Über Herman Bangs „Ludvigshöhe“
Hat man unmittelbar davor den im selben Jahrzehnt geschriebenen Roman Fontanes „Der Stechlin“ gelesen, ist die Umstellung gewaltig. Wo der fast vierzig Jahre ältere Deutsche einen umständlich-weitschweifigen Stil pflegt, liest sich das Buch des Dänen Bang wie ein Filmdrehbuch des mittleren 20. Jahrhunderts. Dabei ist sein Stoff auf den ersten Blick so konventionell wie der eines Romans der Courths-Mahler: Aufopfernde Krankenschwester verschwendet sich an charakterschwachen Tunichtgut, der natürlich am Ende doch die reiche Erbin heiratet.
Aber was macht Bang aus diesem Stoff! Es ist wunderbar: ein vollständiges, wahrhaftiges Panorama der dänischen Gesellschaft seiner Zeit und noch dazu ihre ätzende Kritik. Und wie er das macht: Nicht der Autor spricht, seine Figuren reden, doch nicht langatmig monologisierend wie bei Fontane, sondern wie nervöse Menschen der Moderne. Und sie reden permanent durcheinander und sie nehmen dies und das in Angriff und führen es meist nicht zu Ende. All das immer höchst charakteristisch und sehr knapp, erzählt wie ein atemloser Film: Satz - Schnitt – Action – Schnitt – Satz – Schnitt – Action …
Ida Brandt heißt die Heldin, aufgewachsen auf dem Gut der von Eichbaums in Jütland. Ihr Vater ist dort Gutsverwalter. Es kommen im Sommer Gäste aus Kopenhagen – idyllisches Landleben pur. Die soziale Ordnung erscheint felsenfest gefügt. Dann stirbt der Vater, Ida zieht mit der Mutter in eine Provinzstadt. Die Mutter, eine neurotische, misstrauische Tyrannin, wird Pflegefall und Ida vergeudet mit der Pflege ihre Jugend. Nach dem Tod der Alten geht Ida nach Kopenhagen und wird Krankenschwester. Sie hätte es nicht nötig, genug an Vermögen ist ihr zugefallen.
Ida arbeitet am „Städtischen Krankenhaus“, wie es verschämt genannt wird. Der Leser merkt rasch, dass es die Psychiatrische Klinik ist. Kate, die Rivalin, wird es ihr vom hohen Ross herunter zurufen: „Irrenanstalt“. Wie die Unterbringung und Behandlung vor 120 Jahren aussahen, wie das Personal lebte und arbeitete, es ist detailliert dargestellt – lesenswert.
Ida trifft den jungen Karl von Eichbaum wieder, er hat die Abschlussprüfung an der Uni vermasselt und ist jetzt Bürohengst am Krankenhaus. Hier kommt die dänische Agrarkrise ins Spiel: Eichbaums können das Gut nicht mehr rentabel bewirtschaften, Karl wohnt nach dem Tod des Vaters in der Stadtwohnung der Mutter und macht Schulden. Karl ist ein bisschen die skandinavische Ausgabe von Franz Mahler in Viscontis „Senso“, ein gefühlvoll-zynischer Schurke. Ida – ein typischer Fall von Helfersyndrom - hilft mit allem aus: mit Zuneigung, Geld, körperlicher Liebe und sentimentalen Erinnerungen. Und dann wird Karl doch Kate heiraten, die schwerreiche Tochter des Buttergroßhändlers, der Ludvigshöhe gekauft hat.
Am Schluss wird Ida auf bürgerlich grausame Weise abserviert. Karls Mutter gibt ein Fest, um eine „Gefallene“, eine durchgegangene, dann sitzen gelassene und schließlich heimgeholte „Ehebrecherin“, wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ida wird dabei ihr Platz zugewiesen – es ist nur der eines brauchbaren dienstbaren Geistes. Die Soirée erinnert stark an die lange, lange Ballszene in Viscontis „Der Leopard“. Wie dort verbindet sich der ruinierte Adel mit dem Geld der Bourgeoisie und alles wird anders und wird wieder so, wie es schon vorher war: eine fest gefügte soziale Ordnung mit oben und unten. Karl ist saniert und Ida hat abgewirtschaftet. Die Brautleute werden später ins prachtvoll erneuerte Gutshaus einziehen wie die Götter bei Richard Wagner in Walhall.
Bangs Kunst erreicht mit den Dialogen auf diesem Fest ihren absoluten Gipfel. Wie da die Phrasen über Religion, Hauswirtschaft, Marinewesen und gesunde Lebensführung durcheinanderschwirren, das hat wahre literarische Größe. Mir fällt nur ein Vergleich aus der Musik ein: der gespenstische letzte Satz aus Berlioz’ „Symphonie fantastique“. In diesem Buch ist wirklich das ganze 19. Jahrhundert und, was das Unheimliche an ihm ist, es ist immer noch modern. Lesen!
