimmt nicht vorstellen, wie dankbar ich dafür bin, dass Sie sich so um unseren Ben kümmern. Er hat uns so viel von Ihnen erzählt, ständig hat er Ihren Namen im Mund gehabt …“ – „Oma, also …“ Es war nicht so gewesen. – „Er ist jetzt sooo weit weg von uns. Sie müssen ja alle fort heutzutage, aber er ist sooo weit, wir können sooo wenig für ihn tun … Aber nun hat er Sie, nun ist es auch so gut. Wollt ihr zwei nicht Kaffee trinken, mit dem Opa und mir?“

     „Oma, wir wollen uns Bewegung machen, nach der langen Fahrt. Wir gehen gleich an die frische Luft.“ Das war auch nötig, in der dicken Nebelsuppe hier oben erstickte man beinahe. Als sie die Treppe hinuntergingen, grinsten sie sich an.

     Es gab noch eine Großmutter, sie lebte in der Nähe in einer Baracke und galt als nicht vorzeigbar. Ben vermied es, in die Nähe ihrer Behausung zu geraten, als er mit Ulf draußen umherstreifte. Er ging mit ihm auf die Höhe hinauf, von der man eine begrenzte Aussicht hatte. Für Weitblicke war ihr Hügelland zu stark gegliedert.

     Die Mutter deckte den Abendbrottisch nur für sie beide im Wohnzimmer. Sie selbst aß später mit dem Vater in der Küche. Ben und Ulf frühstückten tags darauf auch allein. Nur beim Mittagessen am Sonntag hatten sie die Gesellschaft der Eltern. Die Mutter fragte dabei wie üblich: „Kann man es essen?“, obwohl sie auch diesmal davon überzeugt war, es sei ihr wieder gelungen. Der Vater schwieg fast die ganze Mahlzeit über. Ben fand, es war wieder sein bedeutsames Schweigen, nur blieb die Bedeutung auch diesmal unklar.

     Wenn sie allein aßen, erschien die Mutter wie eine Dienerin im Zimmer. Sie erkundigte sich, ob sie dieses oder jenes essen wollten, was zum Trinken erwünscht sei, ob es genug und ob es recht gewesen sei. Sie stellte nie andere Fragen, hatte an seinem Gast, wie es schien, kein persönliches Interesse. Es war auch früher so gewesen, diesmal war es Ben peinlich. Und zumal er wusste, dass sie in Wahrheit sehr neugierig war. Sie fragte ihn nach solchen Besuchen genauestens nach Familie und bisherigem Werdegang aus. Warum also jetzt wieder dieses distanziert servile Verhalten, beinahe wie im Orient? Er begriff es erst bei diesem Besuch: Dahinter stand ihre Furcht, etwas Falsches zu sagen, sich und ihm mit einer unangebrachten Bemerkung zu schaden. Sie nahm ihre Rolle zu ernst, sie übertrieb es damit und verschwand vollkommen dahinter. Sie würde nie aus erster Hand etwas wirklich Wichtiges über seine Freunde erfahren.

     „Ihr habt hier kein Fernsehen“, stellte Ulf am ersten Abend nach dem Essen fest. – „Nein, nur meine Großeltern.“ Und ihr Gerät war so laut eingestellt, dass es zum ständigen Verdruss seiner Eltern auch unten in der Diele noch dröhnte.

     Sie gingen für eine Weile hinüber in Bens Zimmer. Sie sprachen über die nächsten Tage, welche Ausflüge sie von hier aus unternehmen könnten. Auf einmal stand der Freund auf und ging zum Bücherregal. Ben hatte die folgende Szene vorausgesehen, er hätte bei seinem letzten Besuch hier das gewisse Buch aus der Reihe entfernen können, er hatte es mit Absicht nicht getan. Und richtig, Ulf zog schon nach kurzem das Taschenbuch mit den schwarzen Großbuchstaben auf gelbem Rücken heraus und nahm es an sich: „Ah, HOMOSEXUALITÄT … Das ist interessant?“

     „Ja, aber teilweise schwer verständlich. Vielleicht solltest du dazu lieber etwas von Freud lesen. Da, lies die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie …“ Er drückte sie ihm schon in die Hand.

     „Nein, nein, nicht hier. Aber du kannst es mir am Dienstag mitgeben, ausleihen, meine ich.“

     Am Sonntagmorgen wollte Ben mit Ulf einen großen Rundgang unternehmen. Die Umgebung war reich an Tälern und Höhen.

     „Ach, Benny, können wir nicht zum Frühschoppen? Wir sind doch auf dem Dorf. Geht man da nicht sonntags zum Frühschoppen?“

     Ben grauste es vor den einheimischen Spießern, vor ihrem gemütlichen Dialekt. Er weigerte sich, mit Ulf in ein Dorfwirtshaus zu gehen. Sie könnten stattdessen zum Bergheim. Das war ein beinahe zweistündiger Gang, schweißtreibend für Ulf, für Ben reine Übungssache. Ulf bekam oben, wo außer ihnen nur ein mürrischer Pensionär saß, seinen Schoppen. Auch Ben trank wieder Bier. Die gute Laune kam nur allmählich zurück. 

     Er hatte ihn in diesen Tagen erstmals längere Zeit ganz für sich. Sie unternahmen weite Touren mit dem Auto. Sie stimmten im weiteren Verlauf fast immer überein. Der Übermut, dem sie sich in letzter Zeit überlassen hatten, war verschwunden. Im Umgang miteinander erschienen sie jetzt ruhig, zufrieden. Sie befanden sich gleichsam auf einer Art Hochebene, von der es nach diesen Tagen weiter hinauf oder wieder hinunter gehen würde. Und atmeten sie jetzt nicht sogar im gleichen Rhythmus? Ausatmen, einatmen, ausatmen. Das war vielleicht nur eine Täuschung. Sie fühlten sich wohl, sie sprachen es nur nicht aus. Das Bett war wieder unwichtig geworden.

     „Du hast mir euer Vieh nicht gezeigt“, sagte Ulf, „nur die Blumenfelder.“

     „Die Ställe liegen halt abseits, man kommt nicht gut zu Fuß dahin. Und mit deinem Auto auch nicht.“

     „Wahrscheinlich willst du sie mir nicht zeigen. Ist es nicht so?“

     „Ja, kann sein. Ach, lass sein.“ Er irritierte den Freund wieder einmal: auf einem Bauernhof sein und kein Vieh zu Gesicht bekommen.

     Sollte er ihn wirklich Freud lesen lassen? Ulf erschien ihm wie der Prototyp eines Nichtintellektuellen mit Abitur, und seine Reden waren sehr ergiebig, quasi freudianisch, ohne Freud zu kennen. Manches war so überdeutlich, dass es schon fast zum Lachen war. Kannte er ihn wirklich nicht? Dann stand ihm vielleicht ein Schock bevor.

     Ulf sprach von seinen Eltern in seltsam verzerrter Weise. Die Mutter war anscheinend eine ganz normale Mutter, zuständig fürs Praktische und für den Rückhalt, den ein junger Mann manchmal noch braucht. Aber den Vater setzte er herab, er kam oft schlecht weg in seinen Reden. Ein bisschen untüchtig, der Alte, hat nicht viel zu melden, geschieht ihm recht.

     Neuerdings war Sex doch ein Gesprächsthema für ihn. Sex und Prostitution waren fast identisch, wenn man ihm zuhörte, und Prostituierte waren für ihn dicke, alte Vetteln, nur geil aufs Geld. Sie waren, nahm man alles wörtlich, sehr abstoßend, auf eine derart erregende Weise abstoßend, dass sie schon wieder anziehend wurden. Er umkreiste dieses Thema immer wieder. Ben verstand ihn nicht. Fleisch an sich – was war daran so interessant?

     Einmal standen sie in einem Pissoir und schifften, und Ulf sagte gepresst: „Gleich kommt die Toilettenfrau mit der großen Schere und verlangt von uns Geld.“

     Dann gingen sie in einer kleinen Stadt durch einen Park und waren vom Herumlaufen müde. „Setzen wir uns mal auf die Bank da drüben?“ Es hatte kurz vorher geregnet, die Bank war noch nass, nur im Randbereich unter einer Baumkrone trocken geblieben. Ulf setzte sich genau dort als Erster hin. Ben wollte keinen nassen Hosenboden bekommen und ließ sich dicht an seiner Seite nieder. Ulf bat sofort: „Distance, monsieur.“ Das war absolut neu, dass er Französisch benutzte. Und wie kann er ihm jetzt überhaupt einen so plumpen Annäherungsversuch unterstellen, er muss doch die Pfützen gesehen haben, hat sich selbst wohlweislich ein trockenes Plätzchen gesucht. Ach, was soll’s, dachte Ben, so ist er nun einmal: sein Gleichgewicht von Verlangen und innerer Versagung. Oder fürchtet er nur den Eindruck, den es auf andere machen kann?

     Am letzten Morgen berichtete er Ben von einem Alptraum: „Du, ich hab heut Nacht geträumt, mein Wagen springt am Morgen nicht an. Wir konnten gar nicht wegfahren. Stell dir vor: so neu und schon hin. Ich bin aufgewacht und war vielleicht erleichtert, kann ich dir sagen.“

     Bens Mutter bekam beim Abschied eine Schachtel Pralinen von ihm. Dann fuhren sie weg. Ulf sollte der letzte Freund von ihm sein, den seine Eltern noch kennenlernten.

     Da sie gleich nach dem Frühstück abgefahren waren, hatten sie viel Zeit zum Vertrödeln. Sie fuhren Umwege, besichtigten eine alte Reichsburg, knipsten sich gegenseitig vor der Gebirgskulisse. Zu Mittag kehrten sie in einem einfachen Wirtshaus ein und verzehrten Leberknödel mit Sauerkraut.

     „Das könnte noch ein paar Tage so weitergehen, wär mir schon recht.“

     „Wird es aber nicht“, sagte Ulf, „leider. Morgen wieder die alte Stiegler.“

     „Und die anderen … Meinst du, wir kriegen das Zelt doch noch aufgebaut?“ Sie hatten Bens Zelt ins Auto gepackt. Es war ihnen bisher nicht gelungen, es einmal probeweise aufzubauen. Ben war noch nie damit zurechtgekommen und Ulf jetzt auch daran gescheitert.

     „Ich will sehen, ob ich daheim einen finde, der uns helfen kann. Du, ich weiß nicht einmal, was ich mit den vielen Heringen soll. Dabei hab ich schon das eine oder andere Zelt aufgebaut, kannst du mir glauben. Was hast du dir da nur schicken lassen … Neckermann oder Quelle? - Ja, das kommt dann dabei heraus.“

     Sie wollten das Zelt gern auf ihren weiteren kleinen Reisen benutzen, um die Übernachtung zu sparen.  

     Am Nachmittag sollten sie hinter Mannheim Frühkirschen abholen, von Ulfs Tante für ihre Schwester bestimmt. Die andere Tante war zum Glück mit der Bahn heimgefahren. Sie fuhren nicht nach Mannheim hinein, sondern umgingen die Stadt südlich. Dafür mussten sie Heidelberg fast ganz von Süd nach Nord durchqueren.

     „Überall die vielen Transparente, was ist da los?“ fragte Ulf an der dritten großen Kreuzung.

     „Wieder Aufruhr in der Stadt. Sind mal wieder aktiv, die Studenten.“

     „Was steht da: NULLTARIF FÜR ALLE. Was meinen die damit?“

     „Ach so, sie boykottieren die Straßenbahnen, die Busse. Wegen der höheren Fahrpreise.“

     „Ja, stand doch in der Zeitung.“

     „Sie machen mächtig Druck. Die Bahnen sind leer oder fahren gar nicht. Und alle nehmen andere im Auto mit. Ich glaub, sie werden was erreichen, ich wünsch es ihnen.“

     „Ja, ich find’s an sich auch gut.“

     Die Flussbrücke kam. Da standen zwei, die in ihre Richtung wollten. Sie winkten. Ben wies Ulf mit der Hand auf sie hin.

     „Nein, fällt mir gar nicht ein, Wildfremde in mein Auto einzuladen.“ Ulf war gereizt. Ben sagte nichts mehr.

     Sie tranken Kaffee bei Ulfs Tante. Eine Kusine wurde zurückerwartet, sie würde Ulf so gern wiedersehen. Ulf sagte, er wünsche es sich umgekehrt auch. Vermutlich heuchelte er. Der Kaffee zog sich hin. Sie luden die Körbe mit den Kirschen ein.

     „Tante, tut mir leid, der Rückreiseverkehr wird schlimm. Wir müssen fort. Ein anderes Mal. – Endlich“, sagte er, als die Tante aufs Haus zuging und er durchstartete. Er sah Ben dabei sekundenlang von der Seite an und atmete durch. Geht es um noch etwas, dachte Ben.

     Der Verkehr war dicht, sie brauchten für das letzte Stück länger als auf der Hinfahrt. Es dämmerte. Sie schwiegen jetzt die meiste Zeit. Je näher sie ihrer Stadt kamen, umso ernster wurden sie. Sonntagabendblues, so konnte man es nennen. Es war nicht einmal Sonntag, es war Feiertag, sie hatten vier schöne Tage miteinander verbracht, sie hatten sich kein einziges Mal gestritten. Warum dann diese bleierne Stimmung? Auf seinem Gesicht arbeitet etwas - kommt da noch etwas, fragte sich Ben.

     Sie kamen bei völliger Dunkelheit bei ihm zu Hause an. Sie trugen zusammen seine Sachen hinauf in die Villa. Sie mussten zweimal gehen, es waren auch Bücher von Ben dabei. Den Band Freud hatte er Ulf schon am Morgen gegeben. Die Zeltplanen wogen schwer.

     Es war alles ausgeladen, Ulf wollte gleich heim.

     „Bis auf die Straße runter komme ich noch mal mit.“ Ulf antwortete nicht.

     „Waren sehr schöne Tage“, versuchte es Ben noch mal.

     „Mh, auch meine Meinung.“

     Dann stehen sie an der Gartenmauer, vor der Pforte. Was ist los mit ihm, er sieht auf einmal ganz anders aus. Verkrampft, die Fassung verloren, was? Fürchtet er, dass ich … Fällt mir nicht ein. Er schluckt, will wohl sehr schnell weg. Er atmet schwer. Zum Teufel, so gequält hab ich ihn nie gesehen …Ein Gesicht, das auseinanderfällt.

     „Du bist ein verdammt feiner Kerl, Ulf.“ Das war überflüssig.

     Er bekam keine Antwort mehr. Ulf schluckte noch einmal, und beide drehten sich rasch um.

 

 

 

  

    

                                                   3

 

Es ging tiefer in den Sommer hinein und die Zeit floss langsamer dahin. Seine Sachen kamen nicht mehr voran. In dieser Lage hilft es einem manchmal, ins Kino zu gehen. Peter Fleischmanns Jagdszenen aus Niederbayern war angelaufen. Ben las morgens die Kritik in der Zeitung und ging abends in die Vorstellung.

     Zehn Jahre lang war er nicht mehr im Kino gewesen. Das Taschengeld hätte früher dafür meistens nicht gereicht. Sich Kinofilme anzusehen, galt bei ihnen daheim ohnehin als verdächtig: ein erster Schritt auf dem Weg zu lockerem Lebenswandel, also ins Verderben. Und was hatte er als Kind schon sehen dürfen: Heinz Rühmann in Der Pauker und ein, zwei Filme mit Peter Alexander. Davon konnte einer wie er nicht süchtig werden.

     Diesen Film jetzt sah er dreimal in einer Woche. Er verfiel dem Kino sogleich und hörte nie mehr auf, hinter guten Filmen her zu sein; sog wie ein Schwamm ihren Inhalt als etwas für ihn Lebensnotwendiges auf. Gewisse Filme markierten Zäsuren in seiner Entwicklung, führten die Brüche herbei, die in der Tiefe schon angelegt waren. Dieser hier war der Erste seiner Art.

     Während der Film lief, wurde Ben eins mit Abram, fühlte sich gejagt und ausgestoßen wie er. Das Dorf Reinöd war seine Stadt hier, und einen Zeitunterschied gab es nicht. Er verließ das Kino, ging zwischen den Passanten an den vielen bunten Lichtern vorbei zur Straßenbahn und empfand keinen Widerspruch zwischen der revolutionierten Welt in seinem Kopf und der nach wie vor unveränderten äußeren um ihn herum. Er war mit allem einverstanden, er wollte jetzt Abram sein, wollte in Reinöd leben und selbst gejagt werden.

     Er schwärmte anderntags beim Frühstück davon. Ulf und Andreas hörten zu und begriffen vielleicht, dass es ihm ernst war. Der Reserveoffizier und der Sektfrühstücker – Amtmann wird man immer – waren zum Glück nicht dabei. Ben nahm sogar das Wort in den Mund, das er sonst nur dachte oder schrieb. Lange nach Ulf sprach auch er es erstmals hier in der Stadt aus.

     „Ja, er ist nämlich homosexuell. Deshalb wird er gejagt und zu einem Verbrechen getrieben. Sie machen ihn zum Mörder. Es ist großartig.“

     Andreas schwieg dazu. Ulf sagte, er werde sich den Film auch ansehen. Er habe ohnehin jemandem einen Kinobesuch versprochen. Meinte er die Lange? Mit Vergnügen stellte Ben sich die beiden während der Vorführung vor, sie zunehmend befremdet, er sich schuldig fühlend. Doch kam es dann anders. Ulf fragte am Feierabend, ob Ben den Film noch einmal sehen wolle, ob er mitkommen dürfe.

     Sie besuchten schon einen Tag später die Abendvorführung. Für Ben ging es dieses Mal weniger um Abram und die anderen aus seinem Dorf, er achtete vor allem auf Ulf und seine Reaktionen. Er sagte sich: Ich muss ganz ungezwungen wirken. Nicht zeigen, dass es mich aufwühlt. Und Ulf? War auch die Beherrschung selber und lobte den Film, als sie nachher in einem Wirtshaus saßen. Er sagte: „Interessanter Stoff, gut gemacht, das werde ich auch Andreas sagen.“

     Nur einmal war Ulf während des Films lebendiger geworden. Eine Dorfbewohnerin sagte, schuld am Anderssein sei vielleicht dieses gestörte Verhältnis zur Mutter. Da lachte Ulf plötzlich und wie getroffen, es entging dem Freund nicht. Ben erlaubte sich an diesem Abend wieder nur das übliche Mindestmaß an Zärtlichkeiten. Ulf ließ es geschehen, duldete wieder lächelnd.

     Zwischen ihnen veränderte sich an den folgenden Tagen noch nichts. Der Ton blieb kameradschaftlich, wenn nicht herzlich. Es waren bis auf weiteres stabile Verhältnisse, hätte man meinen können.

 

 

Um diese Zeit wurde er im Amt Zeuge eines abscheulichen Vorfalls. Er wollte einmal von ihrem Stockwerk hinunter ins Erdgeschoss gehen und hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als er vom unteren, noch nicht einsehbaren Abschnitt der Treppe ungewöhnliche Geräusche vernahm. Es klang wie stoßweises Atmen, wie zorniges Keuchen, überraschtes Luftausstoßen oder wie noch etwas anderes, das er nicht näher einordnen konnte, es klang beinahe lustvoll. Er bog rasch um die Ecke und sah auf den Stufen unter sich zwei Männer von hinten, einen älteren und einen recht jungen. Er erkannte Herrn Adelmann, er trat dem Lehrling Alex wiederholt in den Hintern und trieb ihn dabei vor sich her. Alex stolperte in gebückter Haltung die Treppe hinunter, halb zu ihm umgedreht, und warf ihm überraschte und tückische Blicke zu. Nun geriet Ben in sein Blickfeld, und er begann zu grinsen. Herr Adelmann witterte die Gegenwart eines Dritten und drehte sich nach ihm um.

     „Der da hat wieder was ausgefressen“, sagte der Alte, der vielleicht sehr krank war. Er atmete mühsam und röchelte beinahe.

     Alex richtete sich auf und warf Ben einen seiner schrägen Blicke von unten herauf zu, erleichtert, befriedigt, herausfordernd. Dann lief er schnell ins Parterre hinunter und verschwand. Wie stämmig er war und dabei noch so jung.

     „Und sein Vater ist ein tüchtiger Mann, der Gemeinderat, jeder kennt ihn, er ist so angesehen“, erklärte Herr Adelmann. Ben sah ihn verwundert an: Waren das Gründe, Alex zu treten, ihn demütigen zu wollen?

     „Er hat ihn hier untergebracht, aber er taugt nichts.“ Der Alte wartete keine Antwort ab und verschwand langsam um die Treppenbiegung.

     Ben hatte kein Wort gesagt. Er vergaß das Bild nie: der zornige, kranke alte Mann, strafend, außer sich, sich noch für so viel rächen wollend, und die verbleibende Lebenszeit reicht dafür nicht annähernd aus – und der Bursche unter ihm, strotzend vor Kraftüberschuss, lässt sich treten und – genießt es anscheinend sogar. So verkehrt ihm die Konstellation zunächst vorkam, Ben kam in Gedanken immer wieder auf sie zurück, und allmählich fand er sie weniger abscheulich als vielmehr natürlich. Er wünschte sich, Alex doch noch näher kommen zu können. Aber nicht hier im Amt! Er spürte jetzt: Da war inzwischen ein kleiner Riss entstanden, und er würde sich nicht mehr schließen.

 

 

Ulf sagte: „Gestern Abend habe ich mit Freud angefangen, endlich.“

     „Wie weit bist du schon?“

     „Ich hab bis halb eins darin gelesen. Die sexuellen Abirrungen, hauptsächlich Die Inversion.“

     „Und? Welchen Eindruck hast du?“

     „Ich muss noch darüber nachdenken.“

     Er sprach sich nie darüber aus. Einige Wochen später gab er Ben das Buch zurück, dankte mit fast geschlossenen Lippen und wandte sich ab. Ihre Beziehungen waren schon stark abgekühlt.

     Ben blätterte in dem Buch, das er zwei Jahre davor einmal gelesen hatte. Die sexuellen Abirrungen? Das klang nicht gerade einladend, man sah beinahe die wegwerfende Handbewegung des Gelehrten. Der Inhalt war ihm nicht mehr in allen Einzelheiten präsent. Welche Erklärung gab Freud denn nun? Überrascht stellte er beim Nachlesen fest: an dieser Stelle keine. Freud schritt den Gegenstand systematisch ab, ging alle früheren Erklärungsversuche durch und widerlegte sie ausnahmslos. Ben fand sich so durch eine Reihe von Negationen definiert. Er war nach Freud all das nicht, was über seinesgleichen in Umlauf gebracht wurde. Zurück blieb ein Rätsel und der fatale Eindruck allgegenwärtiger übler Nachrede, mochte sie wie unbegründet auch immer sein. Wie unklug von ihm, Ulf gerade dieses Buch zu geben … Oder hatte er es ihm im Gegenteil mit einer sich selbst nicht eingestandenen Absicht ausgeliehen? Am Ende der, von ihm Abstand zu gewinnen, indem er seinen Hang zur Anpassung, zur Unterwerfung und zum Einswerden mit dem Vorgefundenen ansprach und ausnutzte?

     Was ihn selbst betraf, so fühlte er sich im Niemandsland zwischen den widerlegten Theorien recht wohl. Dort war man unangreifbar.

     So stand es jetzt zwischen Ulf und ihm: Sie gingen nicht mehr miteinander, aber sie waren noch nicht auseinander. Er notierte für sich: Jetzt da kaum noch Hoffnung auf Annäherung im körperlichen Bereich besteht, finde ich ihn auch auf anderen Gebieten viel weniger anziehend. Sein geistiges Niveau ist mir auf Dauer entschieden zu flach, seine Konventionen sind spießig. Offensichtlich hat mein guter Wille im Verhältnis zu ihm eine nicht geringe Rolle gespielt. Die Atmosphäre zwischen uns wird schlechter. Ganz will ich es allerdings noch nicht mit ihm verderben. Ich will keine totale Isolierung.

     Ulf wollte ebenfalls keinen Bruch, jetzt nicht und wahrscheinlich auch später nicht. Er animierte ihn nach Dienstschluss wieder einmal zu einem Besuch im Hofbräukeller. Ben sah es nachher so: Er ist seit gestern auf einmal wieder viel aufmerksamer zu mir. Offenbar will er die Freundschaft erhalten. Doch erscheint es mir klüger, passiv zu bleiben, auch wenn ich bemerke, wie sehr er mich noch anzieht. Er kann mir nie mehr so viel bedeuten wie in den ersten drei Monaten hier.

 

 

Ben sah es ein: Mit Sublimieren war er nicht weit gekommen, er müsste sich neu orientieren, doch fehlen ihm die Orientierungspunkte. Um ihn nur Terra incognita und keiner, der ihm einen Weg weist.

     Er schickte einen Eilbrief nach Mannheim, er werde am Sonntagmorgen für einen Tag kommen. Er müsse sich aussprechen, er brauche Rat. Der Freund stand schon auf dem Bahnsteig, als der Zug einlief. Ben sah ihn zurückbleiben, da die Bremsen erst anfingen zu greifen. Wird auch er sich offenbaren, fragte er sich, endlich einmal? Der Zug hielt abrupt, Ben stieg aus und musste die Wagen entlang zurückgehen und den Freund in der Menge suchen. Da war er, seiner Miene nach einerseits froh über das Wiedersehen, andererseits auch etwas verlegen, wie so oft. Er sah resigniert aus, er sah nach Verzicht aus. Er wird nichts von sich preisgeben.

     Ben hatte früher schon einmal seinen Rat hören wollen. Sie waren damals nach Heidelberg gefahren, um es sich anzusehen. Es war Winter, sie standen eine Weile im Postamt, um sich aufzuwärmen. Ben sagte plötzlich, er habe vor, sich bei der Musterung für homosexuell zu erklären. Ob er glaube, dass das Erfolg verspreche? Dieses Geständnis, für ihn überhaupt das erste seiner Art, war Ben leicht gefallen, doch dem Freund schien es etwas peinlich zu sein. Er sagte, ja, damit dürfte er vermutlich durchkommen, dennoch würde er selbst eine solche Festlegung lieber vermeiden. – Aus welchem Grund? – Wenn es später bekannt würde, schade es einem in der Öffentlichkeit, falls man einmal eine Rolle in ihr spielen möchte.  –  Dass ihm Karriere wichtiger war als wahrhaftiges Auftreten! Und dabei dachte und redete er sonst immer sozialistisch - aber handelte er auch danach?

     Sie gingen den ganzen Tag in der Stadt spazieren und redeten dabei meistens über Politik. Ben fand sich selbst neuerdings wieder viel radikaler geworden, sozusagen zurückversetzt in jenen herrlichen Mai des Vorjahres. Er verwendete wieder Ausdrücke wie liberale Missverständnisse oder Charaktermaske. Er entnahm sie ihrem gemeinsamen Wortschatz von früher.

     Der Freund sagte: „Du weißt es ja schon, ich bin in einen stinkenden Leichnam eingetreten …“

     „Du in die SPD! Einfach unbegreiflich.“

     „Es gibt da für mich nur taktische Motive. Man kann von innen mehr anstoßen. Anstoßen, um umzustoßen. Und es ist auch ein Faustpfand für später.“

     Wozu bin ich hierher gekommen, fragte sich Ben. Jener glorreiche Mai lag in Wahrheit schon sehr weit zurück.

      Sie durchquerten jetzt einen Park, es war gerade niemand in Hörweite. Ben erzählte von Ulf und davon, dass er von ihm loskommen müsse. Wo könne er sonst Homosexuelle kennen lernen? Der Freund sah nur eine Möglichkeit: Lokale allein für Männer zu besuchen. Doch kannte er selbst kein Einziges.

     „Du musst dich in der Stadt umsehen. Kannst du nicht den einen oder anderen Kollegen fragen, ganz geschickt natürlich, hintenherum, hm, sozusagen …“

     „Leicht gesagt.“

     „Dir wird das schon gelingen. Da bin ich ganz optimistisch.“

     Auf dem Weg zum Bahnhof blieb der Freund vor einem alten Miethaus stehen und wies auf das Klingelbrett neben der Tür. „Da wohnt er, dieser Maler, der könnte dir sagen, wie du Eingang in jene Kreise findest. Er hat immer junge Leute um sich, wie du sie suchst …“ Der Freund lächelte, distanziert und überlegen. Ben begriff: Für diese Art von Karriere ist er sich zu schade. Und dahinter steckt wahrscheinlich seine Angst, enttäuscht und verletzt zu werden. Wenn gerade das nun aber das Leben ist?

 

 

Er kam auf seinem Arbeitsweg täglich an einem Sex-Shop vorbei. Eines Tages überwand er sich und ging hinein. Drinnen Männer, wie sie überall in den Geschäftsstraßen zu sehen waren. Sie schienen ihm weniger aufgeregt als er selbst, dafür glaubte er an ihnen eine gewisse Konzentration wahrzunehmen. Worauf – sicher auf irgendetwas für sie recht Wesentliches. Er wusste nicht einmal, wonach er dort suchen sollte. Was verkaufen sie – Informationen, Anregungen? Es war immerhin ein Fachgeschäft. Er sah Bücherregale und fühlte sich gleich weniger befangen. Er fand die Abteilung für den besonderen Geschmack und studierte die Titel. Ein Buch wurde außerhalb der Reihe herausgehoben präsentiert, es war ein amerikanischer Roman. Er nahm ihn in die Hand und las den Text auf dem Einband. Billig und reißerisch, fand er und wollte ihn zurücklegen. Da hätte er beinahe einen länglichen Gegenstand umgestoßen, er hatte seinen Platz genau vor demjenigen des Buches, Zufall oder Absicht? Und worum handelte es sich bei dem rätselhaften Objekt? Es war ganz in Papier verpackt, dreimal so lang wie das Buch hoch, nur viel schmaler und eher rundlich, doch auch wiederum etwas kantig und eigentlich im Ganzen unförmig. Er ging mit dem Buch in der Hand einige Schritte am Regal auf und ab, betrachtete das Gebilde voller Misstrauen von beiden Seiten. War es käuflich oder nur zur Dekoration bestimmt? Es sah beinahe wie ein in Seidenpapier verpackter kräftiger Männerunterarm aus, den man amputiert und auf der Schnittfläche aufgestellt hatte, die nach oben weisende Hand vielleicht zu einer kleinen Faust geballt. Er kam nicht dahinter und gab es auf. Bald stand er wieder auf der Straße.

     Ben, ich wollte es dir eigentlich nicht sagen: Gelegentlich bemerkt man an dir einen erschreckenden Mangel an Geistesgegenwart.

 

 

In diesen Sommerwochen fuhr er öfter für Stunden oder einen ganzen Tag aufs Land. Er kam nun in jene Gegenden, die er mit Ulf damals vom Fernsehturm aus zum ersten Mal gesehen hatte, aus großer Höhe und Entfernung. Ulf hatte es ihm vorausgesagt: Du wirst dorthin kommen, bald schon.

     Als Sohn eines Bauern war Ben es von klein auf gewohnt, stundenlang allein durch die Natur zu streifen. Er ging gern eilig querfeldein, ohne viel auf seinen Weg zu achten. Rasche Bewegung regt mit dem Kreislauf und der Durchblutung auch das Denken an. So bekommt man wieder einen klaren Kopf, und scheinbar unauflösbare Verwirrungen erweisen sich bald als in kleine Einzelaufgaben zerlegbar. Man kann sie bewältigen. Diese Wirkungen stellten sich jetzt nicht mehr ein. Es gab da nichts zu analysieren. Was ausschließlich zählte: Er war wieder allein, wie am ersten Tag in der fremden Stadt.

     Genau genommen war er auf diesen einsamen Wanderungen doch nicht allein. Wer immer in den letzten Monaten ernsthaft zu ihm gesprochen hatte, begleitete ihn und wiederholte sich in ermüdender Weise. Pass dich an, pass dich an, sagte sein Vater noch immer, unterstützt von der Großmutter, die besorgt fragte: Aber diesmal wirst du doch bleiben? Die Mutter bezweifelte es schon wieder: Ist noch alles in Ordnung? Die Betonung lag bei ihr stets auf noch. Nichts war hier in Ordnung, war es überhaupt nie gewesen. Frau Julianka zum Beispiel war jetzt seinetwegen vor allem in Sorge, ihre Freunde könnten ihn für das halten, was er tatsächlich im Verhältnis zu ihr war: ihr Untermieter. Sammy sicherte sich schon einmal gegen Übergriffe ab, die Ben nie in den Sinn kommen würden. Und der Freund in Mannheim war eben auch keiner, sonst hätte er sich längst zu erkennen gegeben. Und dann Ulf, der alles zusammenfasste und auf die eine Formel brachte: Du passt eben nicht zu uns.

     Er hörte also schon Stimmen, noch dazu höchst reale. In den dichten Wäldern wurde es für ihn bald unerträglich. Daher sah er zu, dass er viel in offener Landschaft unterwegs war. Doch wenn er in den Himmel blickte, spürte er noch deutlicher das Verlangen nach Gemeinschaft, nach Freundlichkeit und Übereinstimmung. Manchmal sah er Alex vor sich, wie er sich treten ließ und es zu genießen schien, fast so als verliefe dabei für ihn alles nach seinen Wünschen. Das war sonderbar, unerklärlich, und es zog ihn stark an.

     Er lief stundenlang von A nach B und kam für sich keinen Schritt voran. Es konnte so nicht weitergehen. Er war schon neunzehn und kam sich allmählich alt vor. Er hatte keine Zeit zu verlieren: Kontakt, Kontakt! Warum bin ich so unpraktisch, fragte er sich, warum fällt mir kein gangbarer Weg ein? Es müssen doch Jahr für Jahr Hunderte in dieser Lage sein und sich aus ihr befreien. Nicht Hunderte, Tausende! Und er begann wieder Statistik zu treiben. Kinsey, der Fragebogen, die eindeutigen Ergebnisse! Die Statistik war sein Horoskop, seine Aspekte waren doch günstig. Oder nicht?

     An einem Samstag um die Mittagszeit brach er in Panik eine Tour ab, die bis zum Abend hatte dauern sollen. Ein Bus brachte ihn ins Tal und ein Vorortzug in die Stadt zurück. Schon saß er in der Straßenbahn hinauf zur Villa. Es war ein ruhiger Nachmittag, keine Gesangsschülerin probte bei Frau Julianka den Hahnenschrei. Ben war erhitzt, kühlte sich im Bad ab, warf sich auf das Bett. Es gelang ihm nicht, lange liegen zu bleiben. Seine Unrast war jetzt für dieses Zimmer zu groß. Er wünschte sich unter die anonymen Massen, die den Kinsey-Report auf jeder Seite bevölkerten. Neue, andere Menschen, nicht länger die schon allzu bekannten! Und auf keinen Fall mehr am helllichten Tag allein sein!

     Zum Glück waren die Geschäfte im Stadtzentrum an diesem Samstag bis sechs Uhr abends geöffnet. Er ließ sich durch die Straßen treiben, über die Plätze, durch die Kaufhäuser. Die fühlbare Nähe der vielen Unbekannten beruhigte ihn allmählich. Fast alle würden Fremde für ihn bleiben, aber in dieser Menschenmasse verbarg sich zweifellos das Glück. Irgendwann wird er es für sich entdecken.

     Er ging wieder in den Sex-Shop und kaufte nun doch den Roman, den er vor Tagen für nicht lesenswert gehalten hatte. Man musste seine Ansprüche herunterschrauben. Was nutzten einem Ansprüche, man musste erst mal anfangen zu leben … Er sah sich nach dem von ihm bisher nicht identifizierten Objekt um. Es war verschwunden, vielleicht hatte es ein anderer gekauft.

     Er bekam Lust auf noch mehr Bücher und betrat eine Buchhandlung. Als die Geschäfte schlossen, saß er wieder in der Straßenbahn, jetzt noch zwei Bände mit Dramen von Osborne und Tennessee Williams auf den Knien. Menschen gesucht und stattdessen Bücher gefunden, es gibt Schlimmeres, Ben.

     In der Villa begann er sofort den Roman zu lesen, schlief dann unruhig und dennoch tief und las am Morgen darauf das Buch zu Ende. Er fand es schlecht geschrieben, alles andere als literarisch wertvoll, doch voller Situationen, die er sich dringend herbeiwünschte. Der einsame Held war wie er selbst, voller Sehnsucht und Todesangst. Und dabei hatte er jene Welt schon ausreichend kennengelernt. Sollte einem das nicht zu denken geben? Ist es vielleicht klüger, von vornherein zu verzichten, gerade so wie der Freund in Mannheim? Aber wie viel ist ein Gefühl ohne eine es hervorrufende Realität wert? Hat man das Gefühl vorweggenommen, muss man die zu ihm passenden Erlebnisse nachholen. Vielleicht war an dieser Reihenfolge etwas verkehrt, dann war es für ihn nicht mehr zu ändern. Er musste hinaus in das, was er als Leben erhoffte. Dieser Frühling hier, dieser Sommer jetzt waren bisher nur Schattenspiele gewesen. Es musste ein Ende haben.

     Er saß über seinem Tagebuch und schrieb und schrieb. Er fühlte das nahende Gewitter, hörte es von Westen her grollen.

 

 

An diesem Sonntagabend fuhr Ben spontan mit der Straßenbahn  zum Hauptbahnhof. Es hatte nicht viel geregnet und war unverändert warm. Man spürte auch jetzt, dass die Luft elektrisch geladen war. Es war noch weit bis zum Sonnenuntergang, die Gebäudekonturen zeichneten sich scharf in einem gelben, staubigen Licht ab.

     Er begann damit, zuerst das Bahnhofsviertel nach Bars abzusuchen. Er fand nicht eine, es gab in dieser großen Stadt kein eigentliches Bahnhofsviertel, wenn man darunter eine billige Amüsiermeile verstand. Dann erinnerte er sich, vor Monaten in der Zeitung von einem Mord gelesen zu haben. Ein alternder Küchenhelfer hatte den jungen Täter in einem Lokal an der Theodor-Heuss-Straße kennen gelernt. Liebe gesucht und den Tod gefunden. Ben folgte der Spur des Opfers und ging nach Südwesten.

     Er umrundete drei Viertel des Stadtzentrums und fand keinen Ansatz, kein Zeichen, das ihm bedeutet hätte: Hier entlang geht es. Sein Erkundungsgang führte ihn einmal sogar nahe an das Amt heran, in dem er sich morgen früh wieder einzufinden hatte. So grau, so behäbig und dabei dennoch trübselig wie ihr Behördenkasten sah das meiste hier aus. Wo war der Eingang zur anderen Welt?

     Und dann gab es noch die Altstadt, er hatte bisher nur davon gehört. Er fand das Viertel, es unterschied sich krass von den anderen. Die Stadtverwaltung ließ seit einiger Zeit unter ihm einen Tunnel für die U-Bahn bohren. Die Baustelle zog sich Hunderte Meter lang hin und bildete die Längsachse des Quartiers, sie war für den Autoverkehr gesperrt. Die meisten Geschäfte waren aufgegeben und standen leer, wenn die Häuser nicht schon abgerissen waren. Viele Bretterbuden füllten die entstandenen Zahnlücken in den Häuserzeilen notdürftig aus. Es waren Schnellimbisse, Bars und Nachtclubs. Ob er hier richtig war? Es sah aus wie eine noch nicht zu Ende gebaute Westernkulisse, als wären die U-Bahnbauer Goldgräber.

     Die Wege belebten sich schon, der Fußgängerstrom schwoll in der einsetzenden Dämmerung allmählich an. Er sah den Entgegenkommenden neugierig ins Gesicht und stellte enttäuscht fest, es waren die gleichen Menschen wie alltags im Geschäftsviertel, nur unternehmender im Ausschreiten, ihren Mienen nach zu urteilen. Sie waren jetzt gut ausgeruht und darauf bedacht, den Rest ihres freien Wochenendes nutzbringend anzulegen. Zeit als Kapital musste auch Zinsen bringen. Das Geschäftsmäßige auf ihren Gesichtern verdross ihn. Und die Fassaden der Bars lockten mit immer denselben Attributen von Weiblichkeit: Busen, Beine, Hüften.

     Dann war er drauf und dran, doch in ein Lokal hineinzugehen. Es war die Flamingo-Bar, sie war im Erdgeschoss eines soliden Steinhauses untergebracht, vielleicht seit langer Zeit. Er nahm den Unterschied zu den übrigen Lokalitäten instinktiv wahr, ohne ihn sich im Einzelnen sogleich erklären zu können. Es fehlte die sonst übliche aufdringliche Werbung mit Busen, Beinen, Hüften – war es das? Wie es schien, hatte man hier keine Reklame nötig, das Publikum stellte sich vermutlich von selbst ein, seines Zieles sicher. Er sah niemand hineingehen, auch keinen herauskommen. Lichtstreifen und Musikfetzen drangen durch die Ritzen der geschlossenen Läden. Man schien sich drinnen zu amüsieren. Er wollte sich vergewissern.

     Dann wurde die Lokaltür einen Spalt geöffnet, vielleicht um frische Luft hereinzulassen, und er hörte eine betont weibliche Stimme laut auflachen. Es klang grell, aufgesetzt, und es stieß ihn ab. Er überlegte nicht und kehrte sofort um. Auch hier war er falsch.

     Zufall oder Notwendigkeit: Ein effeminiertes Verlegenheitslachen, zwischen zwei Zügen aus einer Zigarette herausgelassen, sagen wir um zwanzig Uhr und neunundvierzig Minuten und zweiunddreißig Sekunden und nicht zehn Sekunden früher oder später – es hatte ausgereicht, den Gang seines Lebens entscheidend zu verändern. (Und er ahnte in diesem Augenblick nicht einmal etwas davon.) So ausgeliefert zu sein: Froh kann einen das im Rückblick nicht stimmen, nicht einmal dann, wenn man  später die Bilanz gutheißt.

 

 

Er gab Ulf die Zeitung und wartete ab. Sie saßen wie jeden Morgen im Frühstücksraum beisammen. Ben überflog hier gewöhnlich rasch die Überschriften und las nur, was ihn besonders interessierte. Nach Feierabend hielt er dann zu Hause Nachlese. Das Wichtigste für heute hatte er schon entdeckt.

     Ulf funktionierte wieder hervorragend, ein gut konstruierter und gut gewarteter Automat. „Hast du es auch gelesen, Ben? Da ist wieder ein Homo umgebracht worden.“ Er hatte keine Zeit gehabt, viel zu überlegen, bevor er fragte. Es kam spontan aus ihm, da war ein Anteil Mitleid im Spiel. Ulf war ein guter Kerl.

     „Ach was“, sagte Andreas neugierig. „Wieder so ein Alter? Daheim in seiner Wohnung?“

     „Nein“, sagte Ben, „diesmal nicht.“

     Ulf fasste den Bericht für Andreas zusammen: „Er war erst fünfundzwanzig. Am Wiener Platz in der Bahnunterführung, da haben ihn Passanten gefunden. Hat noch gelebt.“

     „Tja“, bemerkte Andreas. „Und ist er deswegen umgebracht worden?“ Ulf zuckte die Schultern.

     „Und woher weiß die Polizei, dass er so war?“ Ulf war auch ein intelligenter Kerl.

     Ben sagte: „Fortsetzung folgt, morgen oder übermorgen … Wo sind eigentlich hier in der Stadt Schwulenlokale?“ Ben hielt den Begriff sonst zu Recht für herabwürdigend, er war es damals noch. Er benutzte ihn jetzt zur eigenen Tarnung. Die Frage war an beide gerichtet.

     Andreas schwieg. Ulf sagte schnell im Ton von Immer zu Diensten: „Ich kann es dir nicht sagen. Früher gab es da mal ein Café Weiß, existiert aber nicht mehr … Irgendwo in der Altstadt wird es schon was geben …Aber ich weiß, wo eins in Berlin ist: ausgerechnet am Stuttgarter Platz.“

     Ben kannte selbst eine Adresse in Berlin, nur für den äußersten Notfall, der allmählich näherrückte. Es war nicht am Stuttgarter Platz, und er behielt sein Wissen für sich.

     „Karlsruhe ist auch ein heißer Tipp, das ist ihre Hochburg hier im Süden, hab ich gehört“, fing Ulf noch einmal an. Ben reagierte nicht, wartete ab. Es kam nichts mehr, Ulf hatte vermutlich alles preisgegeben, alles, was er mitteilen konnte oder wollte. Sie wechselten daraufhin das Thema.

     Er ging noch immer mit Ulf und Andreas mittags hinüber zur Kantine. Eigentlich lief er nur noch neben ihnen her. Ulf unterhielt sich seit einiger Zeit lieber mit Andreas. Ben dachte: Bin ich für ihn nur noch ein asozialer Schwuler? Bin ich es am Ende wirklich?

     Es war nicht am Stuttgarter Platz, es war in der Kleiststraße. Vielleicht sollte er im Urlaub nach Berlin fliegen. Es waren noch sechs Wochen bis dahin. Vielleicht kann er vorher noch einmal abends durch die Altstadt bummeln.

 

 

Er kam vor dem Urlaub kein zweites Mal in die Altstadt. Bald sehnte er nur noch ihn herbei. Man müsste noch einmal neu anfangen können …

     Im Tagebuch fasste Ben sich jetzt kurz: Bruch mit Ulf. Ich benutzte gestern einen neuen heftigen Wortwechsel wegen irgendeiner Nichtigkeit, um mich ganz von ihm zurückzuziehen. Endlich ist Schluss mit der Ambivalenz der letzten Wochen, die mir doch auf die Nerven ging. Man lebt nicht gern von Erinnerungen. Natürlich tat’s doch weh: Wieder ein Stück Leben zum Abschluss gebracht. Ein Abschluss wie ein Abschuss. Jedenfalls ein Schluss. Punktum.

     Ein verdächtig kurz gehaltener Bericht, Ben.

     Er vergaß alles in kürzester Zeit vollkommen, den Anlass ihres letzten Streits und auch den Wortlaut, den er ihm in seinem Verlauf enttäuscht und erbittert entgegengeschleudert haben musste. Da war etwas sehr peinlich für ihn gewesen.

     Woran er sich noch erinnerte, war dies: Ulf hatte sich mit der Langen für das Wochenende verabredet, und er, Ben, hatte es von ihm erfahren. Er wurde missmutig, traurig. Jetzt geht es schon um gemeinsame Wochenenden. Und vom Zelten mit mir hat er nie mehr gesprochen …

     Frau Stiegler fiel etwas auf: „Was hat er nur, er sieht heute richtig schlecht aus.“

     Ulf sagte lächelnd: „Er hat Liebeskummer.“

     Wo Verliebte sind, kommt oft der Mond ins Spiel. Ulf wedelte mit der Zeitung und sagte: „Jetzt ist er entschieden, der Wettlauf zum Mond.“

     „Ach ja?“ bellte der Freund zurück. „Eine großartige Leistung, meinst du? Ich sage dir was – dieses ganze Spektakel hat nur einen Zweck …“

     „Wirst ihn schon nicht für dich behalten, wie ich dich kenne.“

     „ … soll vor allem von den wahren Existenzfragen der Menschheit ablenken! Ich sage nur: Vietnam. Oder Biafra. Oder der Hunger in der Welt. Das Nervengas. Die Slums.“

     „Du redest schon wie dein Opa.“

     Die Mondlandung war der Zündsatz, er setzte alles in Brand, was an Trennendem aufgeschichtet bereit lag für die folgende Explosion. Sie lief ab wie eine Kettenreaktion, riss schnell hintereinander alles mit sich, ihre Vorgeschichten, ihre Vorlieben, ihre Schwächen.

     „Meinen Opa kannst du nicht heruntermachen, du nicht. Er ist für mich der Gescheiteste daheim, und im Vergleich mit ihm bist du …“

     „Mit den anderen dort kommst du ja nicht aus. Sonst wärst du doch nicht hier.“

    „Du, ich warne dich, fang jetzt nicht von Familie an. Das Thema solltest gerade du lieber meiden.“

     „Womit willst du mir drohen? Los, sag’s schon.“

    Ben hielt noch einmal an sich. Jetzt nichts von der Mama resoluta und dem mickrigen Schusterlein und Ulfs fühlbarer Verachtung für ihn. Er wich aus: „Weißt du, deine Witze sprechen allein schon für sich … Und nicht nur die Witze, du bist so sehr Mittelmaß, so Untermittelmaß …“

      Das Folgende hätte keiner mitstenographieren können. Sie brüllten nur noch durcheinander und warfen sich alles vor: Durchschnittlichkeit und Ansprüche, Ulfs Dienstzeit und Bens Verweigerung, Sport treiben und Bücher lesen, die Art, wie sie Witze machten und die Art, wie sie mit Menschen umgingen. Ulfs Spießertum gegen Bens Verstiegenheit. Sie schrieen sich an und empfanden so viel Vergnügen, ja geradezu Lust dabei, die Reste ihrer ursprünglich starken Bindung zu zerstören. Es wurde für sie die einzige tiefe und unverfälschte Lust, die sie im Umgang miteinander kennenlernten.

     Nur eines sparten sie aus, warfen es sich nicht vor: dass einer am anderen Gefallen gefunden hatte. Die Instruktionsstunde im Amt damals, das Karrusselfahren auf dem Frühlingsfest, die empfundene Nähe und Wärme – nicht einmal eine Anspielung darauf. Da gab es etwas Unzerstörbares, das jeder für sich allein aus diesem Zusammenbruch rettete.

     „Und dein Opa, Ben“, nahm Ulf noch einmal einen Anlauf, schon ruhiger geworden, mitgenommen und erschöpft vom Streiten und Brüllen, „dein Opa, er imponiert dir doch gar nicht.“

     Ben gab keine Antwort. Er wollte nichts erfinden. Der Alte war ihm tatsächlich fremd wie sein Jahrhundert.

     Ulf hakte nach: „Wie war das: Paris, Wien, Berlin – und am Schluss?“

     Ben schüttelte den Kopf und blieb stumm.

     Von da an verkehrten sie nur noch dienstlich miteinander und besprachen das unbedingt Notwendige auf die denkbar knappste Weise. Ulf schloss sich Andreas noch mehr an. Ben saß über seine Papiere gebeugt oder ging stumm und dem Anschein nach unbeteiligt durch die Amtsräume.

     Was gewesen war, hatte sich überlebt. Sich entschieden. Sich erledigt.

     Später erschien ihm der Anfang zwischen ihnen immer klar, heiter, hell – und das Ende war trübe, in kaum zu durchdringendes Dunkel gehüllt. Zuerst ein Werden, eine Geburt, eine Entwicklung, dann Welken, Absterben, Tod.