Über Bertolt Brechts „Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar“
Dieses 1949 teilweise und 1957 vollständig erschienene Romanfragment enthält eine doppelte Spiegelung. Das 20. Jahrhundert erkennt sich im Rom Cäsars wieder und versteht sich selbst besser infolge eines tief gehenden Vergleichs politischer und wirtschaftlicher Strukturen. Und jene ferne Vergangenheit wird entmythologisiert, indem gegenwärtige Erklärungsmuster zu ihrer Aufhellung herangezogen werden. So ist das Werk zugleich politisches Aufklärungsbuch wie ironischer historischer Roman.
Die Rahmenhandlung: Ein fiktiver Biograph Cäsars besucht zwanzig Jahre nach dessen Tod wiederholt einen Bankier und früheren Gerichtsvollzieher, der ihm ein Dokument verschaffen soll, das Tagebuch des (ebenfalls fiktiven) Sekretärs Rarus. Es wird ihm nacheinander in drei Teilen übergeben. Zugleich werden dem Biographen vom Bankier mündlich Einblicke in Cäsars materielle Lage vor dem Triumvirat vermittelt. Sie war von Verschuldung und der Verquickung geschäftlicher mit politischen Aktivitäten gekennzeichnet.
Das ist auch das Hauptthema bei Rarus: der politische Aufstieg seines wirtschaftlich ruinierten Herrn in einer Zeit größter Umwälzungen. Durch Rarus zeichnet Brecht das Bild einer Republik, die sich durch Eroberungskriege imperial überdehnt hat und in der zwischen zwei dominierenden Klassen – Patriziat und Kaufmannschaft – ein Kampf um die Kriegsbeute ausgetragen wird. Zur gleichen Zeit drängen aus den eroberten Provinzen billige Waren und billige Arbeitskräfte (Sklaven) auf den römischen Markt und vernichten die Existenzgrundlage der einheimischen Bauern und Handwerker. Deren Verzweiflung macht sich der Abenteurer Catilina zunutze und versucht, sich an die Macht zu putschen.
Das Tagebuch des Rarus verschafft fortlaufend Einblicke in das Alltagsleben im damaligen Rom, sowohl das der Oberschicht wie auch der unteren Klassen. Es enthält darüber hinaus noch eine tragikomische Nebenhandlung: Der nicht unvermögende Sklave Rarus liebt den freien römischen Bürger Caebio, einen arbeitslos gewordenen Parfümeriearbeiter. Rarus unterstützt Caebio materiell, doch nicht genügend. Caebio wendet sich von ihm ab und lässt sich vom Rivalen des Rarus, einem Lagerverwalter, einen Schreiberposten verschaffen. Schließlich zieht der Proletarier Caebio mit Catilina in den Bürgerkrieg und kommt darin um.
Gut sechzig Jahre nach dem ersten Erscheinen liest sich der amüsant geschriebene Roman in Teilen erneut wie eine aktuelle Satire – auf Expansionskriege, Globalisierung, weltweite Waren- und Menschenströme und die Macht der politischen Phrase. Sein letzter Satz lautet: „An allen Mauern klebt heute die einfache Parole: ‚Demokratie ist Friede!’“ Cäsar war saniert und die korrumpierte Republik taumelte ihrem Ende entgegen.
Über Gore Vidals „The City and the Pillar“
Der alte Thomas Mann hat den 1948 zuerst erschienenen Roman noch gelesen. Seine Tagebuchnotizen vom Herbst 1950 verraten großen Respekt und ein fasziniertes Befremden. Unter dem Eindruck der Lektüre beginnt er, am „Felix Krull“ weiterzuschreiben, nach fast vierzig Jahren Pause. Gore Vidal, fünfzig Jahre jünger als Thomas Mann, hat seinerseits an Hans Castorp aus dem „Zauberberg“ gedacht, als er seinen Jim Willard schuf. Doch dessen Welt ist kein Sanatorium, sondern das Amerika der vierziger Jahre in seiner ganzen Breite.