 

 

Er wollte wieder einmal die Abteilung im Erdgeschoss aufsuchen und ging den Korridor in Richtung Treppe entlang. Es war in den ersten Augusttagen, mitten am Nachmittag. Vor ihm ging Herr Adelmann, noch langsamer als sonst, er schlurfte heute geradezu. Ben hörte ihn leise keuchend atmen. Er hatte diese Sprüche in letzter Zeit nicht mehr von ihm gehört: Noch nicht ganz aufhören, es nur schon einmal langsam auslaufen lassen … Er scheute davor zurück, den Alten zu überholen. Dabei hatte er es eilig.

      Wie einige Wochen zuvor spürte der Alte seine Nähe wieder und drehte sich nach ihm um. Er sah grau und verfallen aus.

     „Ach, Sie sind’s … Mein Gott, wissen Sie, ich hab’s grad erst erfahren: Sie haben wieder was gefunden. Es ist wieder gekommen. Ich muss gleich wieder hin.“

     Er sah Ben zerstreut an, sehr in seine eigenen Gedanken vertieft. Er erwartete keine Antwort und Ben fand keine Worte. Er kam sich selbst nur wie eine Kreatur vor, die nun einmal auch zum Sterben verurteilt ist. Er war ein junges Tier, das stumm und entsetzt das Sterben eines alten miterlebt. Kein Gedanke an Hilfe oder Trost, allmächtig in einem nur das eine Gefühl: selber einmal so zugrunde gehen zu müssen.

     Ben blieb zurück und ließ Herrn Adelmann vorangehen, die Treppe hinunter. Der Alte versank Schritt für Schritt vor seinen Augen in der Zeit. Er entzog sich ihnen allen, indem er langsam Stufe für Stufe nahm, bei Lebzeiten schon losgelöst von ihnen. Die Haltung seines Rückens, seiner Schultern, was verraten sie dir, Ben? Ja, gewiss, Schicksalsergebenheit, aber vor allem eines: Enttäuschung.

     An Alex war gerade jetzt kein Gedanke möglich.

     Herr Adelmann blieb dem Amt vom nächsten Tag an fern. Ben sah ihn nicht wieder, solange er selbst noch in der Stadt war. Wenn er an ihn dachte, sah er ihn stets vor sich die Treppe hinuntergehen und auf dem Absatz für immer entschwinden. Allmählich stellte sich, verbunden mit diesem Bild, auch dasjenige von Alex wieder ein, Alex sich krümmend und dabei doch triumphierend.

     Noch eine Erinnerung an den Alten begann ihn zu beschäftigen. Ben hatte einmal mit angehört, wie er selbst von einem Kollegen bei Herrn Adelmann gelobt worden war: wie tüchtig er sei. Und da hatte der Alte knapp und trocken erwidert: „Ja, der kann was – wenn er will.“ Hat er ihn nicht gut durchschaut und sein Wesen auf die kürzeste Formel gebracht?

     Was wollte Ben nun hier noch für sich? Fast alles missfiel  ihm inzwischen: das unbekömmliche feucht-warme Klima, der ewige breite und zugleich harte Dialekt, die Erkenntnis, wie dick die Spießbürger hier gesät waren. Wird das hier am Ende für ihn wieder nur eine Durchgangsstation sein? Natürlich muss er sich erst einmal etablieren, auf die eine und auf die andere Weise. Aber in vier, fünf Jahren … München, Hamburg, Berlin? Warum eigentlich nicht, Ulf?

     In vierzehn Tagen wird er Urlaub haben, in zehn Tagen, in acht. Er beschloss, für zwei Wochen nach Berlin zu fliegen, zum ersten Mal. Wenn es richtig läuft, wird er dort Fortschritte machen und sich danach auch hier besser zurechtfinden.

     Seine letzten Tage im Amt verrannen wie der letzte Rest Sand in der Sanduhr, bevor sie umgedreht wird, immer schneller und ohne viel Widerstand, ohne nennenswerte Reibung. Es freute ihn trotz allem, dass die Kollegen zum Abschluss von ihm auf die übliche Weise in den Amtsräumen bewirtet werden wollten, mit Wein und mit Knabberzeug und Süßigkeiten auf Papptellern. Am letzten Tag reges Kommen und Gehen, Glückwünsche und Händeschütteln. Er hat also doch einige Wurzeln geschlagen.

     Sie wissen alle, er wird nach dem Urlaub nicht zu ihnen ins Amt zurückkehren, die Behörde hat ihn schon einer Zweigstelle in einem Vorort zugeteilt. Und Ulf wird in einer anderen arbeiten. Herr Adelmann ist auch darin enttäuscht worden, er hätte sie nicht länger behalten können. Ben sah zu Ulf hinüber. Er tat gerade so beschäftigt wie meistens in der letzten Zeit.

     Ulf kam am Schluss doch noch zu ihm herüber an seinen Schreibtisch. Er sagte nur: „Mach es dann gut, wenn du dort gelandet bist.“ Und gab ihm sogar die Hand, bevor er zu seinem Platz zurückging.

    

    

 

 

                                              4

 

Ich hatte einen angenehmen Flug, so sagt man doch? schrieb er nachmittags in sein Tagebuch. Es war überhaupt sein erster gewesen. Ben saß auf seinem Hotelzimmer in der Schlüterstraße und wusste noch nicht, dass hier die Räume der früheren Reichskulturkammer waren. Das Zimmer lag im vierten Stock, dem Hinterhof zu. Der Lärm vom Kurfürstendamm drang nicht zu ihm.

     Er hatte die Menschen schon auf den Straßen beobachtet, er hatte ihnen in den Bahnen und Kaufhäusern zugehört und sie wie von seinem lieben Tucholsky beschrieben erlebt: nervös-quabbelig, zum Tadel geneigt, lieblos und leicht hysterisch. Die Atmosphäre hat etwas Krankhaftes, Museales …

     Er war es noch nicht gewohnt, auf der Straße angebettelt zu werden. In einem Geschäft fühlte er sich ein wenig geneppt. Er flüchtete, fuhr mit der U-Bahn zur Krummen Lanke und weiter mit dem Bus zum Wannsee. Konnte Berlin seine Stadt werden? Wohl kaum. Er aß im Grünen zu Mittag, ging in der Nähe spazieren und fuhr, friedlicher gestimmt, zurück ins Stadtzentrum. Schrieb auf dem Zimmer. Ruhte ein wenig. Duschte und ging zu Aschinger essen.

     Dann erschien es ihm noch zu früh für die Kleiststraße. Ohne besondere Absicht fuhr er mit der U-Bahn zum Schlesischen Tor. Die Strecke dorthin führte als Hochbahn durch Stadtviertel von imponierender Hässlichkeit. Der Zug fuhr auf einmal nicht weiter, es war die West-Berliner Endstation. Ben stand am Ufer der Spree, sah auf die Oberbaumbrücke, auf die Grenzsperren und die Stümpfe zweier Türme im neoromanischen Stil. Schwer erklärliche Ruhe lag über den rußgeschwärzten Mietskasernen und Lagerhäusern auf beiden Seiten des Stromes.

     Ben entfernte sich vom Schlesischen Tor und ging langsam durch das noch immer SO 36 genannte Quartier. Die Eindrücke wiederholten sich: dichte, massige Urbanität, schmutzstarrend und dabei so still, wie vom Leben verlassen. Endlich kam er zur Grenze zwischen den beiden Stadthälften. Sie erschien ihm auf Anhieb einfach nur absurd. Diese bloß zwei oder drei Meter hohe Mauer von eher schwächlichem Aussehen sollte eine Millionenstadt tatsächlich in zwei Teile scheiden? Wie war das möglich? Er war in der Abenddämmerung die Köpenicker Straße entlang gegangen und hatte den Eindruck gehabt: Es geht immer weiter mit diesen grauschwarzen Karrees … Und dann plötzlich die viersprachige und dabei gänzlich unsinnige Ankündigung, man verlasse jetzt den amerikanischen Sektor. Aber gerade verlassen konnte man ihn nicht. Er sah durch die Ritzen in der Mauer und entdeckte hinter ihr nichts.

     Ben schlug eine andere Richtung ein. Da war eine im russischen Stil erbaute Kirche, eine Backsteinorgie, dann ein schwindsüchtiges Krankenhaus. Kreuzberg legte sich ihm allmählich bleiern aufs Gemüt. Er suchte die nächste Hochbahnstation, fuhr zurück und stieg am Nollendorfplatz aus.

     Da ist sie also, diese Kleiststraße, sagte er sich, ich folge ihr, wenn sie auch nicht nach Arkadien führt … Neben einem verkommenen Hauseingang war das Erdgeschoss des Nachbarhauses auffallend weiß getüncht, dabei fensterlos, und das große grüne MC sagte ihm, hier sei er richtig. Es gab eine Eisentür mit grün gestrichenem Rahmen. Ein junger Mann mit affektiertem Gang überholte ihn und berührte die Klinke vergeblich. Dann überquerte er rasch die breite Straße und verschwand an der nächsten Ecke in Richtung Tiergarten. Es schien noch immer zu früh zu sein.

     Ben fühlte sich auf einmal müde. Er sah in kurzen Abständen Doppelstockbusse an sich vorbeifahren. Da verzichtete er für diesen Abend und ging zur nächsten Haltestelle.

 

Am Tag darauf fuhr und ging er kreuz und quer durch West-Berlin. Er kam im Süden bis zur Gropiusstadt und im Norden bis zum Tegeler See. Er war bald an allen vier Enden gewesen. Nachmittags wurde er zunehmend unruhiger. Wird er es heute schaffen, in jene Welt vorzudringen? Das war doch das Motiv für diese Reise gewesen … Erst jetzt begann er sich darüber klar zu werden, dass er an einer Wegkreuzung angekommen war. Durfte er es überhaupt wagen, einen solchen Ort aufzusuchen? Welche Risiken waren damit für ihn verbunden? Und würden seine Beklemmung und seine Unerfahrenheit ihn dort nicht von vornherein der Lächerlichkeit preisgeben? Als er dann abends wieder zum Nollendorfplatz fuhr, war von seiner Neugier nichts übrig geblieben. Es ging auch nicht mehr darum, endlich einmal Anschluss zu finden. Es war jetzt vor allem eine Mutprobe. Er wollte sich nicht selbst feig oder lächerlich vorkommen.

      Auch diesmal war er zu früh. Als er sich der Bar näherte, gingen zwei junge Männer vor ihm auf sie zu. Einer öffnete die Eisentür mit einem Schlüssel. Unmittelbar danach flammte die Außenbeleuchtung auf. Das MC auf der Fassade erhielt einen matten Schimmer.

     Ben wollte nicht der erste Gast sein. Er ging eine Zeitlang die Straße auf und ab. Ein männliches Trio kam ihm entgegen. Einer von ihnen, ein hübscher Blonder, sprach Ben im Tonfall von Hans Albers an: Wo hier eine Bar sei? Ben fragte zurück: Was sie denn suchten? – „Nun, wo drei junge Männer was erleben können …“ Ben reizte es, sie ins MC vorauszuschicken. Aber er zuckte doch nur die Achseln. Sie entfernten sich.

     Hinter der Eisentür war ein schmaler kurzer Gang und an dessen Ende saß hinter einem Tisch ein schöner junger Mann. Er blickte Ben ernst, beinahe drohend an. Sein Eintritt hier vollzog sich auf eine unerwartet feierliche Weise.

     Ben tat unbefangen: „Guten Abend“ und verschwand schon im Durchgang zur Bar.

     „Wohin? Sind Sie Clubmitglied?“

     Ben kehrte um und trat vor ihn hin. Dieser Höllen- oder Himmelhund war aufgestanden und sichtlich erregt. Es schien nicht oft vorzukommen, dass gänzlich Fremde hereinschneiten.

     „Nein, muss man das sein?“

     „Ja.“

     „Und kann man das nicht werden?“

     Er schüttelte den hübschen Kopf, noch immer feierlich, doch auch bedauernd. Ben sagte sich: Ich rühre ihn, schon ein Erfolg.

     „Woher kommen Sie? Wer hat Ihnen das Lokal genannt?“

     „Ich komme aus Westdeutschland … (Der andere fixierte ihn wie ein Großinquisitor.) Ich habe die Adresse gelesen, vor Jahren, im ‚Spiegel’.“

     Die Blicke des Wächters hörten allmählich auf, ihn durchbohren zu wollen. Er war fertig mit der Visitation und sagte endlich: „Gut.“ Ben hatte noch fünfzig Pfennige zu zahlen und dann wurde er von ihm ins Innere der Bar geleitet.

     Und Ben war nun doch der erste Gast an diesem Sonntagabend. Er konnte sich die Einrichtung in Ruhe ansehen. Alles sehr gediegen: schwarze Polster in Gruppen an den Wänden verteilt, zwei bronzene Hermesstatuen am Tresen. Weiße Lichtreflexe huschten regelmäßig über eine Längswand des schummerig rot beleuchteten Raumes. Über dem stählernen Schaltpult des Discjockeys entdeckte er eine kunstvolle vergrößerte Nachbildung des männlichen Gliedes und daneben ein Transparent, beides von der Decke herabhängend. Er las den Text auf dem Banner, es war eine Bibelstelle. Für die Begriffsstutzigen waren die Schlüsselwörter in Anführungszeichen gesetzt, allen voran der „Herr“.

     Ben erklomm einen Hocker. Der Barkeeper – er hatte vorhin die Außentür aufgeschlossen – gab ihm freundlich die Hand. Ben bestellte ein Pils. Der Barmann war nicht sein Typ, dennoch fand er ihn beeindruckend: über einem langen, feinen und dabei etwas frechen Gesicht dunkles, lockiges Haar. Er trug weiße Shorts und ein weißes Hemd, das bis zum Nabel offen war und eine knabenhaft schmale Brust zeigte.

     Die Bar füllte sich im Lauf einer Stunde. Dreißig bis vierzig Gäste boten sich seinen Blicken dar. Es überwogen junge Paare zwischen zwanzig und dreißig. Einige ältere Männer, distinguierte Vierziger und Fünfziger, verhielten sich passiv, schauten wie Ben zu und blieben vereinzelt. Ein Junge hatte ein Mädchen mitgebracht, dem der Barkeeper ironisch die Hand küsste. Freunde begrüßten sich, indem sie sich sanft berührten oder küssten. Eine zweite Frau, nicht gerade hübsch, im brokatnen Hosenanzug, vollführte rhythmische Zuckungen auf einem kreisrunden Blechpodium vor dem Gehäuse des Disc-Jockeys. Diese Eintänzerin verlockte sieben oder acht Paare zu ekstatischem Tanz. Man hörte Beat von großer Ausdruckskraft und hoher Musikalität.

      Was Ben am meisten verwunderte: dass ausgerechnet eine Schwulenbar der gesittetste und zivilisierteste Ort in dieser  Stadt der Grobiane zu sein schien. Niemand berlinerte, keiner rempelte den anderen an, keiner, der drängelte oder Recht behalten wollte. Fast alle schienen gelassen, heiter, fröhlich. Warum waren sie hier überhaupt zusammengekommen? Sie nahmen voneinander nicht allzu viel Notiz. Ben erfasste im Nu den besonderen Reiz eines solchen Lokals: Man war unter sich, erst diese Tatsache führte zur weitgehenden Gelassenheit und Entspannung. Damit begannen die Freuden der Subkultur, zu denen auch ein gewisser Hochmut gehörte. Arroganz, eine stille, friedliche, durch nichts zu erschütternde Arroganz gegenüber den „Normalen“ da draußen war ihnen anzumerken.

     Bens Rolle an diesem Abend stand von Beginn an fest. Er war der blöde staunende Provinzler. Es galt nur, die Blödheit in Grenzen zu halten und so viel wie möglich zu erfassen. Er notierte am anderen Tag: Ich hoffe, mit dieser Schilderung den Beweis höchsten Wachseins angetreten zu haben … Zum ersten Mal hat vor mir eine größere Zahl von Menschen das Visier geöffnet und ich konnte sehen: Sie sind wie ich. Das war eine verteufelte Lage gewesen: zu wissen, dass es sehr viele Homosexuelle gibt, und doch nie einen gekannt zu haben. Diese Menschen laufen immer mit geschlossenem Visier durch ihren fürchterlichen Alltag, jeder ist einsam … Wir leiden, solange wir nicht den Mut haben, uns zu akzeptieren und zu emanzipieren.

 

Solange er in der Stadt war, verbrachte er beinahe jeden Abend im MC. Ben unternahm noch nichts. Er gebrauchte nur Augen und Ohren. Er wusste, er war auf der anderen Seite angekommen. Jetzt hatte er Zeit.

     Er blickte wieder einmal zur Decke. Da hing ein Wald von roten Kreppbändern herab und zwischen ihnen entdeckte er ein weißes Pappschild, darauf stand mit schwarzer Tusche gemalt: „Ich weiß, du bist heiß und asozial.“ Asozial war unterstrichen. Hatte er selbst das nicht schon einmal von sich gesagt? Und Ben begann zu träumen, zu phantasieren. Wovon: natürlich von der Freiheit.

     Einmal hörte er ein Gespräch mit an, das am Tresen geführt wurde. Der Barkeeper forschte einen unauffällig wirkenden jungen Mann aus.

     „Bist du oft an der Gedächtniskirche?“

     Der Gast (etwas erstaunt): „Mhm?“

     Der Barmann machte einen kleinen Scherz, den Ben nicht verstand. Darauf der junge Mann: „Ich war im Dienst dort!“

     „Ich weiß. Du … bist bei der Polizei, nicht?“

    „Ja.“

     Ben beobachtete die anderen Gäste und versuchte, sich die hier vorherrschenden Typen einzuprägen. Die leidenschaftlichen Tänzer. Die hingebungsvoll Verliebten. Die lasziv Selbstverliebten. Die kühlen Gesellschaftsmenschen. Die reifen Genießer. Es schien auch einen inneren Kreis zu geben. Die meisten von ihnen waren in Bens Alter und standen oft am Rand der Tanzfläche beisammen. Wie selbstsicher sie schon wirkten. Unvorstellbar, er selbst, Ben, könnte hier jemals mit solcher Selbstverständlichkeit auftreten. Sie kamen ihm vor wie auf eine Leinwand projizierte Filmgötter. Zwei junge Frauen waren zu ihrem exklusiven Kreis zugelassen und bewegten sich in ihm mit der gleichen Leichtigkeit.

     Der Barmann hieß Guy und unterhielt sich ab und zu mit ihm. Guy wollte wissen, wann es wieder nach Hause gehe. Ben fragte ihn, wo er daheim eine Bar wie diese finden könne.

    Guy überlegte kurze Zeit und sagte dann: „Ganz einfach. Wenn ich irgendwo fremd wäre - ich würde zur Polizei gehen und fragen: Wo ist denn hier ein Lokal, in dem nur Männer verkehren?“ Guy sah auch danach aus. Ben wird sich so etwas nie zutrauen.

 

Es war Freitagabend. Ben war schon fast eine Woche in der Stadt. In dieser Nacht war die Bar überfüllt. Ben saß eingezwängt zwischen den vielen Herumstehenden. Er hörte einen Endzwanziger mit einem Fünfziger verhandeln, es klang geschäftlich. Dann gingen sie bald fort. War es ein Strichjunge gewesen?

     Vor ihm stand jetzt ein etwas zarter, nicht mehr ganz junger Mann von mediterranem Typ. Als Zwanzigjähriger konnte er hübsch gewesen sein. Seine Art zu beobachten gefiel Ben: kein dumpfes Hinschauen oder Gaffen, der Blick verriet Intelligenz und Wachheit. Mit ihm müsste man gut reden können.

     Ben stand auf und fragte ihn, ob er auch allein sei und sich vielleicht zu ihm setzen wolle. Die Verständigung war von Anfang an schwierig. Ben sprach nur wenig Englisch, dafür etwas mehr Französisch. Bei dem anderen, einem Mexikaner aus New York, war es umgekehrt. Ben wiederholte sein Angebot und Manuel ließ sich an seinem Tisch nieder.

     Der Mexikaner war einunddreißig, von Beruf Chemiker und seit fünf Jahren in den USA. Neben Berlin besuchte er Hamburg, Frankfurt und Amsterdam. Er hatte außerdem Italien auf dem Programm. In den meisten Städten wollte er Freunde von früher wieder sehen. Er zog ein Buch mit den Adressen von Bars heraus. Also hoffte er, noch weitere Freunde zu finden. War die Reise eine Sex-Tour? Ben ließ ihn die eigene Stadt nachschlagen, doch sie fehlte in diesem Verzeichnis.

     Manuel wollte nichts mehr trinken. Er sei „fatigué“ und wolle bald ins Hotel zurück. Er habe morgen viel vor … Sein Hotel lag an der Lietzenburger Straße und Ben schlug ihm vor, ihn bis dahin zu begleiten. Die Schlüterstraße sei gleich um die Ecke. Unterwegs fragte Manuel, ob sie in Bens Hotel zusammen sein könnten. Ich war sehr überrascht …(Sag mal, Ben, wie alt warst du damals?)

     ... und auch neugierig, wie es ablaufen würde. Außerdem hatte ich das Gefühl, es ihm keinesfalls abschlagen zu dürfen. Ich war mir darüber im Klaren, dass mein Verhalten missverständlich gewesen war und ich mehr als er zu diesem Verlauf beigetragen hatte. Er konnte nicht wissen, dass es mir nur um normalen mitmenschlichen Kontakt und ein Gespräch gegangen war. Also nahm ich ihn mit, wir huschten im Hotel an der Rezeption vorbei und nahmen den Lift erst ab der zweiten Etage. Übrigens  war ich völlig nüchtern.

     Sein erstes Mal ging entsprechend weiter. Die Zimmertür abschließen, sich auskleiden und zueinander ins Bett steigen, das Licht löschen. Ich wusste gleich, dass es nicht sehr amüsant würde. Er war mir sympathisch, jetzt noch mehr als vorher, doch fatalerweise erregte er mich sexuell nur in sehr geringem Maß. Ich hatte Mitleid mit uns beiden, vor allem mit ihm, diesem schmächtigen Burschen, der in ein paar Urlaubswochen einen halben Erdteil nach Sex abgraste. Ich sah, dass er früh altern würde …

     Wenigstens Manuel kam zum gewünschten Ergebnis. Sie sagten sich noch etwas Nettes, dann schloss Ben die Tür auf und zeigte ihm den Weg zum Lift.

     Nachher notierte er: Ich werde das nie wieder tun: einen Menschen um ein Uhr kennen lernen, um viertel vor drei mit ihm ins Bett gehen und ihm vor halb vier auf immer „Adieu“ sagen. Das ist mörderisch. Offenbar war es das dann doch nicht.

 

Abends sagte Guy: „Der Tisch hier ist reserviert, aber du kannst  sitzen bleiben, bis sie kommen.“ Guy bediente heute an den Tischen. Und als sie kamen, trank Ben sein Bier langsam weiter aus und stand nicht auf. Die beiden hatten ihn nur aufgefordert, ein Stück zur Seite zu rücken. Otto war Mitte fünfzig und sah älter aus. Rolf war dreißig und kam Ben zuerst wie Anfang zwanzig vor. Otto fummelte an Guy herum, der sich lachend in Sicherheit brachte, wenn er das Getränk abgestellt hatte. Irgendeiner sagte, Otto sei wer und habe Einfluss.

     Otto sagte von sich, er sei ein Freund der Jugend. Gleich nach seiner Ankunft  war er vorhin in der Halle des Bahnhofs Zoo auf Rolf gestoßen und hatte ihm schon zwanzig Mark fürs Mitgehen gegeben, nur als Anzahlung. Rolf war zum ersten Mal im MC. Er hatte einen kräftigen Körper und sein Gesicht verriet allerlei: angeborene Schwermut, erworbenes Phlegma und viel Selbstbewusstsein. Hübsch war er nicht, doch alles an ihm versprach Lust.

     Otto erzählte, er komme aus Hannover und habe einen jungen Geliebten in Duisburg. Und obwohl er für ihn im Lauf der Zeit schon zwanzigtausend Mark ausgegeben habe, wolle der jetzt nichts mehr von ihm wissen.

     Der Alte wollte, dass Rolf und Ben miteinander tanzten. Ben machte es Spaß, sich auf der Tanzfläche zu schütteln und zu verrenken. Rolf tat etwas schwerfällig mit. Dann kehrten sie zum Tisch zurück und küssten und streichelten sich. Otto streichelte mit. Ben drückte die Finger des Alten immer wieder zur Seite. Otto beklagte sich darüber, dass sie ihn so spröde behandelten. Er schlug vor, zu dritt auf ein Hotelzimmer zu gehen.

 

     Ben sagte: „Ich bin kein Strichjunge. Such dir dafür einen anderen … Ich werde heute Nacht mit niemand schlafen. Ich will mich hier nur amüsieren, wie die anderen auch.“

      „Rolf, sag doch was.“ – „Mir ist alles recht. Aber Ben ist der Jüngste, er muss entscheiden.“

     Otto ließ Guy kommen und verhandelte über ihn als Mittelsmann mit einem blonden Strichjungen. Der wollte es für zehn Mark und einige Drinks machen. Otto verschwand für längere Zeit.