Es war sein zweiter Roman, der Autor bei der Veröffentlichung erst dreiundzwanzig. Das Echo war sehr bald da, folgenreich, verheerend. Gore Vidal hat sich mit dem Buch die geplante politische Karriere schon vor ihrem Beginn selbst zerstört, und er wurde dann als Autor lange Jahre von den wichtigsten Meinungsmachern boykottiert, darunter der New York Times. Er wich ins Filmgeschäft aus, schrieb Drehbücher („Ben Hur“), wurde Berater John F. Kennedys, mit dessen Clan er versippt ist. Nur allmählich setzte er sich mit seinen vielen weiteren Büchern durch und wurde doch noch einer der großen amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
"The City and the Pillar" erschien kurz vor dem Kinsey-Report, wie eine vorwegnehmende literarische Umsetzung der Ergebnisse des Sexualwissenschaftlers. Was Gore Vidal über Homosexualität in den USA schrieb, war für die Öffentlichkeit der kleine vor dem großen Schock. Unverzeihlich war in der McCarthy-Ära bereits, wie der Autor das Thema anging. Jim Willard ist ein junger amerikanischer Jedermann aus der Mittelschicht, gut aussehend, sportlich, intelligent, wendig. Baseball und Tennis bringen ihn Bob näher, eine scheinbar normale Freundschaft an der High School. Erst als Bob die Schule verlässt und sie ein letztes Wochenende miteinander verbringen, erhält Jim, was er sich seit Jahren insgeheim von dem anderen erhofft hat, eine emotionale wie sexuelle Begegnung von großer Intensität.
Bob geht zur See und schreibt Jim bald keine Briefe mehr, er wird unerreichbar. Dennoch bleibt er für Jim der Leitstern und das kurze einmalige Geschehen das zentrale Ereignis in seinem jungen Leben. Jim hat ein unterkühltes Verhältnis zu Eltern und Geschwistern, in Bob sieht er den Zwillingsbruder, den er nur finden muss, um, mit ihm wieder vereint, auf Dauer glücklich zu werden. Also geht auch er im folgenden Jahr zur See, auf der Suche nach Bob …
Der weitere Verlauf ist ebenso absehbar wie dennoch dramatisch fesselnd. Zwangsläufig taucht Jim immer tiefer in die zeitgenössische schwule Welt ein und bleibt zugleich in ihr ein Fremder. Er hält lange die Fiktion aufrecht, anders zu sein als seine Partner, eben ein Sonderfall. Nach seinem Verständnis ist er nicht homo-, sondern bobsexuell, und er macht sich sogar vor, daneben eines Tages eine Frau heiraten zu können, wenn nur die richtige käme. Tatsächlich erweist er sich als unfähig, auch nur mit einer zu schlafen.
So beschaffen ist Jim für seinen Autor der ideale Projektionsapparat, um eine Vielzahl von die Gesellschaft prägenden Typen vorzuführen. Jim geht nach Hollywood und wird erst der heimliche Geliebte eines berühmten Filmstars, dann der eines erfolglosen Schriftstellers und später der sexuell versagende Lover einer Ex-Freundin des Literaten. Alle Beziehungen scheitern nach kurzem. Jim, Bob immer im Hinterkopf, wird promisk. Nach einer Episode bei der Army kommt er nach New York, macht eine Menge Geld als Tennislehrer und pendelt zwischen der Welt der Upper class-Homos, die ihn abstößt, und den Bars für raschen Kontakt und oft nur anonymen Sex.
Jim ist fünfundzwanzig, als er nach Jahren erstmals wieder heim nach Virginia fährt. Der Vater inzwischen tot, die Mutter alt und weise geworden, die Schwester unter der Haube, der jüngere Bruder Soldat – und Bob ist wieder da und verheiratet und ein Kind ist auch schon gekommen. Jim will sich weiter täuschen, er lädt Bob nach New York ein. Es wird ein Fiasko: Bob weist seine erneute Annäherung brüsk zurück, will ihn aus dem Hotelzimmer werfen. Im sich anschließenden Ringkampf ist ihm Jim überlegen und vergewaltigt ihn und damit zugleich die Erinnerung an die Vergangenheit. Nachher geht er sich betrinken. (In der ersten Fassung von 1948 hat Jim Bob noch getötet. Der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Geschlossener Kreis“ liegt indessen das mildere und wahrscheinlichere Ende der Neubearbeitung von 1965 zugrunde.)
Im Ganzen ist "The City and the Pillar" ein rasant geschriebener und spannend zu lesender Desillusionsroman von ebenso großen psychologischen wie satirischen Qualitäten. Ein Buch wie eine weithin sichtbare Landmarke, seine Kenntnis unverzichtbar im Zusammenhang mit moderner amerikanischer Literatur. Nur in Deutschland ist Gore Vidal noch immer ein weithin unbekannter Gigant.
Die Widmung des Romans lautet: „J. T. zum Gedächtnis.“ Das ist Gore Vidals Jugendliebe Jimmy Trimble, im 2. Weltkrieg gefallen, begraben auf dem Friedhof Rock Creek Park, Washington D.C. Neben dieser Grabstelle und ebenso benachbart der von Gore Vidals jahrzehntelangem Lebensgefährten Howard Austen hat sich der Autor die eigene letzte Ruhestätte reservieren lassen. Er sagte einmal, ein Motiv für The City and the Pillar sei der Versuch gewesen, sich vorzustellen, wie die Beziehung zu Trimble sich weiter entwickelt haben könnte, wäre dieser lebend aus dem Krieg heimgekommen. Hat der Autor sich also ein Stück weit mit seiner Figur Jim Willard identifiziert? Dann liegt darin eine tiefe, vielleicht unwillkürliche Ironie. Jim Willard, sexuell nur von Männern angezogen und sich die Möglichkeit eines bisexuellen Lebens selbst nur vortäuschend, ist ein Kronzeuge gegen Gore Vidals eigene Theorie von der fließenden sexuellen Identität. („There are no homosexual people, only homosexual acts.“) Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.