     Rolf sagte, er sei Arbeiter bei Siemens. Er wohnte noch zu Hause und konnte Ben nicht mitnehmen. Vielleicht könnten sie sich am nächsten Abend woanders treffen. Sie beschlossen, bis zur Polizeistunde in der Bar zu bleiben. Sie tanzten noch einmal und saßen danach länger am Tresen. Bens braune Lederjacke lag währenddessen an seinem früheren Platz. Als er gegen Morgen nachsah, war die Brieftasche fort und das Geld und die Papiere auch.

     Otto kam zurück. Er fragte: „Habt ihr euch geliebt? Oder habt ihr euch nur gern gehabt?“ Als er vom Diebstahl hörte, empörte er sich: „So eine Gemeinheit. Wie kann man so etwas machen …Unerhört, dass das auch hier vorkommt.“

     Guy sagte: „Und ich sag allen Gästen immer, sie sollen nichts herumliegen lassen … Ich werd mal überlegen, wer heute besonders viel ausgegeben hat. Lass mich mal nachdenken.“

     Sie blieben weiter in der Bar. Otto ging irgendwann. Rolf war so müde, dass er seinen Kopf in Bens Schoß legte und einschlief. Ben schickte ihn nach Hause. Um sieben war er mit Guy allein im Lokal. Einen Verdacht gab es nicht.

     „Du musst es der Polizei melden, sonst kannst du nicht abfliegen.“

 

Am Abend bekam Ben nur Rolfs Mutter ans Telefon. Rolf schlafe fest. Sie wollte ihn nicht wecken.

     Guy glaubte sich inzwischen zu erinnern, wer in der letzten Nacht am Nebentisch gesessen hatte. Waren es nicht der blonde Stricher und zwei Mädels gewesen? Der Barmann sagte, er wisse, wo der Kerl arbeite. Er werde ihn dort mal besuchen.

     Am Montag sprach Ben bei der Flughafenpolizei vor. Es hieß, er brauche für den Abflug zwei neue Passbilder und müsse eine Erklärung unterschreiben. Das ließ sich machen.

     Als er später in Siemensstadt anrief, war Rolf gleich am Apparat, seine Stimme klang interessiert und kameradschaftlich. Ben fing an, auch die Stimme erotisch zu finden. Sie trafen sich am Dienstagnachmittag bei Aschinger. Ben war zuerst etwas enttäuscht. Rolf sah bei Tag weniger jung aus und zeigte schlechte Zähne. Gewiss, er war ihm noch immer sympathisch … Während sie Kaffee tranken, fragte sich Ben leicht beunruhigt: Erwartet er heute Fortschritte?

     Sie fuhren mit dem Bus zu einem Fotografen, den Rolf gut kannte. Felix wollte sie beide telefonisch anmelden, doch es meldete sich niemand. Trotzdem führte ihn Rolf an der nächsten Ecke durch ein großes Tor und sagte in dem schmutzigen Gewölbe: „Hier ist es.“ Sie waren im Hinterhof, eine Tür war offen. Rolf rief gedämpft: „Fernand!“ in die Räume hinein, die halb unter der Erde lagen. Daraufhin zeigte sich ein hübscher Mittzwanziger, groß und schwarzhaarig, in der Tür. Er winkte ihnen. Sie gingen hinunter, durchquerten einen Vorraum und gelangten in ein Arbeitszimmer. Der Hübsche hieß Mark und stellte seinen Freund vor, der noch jünger war. Fernand sei unterwegs. Sie begannen zu warten.

     Ben sah sich im Zimmer um. Da lagen ein Stadtplan von München, Berliner Boulevardblätter, ein Band Musil, Fachbücher über Fotografie, Aufnahmen von Frauen. Noch ein junger Mann traf ein. Alle warteten auf Fernand. Die anderen redeten über gewöhnliche Eckkneipen im Viertel.

     Endlich kam Fernand. Er war in den Dreißigern, sah aber älter aus. Nachher erfuhr Ben von Rolf, der Fotograf verdiene sein Geld mit Aktaufnahmen, auch von Frauen.

     Die anderen fünf redeten jetzt durcheinander, doch nur Beiläufiges, Alltägliches. Ben vermutete, dass sie ihm nicht trauten und auf der Hut waren. Rolf bat Fernand,  Passbilder von Ben zu machen. „Sein Ausweis ist ihm geklaut worden.“ – „Wo denn?“ – „In so `nem Schuppen am Nollendorfplatz.“ – „Er soll morgen Mittag kommen, um eins. Abends sind die Bilder fertig.“

     Der Fotograf erwartete einen Kunden. Er wollte allein mit ihm sein. „Geht bitte einzeln raus.“ Die anderen drei marschierten jeder für sich kurz hintereinander ab, Ben ging drei Minuten nach ihnen mit Rolf auf die Straße.

     Draußen sagte Rolf: „Ham se dir gefallen? Die sind alle auch so veranlagt.“  Er erzählte, wie er Fernand kennengelernt hatte. Beide waren im gleichen Bezirksjugendhaus Gruppenleiter, Rolf bei den Pfadfindern. Natürlich laufe da nichts mit den Jungen, woher denn, aber die Gruppenleiter untereinander passten manchmal zusammen. Das also war Rolfs Welt. Er ging sonst nicht auf den Strich. Er sagte: „Die zwanzig Mark von Willi waren `ne Ausnahme … Du kannst beruhigt sein: Er hat von Anfang an vorgehabt, sich da noch einen Dritten zu angeln … Zwischen uns beeden? Nee, da is nischt vorjefallen!“

     Sie tranken jetzt Cola in einem Lokal am Savignyplatz. Ben hörte, das sei die Börse der Strichjungen aus der Klappe an der Platzecke, da verhandelten sie mit den Freiern. Auch Hippies und Anarchisten verkehrten hier. Jetzt waren kaum Gäste da. Ben besah sich die Einrichtung, die Wände, den Fußboden: alles in Graubraun – er glaubte den Schmutz und die Schande zu schmecken.

     Ob Ben nicht mit ihm in eine weniger belebte Gegend möchte? Sie nahmen die S-Bahn Richtung Grunewald. Sie war nur spärlich besetzt und sie hatten ein Abteil für sich. Hinterm Westkreuz begann Rolf zärtlich zu werden. Ben wehrte ab: Es könne doch jemand kommen.

     Rolf hatte schnell seine eigenen Schlüsse gezogen. Auf ihrem ausgedehnten Spaziergang versuchte er kein einziges Mal, Ben noch einmal zu berühren. Er erzählte dafür viel aus all den vergangenen Jahren. Dieser Wald hier spielte darin immer wieder eine Rolle und auch der Teufelssee, zu dem sie jetzt gingen. Der Weg war sandig und stellenweise so weich, dass das Gehen beschwerlich wurde. Die Dämmerung schritt immer weiter fort. Die Umrisse der Kiefern verschwammen. Der See lag mitten im Wald in einem noch sandigeren Loch, dessen Ränder bereits nicht mehr zu erkennen waren. Auf der anderen Seite erhob sich ein Berg mit Kuppeln und Lichtern auf der Höhe.

      „Der Teufelsberg“, sagte Rolf, „ein Trümmerberg, da sitzen die Amis und lauschen nach Osten.“

     Sie entdeckten nur ein gemeinsam schweigendes männliches Paar, das im Sand ausgestreckt auf die völlige Dunkelheit wartete. Die beiden berührten sich noch nicht. Rolfs Geschichten waren interessanter. Sie kehrten um und Ben ließ ihn wieder von den Pfadfindern und seinen vielen Reisen erzählen.

     Es war Nacht, als sie wieder in die Nähe des Bahnhofs kamen. Der finstere Waldweg hatte Alleecharakter. Ebenso regelmäßig wie die höheren Einzelbäume standen die Sexjäger an seinen Seiten und warteten. Sie warteten auf andere, die ebenfalls Kontakt suchten in der Anonymität einer gespenstischen Nacht und den Weg zum See langsam hinaufgingen. Es waren Dutzende, reglos im Schatten stehend, kaum dass ein Kopf sich einmal andeutungsweise bewegte. Die Augen mussten dafür umso beweglicher sein. Was erkannten sie? Ben konnte sich nicht in sie hineinversetzen. Nur selten blieb einer vor einem anderen stehen. Meistens geschah auch dann nichts und der Hinzugetretene zog sich wieder zurück und ging weiter. In großen Abständen verschwanden doch einmal zwei miteinander in der Schonung rechts vom Weg.

     An der Station sah Ben, wie sie einzeln aus dem Gebäude oder vom Parkplatz herkamen und rasch in der Finsternis verschwanden. Es waren fast nur junge Männer.

     „Ich war vier Jahre lang nicht im Revier“, sagte Rolf. „Mann, der Betrieb hier hat aber zugenommen … Früher, da war es nicht so offen. Und sie haben sich nicht so dicht an die Siedlung herangetraut.“

     Sie fuhren zurück und saßen noch zwei Stunden im MC zusammen. Jetzt wurden sie doch noch zärtlich. Ben konnte sich wieder vorstellen, mit Rolf zu schlafen, aber für diesen Abend war es schon ausgeschlossen.

 

„Warst du nun endlich bei der Polizei? Nur am Flughafen, nur nachgefragt? Du musst es richtig anzeigen. Wenn einer mit dem Ausweis Mist anstellt, kannst du Ärger kriegen.“ Guy war mehr hinter der Sache her als Ben selbst. Also ging er am nächsten Morgen zur Kriminalinspektion Schöneberg, die nur zwei Minuten vom MC entfernt lag.

     Der Kriminalhauptkommissar war ein leutseliger Mann um die sechzig. Er sagte: „Aha, aha!“ und „In diesem Schuppen da?“ und begann mit Ben zu plaudern. „Zum ersten Mal hier? Gefällt Ihnen?“ Dann entdeckte er, dass Ben aus *** kam. Er erinnerte sich sehr rasch, gerade in diesem Zehntausendseelenvorort einer mittleren Industriestadt des Südwestens früher mal einen gekannt zu haben. Das war schon ein Vierteljahrhundert her, ein Kriegskamerad, er hatte ihn seitdem nicht wiedergesehen. Er dachte gern an ihn zurück … „Na, und Sie, kucken Se sich Berlin noch orntlich an. Mit der Sache sind wir dann wohl durch?“

     Ben ging noch zweimal zu Fernand, der ihn beide Male allein empfing. Vom Atelier des Fotografen war er enttäuscht. Keine Ausstattung, keine Utensilien  - das mussten interessante Modelle sein, die hier auf eindeutige Weise posierten. Fernand machte vier Aufnahmen für Passbilder.

     Der Fotograf zeigte ihm vorn im Arbeitszimmer zwei Pornohefte aus Dänemark. „Sie sind sonst bei uns nur schwer zu haben. Werden für fünfundzwanzig Mark gehandelt. Vielleicht Interesse?“

     Ben nahm sie in die Hand. Er sah gleich, sie enthielten nur heterosexuelle Akte und Stellungen. Er bemühte sich, sie höflich durchzublättern, und fragte sich, mit welcher Reaktion Fernand gerechnet hatte: Soll ich mir vielleicht nur die Männer ansehen und dabei wie eine Frau fühlen? Die Aufnahmen stießen ihn leise ab und er gab die Hefte dankend zurück. Ben kam nicht auf den Gedanken, Fernand um Magazine anderer Art zu bitten.

     In seiner zweiten Woche in der Stadt verliefen die Tage allmählich bereits nach einem Muster. Ben ging morgens vom Hotel über Kudamm und Tauentzien und kaufte unterwegs eine Zeitung. Dann zog er sich in eine Ecke des Lützowplatzes zurück. Dort konnte man auf einer Bank im Grünen, abgeschirmt vom Verkehr, stundenlang lesen. Er ließ sich von der Frankfurter Rundschau die Weltlage erklären. Vietnam und kein Ende. Die Bundestagswahl versprach spannend zu werden.

     Er aß irgendwo in der Nähe etwas im Stehen. Er bummelte durch Schöneberg, Charlottenburg oder Wilmersdorf und durchquerte den Tiergarten von Süd nach Nord und von West nach Ost. Es zog ihn jetzt nicht mehr in die Vororte.

     Bei wiederholten Anrufen in Siemensstadt war Rolf nicht zu bewegen, sich erneut mit ihm in der Stadt zu treffen. Er war müde von der Arbeit, er hatte vor dem Zahltag kein Geld mehr. Sie hatten einander schon in der ersten Nacht versichert, sie seien jetzt Freunde. Ben fühlte sich ihm verbunden. Er ging jeden Abend ins MC, ohne sich anderen zu nähern oder sie an sich heranzulassen. Er kam früh ins Hotel zurück. Morgens war er ausgeschlafen und wenn er am Nachmittag auf sein Zimmer zurückkehrte, brauchte er keinen Schlaf mehr. Die Zeitung war schon ausgelesen, soweit ihn die Artikel interessierten.

     Ben besuchte die Buchabteilung im KaDeWe und kaufte einen dicken Band mit Erzählungen von Schnitzler. Er las sich rasch durch Leutnant Gustl und Fräulein Else. Wunderbar, so in den Kopf eines Menschen hineinsehen zu können. Wunderbar, wie das dahinfloss … Es war wie der Atem des Lebens selbst. Ben versuchte sich darin, wie diese Helden von Schnitzler zu denken und zu empfinden. Wer weiß, vielleicht fließt es eines Tages auch so aus ihm heraus und er kann es auf Papier festhalten. Vorerst begnügte er sich damit, sein Tagebuch fortzuführen. Doch der Schwung der ersten Tage in der Stadt war dahin.

     Der blinde Geronimo und sein Bruder rührte ihn so stark, dass er fast weinte. Und am Schluss küsste der Blinde den Bruder!

     Rolf konnte auch am Freitagabend nicht zum Zoo fahren. Jetzt war seine Schwester mit dem Schwager unerwartet aus Westdeutschland zu Besuch gekommen. Am ersten Abend möchte er dann doch zu Hause bleiben. Ich habe das natürlich akzeptiert wie alles andere auch. Wenn er angibt, nicht zu mir kommen zu können, nehme ich es eben hin. Aber am Schluss schrieb er: Leider besteht ein Unterschied zwischen seiner Hingabe bei Nacht und seiner Verlässlichkeit bei Tag.

 

„Essen hatten Sie ja leider nicht“, stellte der Hotelangestellte bei der Abrechnung am Samstagmorgen fest. Ben zahlte und brachte die Reisetasche in einem Schließfach im Bahnhof Zoo unter. Er sollte erst vierundzwanzig Stunden später fliegen. Die Nacht würde er mit Rolf verbringen.

      Er hielt es an diesem letzten Tag nicht mehr im Stadtzentrum aus. Er mochte nicht bis zum Abend auf immer die gleichen Kaufhäuser und Hotels blicken. Dieses West-Berlin begann ihm zu eng zu werden. Er war schon fast über die Reise hinaus. Nein, nein, das Schönste wird noch kommen. Er ist ja verabredet.

     Ben fuhr mit der S-Bahn nach Heiligensee, das er noch nicht kannte. Er las die Wochenendausgabe der Zeitung. Der Tag verging ihm schneller, als er gedacht hatte. 

     Wie vereinbart wählte er um halb sechs Rolfs Nummer. Niemand hob ab. Ben ging mehrmals die Budapester Straße hinauf, umkreiste die Gedächtniskirche und kehrte zum Telefonieren zum Bahnhof Zoo zurück. Oder er nahm die Joachimstaler und bog am Hotel Frühling am Zoo in den Kudamm ein. Die abendliche Stadt begann sich zu füllen. Die Aussicht, einen Abend und eine ganze Nacht allein zwischen Paaren und Gruppen verbringen zu müssen, trieb ihn immer wieder zum Bahnhof und in eine Telefonzelle hinein.

     Erst beim fünften Versuch meldete sich Rolfs Vater. Es war kurz nach sieben. Rolf sei bei seinem Bruder in Moabit. Ben konnte sich die Nummer aufschreiben. Rolfs Stimme war stockend, drückte Abwehr und Unwillen aus.

     Ben sah auf die Doppelstockbusse, die den Platz umkreisten, und sagte sanft: „Du, ich hab mir die letzte Nacht freigehalten,  für dich  …“

     Die Stimme am anderen Ende verwandelte sich etwas. „Tut mir leid. Ich bin da in eine Feier reingeraten … Ich bin schon seit dem Mittagessen hier und dann hängen geblieben. Und ich hab auch kein Geld mehr, du weißt schon …“

     „Trotzdem kannst du noch kommen. Morgen – morgen bin ich endgültig weg.“

      Ben musste ihn nicht weiter drängen. Er versprach, gegen acht vor Aschinger zu sein. Aber er kam erst gegen halb neun, und Ben ging es am Schluss nur noch darum, dass die letzte Nacht in der Stadt nicht wie die erste ablief. Diese vierzehn Tage mussten doch ein Ergebnis gehabt haben, eines, an das er in der kommenden Zeit würde zurückdenken können.

     Rolf schien zunächst verlegen und überwand es dann rasch. Er redete wieder viel und verstand es, seine fadenscheinigen Ausflüchte etwas auszubauen und wahrscheinlicher klingen zu lassen. Es schien, er wurde dadurch nicht nur Ben, sondern auch sich selbst wieder sympathischer. Daraus ergab sich eine wechselseitige Rückkoppelung, die sich allmählich verstärkte. Bald standen sie wieder wie in den ersten Tagen zueinander.

     Ben bezahlte die Rechnungen, die sie an diesem Abend machten. Sie saßen zuerst im Alt-Nürnberg unter lauter Touristen. Dann war es Zeit für das MC. Sie blieben sechs Stunden. Sie verliefen nicht viel anders als vor einer Woche. Otto fehlte zwar, sie tanzten nicht und die Brieftasche konnte kein zweites Mal gestohlen werden – Bedeutung hatte es kaum. Sie gingen miteinander aus, sie waren mit sich und dem anderen einverstanden und bestätigten es sich gegenseitig. Außer der körperlichen Anziehungskraft gab es nichts, woran sie sich hätten halten können.

       Rolf war tatsächlich nicht hübsch, doch sehr zärtlich. Am meisten liebte Ben den Ausdruck seiner Augen, wenn er geküsst hatte. Sie waren dann groß, glänzend und drückten umfassende Befriedigung aus. Sie war also leicht zu erreichen. Es waren vor allem seine Augen und seine zärtlichen Hände, die Ben wünschen ließen, ihn nicht loszulassen.

     Als es drei Uhr vorbei war, begann Rolf einzuschlafen. Ben verabschiedete sich von Guy. Über die Brieftasche wurde jetzt nicht mehr gesprochen. Ben weckte Rolf und sie gingen langsam und schweigend durch die Straßen zum Bahnhof Zoo. Ben holte seine Reisetasche aus dem Schließfach und dann warteten sie in der Halle zwischen anderen übernächtigten Gestalten.

     „Ich schreib dir von da unten. Bald schon.“

     „Wir sehen uns bestimmt mal wieder. Mensch, war doch schön mit dir.“

     Um halb fünf wurde der U-Bahnhof geöffnet. Sie gingen sofort hinunter.

     „Du musst nicht mehr mit zum Flughafen kommen. So müde, wie du bist. Fahr heim und schlaf dich aus.“ Ben sagte es und hoffte, Rolf würde sich aufraffen und sagen: Nee, nee, bis zum Schluss bleib ich schon bei dir.

    „Ja, eigentlich hast du Recht. Ich geh dann gleich rüber zu meiner Bahn.“

    „Also, ich besuch dich mal.“ – „Klar, machst du.“ Und er zog schon seine Hand von Bens Schulter zurück und drehte sich um. Bevor er die Treppe hinaufging, winkte er ihm noch einmal zu. Er war kaum verschwunden, da hatte Ben das Gefühl, die Bilanz seiner Reise stimme nicht.

      Ben musste eine halbe Stunde auf den ersten Zug warten. Er blickte hinüber zum anderen Bahnsteig. Er konnte Rolf zwischen den Stützträgern nirgends entdecken. Dann kam die erste U-Bahn nach Ruhleben und bei ihrer Ausfahrt sagte sich Ben: So, das war’s jetzt für diesmal.

     „Schlesisches Tor, einsteigen. Schlesisches Tor, zurückbleiben.“ Indem er seine Augen von der Reisetasche und dem Einstiegsboden hob, sah er, wie Rolf im letzten Augenblick an der nächsten Tür in den gleichen Wagen stieg. Er schien Ben nicht bemerkt zu haben. Hat er vielleicht geglaubt, mein Zug sei schon fort?

     Sie nahmen beide wie auf Verabredung Plätze ein, von denen sie sich nicht sehen konnten. Ben sah ihn an keiner Station unterwegs aufstehen und aussteigen, bis er selbst am Halleschen Tor die Linie wechseln musste.

     Der Zug zum Schlesischen Tor war am Gleisdreieck auf die Hochbahntrasse gewechselt. Ben sah jetzt Berlin zum ersten Mal im Zwielicht des allerfrühesten Morgens. Er sah sich um und über die Stadt. Ja, es war ein „fahler“ Morgen, wie es in den Romanen heißt. Die Stadt schien ihm jetzt eine Geisterstadt zu sein, von hektischen Gespenstern bewohnt. Er durfte sich für das blutleerste von ihnen halten. Die Stimmung draußen war grau, hoffnungslos. Alles verschwamm. Über nichts konnte eine klare Aussage getroffen werden. Es gab keine wirklichen Konturen. Er hasste Berlin, wieder einmal …

     …und liebte es zwei Stunden später sehr stark, als das Flugzeug abhob. Eine großzügige Stadt, mit wunderbarem Klima. Ich dachte an das, was ich zurückließ: das MC, den Kudamm, die Tauentzien, die Plätze, Quartiere, die märkischen Fleckchen am Rande. Ich dachte an die Menschen, die jetzt ihren Platz in meinem Leben haben, an Guy, an Manuel, an Otto, den Freund der Jugend, an Rolf, an Fernand und die anderen, von denen ich nur die Gesichter kennen gelernt und behalten hatte. Wir flogen über die Urania, das Dorland-Hochhaus. Trotz allem, da unten, das war meine Welt. Ich wusste, dass ich zurückkehren würde, immer wieder.

     Er war schon bei den Eltern und schrieb das noch auf. Dann ging er nach sechsunddreißig Stunden zum ersten Mal wieder schlafen.

    

    

 

 

 

                                                  5

 

Ben war also von Frankfurt aus erst noch zu den Eltern gefahren. Er blieb fünf Tage bei ihnen und ging dort im Kopf nur in Berlin herum. Was ihn umgab, sah er wie eine unbekannte, wenig reizvolle Gegend aus dem Flugzeug heraus an. Er sprach kaum noch mit seinen Leuten und versuchte fortwährend Strategien für die nähere Zukunft zu entwickeln. Er wird halt da unten bleiben müssen, zumindest vorläufig. Gleichzeitig plante er schon für den Herbst die nächste Reise nach Berlin.

     Nicht ganz so leicht wie die Familie ließ sich Ulf aus dem Bewusstsein verbannen. Bei seinem vorigen Besuch hier war er mitgekommen, vom Morgen bis zum Abend waren sie sich nahe gewesen. Die Erinnerung daran loszuwerden, war eine Aufgabe, die sich jetzt immer wieder neu stellte und die er nur für jeweils kurze Zeit löste, indem er sich ins MC versetzte. Er seinerseits hatte es geschafft, er durfte nicht mehr zurückfallen.

     Er war hier noch mit Hauptwohnsitz gemeldet und ging auf das Amt, um sich einen neuen Personalausweis ausstellen zu lassen. Als er mittags mit ihm nach Hause kam, lag ein dicker Umschlag ohne Absender in seinem Zimmer bereit. Er war in Berlin abgestempelt und enthielt seine Brieftasche mit dem alten Ausweis, sonst nichts. Hatte Guy mit dem Stricher gesprochen?

     Sein Urlaub war fast zu Ende, als er wieder da unten ankam. Er stieg am Hauptbahnhof in die Fünf und als sie am Hofbräukeller vorbeifuhren, drehte er den Kopf zur anderen Seite. Es war Freitagnachmittag, gut möglich, dass er jetzt da drinnen sitzt, mit wem auch immer. Nein, auch er hat ja Urlaub …

     Das ist also der Spätsommer, stellte er fest, als er in das Seitentälchen hinunterging. In den Gärten pflückten sie Äpfel. Er stieg den Garten zur Villa hinauf und dann im Haus die Treppe, ohne dass ihm einer begegnete. Friedlich war es hier, er würde sich wieder einleben. Ein guter Ort, um zu lernen. Nein, er wird so bald nicht wieder umziehen, wenn überhaupt noch einmal in dieser Stadt hier.

     Er packte aus und legte das Tagebuch auf den Tisch. Nicht wenige Seiten hatten sich auf der Reise gefüllt. Er durchblätterte sie im Stehen und hatte das Gefühl, jetzt endlich etwas in der Hand zu haben. Er setzte sich gleich an den Tisch und schrieb: Für meinen Beruf gilt von nun an, dass ich nur arbeite, um in der freien Zeit meinem Privatvergnügen nachgehen zu können. Lohnende Kontakte zu anderen Menschen – so genannten Kollegen – erwarte ich vom Arbeitsleben nicht mehr.

     Am Tag darauf bummelte er wieder durch die Altstadt. Er lief die gleiche Strecke wie vier Wochen zuvor ab, jetzt in entgegengesetzter Richtung. Es kam dabei so wenig wie beim vorigen Mal heraus. Weinstuben, Nuttenbars, Imbisshallen, Tankstellen – und nirgends eine Fassade, die ihn auch nur entfernt an das MC hätte erinnern können. Ben fuhr hinauf und schrieb: Ich fühle mich jetzt so einsam wie noch nie in meinem Leben. Seit ich Berlin und das MC kenne, weiß ich, ich muss nicht einsam sein. Es muss etwas geschehen …

     Es gelang ihm erst am Sonntagmorgen, seine Lage vorübergehend zu stabilisieren. Er fuhr nach dem Frühstück mit der Straßenbahn über die Stadtgrenze hinaus und wanderte durch ein Tal mit alten Mühlen. Dann kam er in einer Gartenstadt heraus, so adrett wie eine Ansichtskarte oder ein Musterhauskatalog. Alles so klein und fein und dabei nach seinem jetzigen Empfinden vollkommen steril. Er kam sich überflüssig vor, wünschte einen Wolkenbruch herbei und fuhr rasch zurück in die Stadt.

     Auf seinem Zimmer schrieb er dann einen Brief an Rolf.

     Sein Urlaub war zu Ende. Am Montagmorgen begann für die jungen Männer der wirkliche Ernst des Bürolebens, den sie noch gar nicht kennengelernt hätten, aber so arg werde es auch wieder nicht kommen. Sagte der Personalchef in einer kleinen Rede vor ihnen. Er hinkte beim Gehen und alle seine Äußerungen wirkten redlich bemüht, dabei im tiefsten Grund lustlos. Ben, sieh ihn dir an, so sieht einer aus, der Karriere gemacht hat. Ist es das wert?

     Sie wurden noch einmal vereidigt. Danach kam Ulf zu ihm herüber und strahlte ihn beinahe so an wie früher. Wie es in Berlin gelaufen sei? Ben geriet sofort ins Schwadronieren. Eine tolle, eine richtige Großstadt, es gebe keine Sperrstunde und das sei auch gut so. Er habe ganz neue Einblicke bekommen … Konkreter wollte er lieber nicht werden. Ulf ließ ihn nicht aus den Augen, solange sie noch im Saal waren.

     „Wir sehen uns ja bald wieder regelmäßig.“ Ulf  meinte: wenn man demnächst anfangen würde, sie zu tüchtigen Fachkräften heranzubilden. Ben dachte: Sieh an, er fühlt sich mir immer noch nahe, aber er ist es nicht mehr. Und er hat mich auch nicht außer dem Dienst sehen wollen.

     Sie trennten sich und fuhren jeder in einen anderen Stadtteil.

     Ein Jahr lang würde Ben nun auf dieser Außenstelle verbringen. Der Vorsteher war einer von der milden Sorte, wie es schien, zwar nicht liberal in seinen Auffassungen, dafür mit dem gewissen Parteibuch ausgestattet. In früheren Zeiten hätte einer wie er ein anderes besessen. Ben teilte das Zimmer mit einem Sachbearbeiter Anfang dreißig. Man sah ihm sogleich an, dass auch er Dienst und Privatleben deutlich zu trennen wusste. Sein Auftreten verriet, dass sein Kopf mehr enthielt, als er hier im Amt benötigte. Die Umrisse seiner Persönlichkeit verschwammen in einem Nebel von Unbestimmtheit. Der Sachbearbeiter führte ihn in die neue Materie ein und sagte: „Man darf es sich nicht zu leicht machen … In Norddeutschland sind sie da ziemlich lax. Unglaublich, wie viele Fehler die sich da erlauben.“

     Ben notierte abends für sich: Noch nie hat ein so genannter neuer Lebensabschnitt mich so kühl gelassen. Was ich jetzt tue, ist so belanglos.

     Der Vorsteher sagte mehrmals in der Woche: „Wir sind eine große Familie.“ Ben fand es abgeschmackt.

     Es war Freitagnachmittag. Statt den Nachmittag draußen zu verbringen, saß Ben auf seinem Zimmer und versuchte eine Bilanz der ersten Woche. Sie fiel düster genug aus.

     Habe ich wirklich ein Programm? In Wahrheit hat sich Leere ausgebreitet … Meine Isolierung hier ist total. Wo keine Person ist, der ich mich mitteilen kann, erstirbt auch jedes sachliche Interesse. Wie ich mich jetzt langweile … Ich habe einen sehr hohen Grad an Ungebundenheit, Uninteressiertheit und negativer Freiheit erreicht … Ausbildung? Diese Vokabel verursacht mir langsam Brechreiz. Oberschule, Abitur, Universität und jetzt etwas „Praktisches“ – wie ich den Plunder satt bin! Nichts als Geld will ich verdienen und genügend Freizeit übrig behalten. Ich kann mir bereits vorstellen, dass ich auch dies hier abbreche und in einer Fabrik arbeite …

     Er hatte im Amt Lohnunterlagen einer großen Firma zu Gesicht bekommen und sich über die Lohnsummen gewundert. Die gezahlten Beträge erschienen ihm beinahe fürstlich, gemessen am eigenen Salär.

    Von Rolf war noch keine Antwort auf Bens Brief gekommen.

     Ben fuhr am Sonntag noch einmal aufs Land, eine Stunde weit mit dem Bus auf eine abgelegene, dünn besiedelte Hochfläche. Er hatte die Samstagausgabe der Zeitung dabei, mit den Stellenanzeigen. Ja, sie suchten da einen zum Anlernen für diese Fabrik. Er wusste, die Aktiengesellschaft besaß auch in Berlin ein Werk. Er ging auf der Hochfläche herum und kam noch zu keinem Entschluss. Die Gegend hier hätte ihm gefallen können, so kühl und herb, wie sie war. Aber er übersetzte sich ihren

Reiz und bezog ihn auf die eigene Situation. Er litt unter seiner Einsamkeit mehr als je seit der Abreise von Berlin.

    

So enden bürgerliche Hoffnungen. Ich habe wieder einmal getan, was ich wollte. Man handelt ja doch nie richtig. Wichtig ist nur, dass man überhaupt handelt, dass man die Konventionen und Denkschablonen beiseite fegt, dass man ausbricht …

     Er hatte erst am Dienstag in der Mittagspause in die nahe Fabrik gehen können. Vom Personalbüro schickten sie ihn gleich in die Werkshallen. Es waren von außen riesige, im Innern wabenartige Gebäude. Der Meister der Bauschlosserei führte ihn herum, dann kam der technische Leiter der Abteilung. Ben sagte wahrheitsgemäß, er schätze sich als blutigen Anfänger ein, doch interessiere ihn die Mechanik. Beides traf zu, das Letztere allerdings nur in einem übertragenen Sinn: die Mechanik von Beziehungen. Handwerk und Technik hatten ihn immer nur gelangweilt. Ben wurde bei ihrem Rundgang beklommen zumute, was er vorhatte, war vielleicht der Kopfsprung eines Nichtschwimmers vom Zehnmeterturm hinab ins eiskalte Wasser. Er glaubte es, als er sich sagte, gerade das reize ihn. Und er wolle beweisen, dass er es könne. Alles können, wenn man es will. Er wird auch hier viel lernen müssen. Und er will, er will. Er unterschrieb rasch den Arbeitsvertrag.

     Nach Tisch präsentierte er dem Sachbearbeiter gegenüber die Neuigkeit. Erst jetzt kam er mit ihm ein persönlicheres Gespräch. Der andere sagte, es sei wohl ein Fehler … Indessen, er könne ihn auch verstehen. Ben solle in die Gewerkschaft eintreten, da könnten sich neue Möglichkeiten für ihn ergeben.

     Auch der Vorsteher gab sich menschlicher als bisher, er war entrüstet, verletzt. Es habe so etwas in der Geschichte des Amtes noch nie gegeben. Man werde den Hund nicht zum Jagen tragen. Ob er eine Durchschrift seiner Kündigung angefertigt habe, nein? Ben sagte: „Nein. Woraus Sie entnehmen dürfen, dass mir die Arbeit hier nicht liegt.“ Der Vorsteher fasste es als Kränkung auf, sie zankten sich noch eine Weile und schrieen sich zum Schluss an. Zitternd vor Wut packte Ben seine Sachen zusammen und ging zur Straßenbahn.

     Am anderen Morgen war er also Fabrikarbeiter geworden. Außer ihm selbst und außerhalb des Werkes wusste es noch niemand. Er stand nur früher als sonst auf und fuhr die gleiche Strecke mit der Straßenbahn.

     „Kommen Sie aus dem Gefängnis?“ fragte ihn der Vorarbeiter. „Wenn wir ausnahmsweise mal Deutsche bekommen, dann immer nur von dort.“

     Die anderen Männer in der Werkshalle wirkten südländisch –  aber er selbst doch auch: Wie oft ist er für einen Jugoslawen oder für einen Türken gehalten worden, von Männern aus diesen Ländern, die einen Landsmann in ihm vermuteten. Ben bekam nicht heraus, woher die neuen Kollegen stammten. Allgemein wurde während der Arbeit so gut wie nicht miteinander gesprochen. Man nickte sich zu, reichte sich etwas hin, machte eine fordernde oder abwehrende Handbewegung. Alles im gut eingespielten Rhythmus der Produktion. Das griff ineinander wie Zahnräder in einer großen Maschinerie. Sie verarbeiteten hauptsächlich Bleche und stellten daraus etwas Größeres, Zusammenhängendes her, Arbeitsplatten, Regale, Schränke. Man sah unmittelbar, was man schaffte.

     Es wurden ihm für den Anfang einfache Arbeiten wie Hämmern oder Zurechtbiegen aufgetragen. Ben ging einen Vormittag lang darin auf. Er musste sich stark auf jede einzelne Verrichtung konzentrieren. Wie leicht ging ihm etwas daneben. Dann musste er es wiederholen und dabei drängte die immer nachwachsende Menge weiterer zu verarbeitender Teile zur Eile. Schneller, sauberer, schneller … Er kam gerade so mit und war doch im Rückstand, als eine Sirene ertönte. Alle anderen ließen sofort ihre Arbeit stehen und liegen und gingen weg. Ben nahm es nur halb wahr und arbeitete weiter. Da ging auf einmal das Deckenlicht aus und einer stand neben ihm und sagte barsch: „Aufhören! Pause.“

     Ben ging auch hinaus. Die meisten anderen waren verschwunden. Einige standen zu dritt oder viert auf dem Hof zwischen den Mauern. Sie steckten die Köpfe zusammen, ohne viel zu reden, und berührten sich fast an den Schultern. Ben lehnte gegen eine Mauer und aß die mitgebrachten zwei Pausenbrote auf.

     Am Nachmittag musste er stanzen und nieten. Scharniere aus Leichtmetall waren an Schranktüren aus Blech zu montieren. Ben hatte eine Art Bolzenschussgerät in der Hand und gewöhnte sich rasch an die Handhabung. Es ging zunehmend schneller, er arbeitete bald wie im Rausch. Produzieren, produzieren … Einige Stunden später nahm der Vorarbeiter die Türen in die Hand. Er riss prüfend an den Scharnieren und verbog viele von ihnen ohne Mühe. Wortlos wies er Ben den Schrott vor, schmiss ihn auf den Boden und schob ihn mit dem Fuß ein Stück fort. Produktionsabfall, sollte das heißen. Ben arbeitete von da an langsamer und erkannte, wie schwierig es für ihn war, die Nieten so zu verankern, dass sie wirklich fest saßen.

     Er hatte noch nicht an den Feierabend gedacht, als er schon da war. Die Halle leerte sich ebenso schnell wie zur Pause. Ben ging hinaus, ohne dass ihm einer noch etwas sagte.

     Schon in der Straßenbahn war es ihm klar: Er wird da nicht mehr hingehen.

     Abends holte ihn Frau Julianka ans Telefon. Der Mannheimer Freund wollte ihn sprechen. Er hatte einen Brief von Ben bekommen und schien etwas zu ahnen. Frau Julianka war nicht im Zimmer, sie hatte sogar die Tür hinter sich zugemacht. Ben zog die Sache ins Lächerliche und sprach von der kleinen Episode, dem kleinen Ausflug. Der Freund sagte mit seinem Ben bekannten strafenden Unterton: „Du hast also wieder einmal alles hingeworfen. Typisch.“

     Ja, er hat Recht, wenn er Schnapsidee sagt. Ich bin froh, dass er angerufen hat. Immerhin: Ich habe nicht versagt und mir selber bewiesen, dass ich notfalls auch das kann. Aber es war doch eine Schnapsidee. Die Arbeitsverhältnisse sind unmenschlich. Das Proletariat ist eine graue, gedrückte Masse. Dazu will ich, wenn irgend möglich, nicht gehören.

     Er bereute nicht, den Dienst auf dem Amt quittiert zu haben. Dahinter hatte nicht die Sehnsucht nach der Werkbank gestanden. Er durchschaute sich endlich: Es war kein Brief von Rolf gekommen, jetzt brauchte auch keiner mehr einzutreffen. Er wird am Montag nach Berlin fliegen und sich dort Arbeit suchen.

 

Sammy geht fort! Also noch vor mir … Von allen hier oben war er mir am liebsten …

        Ben sah von seinem Fenster aus, wie der kleine Asiate seine Siebensachen durch den Garten zu einem wartenden Auto trug und dann rasch wegfuhr. Er hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Er musste gedacht haben, Ben wüsste Bescheid. Es war ja die Rede davon gewesen, er würde bald nach Köln übersiedeln.

      Höchste Zeit, selbst auch zu verschwinden.

 

Am Wochenende fuhr er noch einmal nach Mannheim. Der Freund sagte noch einige Male: Du hast also wieder alles hingeworfen … Aber Berlin reizte auch ihn. Wenn Ben sich dort etabliert haben wird, wird er vielleicht die Uni wechseln und selbst hinziehen. Sie wollten schon seit langem eine Zeitschrift herausgeben und dachten sich das so ähnlich wie die Schülerzeitung, an der sie beide jahrelang mitgearbeitet hatten. Sie waren uneins über den Titel des Blatts. Der Freund war für Human und Ben schlug immer wieder Die Apokalypse vor.

     Als er in der Villa ankam, lag ein Zettel von Frau Julianka auf der Treppe. Sein Vater hatte angerufen und ihn zu sprechen verlangt. Das Amt hatte einen Brief an die Eltern geschrieben und sie darüber aufgeklärt, dass ihr Herr Sohn sich selbst aus dem Dienst entlassen hatte. Der Alte wollte am Montagmorgen herunterkommen und ihn sprechen. Ben solle ihn auf seinem Zimmer erwarten.

     Ben rief gleich zu Hause an. Er wird am Montagmorgen nach Berlin fliegen und sich Arbeit und Unterkunft suchen. -  Nein, er wird auf dem Zimmer warten. - Wird er nicht! - Sie schrieen sich an wie neulich auf dem Amt Ben und der Amtsleiter. Aus dem Machtwort wurde ein ohnmächtiges. Ben war schon ausgebrochen, nicht mehr einzufangen. Der Alte begriff es, er war ja nicht blöd. Er ließ ihn noch mit der Mutter zanken. Sie erreichte nichts, keine Zusage für irgendeine Rücksicht oder Vorsicht. Sie hatte nur wie so oft das Schlusswort in solchen Debatten, elegische Tragödin, als die sie sich sah. Den Wortlaut vergaß Ben sofort vollständig.

     Fort, fort, fort. Eine Wunde und ein Hautfetzen. Man hat sich gefürchtet, ihn abzureißen. Dann ein Ruck und während man reißt, kommt mit ein wenig Schmerz überraschend die Lust.

     Er hatte sich als Schüler einmal bei seinem Freund beklagt, es gebe keine Basis für Gespräche zwischen ihm und seinen Eltern. Und der Freund hatte aufmunternd festgestellt: Was beklagst du dich, wo keine Basis ist, da braucht man keine. Und heute warf er ihm vor: Du hast wieder einmal alles hingeworfen. Ja, auch er blieb zurück.

 

Er wohnte diesmal in einer kleinen Pension in Wilmersdorf. Auf dem Arbeitsamt boten sie ihm an, Krankenpfleger oder Verwaltungsmensch zu werden. Das war doch keine Alternative für ihn. Er ließ sich Anschriften geben, um sich schriftlich bewerben zu können. Nachher sprach er erst bei der S-Bahn, dann bei der U-Bahn vor. Beide suchten Zugabfertiger. Da könnte er eine Wartezeit überbrücken. Schlesisches Tor, einsteigen, Schlesisches Tor, zurückbleiben … Nichts leichter als das.

     Er rief Rolf an und beriet sich mit ihm. Er erfuhr nicht viel mehr, als er schon wusste. Rolf warnte ihn vor der Reichsbahn. Wer für die arbeite, bekomme nachher keinen Fuß mehr in den normalen Arbeitsmarkt. Sie könnten es noch bereden, morgen oder übermorgen. Rolf wollte einmal abends in die Stadt kommen. Heute sei er zu müde, er habe seit Bens Abreise nur zwei freie Tage gehabt. Ben sagte ihm nicht, dass er inzwischen selbst eine Fabrik von innen kennengelernt hatte. Er wollte ihn zuerst wieder anrufen und ließ es dann doch bleiben. Diese Geschichte war auch schon vorbei und er hatte in den drei Tagen hier genug zu erledigen.

     Zweimal ging er abends ins MC und redete mit Guy. Auch der Barkeeper sagte: Hände weg von der S-Bahn! Guy war selbst dabei, sich zu verändern. „Möglich, dass ich schon weg bin, wenn du ganz nach Berlin kommst.“ Der Nachtdienst sei ihm zu anstrengend, er wolle zurück in seinen erlernten Beruf und wieder im Einzelhandel arbeiten.

     Ben sah sich und die anderen jetzt wie Eisschollen in einem Strom rasch dahintreiben. Da es ihm dabei gerade so wie den Übrigen ging, empfand er kein Bedauern und schon gar nicht Trauer. In diesen drei Tagen in Berlin sah er sich endlich vorankommen. Er blieb diesmal nüchtern. Kein Enthusiasmus, keine ambivalenten Regungen mehr. Jetzt war er mitten im Leben angekommen. Wahrscheinlich bedeutete das nicht einmal viel.

     Am letzten Tag suchte er sich ein möbliertes Zimmer zum nächsten Ersten. Die Maklerin schickte ihn in die Uhlandstraße. Es war dicht am Kurfürstendamm. Gegenüber befand sich ein  größeres Teppichgeschäft. Einer hatte an die Fassade gekliert: Scheißt auf alle Teppiche! Als er durch das Tor in den Hof ging, verspürte er erstmals seit der Landung am Montag ein Hochgefühl. Hier wohnen zu dürfen …! Der Hof wies einige Bäume auf, deren Laub sich schon zu färben begann. Ihretwegen war es gerechtfertigt, von einem Gartenhaus zu reden. Und so hieß es ja auch in der Adresse, Gartenhaus und nicht Hinterhaus.

     Es war drei Treppen hoch, eine Riesenwohnung mit großem düsterem Berliner Zimmer. Alles roch nach Jahrhundertwende, für ihn roch es nach Jugendstil und Neuromantik. Dieser große Spiegel mit dem holzgeschnitzten Rahmen zwischen zwei hohen Fenstern - vergoldete Vögel pickten aus dem Schnitzwerk heraus nach vergoldeten Früchten. Er glaubte, dies sei noch nicht sein Zimmer, es erschien ihm zu prächtig. Da sagten die beiden alten Damen: Doch, hier ist es.

 

Er nahm wieder den Umweg über ***. Seine Eltern wirkten schon schicksalsergeben. Er sah sie geradezu vor sich altern. Er war ein schlechter Sohn mit einem schlechten Gewissen. Sie machten es ihm leicht, bis auf diese skeptischen Blicke, und nahmen seinen Entschluss jetzt ohne Einwände hin. Da ging einer seinen Weg und sie blieben weit zurück am Wegrand.

     Ben spürte jetzt wiederholt dieses scheußliche Gefühl in sich aufsteigen, das seine Kindertage manchmal vergiftet hatte. Das Bad am Sonntagmorgen noch im Haus der Großeltern … Er badete in einer Blechwanne, die für ihn in der Waschküche aufgestellt wurde. Die Waschküche lag im Keller und erhielt etwas Licht vom Garten her. Es war schummerig und trotzdem sah er auf dem zersprungenen Zementboden Kellerasseln umherkriechen. An der Wand stand eine unförmige Waschmaschine aus der Vorkriegszeit, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. Ben kratzte mit den Fingernägeln alte Salbe vom Hals ab und betrachtete sein Geschlecht. Da überkam ihn jenes Gefühl wieder, das stärkste, das er als Kind kennenlernte. Es war eine Mischung aus Überdruss, Ekel und Langeweile und es richtete sich, vergleichbar jähem Sodbrennen, gegen ihn selbst. Er empfand die eigene Existenz als etwas vollkommen Nichtiges, Wertloses. Für ihn würde es nie Freude oder Sinn geben, immer nur diese alles umfassende Unlust. Er verspürte dann allmählich Brechreiz aufsteigen, ohne jemals tatsächlich kotzen zu können, und zugleich heftigen Durst. Diese Krisen dauerten zwei, drei Minuten und mit ihnen verschwand auch der Durst. Sie waren ebenso plötzlich und heftig wie epileptische Anfälle und wie diese hinterließen sie ein Gefühl von Erschöpfung und Leere.

     Er war daran gewöhnt, sich zu beherrschen. Sein Gesicht verriet schon lange nichts mehr von seinen Gefühlen.

 

Er kündigte sein Zimmer. Frau Julianka begann ein Gespräch mit ihm über sein bisheriges Leben, seine Zukunft.

     „Ihre Eltern, sie machen es Ihnen ja nicht gerade einfach?“

     „O, nein, sie machen keine Probleme mehr.“

     „Aber Sie haben sich nicht mit ihnen vorher beraten …“

     „Das kann ich schon lange nicht mehr, eigentlich nie …“

    „Fühlen Sie sich Ihren Eltern vielleicht überlegen, da Sie mehr Bildung haben? Ist das das Problem? Sind Sie, entschuldigen Sie, vielleicht ein bisschen hochmütig?“ Sie lächelte ihn an.

     „Nein, nein, das ist es nicht. Nur, wie soll ich es sagen – es ist ein unmögliches Verhältnis. Sie hätten besser nie meine Eltern und ich hätte nie ihr Sohn sein dürfen. Diese Fremdheit, wissen Sie …“

     „Ja, ich sehe es ja auch … Und wie steht es mit Gott? Beten Sie zu Gott, beraten Sie sich wenigstens mit Gott?“

     „Ich bin kein Christ.“

     „Ja, was denn sonst? Doch nicht etwa Atheist – in Ihrem Alter weiß man noch nicht, was das bedeutet.“

    „Nein, auch kein Atheist.“ Er sagte, er sei Agnostiker.

    Sie stutzte, schwieg einen Augenblick und sagte: „O, ganz etwas Besonderes. Und so einen habe ich ein halbes Jahr hier im Haus gehabt. Nun, denken Sie wenigstens ab und zu an Gott.“

 

Er musterte seine gesamte hiesige Habe und teilte sie in drei Haufen. Der erste war unverzichtbar, diese Sachen würde er einpacken und im Flugzeug mitnehmen. Der nächste enthielt allerlei Überflüssiges und sollte von seinen Eltern in einigen Tagen abgeholt werden. Außerdem gab es Dinge, von denen er sich jetzt unbedingt für immer trennen wollte: verbrauchte Wäsche zum Beispiel, Zeitungsausschnitte und kleine, erst hier angeschaffte Gegenstände, die sich als nutzlos herausgestellt hatten. Er warf auch den Aschenbecher aus Blech dazu: alles für die Mülltonne.

     Es sah auf dem Fußboden wie nach einem Schiffbruch aus. Oder wie vor einem eingestürzten Haus, aus dem man noch einiges gerettet hat. Es war ein Zusammenbruch, es gab nichts zu beschönigen. Die Dinge vertraten die Hoffnungen seiner Jugend, die Erwartungen, in denen er sich getäuscht sah, nein, sich selbst getäuscht hatte. Wird Zeit, Ben, sagte er sich, dass du erwachsen wirst.

     Seine Eltern kamen am Wahlsonntag, um ihren Teil einzupacken. Sie brachten die Großmutter auch diesmal nicht mit.

     „Es ist nicht recht, dass es so gekommen ist, es ist nicht in Ordnung“, sagte die Mutter mit merklicher Bitterkeit.

     „Diese Diskussion können wir uns heute sparen. Jetzt heißt es: nach vorne sehen.“ Der Alte zeigte mitten im Zusammenbruch endlich einmal Format, fügte aber hinzu: „Nur die Sache mit diesem Berlin, die ist mir nicht geheuer.“

     „Und das Zelt, das brauchst du in Berlin natürlich auch nicht. Da gibt es nur Stein, in so einer großen Stadt … Habt ihr es wenigstens mal aufgestellt, du und Ulf?“

     „Das Zelt? Nein, haben wir nicht. Ich brauch es nicht mehr. Es kann weg. Ihr könnt es verschenken, falls es einer haben will.“

     Seine Mutter sagte, das werde sie nicht tun. Sie werde es aufheben, vielleicht würden ja mal Enkel da sein. Dann verluden sie alles und er fuhr mit ihnen zum Flughafen, um sein Gepäck für den Abflug einzuschließen. Die beiden setzten ihn an einer Straßenbahnhaltestelle ab und steuerten für ihre Heimfahrt die Autobahn an.

     Das Zimmer kam ihm leer vor, nachdem die Sachen fortgeschafft waren. Es hallte sogar ein wenig, obwohl es nur eine Dachkammer war. Es war hier beklemmend geworden. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Fensterbank und sah einige Szenen vor sich, die sich hier abgespielt hatten. Ulf zu Besuch … Nein, nicht an Ulf denken, dann noch lieber an Sammy. Und das Bezeichnendste war vielleicht, dass er hier tagelang einsam gelegen und andauernd gekotzt hatte. Als ob er da einen Nachholbedarf gehabt hätte …

     Er befragte sich, ob er jetzt Zukunftsangst verspürte. Es war in letzter Zeit schon wiederholt alles schief gegangen … Nein, das ist es nicht, nur großes Unbehagen wegen dieser Vergangenheit. Diese Labilität, die so viel Kummer gebracht hat. Wozu hat dieses halbe Jahr hier geführt? Zu nichts von Dauer. Er wird hier keine Spuren hinterlassen, bis auf eine Akte beim Personalamt.

     Im Garten wurde es unruhig. Er drehte sich vom Zimmer fort und sah hinunter. Frau Juliankas Tochter lief schnell die vielen Stufen zum Tor hinab. Er hörte seine Wirtin ihr hinterherrufen:

     „Hast du schon gewählt? Nein, noch nicht? Du musst unbedingt noch wählen gehen, hörst du?!“

     Die Tochter öffnete das Gartentor und wandte sich noch einmal um:

     „Aber was soll ich denn wählen?“

     „CDU, nur CDU! Hast du verstanden?“

 

Sechs Wochen später schrieb er aus Berlin einen triumphierenden Brief an Ulf. Wie gut es ihm gehe. Dass er jetzt noch mehr verdiene. Dass er schneller mit der Ausbildung fertig sein werde. Und Berlin sei bei Tag wie bei Nacht einfach wunderbar.

     Ulf antwortete bald. Ich hatte schon nach einer Woche versucht, Dich telefonisch auf dem Amt zu erreichen … Das sagt er mir jetzt und sich selbst auch, um sich zu beruhigen. An ihm hat es natürlich nicht gelegen … Zu meinem Erstaunen teilte man mir mit, dass Du gekündigt hattest. Du solltest angeblich in einer Fabrik arbeiten. Ich konnte es mir nicht vorstellen … Das ist nur der kleinste Teil von dem, was du dir nicht vorstellen kannst … Ich hoffe und wünsche Dir, dass Du in Berlin endlich das Milieu gefunden hast, das Dir vorschwebte. Es kann Dir niemand verdenken, dass es Dir hier nicht gefallen hat. Nur fade brauchte es auch hier nicht unbedingt zu sein, das liegt meistens auch etwas an einem selber. Ich gebe zu, dass das hiesige Bürgertum … Bürgertum? Na, egal … das hiesige Bürgertum einige Charakteristika aufweist, die ein Fremder nur schwer akzeptieren kann. Er sollte es aber, um aufgenommen zu werden. Ich glaube, unsere Freundschaft ist auch aus diesem Grund nicht so gediehen, wie wir uns das ursprünglich gedacht hatten. Außerdem deckten sich unsere Lebensinteressen und –gewohnheiten überhaupt nicht. Das soll jedoch kein Grund für gegenseitige Verdammnis sein. Und so habe ich mich auch sehr über Deinen Brief gefreut

     Ben legte den Brief auf Wiedervorlage in einem Monat. Er nahm ihn dann viele Jahre nicht mehr in die Hand.

 

 

    

    

                                             6

 

Ben kam sehr schnell doch noch ins rechte Geleis. Wie auf Schienen gesetzt, schnurrte sein Lebensfahrzeug vom ersten Tag in Berlin an der Zukunft entgegen. Die Zukunft! Sicher wird sie ihm das Glück bringen. Vorerst war er innerlich mit dem Lecken von Wunden und äußerlich mit der einfachsten Anpassung an veränderte Lebensumstände beschäftigt.

     Er landete am ersten Mittwoch im Oktober vormittags um halb zehn in Tempelhof. Er rief in einem Betrieb an, bei dem er sich schon schriftlich beworben hatte. Sie wollten ihn sofort sehen, sie mussten sich bis zum Nachmittag gedulden. Bereits am nächsten Tag fing er dort mit der Arbeit an. Und das war schon fast alles, was darüber mitteilenswert ist.

     Ben hielt in Berlin Arbeit und Privatleben sauber auseinander. Es kam insoweit zu keinen Komplikationen mehr. Als Arbeitnehmer ist er für uns hier nicht mehr von Interesse. Wahrscheinlich wird er bis zum Ende seines Berufslebens durchhalten.

     Seinen ersten Arbeitstag fand er amüsant. Sein Ausbilder oder Betreuer war auf Dienstreise. Um ihn zu beschäftigen, gaben sie ihm eine dicke Akte zu lesen. Ihr Held war ein gewisser XY, ein junger Mann, der das Büro ab und zu aufsuchte. Bens neue Kollegin, die hübsche, junge Frau O., fertigte nach jeder seiner Vorsprachen einen vielsagenden Aktenvermerk an. Er begann etwa so: „Herr XY sprach gemeinsam mit seinem Bruder hier vor …“ Ja, ihr, der löblichen Sachbearbeiterin, war etwas aufgefallen, das zwar nicht gerade zur Sache gehörte und dennoch nach ihrem Gefühl unbedingt festgehalten werden musste. „Vorsicht“, schrieb sie oder: „Achtung, § 175!“

     Das fing ja gut an.

     Ben ging abends oft ins MC. Er saß an einer der Wände und beobachtete die jungen Homosexuellen, wie sie sich gaben. Sie setzten sich zumeist gekonnt in Szene, wenn sie einander begrüßten, sich umarmten, sich flüchtig küssten. Dann redeten sie mit flinker Zunge längere Zeit miteinander. Sie tanzten auch viel. Ben fand sich ihnen jetzt unähnlich, ohne dass es ihn bedrückte. Er blieb für sich.

     Wenn er hin und wieder einen fand, mit dem auch er reden, tanzen, schmusen konnte, war es fast immer ein Ortsfremder. Da war ein junger Arbeiter, der erst vor kurzem auf unklare Weise der DDR entkommen war. Er lebte jetzt in Norddeutschland und besuchte für ein paar Tage Verwandte in West-Berlin. Drüben hatte er seinen Kampf um sexuelle Selbstverwirklichung gekämpft und dafür sogar in Bautzen gesessen. Er war schmächtig, unterernährt, fürs Leben gezeichnet und dieser Rest unzerstörbarer Vitalität an ihm war sehr rührend. Er verschwand plötzlich aus Bens Gesichtsfeld, um nie wieder aufzutauchen. Er konnte ebenso gut in den Osten entführt worden wie ein Doppelagent gewesen sein.

     Ungefähr zur selben Zeit sprach er im MC lange mit einem jungen Mann aus Ost-Berlin, der sich als Beauftragter der DDR-Regierung zu erkennen gab. Er sei zu Verhandlungen mit Senatsdienststellen in den Westteil der Stadt gekommen. Auf Bens Frage, wie er denn drüben zurechtkomme, lächelte er nur überlegen.

     Ben war jetzt mitten in der Subkultur angekommen, doch er wurde in ihr nie heimisch. Schon fühlte er sich zu den Rändern und Übergangszonen hingezogen, zu ungewöhnlichen Schicksalen, Einzelgängern und Extremtypen.

    

Im Frühjahr darauf durchlief er mehr aus Pflichtbewusstsein denn aus Neigung eine kurze Zweierbeziehung. Die schmerzfreie Lösung voneinander ergab sich nach sechs Wochen für beide wie von selbst. Ben stand nachher in der Szene besser da. Man hatte gesehen: Er war kein Unberührbarer. Er gewann nun rasch hintereinander zahlreiche neue Bekannte und ging mit keinem von ihnen ins Bett. Es stand bei ihm kein Vorsatz dahinter. Wer ihm nahe kam, verlockte ihn körperlich nicht. Dabei hatte er immer einen Stern, zu dem er aufsah und der ihm fern blieb.

     An einem Sommersonntagabend trieb er sich mit einer Gruppe junger Leute in Wilmersdorf herum. Die meisten waren auffallend angezogen und neigten zu kleinen Eskapaden. Er zog mit ihnen von einem Café ins andere. Sie gaben sich alle schriller, als es ihrem Wesen tatsächlich entsprach. Noch der exzentrischste von allen war ein großer, schlanker junger Mann, der mit seinen langen, dunklen Locken aussah wie das bekannte Selbstbildnis des jungen Dürer. Zwei pinkelten in der Ludwigkirchstraße in einen Hausflur.

     Es waren auch zwei junge Frauen darunter, die, wie man es  im Tierreich oft findet, im Vergleich zu den männlichen Exemplaren unscheinbar wirkten. Rita, die eine von ihnen, war klein, ein biederes, vernünftiges Büromäuschen. Sie schien die Königin der Truppe zu sein. Ben war zum ersten Mal mit ihnen unterwegs und verstand nicht, welche Kräfte da wirksam waren.

     Dann saß er mit den anderen in Ritas kleiner Wohnung herum. Alle stichelten gegeneinander, man kannte sich untereinander schon nur zu gut.

      Sie redeten auch über ein Haschlokal in der Nähe, das gerade in der letzten Nacht ausgebrannt war. Auf dem Weg hierher hatten sie die Hascher vor der Ruine hocken sehen, leise vor sich hin grummelnd, ihres Marktes beraubt. Obwohl damals fast alle noch in jungen Jahren, wirkten sie schon ältlich.

     Ben sah am liebsten zu dem hübschen Blonden hinüber. Er hieß Gunnar, war Beamtenanwärter und auf den ersten Blick recht attraktiv. Er bewegte sich knabenhaft kess mit zwischenzeitlichen Anwandlungen von junger Fraulichkeit. Dabei war er wohl erzogen, nicht dumm, nicht ungebildet. Er sagte, er liebe es, wenn zu Hause im Hintergrund das Radio leise laufe. Das beruhige ihn, da könne er besser lernen. Manchmal lachte er aufreizend. Das kam Ben wie ein Versprechen vor, wie eine Andeutung irgendeiner Rebellion oder von gemeinsam zu erlebender Unzucht.

     Rita verschwand mit Gunnar in der Küche. Sie schienen sich zu streiten. Die anderen wiesen bedenklich mit dem Kopf zur Küche hin. Was bereitete sich da vor? Da kam Gunnar heraus, mit rotem Kopf, sah süß und ungezogen aus.

     Gunnar sagte: „Bei allen toleriert sie es, nur bei mir nicht.“ Er sagte zu einem blonden Schönling – er war auch noch Friseur -: „Komm, gehen wir.“ Ben begriff erst jetzt, die beiden waren ein Paar.

     Als sie fort waren, sagte Rita: „Ich hab ihn rausgeschmissen.“ Es blieb für Ben unklar warum. Da er erst mit ihr ins Bett gegangen war und neuerdings auch mit Jungen schlief? Rita sagte: „Wenn man einen acht Jahre gekannt hat, vertraut man ihm natürlich. Ich hab dreimal mit ihm geschlafen, aber es war nichts Richtiges. Er hat mir fast den Globus abgerissen und da hab ich ihm gesagt …“

     Sie hechelten allesamt den Fall noch anderthalb Stunden lang fachmännisch und fachfraulich durch.

 

Dann drehte sich das Karussell einen Sommer und einen Herbst lang. Ben sah beinahe jeden Tag Leute aus der Clique. Da gab es ein Café dicht am Kudamm, das er fast täglich am Nachmittag oder am Abend besuchte, allein oder mit Freunden. Es lag da, wo die Uhlandstraße den Kudamm schneidet. Einmal rief ein Busunternehmen an, das Stadtrundfahrten anbot. Ob sie eine Führung mit Touristen machen dürften? Der Barkeeper holte den Geschäftsführer. „Nein, bedaure, das ist gegen die Prinzipien unseres Hauses.“

     Später traf man sich im MC oder einem anderen Nachtlokal am Nollendorfplatz. Manchmal saßen sie alle oder nur einige von ihnen in Ritas Wohnung zusammen. Oder es gab eine Fete bei Gunnar, der bald wieder zum Kreis gehörte. Ständig wurde telefoniert. Es bildeten sich Grüppchen, Abspaltungen. Der Klatsch blühte, die Intrige regierte. Man amüsierte sich oder tat so.

     „Du, ich mag dich, das ist jetzt keine Phrase. Ich wollte dir auch sagen, dass du sehr hübsche Hände hast …“ Ben fand Herbert überspannt. Er zog über Gunnar her. Der Anwärter hatte ihn einmal aus seiner Wohnung hinausgeworfen und ihm das Haustor nicht geöffnet. Herbert war im Hinterhof über eine Mauer geklettert und hatte im Nachbarhaus an einer Wohnungstür klingeln müssen, um auf die Straße gelassen zu werden. Ben verbiss sich das Lachen.

     Oder er ging mit Herbert, Gunnar und dem Friseur über den Kudamm. Auch der junge Dürer war dabei. Diesem fiel plötzlich ein, er müsse noch etwas bei Rita abholen. Der Friseur bot sich als Begleitung an. Nach ihrem Weggang sagte Herbert: „Natürlich muss man flirten dürfen, aber man sollte doch wissen, wo sein Bett steht.“

     Verdüstert pflichtete Gunnar bei: „Ja, und jetzt reden sie dort nur über mich.“

     Dürer und der Friseur kamen zurück. Bei Rita sei dieser Max gewesen, nur im Hemd. Die beiden seien gerade auf einem Trip gewesen, nichts mit ihnen anzufangen. Sie saßen dann zu fünft in Gunnars Wohnung zusammen. Über Gunnars Bett war eine nackte und überlebensgroße Papierblondine befestigt, mit roter Rose vor der Vagina. Rita erzählte Ben später, Gunnar habe Herbert nicht zum Geburtstag eingeladen. „Er will nicht, dass seine normalen Freunde etwas merken.“ Max sagte, er habe Lust, diese Freunde mal über Gunnar aufzuklären.

     Gunnars Ruf als feuriger Liebhaber litt immer mehr. Herbert tratschte herum, Gunnar sei im Bett ziemlich passiv und das sei für ihn, Herbert, recht unbefriedigend gewesen.

     Ben saß einmal nur mit dem Friseur in ihrem Stammcafé zusammen. Der Friseur sagte. „Herbert hat gestern im MC Fassbinder gesehen … Übrigens, ich ziehe nächste Woche zu Gunnar.“ Er nimmt ihn also auf, trotz der Rose vor der Vagina, ging es Ben durch den Kopf. Das muss Liebe sein … Und er selbst würde also vorerst nicht an Gunnar herankommen. Max und Herbert gaben der jungen Ehe keine große Zukunft. Dürer war anderer Meinung.

 

In diesem Sommer gab es Krieg in der Berliner Unterwelt. In einer anderen Seitenstraße des Kurfürstendamms floss Bandenblut. Ben stellte befriedigt fest, dass seine Stammlokale nicht erpresst und mit überdotierten Schlägern besetzt worden waren. Wenn er sein Zimmer verließ, um ins Café hinüberzugehen, wechselte er nur von einer Nussschale in die andere. Ob aus seinem eigenen Nusskern einmal etwas keimen wird?

 

Herbert sagte wieder einmal von Rita, die Frau sei für ihn gestorben. Und von Gunnar erfuhr Ben, er sei mit Rita in eine Schulklasse gegangen. Erst durch sie war er neuerdings mit Homosexuellen in Berührung gekommen. „Sie hat mich bis zuletzt für normal gehalten, bis zu diesem Sonntag, du weißt schon …“

     Gunnar verreiste einige Tage. Ben traf den Friseur im Café und musste sich das anhören: „Auf die eine Art verstehe ich mich recht gut mit ihm, auf die andere weniger. Wahrscheinlich zieh ich bald wieder aus.“

     Max setzte sich ein anderes Mal zu Ben und sagte mit wegwerfender Handbewegung: „Gunnar? Was willst du denn mit dem? Das ist doch `ne glatte Fehlinvestition, mein Lieber.“

 

Ben musste sich eine neue Bleibe suchen. Die alte Jüdin, seine Vermieterin, löste ihre Wohnung in der Uhlandstraße auf und zog ins Süddeutsche. Er nahm sich ein winziges möbliertes Appartement in einem Boardinghaus. Die Kleiststraße war gleich um die Ecke, dafür der Weg ins Stammcafé einige hundert Meter länger geworden.

     Bald danach schlug der Friseur Ben vor, an seiner Stelle zu Gunnar zu ziehen. „Er kann nicht allein wohnen, weißt du. Und ich kann nicht mehr lange bei ihm bleiben.“

     Gunnar vertraute sich einige Tage später ebenfalls Ben an. Die Anfangsschwierigkeiten seien überwunden, er richte sich auf eine lang dauernde Beziehung zu seinem Freund ein. Ben verstand ihn so: Er will wissen, was mir der andere schon gesagt hat. Dann kamen Dürer und Herbert und bemerkten, der Friseur sähe jetzt alles andere als glücklich aus. Ob es denn im Bett immer noch immer nicht richtig funktioniere? Gunnar sagte auch ihnen, diese Probleme seien gelöst. Und sie verstünden sich sogar so gut, dass er seinem Freund bis jetzt die Miete für das Zimmer gestundet habe. Herbert und Dürer blickten sich vielsagend an.

      Dürer sagte über Gunnar in dessen Abwesenheit, der Junge sei ja fade und völlig nichtssagend.

     Als Ben den Friseur das nächste Mal allein traf, bekam er zu hören: „Gott sei Dank, ich hab demnächst eine neue Wohnung. Wir streiten uns fast jeden Tag. Gunnar ist engstirnig und intolerant, im Grunde ein kleiner Spießer. Aber jetzt ist er wieder zu haben. Na, los doch!“ Er grinste Ben aufmunternd an.

 

Ben unterhielt sich oft mit Gunnar und kam ihm im Gespräch allmählich näher. Sie sprachen sich nicht offen aus, doch Ben glaubte sich verstanden zu wissen. Es hieß, geduldig zu sein und abzuwarten.

     Bei Gunnar tauchten jetzt ab und zu weitere Frauen auf. Paula, eine Kollegin des Friseurs, zog vorübergehend sogar zu den beiden Freunden. Einmal öffnete sie die Wohnungstür und stellte ihm ihre Freundin Silke vor. Silke hatte einen sehr schwul angezogenen Jungen mitgebracht. Aber Paula sagte in der Küche leise zu Ben: „Er ist normal und Silke hat keine Ahnung, was hier los ist.“ Bald kam der Friseur von der Arbeit und behandelte Ben recht kühl. Als sie aber alle gemeinsam in die Stadt aufbrachen, zwinkerte er ihm zu. Ben fand ihn jetzt sympathischer als Gunnar. In der U-Bahn unterhielt er sich nur mit Paula. Er gestand sich ein, dass Gunnar ihn zu langweilen begann. Sie besuchten eine Bar. Silke betrachtete alles mit großem Interesse und wunderte sich, dass keine Frauen da waren. Sie machte rasch hintereinander verschiedene Männerbekanntschaften und war beim Abschied von Ben ihrerseits recht kühl. Ben verabschiedete sich gleichgültig von Gunnar. Am Tag darauf fuhr er in den Urlaub, den er noch einmal zu Hause bei den Eltern verbrachte.

 

Als er nach Berlin zurückkam, war der Friseur von Gunnar weggezogen. Jeder der beiden erzählte allen anderen zu den Gründen seine eigene Version der Geschichte. Abgesehen von dieser Trennung ging alles weiter wie vor Bens Reise. Man traf sich in kurzen Abständen und in wechselnder Zusammensetzung in einem Café, einer Bar oder einer Privatwohnung. Man erörterte den Stand der Beziehungen eines jeden zu jedem anderen. Bens Zuneigung zu Gunnar kehrte teilweise zurück. Er probierte Gunnar gegenüber Zärtlichkeiten aus und gestand sich nachher ein, es seien weniger Tests gewesen, wie weit er gehen könne, als vielmehr Proben, wie stark Gunnar ihn selbst noch reize. So ähnlich prüft der Zahnarzt die Vitalität eines verdächtigen Zahnes.

     Rita würzte den Ablauf dieser Herbstwochen damit, dass sie ab und zu weitere alte oder neue Freunde von sich präsentierte. Es waren immer Homosexuelle. Unter ihnen war Waldemar, ein Handelsvertreter auf der Höhe seiner Zeit. Er liebte politische und andere Diskussionen, wenn sie mit ihm auch regelmäßig nicht zum Kern der Sache führten, sondern zerfransten. War dies allen deutlich geworden, zog Waldemar sich mit dem enttäuschten Ausdruck eines Spürhundes zurück, der in den Trümmern eines eingestürzten Hauses keine Leichen gefunden hat.

     Waldemar veranstaltete eine Fete. Alle aus Ritas Clique kamen, dazu Freunde von Waldemar. Aus ihrem Kreis erhielt Rita eine Reihe von Einladungen. Sie war wochenlang Abend für Abend ausgebucht. Dann konnte sie doch einmal mit Gunnar zu Ben kommen. Sie waren noch nie bei ihm gewesen, in seinem kleinen Vogelbauer.

     Ben notierte nachher: Gunnar hat sich einen großen Vorteil dadurch verschafft, dass sein Verhalten mir gegenüber widersprüchlich ist, dass ich ihn nicht fassen kann und über seine Vorstellungen von der Zukunft im Unklaren bleibe. Er ist mal spröde, mal betont herzlich, er vernachlässigt mich gelegentlich und lügt sogar und zeigt dann wieder ein Interesse an meinem Leben und meinen Sorgen, das durch Höflichkeit und Lust an Geselligkeit allein nicht zu erklären ist. Er ließ es sich gefallen, dass ich ihn zum Abschied auf die Wange küsste. Doch jede Reaktion blieb aus, die zustimmende wie die ablehnende. Er hütet sich, irgendeine Stellungnahme abzugeben und behandelt mich nur  wie einen guten Kameraden.

     Seine beiden Gäste tratschten auch über den Friseur. Es hieß, er sei vor seinen Schulden nach Westdeutschland geflohen. Gunnar sagte: „Wegen der Mietschulden werde ich nächste Woche einen Zahlungsbefehl erwirken.“

     Als sie wieder einmal zu mehreren im MC gewesen waren, gab Ben Gunnar nachher auf der noch immer belebten Kleiststraße den Freundschaftskuss. Gunnar war Rührung anzumerken. Aber die Sache selbst kam nicht voran. Sie sahen sich jetzt seltener.

     Gunnar rief wieder einmal an. Der Zahlungsbefehl war hinausgegangen. Sonst hatten sie sich wenig zu sagen. Es war Ben beinahe peinlich zu fragen, wann man ihn denn wieder mal sehen werde. Es hieß, möglicherweise am Sonntagabend im MC.

     Im Büro fragte ihn um diese Zeit die junge, hübsche Frau O. einmal ziemlich schüchtern, ob er vielleicht alleinstehende junge Männer kenne. Sie plante eine Fete und hatte bisher nur junge Frauen einladen können. Er grinste innerlich und hielt die zutreffende Antwort mit Mühe zurück: Na, und ob! Ich kenne fast nur solche – und dann noch Rita. Stattdessen wich er aus: Sein Bekanntenkreis sei noch nicht sehr groß. Er war dabei so abweisend, dass sie es nicht einmal wagte, ihn selbst einzuladen. Gewiss, es hätte seinen Reiz gehabt, mit zwei, drei Schwulen auf einer normalen Party mit Frauenüberschuss aufzutreten: Ritas Masche mal andersherum gestrickt. Aber ich will nicht mehr so viel spielen.

     Der subkulturelle Reigen ging pausenlos weiter. Rita konnte Fred, einen von Waldemars Freunden, nicht für länger an sich binden. Schließlich waren Gunnar und Fred das neue Paar. Es ließ Ben schon kalt. Womit hatte er diese letzten Monate nur vertan?

     Ben sah Gunnar wochenlang nicht. Dann entdeckte er ihn eines Abends im MC, wie er mit Max tanzte. Die beiden winkten ihm von der Tanzfläche aus zu.

     Später im Herbst rief Gunnar ab und zu wieder an. Manchmal trafen sie sich dann in einem Lokal in Neukölln, das ebenso gut das einzige Schwulenlokal einer westdeutschen Mittelstadt hätte sein können. Sie spielten dort nur ältere deutsche Schlager. Die Gäste waren in sich ruhende Kleinbürger aus der Nachbarschaft. Der Kontrast zwischen ihrer sonstigen allzu offensichtlichen Normalität und Durchschnittlichkeit und ihrem besonderen sexuellen Geschmack hatte für Ben jetzt etwas Exotisches.

     Gunnar erwartete dort regelmäßig Paula, mit der er sich in Neukölln verabredet hatte. Die Friseuse war inzwischen Barfrau geworden und lebte mit einem Transvestiten zusammen, ausgerechnet in Rudow. Dass manche immer bis an die Grenze gehen mussten … Ben begriff, dass Gunnar im Lokal nicht allein auf sie warten wollte und ihn nur aus diesem Grund dahin bestellt hatte. Doch was ihn früher gewurmt hätte, ließ ihn nun kalt. Er konnte sich jetzt viel besser mit Gunnar unterhalten als zu der Zeit, da er vielleicht in ihn verliebt gewesen war.

      Gunnar berichtete, er habe inzwischen die Zwangsvollstreckung gegen den Friseur auf den Weg gebracht. Natürlich werde der nicht zahlen können, wenigstens vorerst nicht. Doch er, Gunnar, könne sich ja Zeit lassen. Wie es schien, begegnete er ihm als Schuldner mit der gleichen Gefühlsstärke wie früher als seinem Geliebten. Er legte Ben die Rechtslage dar, sprach mit Verve von Fristen und von Hemmung. Ben dachte: Er hat alle Hemmungen verloren, wahrscheinlich liebt er ihn noch immer. Das also ist die Liebe eines Beamtenanwärters …

     Einmal fuhr er mit Gunnar im Nachtbus vom Hermannplatz nach Schöneberg. Sie kletterten nach dem Einstieg aufs Oberdeck. Ben musterte gewohnheitsmäßig die Gruppe junger Männer vor ihnen. Da erkannte er unter ihnen Rolf, er erkannte ihn an diesem langen, intensiven Blick. Dieser Blick, den er damals für seelenvoll gehalten hatte, kam ihm jetzt nur noch starr vor. Und er zeigte sich auch an ihm, während er über Alltägliches mit seinen Freunden sprach. Er war es wirklich, kein Zweifel, Ben erkannte auch den weichen, näselnden Klang seiner Stimme wieder. Und wer waren die anderen, war er damals im Morgengrauen zu einem von ihnen gefahren?

     Rolf krakeelte. Er war hässlich. Ein hässlicher, krakeelender Prolet. Ben war froh, dass Rolf ihn nicht wiederzuerkennen schien.

     Die ganze Clique traf sich kurz vor Weihnachten noch einmal bei Gunnar, der eine große Fete gab. Und man sah auch neue Gesichter, denn die jungen Frauen hatten ihre neuesten Eroberungen mitgebracht, alles junge Männer, die sie in den Schwulenbars aufgegabelt hatten. Einer von ihnen war ein guter Knef-Imitator, ein anderer, ein Südamerikaner, rief in kurzen Abständen „Santa Maria! Santa Maria!“. Und als Letzter traf ein Italiener ein, den Paula sich in der Rio-Bar angelacht hatte, die jetzt viel beliebter war als das MC.

     Es war der letzte oder, um genau zu sein, der vorletzte Kongress, den sie hatten. Denn einige Zeit später rief Waldemar Ben an und platzte gleich mit der großen Neuigkeit heraus: „Rita hat sich verheiratet!“ – „Wie, verheiratet?“ – „Na, richtig auf dem Standesamt.“

     Es war Klaus, ihn hatte es getroffen. Er war ein Kollege von Rita, sie arbeiteten im gleichen Großraumbüro. Man hörte ihn nie viel sagen. Er war meistens da, wo Rita sich zeigte, war  hübsch, sanft, still, schien unaufhörlich die anderen zu beobachten und sich seinen Eindrücken von ihnen zu überlassen.

     „Aber – ist er nicht stockschwul?“

     „Ja, natürlich.“ Die beiden hatten schon alle näheren Kontakte zu den anderen abgebrochen. Man sah sie in keinem Café, in keiner Bar mehr.

 

Lee war ein Chinese aus Manila. Er und Waldemar schrieben sich seit längerem Briefe. Lee hatte einen Lover in London, der ihm die Reise nach Europa bezahlte. Von London aus kam Lee auf seiner Rundreise auch nach Berlin. Ben lud die beiden zusammen mit einem jungen Theaterregisseur, den er seit einiger Zeit kannte, zu sich ein, in sein winziges Appartement.

     Das Quartett unterhielt sich abwechselnd in Deutsch und Englisch. Lee verstand natürlich kein Deutsch und Ben sprach damals noch kaum Englisch. Der Chinese war ein schmächtiger, keineswegs hübscher, doch sehr lebendiger blutjunger Mann. Er hatte etwas von einem extrovertierten Kater, der beim Streunen in eine fremde Wohnung gelassen wird und nach kurzem die anfängliche Hemmung verliert und erregt den Geruch der fremden Möbel aufnimmt. Es waren hier nicht nur die Möbel. Solange der Theatermann noch da war, fühlte Ben sich sicher. Sie sprachen über Lees Aufenthalte in London und in Spanien.

     Der Regisseur war fort. Die Diskussionen, die Waldemar wie immer gern in Gang brachte, führten zu nichts mehr. Ben fiel auf, dass Waldemar beim Abbruch eines Gedankengangs heute nicht so unbefriedigt aussah wie sonst, eher voll freudiger Erwartung. Ben hatte ihn noch nie so gelöst erlebt wie jetzt an der Seite des Asiaten. Wollten sie nicht alle drei noch in die Rio-Bar gehen? Waldemar schien den Aufbruch mit Absicht hinauszuzögern. Endlich gingen sie gemeinsam fort. Es war schon vereinbart, dass Ben am Tag darauf nachmittags zu ihnen zum Tee kommen würde.

     Ben nahm den Theatermann mit. Sie fanden auch Gunnar und Paula vor. Alle waren schon sehr heiter. Es war ein Sonntag.

     „Ben, wie lange soll dein Tee ziehen, drei oder fünf Minuten?“

     „Nur kurz, mach ihn ruhig anregend. Nach der letzten Nacht kann ich das wohl brauchen.“  Die anderen lachten alle.

     Sie saßen in dem abgedunkelten Raum weit auseinander und schlürften Tee. Die Beleuchtung war schummerig, die Musik auf mittlerer Lautstärke.

     „Ben, du weißt das Neueste noch nicht …“, fing Waldemar an.

     Gunnar und Paula lachten voller Schadenfreude. „Sag du’s ihm.“

      „Tja, unser junges Glück war nur von kurzer Dauer … Rita lässt sich schon von Klaus scheiden.“

     Der Theatermann hörte nur zu. Er schien sich alles einprägen zu wollen, den Fall an sich und seine Darstellung jetzt. Die drei johlten und warfen sich die Bälle zu.

     „Das war nur ihre Herrschsucht, nur deshalb hat sie sich einen wie ihn geangelt!“

     „Und sie hat wirklich geglaubt, er bleibt Abend für Abend bei ihr im Wohnzimmer sitzen …“

     „Aber Klaus hat sich nicht einsperren lassen. Er ist weiter in die Lokale gegangen.“

     „Rita hat es überhaupt nicht verstanden, sie war so was von enttäuscht.“

    „Ehrlich entrüstet, die Gute…“

    „Die Abgrundgute, die Ärmste! Ist sie wirklich so naiv oder spielt sie das nur?“

    „Aber dass es so schnell gehen würde, wer hätte das gedacht. Unser Klaus, so ein Stiller … Heiratet eine Frau und geht weiter auf die Mäusejagd.“

    „Und die beiden sind Tag für Tag im gleichen Büro. Wie peinlich, auch vor den Kollegen.“

    „Rita war es, die Schluss gemacht hat. Das hat sie nicht mehr mitansehen wollen.“

     Sie wurden immer fröhlicher und fanden kein Ende. Der Mann vom Theater konnte nicht länger bleiben, er musste bald zu einer Probe.

     Einer hatte die Musik lauter gedreht. Ben kam die Beleuchtung jetzt noch schummeriger vor. Gunnar tanzte mit Paula. Lee sah hungrig zu Ben herüber.

     Waldemar lachte. „Lee hat mir gesagt, dass er dich mag.“

     Ben lächelte zaghaft. Waldemar sagte etwas auf Englisch zu Lee. Der Chinese kam zu Ben und setzte sich auf den Rand seines Sessels.

      „Ben, einem Gast soll man keinen Wunsch abschlagen, das weißt du doch – also, was ist?“

      Ben sagte auf Deutsch, er finde Lee interessant und sympathisch, aber sexuell sei er nicht an ihm interessiert.

     Gunnar hörte auf zu tanzen und setzte sich Ben gegenüber in den Sessel. Paula tanzte allein weiter.

     Übersetzte Waldemar jetzt für Lee ins Englische? Die Reaktion des Chinesen war verblüffend, er umarmte Ben und gab ihn dann nicht mehr frei. Ben machte sich mit Gewalt los und suchte sich einen anderen Sessel. Dann waren die drei Männer bei ihm und standen um ihn herum. Paula hatte aufgehört zu tanzen, sie sank in den Sessel, den Gunnar verlassen hatte. Sie lachte laut und rief: „Ja, nehmt ihn ran, jetzt aber los!“

     Waldemar sagte: „Wir müssen dich schon lange mal verkuppeln … Findest du Lee denn nicht attraktiv?“ Lee warf sich mit dem ganzen Körper auf Ben. Ben schaffte es aus dem Sessel heraus nicht, ihn wegzudrücken. Paula krähte vor Vergnügen. Die beiden anderen Männer atmeten schwer und starrten Ben und den Chinesen voller Lust an.

     Gunnar sagte: „Er hat so eine weite Reise gemacht, da will er auch etwas mitnehmen. Also ich finde, du solltest dich ihm schenken.“

     Ben keuchte unter Lee heraus: „Aber ich will es nicht, basta.“ Lee fing an, ihm den Pullover herunterzuziehen, bekam ihn aber nicht über Bens Kopf.

     „Ich finde auch, du solltest jetzt den Pullover ausziehen. Wenigstens den Pullover. Dann passiert dir sonst nichts. Versprochen.“ War Waldemar in dieser Situation überhaupt noch glaubwürdig?

     Ben sagte: „Ja, wenn er mich dafür in Ruhe lässt.“ Waldemar sagte wieder etwas auf Englisch zu Lee. Der Chinese stand auf und blieb vor ihm stehen.

      Kaum war der Pullover ausgezogen, ging es erst richtig los. Die drei machten ihm die Hose auf und begannen, sie ihm herunterzuziehen. Ben wehrte sich und konnte sich befreien und lief im Zimmer herum. Sie jagten ihn. Paula lachte kreischend und feuerte sie an.

     Sie waren schon ein gutes Stück mit seiner Entkleidung vorangekommen. Auf einmal küsste Gunnar Ben auf den Mund. Das hatte es noch nie gegeben. Lee schob ihn und Waldemar zur Seite und klammerte sich an Ben. Der Chinese wog nicht viel und war doch nicht abzuschütteln. Er versuchte Ben zu küssen. Ben verweigerte den Kuss und verschloss den Mund fest. Da biss ihn Lee in die Lippe. Ben schrie laut.

     Jetzt ging Waldemar dazwischen und führte Lee in ein Nebenzimmer. Sie blieben dort lange. Ben hörte sie miteinander reden. Dann war es drüben lange Zeit still. Gunnar saß jetzt neben Paula in einem Sessel. Ben war kaum frei geworden, als er schon aufstand und zur Musik zu tanzen begann. Er tanzte sich und seine Einsamkeit. Paula und Gunnar rauchten.

     Waldemar kam mit Lee zurück. Der Chinese sah Ben nicht mehr an. Bald darauf verabschiedeten sich die Gäste.

     „Ich ruf dich bald mal wieder an“, sagte Waldemar zu Ben.

     Gunnar und Paula kamen mit hinunter. Auf der Treppe sagte der Beamtenanwärter: „Das eben, das war schon etwas peinlich. Für uns alle.“ Er hüstelte erst und lächelte dann. Er und die Barfrau nahmen die U-Bahn. Ben ging zu Fuß.

 

Ein neues Jahrzehnt hatte begonnen. Das MC kam allmählich aus der Mode. Ben ging jetzt am liebsten in die Rio-Bar, von der Herbert sagte: „Da sind so richtig maskuline Typen, es läuft mir manchmal kalt den Rücken runter.“

     Die beiden Bars lagen nur hundert Schritte voneinander entfernt. Manchmal ging Ben noch hinüber ins „Mutterhaus“. Und einmal bekam er wieder den alten Scherz zu hören, als er geklingelt hatte: „Sind Sie Mitglied? Sind Sie mit Glied – sagen Sie es doch …“ Ben erlitt einen Wutanfall, sie hätten wohl immer noch zu viele Gäste, dass sie sich derart alberne Witze leisten könnten. Nicht mit ihm. Er kehrte sofort um und ging zurück in die Rio-Bar.

     Wieder war es Winter geworden. Die Saison erreichte allmählich ihren Höhepunkt. Ben kannte inzwischen viele der Gäste vom Reden. Durch den Theatermann lernte er immer wieder neue Gesichter kennen. Einer schrieb an einer Rockoper. Ein anderer war Sänger an der Deutschen Oper und unterhielt sich oft lange mit Ben. Er war eine harmlose, gutmütige Seele. Sein häufigster Spruch, seufzend hervorgebracht: „Ich sehe schon, mein Weizen blüht hier heute mal wieder nicht.“ Dennoch blieb er Stunde um Stunde.

     Die fast immer überfüllte Bar bestand aus mehreren kleinen, ineinander übergehenden Räumen, zwei oder drei Tresen, einer Tanzfläche, Sitzgruppen hinter weiß lackierten Holzschranken und schmalen Durchgängen im maurischen Stil: weiß verputzt und mit Rundbogen. Die meisten Gäste standen herum oder schoben sich mit dem Uhrzeigersinn oder gegen ihn durch die Räume, immer auf der Suche nach alten Bekannten oder neuen Liebschaften. Man blieb plötzlich stehen, hielt den Betrieb auf, ließ sich schubsen. Die Durchgänge waren die besten Stellen, um rasch Kontakt zu finden. Hier staute sich der Verkehr immerzu und man wurde in kurzen Abständen gestreift und gemustert. Dann konnte man auf verschiedene Weise reagieren: unnahbar, zweideutig blickend oder seinen Charme spielen lassend.

     Ben wurde einmal überraschend angesprochen, ohne vorher berührt worden zu sein. Auch waren sich keine Blicke begegnet. Es war ein schwarzhaariger junger Mann, dezent und sympathisch in seinem ganzen Auftreten. Ob er Ben etwas zu trinken bringen dürfe?

     Sie unterhielten sich mitten im Torbogen. Andere stießen sie nun im Vorbeigehen an. Der Schwarzhaarige war drei Jahre älter als Ben. Er studierte in Berlin Jura und kam aus Bens heimatlicher Ecke. Seine Stadt lag keine fünfzehn Kilometer vom Hof der Eltern entfernt.

     Dass er Landsmann war, komplizierte die Sache schon für Ben. Beide sprachen sie Hochdeutsch. Ben bemühte sich vergeblich, einen deutlichen Akzent an der Sprache des anderen herauszuhören. Er gestand sich beinahe schuldbewusst ein, dass der Student reineres, akzentfreieres Deutsch sprach als er selbst. Hier angekommen und gut gelandet, das war es. Er selbst dagegen …

     Der Student gehörte nicht zu den Stammgästen, er kam nur etwa alle vier Wochen hierher und sprach leicht abfällig über das Durchschnittspublikum, dem er sich also nicht zurechnete. Und gehöre ich denn für ihn dazu, fragte sich Ben.

     Er drängte Ben bald zum Aufbruch. Ben zögerte. In diesem Augenblick verspürte er keinerlei Lust aufs Bett. Dabei fand er den anderen hübsch und war auch neugierig auf ihn, und zwar auf seine Person insgesamt. Er, Ben, sollte jetzt klarstellen, dass er heute Nacht mit keinem schlafen wolle. Stattdessen verließ er mit ihm die Bar. Im Ausgang begegnete ihnen Herbert. Gunnar und Fred seien im MC. Ben hatte Lust, zu ihnen hinüberzugehen. Dann saß er im Wagen des Studenten.

     Sie fuhren nur ein kleines Stück und verließen Schöneberg nicht einmal. Der andere hatte zwei große, komfortabel möblierte Zimmer in einer Riesenaltbauwohnung, nicht weit vom Innsbrucker Platz. Sie schlichen zuerst auf Zehenspitzen einen langen Korridor entlang. Der Student machte kein Licht, er führte Ben an der Hand durchs Stockfinstere. Dann tat sich eine erleuchtete Wunderhöhle auf. In seinem Wohnzimmer konnten sie wieder leise miteinander reden, sprachen jedoch nur Belangloses. Während der Unterhaltung entdeckte Ben im Hinüberschauen zum Bücherschrank einige seiner Lieblingswerke, fast alles von Thomas Mann, Musils Törless und Kafkas Amerika. Er hätte gern mit ihm über Literatur gesprochen und vermied es dann doch. Vielleicht passte es jetzt nicht.

      Der Student küsste ihn und bat ihn, mit in sein Schlafzimmer zu kommen. Dort konnten sie nicht miteinander reden, da die Vermieterin im Nebenraum schlief. Alles lief nun wortlos ab. Ben war es bewusst, dass er keinerlei Verlangen nach dem Körper des anderen verspürte. Das war sonderbar, denn er fand ihn noch immer hübsch und sympathisch.

      Der Student gab sich Mühe, Ben aufzutauen. Ben gelang es nicht, aus sich herauszugehen. Er beobachtete unablässig den Studenten und versuchte herauszufinden, ob er an ihm einen Zug fände, der ihm deutlich missfiele. Dann würde er sich eher geben können, vielleicht. Doch nein, der Landsmann, der Student war und blieb für ihn gut aussehend, freundlich, sympathisch. Sicher kam er aus gutem Haus. Wussten seine Eltern von seiner Veranlagung? Und wenn nicht, dann spielte es auch keine Rolle.

     Sie blieben immerhin eine Dreiviertelstunde zusammen.

     „Nun, heute sind wir wohl nicht in der richtigen Stimmung?“ flüsterte der Student. Sie zogen sich an. Dann führte er ihn wieder an der Hand durch den langen, unbeleuchteten Flur. Er brachte ihn im Auto bis in die Nähe seiner Wohnung. Er blieb freundlich, war dabei jetzt unverbindlich, korrekt vor allem.

     „Wie sehen uns ja sicher mal wieder. Schlaf gut.“

    Ben ging auf sein Haus zu, voll von Bedauern und Schuldgefühlen.

 

Sein zweites Frühjahr in Berlin kam. Ben blieb nicht mehr so viele Nächte in der Rio-Bar hängen. An den Wochenenden fuhr er nachmittags in den Grunewald, ins Revier. Er trieb sich stundenlang auf den Wegen und in den Schonungen herum. Anfangs beobachtete er zumeist nur.

      „Hast du vielleicht eine Sicherheitsnadel? Ein Königreich für eine Sicherheitsnadel!“ Ein junger Mann hielt verzweifelt beide Hände vor eine womöglich Anstoß erregende Blöße. Ihm war der Reißverschluss seiner allzu knappen Shorts aufgeplatzt und er genierte sich, so zum Bus zu gehen.

      „Scheiße im Freien, was?“ sagte ein blonder Student. Sie gingen auseinander. Ben hatte wieder einmal über dem Beobachten alles andere vergessen - vergessen, sich selbst dem anderen zuzuwenden. Er sah dem Studenten nach. Eigentlich ein netter Kerl, schade, dass er ihn hat laufen lassen. Ben, stimmt mit dir irgendetwas nicht?

     „Lässt du dich bumsen? Ich brauch das nämlich“, sagte dieses hübsche, breite, große Mannsbild, dem er schon oft in der Stadt begegnet war. Ben schüttelte den Kopf. Da ging der andere schwermütig lächelnd weiter. Jahre später wird Ben davon lesen, dass man ihn genau an dieser Stelle an einem Baum aufgeknüpft gefunden hat. Wirklich schade um ihn. Unter den Selbstmördern, die Ben kennenlernen sollte, war er der attraktivste.

     Nach einigen Wochen ging Ben dazu über, auch abends hinauszufahren. Es war schon fast dunkel, wenn er am Kudamm in den Neunundsechziger stieg. Mit zwei, drei anderen Fahrgästen verließ er den Bus an der Endstation. Dann ging jeder von ihnen die immer schattendunkle Hauptallee allein hinauf, scheinbar ohne die Genossen zur Kenntnis zu nehmen. Sie entfernten sich rasch voneinander und jeder wählte einen anderen Seitenweg oder –pfad. Die vielen Besucher hatten ein Netz schmaler Trampelpfade in den Kiefern- und Fichtenschonungen entstehen lassen. Vor den Nadeln nahm man sich besser in Acht, seine Augen brauchte man ja noch. Es war von Nacht zu Nacht unterschiedlich hell, es war nie ganz finster. Oft schien der Mond oder die Sterne blinkten bis in dieses Dickicht herunter oder ein rötlicher, brandiger Schein vom Großstadthimmel leuchtete herüber.

     Das Revier füllte fast das ganze Dreieck aus, das nahe der Stadt zwei zum Teufelssee führende Waldwege seitlich begrenzten. Der eine kam vom S-Bahnhof – hier endete auch der Bus, Linie neunundsechzig -, der andere von einem Waldparkplatz. Diese beiden sandigen, staubigen, leicht ansteigenden Wege vereinigten sich nach einigen hundert Metern. Das Revier war also gut erreichbar. Wie und von welcher Seite man auch gekommen sein mochte, früher oder später stand man auf der kleinen Lichtung in der Mitte, zu der all die vielen verschlungenen Pfade hinführten. Als einige Jahre vorher die Schonungen angelegt worden waren, war hier eine hohe alte Eiche wie eine Landmarke bei der Rodung stehen geblieben.

     Ben gewöhnte sich nach und nach an vieles. Seine Augen gewöhnten sich an die unterschiedlichen Grade der Helligkeit. Er gewöhnte sich daran, mit dem Kopf den benadelten Zweigen auszuweichen. Er gewöhnte sich daran, auf schmalem Pfad einem entgegenkommenden Mann Platz zu machen, sich dabei mustern zu lassen und währenddessen selbst zu mustern. Er gewöhnte sich daran, den anderen schnell einzuschätzen und schnell die richtige Entscheidung zu treffen. Kein Wort, nur eine Gebärde, eine Berührung. Er gewöhnte sich ein. Es war eine stille Welt. Eine stille Welt der Befriedigung.

     Er machte gelegentlich Bekanntschaften, die bei ihm zu Hause oder in einer fremden Wohnung vertieft wurden. Zwei wurden nacheinander seine Freunde und lösten sich nach Wochen oder Monaten von ihm oder er löste sich von ihnen. Dann sah man sich im Revier wieder, grüßte sich, redete miteinander und jeder ging erneut seiner Wege. Es war eine Welt fast ohne Verletzungen. Man glitt aufeinander zu, umarmte sich, löste sich und strebte neuen Begegnungen und Vereinigungen entgegen.

     Er war jetzt viel an der frischen Luft. Er wurde ausgeglichener, er wurde kräftiger. Er wäre jetzt gern auf dem Land gewesen. Manchmal fragte er sich: Warum bin ich noch hier in der Stadt? Und: War all das überhaupt nötig gewesen? Hätte ich nicht ebenso gut drüben bleiben können?

     Das Revier war auch ein Ort der Geselligkeit. Er lernte Männer kennen, mit denen er nur redete. Ein Kellner erzählte von München, da hatte er früher gelebt. Er verglich die beiden Städte miteinander. In so einer großen Stadt, sagte er, könne man vielleicht tausend Burschen haben, dann seien alle dran gewesen. In Berlin habe er inzwischen seine tausend Typen gehabt. Jetzt fange er mit den ersten von ihnen wieder von vorn an.

     Ben lernte einen Pädophilen gesprächsweise kennen. Er war sogar Lehrer und sah als Anfangdreißiger selbst noch sehr knabenhaft aus. Er  gestand, unwiderstehlich von Dreizehn-, Vierzehnjährigen angezogen zu werden. Ben sah keinen von ihnen je an diesem Ort. Warum verkehrte er hier? Der Lehrer erzählte mit gepresster Stimme von seinem starken Verlangen. Als ob einer hinter ihm stünde und ihm Strafe androhte. Und gerade dieses Bewusstsein schien ihm Genuss zu bereiten.

     Man alberte auch gern herum. Zu zweit in einem engen Gang stehen. Die Vorübergehenden durchhecheln. Ihr Parfüm erschnüffeln und ihnen hinterher rufen: „Mh, Maienblüte – wunderbar!“

 

     Ben wurde allmählich einschlägig bekannt in der Stadt. Er stellte es eines Morgens fest, als er an der Bushaltestelle stand und das Seitenfenster eines Lieferwagens plötzlich heruntergedreht wurde. Der Beifahrer grinste ihn freundlich an und machte den Fahrer auf ihn aufmerksam. Man wusste also über ihn Bescheid.

 

Ben ist wieder einmal umgezogen und wohnt jetzt in Wilmersdorf. Er hat ein sehr großes möbliertes Zimmer mit einer eigenen Küche, die er kaum benutzt, und mit zwei Einzelbetten, von denen eines nie belegt wird. Die gesamte Riesenwohnung im vierten Stock ist aufgeteilt und untervermietet. Die anderen Bewohner sieht er nur im Wohnungsflur.

 

Es ist schon Sommer, eine helle Juninacht. Viele sind heute gekommen. Ben nimmt fürs Erste Abschied. Am Montag wird er für ein halbes Jahr nach Westdeutschland geschickt. Er soll an einem Abschlusslehrgang teilnehmen und dann seine Prüfung ablegen. Eigentlich passt es ihm nun doch nicht, Berlin vorübergehend verlassen zu müssen.

     Er sieht sich hier heute Abend schon beinahe außer Konkurrenz. Dann bemerkt er, wie ihm einer in einem der dunklen Gänge folgt. Zwischen den jungen Kiefern ist es so eng, dass er nicht einfach stehen bleiben kann, ohne dass es wie Einverständnis aussieht. Er hat den anderen noch nicht richtig sehen können.

     Ben tritt auf die Lichtung hinaus und stellt sich in den Schatten der Eiche. Der andere folgt ihm, steht im Licht. Ben erkennt ihn sogleich.

      „Rolf! Dich gibt es also auch noch …“

     Rolf erkennt ihn nicht gleich wieder. Man sieht ihm das Älterwerden jetzt an.

     Ben erinnert ihn an ihre Bekanntschaft, an Otto im MC, an Fernand. Und Rolf erinnert sich auch. Er staunt. Es fällt ihm nicht ein, was er jetzt noch sagen könnte.

     Ben macht es Freude, ihm zu sagen: „Ja, das war mal … Und das ist lange vorbei … Mach es gut. Ich seh mich mal weiter um.“ Dann verschwindet er sofort in einem anderen Tunnel. So selten, wie Rolf hier ist, wird er ihn vielleicht nie mehr sehen. Und er selbst wird später, nach der Prüfung, auch nicht mehr so oft herausfahren wie in der letzten Zeit.

      Ben will nach Hause und kommt auf seinem letzten Rundgang am Parkplatz vorbei. Eben wird ein Motorrad eingeparkt, der Motor abgestellt. Der Fahrer schwingt sich vom Bock. Er trägt schwarzes Leder, das in der Dunkelheit das vorhandene Restlicht schimmernd reflektiert, und unter der Jacke ein weißes T-Shirt, das einen hellen Fleck im Nachtgrau bildet, einen Fleck, der sich hin und her bewegt. Er streift den Helm ab und befestigt ihn an der Maschine. Sein Gesicht ist für Ben noch ganz undeutlich.

     Jetzt kommt er herüber. Ben lässt ihn nahe an sich vorbeigehen und mustert ihn scharf. Es ist ein schlanker, kräftiger junger Mann, nur wenig älter als Ben. Er ist nicht hübsch und er hat ein narbiges Gesicht. Wie wird er erst bei Tag aussehen … Der andere sieht herüber, ein wenig unsicher. Er scheint Abfuhren gewohnt zu sein, er ist nun mal kein Adonis. Doch sein Gang verrät vielleicht auch Gleichmut, die Gewohnheit, sich auf sich selbst zurückzuziehen und es immer wieder mit anderen zu versuchen. Ben sieht ihn weitergehen, im Waldinnern verschwinden. Bens Enttäuschung beginnt sich in Sympathie und Neugier zu verwandeln. Er folgt ihm. Doch begegnet er ihm an diesem Abend kein zweites Mal. Nach einer halben Stunde hört er, wie das Motorrad auf dem Parkplatz gestartet wird.

     Ben fährt mit dem Bus nach Hause. Unterwegs und vor dem Einschlafen denkt er vor allem an diesen Herben. Er fragt sich jetzt nicht, was ihn an dem Unbekannten anzieht. Er sieht nur immer wieder dessen Gesicht vor sich, diese tief eingegrabene Maske der Verletzlichkeit. Und unter ihr etwas Ungerührtes, Unzerstörbares.

Romanfragment

1

 

 

Am Anfang war die Frage: Werde ich meinem Vater, jetzt da das Alter auch bei mir einsetzt, ähnlich? Ich kann unser Äußeres nicht unmittelbar vergleichen, er ist mehr als zehn Jahre tot und hat sich in seiner letzten Zeit nicht mehr fotografieren lassen. Mir fällt auf, dass schon hier die Übereinstimmung zwischen uns beginnt. Ich habe als junger Mann viel fotografiert, genau wie er, und bin selbst oft aufgenommen worden. Jenseits der vierzig hat beides aufgehört, wie so vieles andere …

Nein, dem Alten noch ähnlich zu werden, und sei es auch nur äußerlich, würde mir nicht passen. Ich müsste mich dann fragen, ob er am Ende Recht behalten und sozusagen posthum die Oberhand über mich gewonnen hat, ausgerechnet er, mein Vater: zwanzig Jahre lang kaum mehr als eine atmende Totenmaske auf einem Küchensofa. Anfangs gab er sich noch amüsiert, wenn ich nach Hause kam und von dem zu berichten versuchte, was draußen in der Welt geschah. Er nahm mich demonstrativ nicht ernst. Die Achtundsechziger, Reformen, sexuelle Revolution, davon brauchte ich gar nicht erst anzufangen. Aber auch mein Privatleben, soweit ich es offenzulegen bereit war: Reisen, Wohnungswechsel, Berufsarbeit - all das langweilte ihn offenkundig. Davon konnte ich meiner Mutter erzählen, er schwieg dazu immer nur, lächelte höchstens mal skeptisch.

Allerdings waren wir beide – schon wieder: wir beide – nicht immer vollkommen aufrichtig. Erzählte ich von Freunden, mit denen ich hier und da verreiste, konnte er lebendig wie selten werden und mit Schärfe fragen: ein Kollege? Ich sagte nein und wechselte das Thema. Er fragte nie nach den Büchern, die ich gerade las – ich las viel, wenn ich bei ihnen war, aus Langeweile -, doch ich überraschte ihn mehrmals, wie er den Buchtitel studierte, wenn ich mal aus dem Zimmer gegangen war und plötzlich zurückkam. Und die Zettel, die ich beim Lesen gern mit Notizen bedeckte und beim Hinausgehen in den Band legte, fand er unwiderstehlich. Wie er sich dann abmühte, mein Gekritzel zu entziffern, meist vergeblich, nehme ich an - auch dabei habe ich ihn ertappt und dazu immer geschwiegen. Am Schluss verschlief er meine Besuchstage nur noch oder drehte sich zur Wand.

Ich weiß ja, mit meinem Vater komme ich nicht mehr ins Reine. Nähe oft gespürt, aber nie ertragen, das war unsere Unterart von Familienhölle. Aber ich will mir von seiner nur noch schemenhaften Erscheinung nichts kaputt machen lassen, nicht das bisschen Stolz auf das bisschen Autonomie. Macht kaputt, was … Ach, vergessen wir’s!

Ich zog eine Kommodenschublade auf und nahm ein altes Fotoalbum heraus. Da war plötzlich das Bedürfnis nach einem Verbündeten - vielleicht mein eigenes jüngeres Selbst?

Manche Fotos von mir finde ich heute peinlich. Fürs Büro wie mit Absicht schlecht angezogen, auf Reisen gekünstelt lächelnd – warum habe ich sie eingeklebt, ich hätte sie besser vernichten sollen. Auf anderen dagegen komme ich mir sehr reizvoll vor, zumal in meiner damals üblichen Abendausgehgarderobe. Mein kleines Schwarzes, so nannte ich das bei mir und vor anderen. Das war nicht sehr originell, aber ich genoss es, dabei verrucht zu lächeln. Ich hätte, wenn ich ausging, gern meine eigene Bekanntschaft gemacht. Einige Jahre lang, das kann ich ganz objektiv behaupten, war ich ein recht hübscher Kerl. Und mehr als das: An mir ist auf diesen Bildern unbestreitbar etwas Seelenvolles. Blicke ich jetzt in den Spiegel, entdecke ich davon so gut wie nichts mehr. Wann und auf welche Weise ist es mir abhanden gekommen? Das zu untersuchen, reizt mich zunächst noch nicht. Ich stelle lieber fest, wie sehr meine Augen damals glänzten. Ich sehe meistens verliebt aus, und ich war es auch. Ich war verliebt in die Welt. Nun ist die Welt an sich eine mehr oder weniger abstrakte Angelegenheit. Konkret gliedert sie sich oder besser: zerfällt sie in Trillionen und Abertrillionen von Einzelerscheinungen. Die Aufgabe ist einem klar gestellt: Die eigene Liebesfähigkeit an einem dafür geeigneten Objekt zu erweisen. Damit beginnen die Schwierigkeiten, die einem die besten Jahre vergällen können.

Die kleinen Bilder aus dem Fotoautomaten sind die gelungensten. Das kam mir zunächst merkwürdig vor, dann begriff ich: In der Enge der Kabine waren Gestik und sich in Positur bringen so gut wie ausgeschlossen. (Ich war immer ein schlechter Tänzer.) Hier musste ich mit den Augen sprechen. Von diesen Aufnahmen konnte ich mich nicht trennen, auch wenn ein Ausweis abgelaufen war. Eine von ihnen, ich glaube, für die U-Bahn damals, zog meine Aufmerksamkeit jetzt auf sich. Das mit Fotoecken eingeklebte Bild schien sich zu wölben. Ich fasste unter das kleine Rechteck – und machte einen überraschenden, ja wunderbaren Fund.

Ein kleiner Zettel, zusammengefaltet. Ich falte ihn auseinander. Das Papier mürbe, vergilbt. Muss schon sehr alt sein. Ich erkenne eine blaue, noch immer akkurate Kugelschreiberschrift. Vor- und Familienname - eine Adresse in Amsterdam mit Telefonnummer? Der Name sagt mir zunächst nichts: Johan Ortelius… Dann jubiliere ich: Er, Johan?!

Ich hatte zwar seinen Namen schon lange vollständig vergessen, besaß aber noch immer in meiner Erinnerung einen starken Eindruck von ihm. Ich hätte sein Äußeres nur noch sehr unvollkommen beschreiben können, dafür umso eindringlicher die überaus starke und seltsame Wirkung seiner Person auf mich. Ich schiebe das noch etwas hinaus … Der Zettel ist von ihm, da habe ich wieder etwas in der Hand, einen Beleg. Es hat ihn also wirklich gegeben. Es ist auch der Name der Gracht, an die ich mich wieder erinnere. Warum mag ich das kleine Papier damals behalten und gerade an dieser Stelle verwahrt haben? Gewöhnlich übertrug ich doch die Adressen meiner Bettgenossen in ein Notizheft und warf die Zettel danach weg. Mein kleines rotes Buch – eines Tages trennte ich mich auch von ihm in einem wahnhaften Anfall, dem aussichtslosen Versuch, noch einmal neu anzufangen. Nur Weniges habe ich so sehr bereut.

Dass man Kunstwerke technisch reproduzieren kann, daran sind wir schon lange gewöhnt. Neu ist in der schönen neuen Welt der Suchmaschinen: Wir können jetzt auch unser Gedächtnis mit den Mitteln moderner Technik auffrischen. Wir können darüber hinaus fast mühelos Anschluss an für uns längst abgebrochene Entwicklungen finden. Johan Ortelius, ich rufe dich auf, erscheine mir … Lebt er noch, ist nicht an AIDS gestorben? Hat er sich als Künstler durchgesetzt? Er schien mir damals auf dem Weg zum Erfolg zu sein, dafür sprachen schon Größe und Ausstattung seines Ateliers. Mit wenigen Klicks war ich nach dreißig Jahren wieder im Bild. Er lebt also, und ich freute mich spontan für ihn. So viele andere sind längst tot.

Ich erfuhr, er ist seit Jahrzehnten gut im Geschäft. Hat Ausstellungen im In- und Ausland, auch in den USA. Er organisiert selbst Ausstellungen von Berufskollegen. Da gab es die Foto-Triennale in X oder die Woche zeitgenössischer Fotokunst in Y. Und wichtige Preise hat er bekommen … Dann blieb ich auf der Seite einer Berliner Galerie hängen, ich blieb dort wirklich hängen und bin noch immer nicht losgekommen. Es war nur eine kleine Ausstellung, im vorigen Jahr, sechs Wochen im Herbst. Man kann sich im Netz noch das Plakatbild von damals ansehen. Es ist ein Selbstporträt von ihm, gerade aus dem Jahr, in dem ich ihm begegnet bin. Ich bin ihm auf einmal wieder sehr nahe. Oder er mir?

An das von ihm gewählte spezielle Arrangement habe ich mich allerdings erst gewöhnen müssen. Ich gebe zu, es hat mich anfangs ein wenig verstört. Dabei hat er nur konventionelle Mittel verwendet für seine Studie Ich als Mann von dreißig Jahren. Es ist ein Schwarz-Weiß-Brustbild im klassischen Halbprofil, die Ärmel des Jeanshemdes bis zum Bizeps hinaufgerollt. Der blonde Schnauzbart lässt die Oberlippe frei, die Lippen sind einen Spalt geöffnet. Was für ein Mund: sinnlich und schwerblütig, mitfühlend und vielleicht ein wenig bitter. Die Augen schauen ernst, schauen unbestechlich prüfend in die Welt und bieten sich ebenso der Überprüfung dar. Es ist ein Porträt im Stil der Renaissance – mit einer barocken Zutat. Vor diesem stattlichen, schönen, ja doch: schönen Mann steht in Brusthöhe ein kleiner runder Tisch mit Glasplatte, über ihr die linke Hand. Sie steckt in einem schwarzen Halbfinger-Lederhandschuh. Und die Hand ruht auf einem Totenschädel. Alt muss er sein, seine Farbe scheint die von altem Elfenbein. Die nackten Fingerspitzen betasten die Schädeldecke. Wollen sie die Struktur der Oberfläche prüfen? Mit dem Schädel spielen? Nein, die Geste wirkt begütigend. Sanft war er auch - sanft.

Ich begriff, dass der Zufall mir ein Angebot machte. Ich beschloss, den Weg noch einmal zu gehen. Vielleicht würde ich danach den Abstand zwischen meiner Welt und der meines Vaters wieder für groß genug halten. Es kommt auf die Perspektive an, unter der man den Lebensverlauf betrachtet. Johan war eine viel versprechende Perspektive, wenn auch leider nur noch eine in der Vergangenheit.

 

 

2

 

Die PanAm-Maschine hob ab und ließ die Hochfläche mit ihren Vororten, Straßen, Schienen, Wiesen und Wäldchen unter sich. Sie stieg nur langsam auf in den Himmel über Stuttgart. Ein Eindruck von Schwere, von Last – das passte zu meiner Verfassung. Da unten war mir fast alles misslungen, wieder einmal, und ich löste mich auch diesmal nicht leicht. An Gepäck hatte ich nur das Notwendigste dabei. Viel schwerer, so kam es mir vor, wog das andere, das, was ich unbewältigt zurückließ …

Das Flugzeug legte sich in eine Kurve. Der Talkessel mit der inneren Stadt drehte sich von uns weg. Unter uns jetzt der Neckar. Ich erkannte Cannstatt und die großen Werkshallen, die Parks, den Wasen. Ich versuchte mich dazu zu zwingen, an nichts zurückzudenken. Es gelang mir weitgehend. Wir stiegen und gewannen an Flughöhe wie an Geschwindigkeit. Die Teile der Stadtlandschaft unter uns gerieten in rasche Bewegung. Bevor sie endgültig verschwanden, gingen sie noch untereinander neue Beziehungen ein, neue optische Verbindungen, andere Nachbarschaftsverhältnisse. Die letzten Blicke waren solche auf ein chaotisches Kaleidoskop, in dem sich mitten in der Auflösung des Gesamtbildes noch neue Kontakte ergaben – nur für mich nicht mehr, denn gleichzeitig entfernten sich die Orte immer weiter von mir. Ich musste nichts dazu tun. Das Loslassen erschien mir auf einmal einfach. Dann stob am Boden alles auseinander, war schon ausgelöscht.

Wir durchstießen die Wolkendecke. Wolken können vom Boden aus so nicht erlebt werden. Man gleitet beim Fliegen mühelos durch massive Wolkenkörper, verlässt sie ohne Anstrengung, quert ein besonntes Tal – so leicht, als wäre man ein Insekt über einer Sommerwiese - und gerät wieder für längere Zeit in das milchweiße Element. Es sind traumhafte Sequenzen, nur vergleichbar unseren Träumen von einer Allmacht, die bei aller Potenz gänzlich passiv bleibt. Dann fliegt man über den Wolken. Der Friede und die Beruhigung dort oben sind umfassend.

Es war erst mein dritter Flug. Ich war unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch in West-Berlin, und ich hatte keinen Rückflug gebucht. Sie würden mich schon nehmen, alles andere war unvorstellbar. Ich würde in Berlin bleiben, auf jeden Fall. Es sollte mein Bruch mit allem Bisherigen sein.

Jetzt eine energische Durchsage: Bitte sofort anschnallen! Von da an verlief der Flug bis in die Nähe von Berlin sehr unruhig. Einmal verspürte ich, was das war: ein Luftloch. Bei Adorno hatte ich irgendwo gelesen, es gäbe gar keine Luftlöcher. Damals waren mir erste Zweifel am Philosophen gekommen. Doch den einen Satz hielt ich nach wie vor hoch: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Ich machte mir noch nicht klar, worin die verführerische Kraft dieser Feststellung für uns damals lag – sie entlastete einen selbst, wenn etwas schlecht ablief. Ich war neunzehn und sollte noch mehr von ihm lesen, bis mich viel später in Hamburg einer fragte: Und praktische Konsequenzen, wie sieht es damit bei dir aus? Ich gab zu, auch Adorno nur gelesen zu haben, um die Welt besser zu verstehen. Im falschen Leben kann es eben kein richtiges geben.

Es war Erik, der gefragt hatte. Ich machte gerade das Frühstück für uns, nach der einzigen Nacht mit ihm, und er studierte die Buchrücken. Als Fotograf legte Erik großen Wert darauf, als Künstler zu gelten, ein Künstler zu sein. Eine Fotografie war für ihn, so verstand ich ihn, die arrangierte Widerspiegelung eines Weltausschnitts, das ernsthafte Bemühen um einen ästhetischen Wert. Gerade er könnte verstanden haben, warum einer wie ich Adorno las. (Es wird kein Zufall sein, dass mir jetzt ein Fotograf als Erster in den Sinn kommt. Ist Fotografieren heute nicht die wahre religiöse Kunst?)

Als ich nach Berlin flog, war der Philosoph schon zwei Monate tot. Die Wahl zum Bundestag lag nur Tage zurück. Brandt würde Kanzler werden, darauf lief es hinaus. Alles würde anders, besser werden. Auch meine Erwartungen waren groß, dabei so unbestimmt im Einzelnen wie fest gefügt im Großen und Ganzen. Es verhielt sich mit ihnen nicht anders als mit meinen Gefühlen beim Aufsteigen des Flugzeugs, es war eine rein passive Auffassung der Sache. Der Fortschritt musste kommen, und ich hielt nach ihm Ausschau. Dabei hatte ich vor kurzem noch, wie so viele andere, das Heraufkommen eines neuen autoritären Staates befürchtet. Sie blieb uns also bis auf weiteres erspart, die NATO-Notstandsdiktatur, wie schön.

Wenn es kein richtiges Leben im falschen gab, dann musste sich tatsächlich alles ändern. Eines hatte sich schon geändert: Der Paragraph war gefallen, wenige Wochen vor der Wahl. Schluss mit dem Hundertfünfundsiebziger – und nicht länger mit uns Hundertfünfundsiebzigern. Auch das war für mich bisher mehr Theorie als Praxis - ich hatte noch nie mit irgendeinem geschlafen, weder mit einem Mann noch mit einer Frau. (Den einzigen und weitgehend misslungenen Versuch lasse ich dabei unberücksichtigt.)

Wir flogen jetzt tief, Berlin war schon unter uns. Mein erster Eindruck, noch aus der Luft, war wie beim vorigen Mal: eine Stadt, anders als andere Städte. Aber was kannte ich bisher schon? Stuttgart oder Mannheim konnten sich mit West-Berlin nicht messen, nicht einmal München. Wirklich große Städte wie Paris oder New York hatte ich noch vor mir, und als ich sie kannte, blieb Berlin auch unter ihnen ein Sonderfall.

Berlin kam mir entgegen, aufnahmebereit, dachte ich, es war infolge des Sinkflugs auch körperlich spürbar. Dann legte sich das Flugzeug unerwartet auf die Seite, wie ein unruhiger Schläfer, nahm eine rasante Kurve und düste unter rapidem Höhenverlust erst knapp über die Mietskasernen, dann über die Friedhöfe von Neukölln. Unmittelbar danach plötzlich das harte Aufsetzen auf der Tempelhofer Rollbahn, wie eine Sturzgeburt mit Geburtsschock. Das Drosseln der Triebwerke und der Gegenschub machten erstmals seit dem Start die Erdenschwere wieder fühlbar. Ein wenig Vernichtungsangst überkam mich noch – und sie fiel von mir ab, als ich spürte, wie die Maschine langsam ausrollte auf der Rollbahn des Lebens. Ein Flug wie eine Wiedergeburt. Mein neues Leben, es würde sofort anfangen abzurollen. Erst jetzt begann alles.

 

Noch am Tag der Ankunft stellte ich mich in Steglitz vor. Sie nahmen mich, wie ich war (dachten sie vielleicht), und schon am nächsten Tag konnte ich bei ihnen anfangen. Ich blieb dort, solange ich mit Berlin noch nicht fertig war. Damit ist schon so gut wie alles darüber gesagt. Berufsarbeit war entfremdete Arbeit im Gegensatz zu Arbeit an sich selbst, ich zweifelte keinen Augenblick daran. Selbstverwirklichung war, wenn überhaupt, nur außerhalb der Berufswelt möglich. So waren die Spielregeln, sie waren nicht von mir. Ich akzeptierte sie.

Sollte ich je Lust verspüren, einen Roman über diese Arbeitswelt zu schreiben, muss mich schon die damals eingegangene Schweigeverpflichtung davon abhalten. Sie kann sich streng genommen nur auf die Fakten beziehen, die dem Unterschreibenden nach Vertragsabschluss bekannt werden. Also dürfte ich das Einstellungsgespräch schildern und die beiden Geschäftsführer … Daran ist für mich nichts Reizvolles. Es waren durchschnittlich farblose Männer in einer bloß alltäglichen Situation.

Später gab es doch ab und zu Stoff, geeignet für eine satirische Erzählung. Niemand wird mich für diesen einen Verstoß noch maßregeln wollen, nach so langer Zeit … Drei Jahre nach meinem Eintritt dort stand eine Renovierung des Hauses an. Die ferne westdeutsche Zentrale – wir waren nur eine Filiale von ihr – gab alles bis ins letzte Detail vor: den Wandanstrich und die Farbe des Teppichbodens, welche Möbel angeschafft und wie sie in den Räumen aufgestellt wurden. Die Ordnungswut ging so weit, dass sogar jede Schreibschale ihren fest zugewiesenen Platz auf einem neuen Schreibtisch haben sollte. Und wenn Geräte nicht in die neuen engen Schubladen passten, wurden sie kleiner gemacht, Teile von ihnen abgerissen. Unter der Fahne der Rationalisierung liefen Nivellierung und Disziplinierung mit. Dabei taten sich die Aufsteiger, diese Männer der Zukunft, besonders hervor. Einer von ihnen, mein direkter Vorgesetzter, hatte sich ab und zu mit mir über Literatur unterhalten, mir Bücher ausgeliehen, von Uwe Johnson zum Beispiel. Er hatte auch gesagt, für ihn laufe die natürliche Entwicklung der Gesellschaft auf den Sozialismus hinaus. Jetzt monierte er, dass die erwähnte Schreibschale bei mir auf der falschen Seite stand. Ich stritt mich ein wenig mit ihm und fügte mich dann.

So verbrachte ich Jahr um Jahr vierzig Stunden in der Woche in einem Milieu, für das ich nach meinem Gefühl nicht geschaffen war. Waren es denn meine Kollegen? Mein Gegenüber, der hübsche, sensible H., war musikalisch, er hatte in einer Band ein Instrument gespielt und inzwischen damit aufgehört. Vielleicht hätte ich mich in Stuttgart in ihn verliebt, aber ich war nicht nach Berlin gekommen, um noch einmal den gleichen Fehler zu machen. Mit Kollegen überhaupt war ich fertig. H. waren mein Auftreten und mein Ton viel zu brüsk, und ich warf ihm insgeheim vor, dass er sich den bürgerlichen Kleidernormen wie auch den meisten anderen Regeln unterwarf. Zum Geburtstag des Chefs kam er statt wie sonst im Rollkragenpulli mit Schlips, und bei der Feier hörte ich ihn vom anderen Ende des Tisches her, nicht einmal unfreundlich, sagen, ihr junger Kollege langweile sich offenbar außerordentlich.

Natürlich hatten wir im Büro auch einen Homo, das heißt, einen, von dem es jeder wusste. Nur ein knappes Jahrzehnt älter als ich, schien er einer anderen, tieferen Schicht in der Zeit anzugehören. Er trug flauschige Sachen, die den Körper betonten, wahrscheinlich von Schwulbach, wie der wirkliche Name der Firma gern abgewandelt wurde. Der Laden am mittleren Kudamm bot noch immer den Tuntenlook der Sechziger zu moderaten Preisen und in großer Auswahl an und wurde von einem anderen, boshafteren Kollegen nur Pupen-Bilka genannt. Mein älterer schwuler Bruder war mir peinlich, sein verdrücktes Benehmen, die ganze zurückgestaute Tempelhofer oder Mariendorfer Erotik, seine zerquälte Sanftmut, wie bei einem Hund, der getreten wird und beißen möchte und es längst verlernt hat. Wenn ich ihn ansah, hatte ich vor mir, was ich auf keinen Fall sein wollte. Er litt unter seinem Ruf so sehr, dass er sich verlobte oder es wenigstens behauptete. Keiner trug den Verlobungsring wie er, er wies ihn ständig vor, als den erschwindelten Ausweis einer Normalität, die ihm doch niemand glaubte.

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.01.2014

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