Über Christos Tsiolkas’ „Unter Strom“
Tsiolkas, 1965 als Sohn griechischer Einwanderer in Melbourne geboren, ist einer der bedeutenderen Erzähler im gegenwärtigen Australien. Sein Erstling, der Roman „Loaded“ (1995), brachte ihm neben beachtlicher Buchauflage eine Reihe von Literaturpreisen ein. Das Werk kam 1998 unter dem Titel „Unter Strom“ in dem kleinen Berliner Verlag Albino heraus. Inzwischen ist es nicht mehr im Buchhandel, kann jedoch weiterhin leicht übers Internet bezogen werden (Restauflage oder gebraucht).
Es ist ebenso bezeichnend wie bedauerlich, dass ein Roman dieser Güte in Deutschland kaum beachtet worden ist. Das hat er nicht verdient – und das hiesige Lesepublikum, soweit überhaupt an gut lesbarer, ernsthafter Gegenwartsliteratur interessiert, hat sich um etwas gebracht. Die Handlung spielt durchgehend in Melbourne, sie könnte jedoch mit leichten Modifikationen ebenso gut in Berlin oder Hamburg angesiedelt sein. Die Thematik passt zu jeder großen Stadt des Westens mit „Migrationsvordergrund“ – um den Sachverhalt einmal vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Der neunzehnjährige Ich-Erzähler Ari ist der jüngere Sohn materiell erfolgreicher, aus Griechenland eingewanderter Eltern. Er wird ihren Weg nicht fortsetzen, so viel ist bereits klar. Ari ist auf mehrfache Weise Außenseiter: Er ist schwul und weder studiert noch arbeitet er. Er handelt ein wenig mit Drogen, das beansprucht ihn nur wenig. Die meiste Zeit hört er Musik, nimmt selbst permanent Rauschmittel und lässt sich Tag und Nacht durch die Stadt und ihre Vororte treiben. Nach der Buchlektüre kennen wir Melbourne, als wären wir selbst da gewesen.
Ari ist seit seinen Schultagen extrem promisk und verheimlicht gleichzeitig seine Sexualität vor Eltern und Verwandten, soweit diese der Elterngeneration angehören. Wir begleiten ihn vierundzwanzig Stunden lang auf den Stationen: Elternhaus, andere Privatwohnungen, Cafés, Diskotheken, Bars, Parks und Toiletten. Am Ende dieser selbstzerstörerischen Gewalttour steht eine Begegnung, die für ihn vielleicht einen Ansatz zur Veränderung enthält.
Jenseits dieser speziellen Problematik ist das Buch auch für ein breiteres Lesepublikum gut geeignet, da die Situation der Eingewanderten ausführlich dargestellt und kritisch durchleuchtet wird. Ari analysiert gnadenlos. Dazu einige Zitate: „Ich widersetze mich dem Norden (= von Melbourne), jenen Gegenden, in denen Griechen, Italiener, Vietnamesen und die übrigen einhundertneunzig Rassen, beziehungsweise deren Abschaum, Sträflinge und Diebe, an alten Sitten und Gebräuchen, alten Kulturen, alten Zeremonien festhalten, denen heutzutage keinerlei Bedeutung mehr beigemessen werden kann …“ Oder: „Die Matriarchalin regiert unangefochten über die Haushalte der Wogs (= Einwanderer). Durchaus möglich, dass sie geprügelt und getreten, ausgenutzt und gehasst wird, doch es ist ihre Majestät, die mit eiserner Hand an den Traditionen festhält, die ihr selbst das Leben vergällt haben und ihren Kindern das Leben zur Hölle machen werden …“
Auch diese Sätze Aris sind so aktuell wie zur Zeit der Erstpublikation: „Das manische Verlangen nach Reichtum, der Wunsch, immer mehr an sich zu raffen, immer mehr zu horten, immer reicher, eleganter, sorgloser zu werden, immer wohlhabender, scheint typisch für unseren Kulturkreis. Es gelingt den Menschen nicht, Kameradschaft zu verspüren, wenn der dominierende Wunsch des Einzelnen darin besteht, genügend Geld, genügend Besitztümer anzuhäufen, um sich über die Gemeinschaft, in der er lebt, zu erheben. Zu mehr Reichtum und Wohlstand zu gelangen als die Leute in der unmittelbaren Umgebung, heißt, ihnen ins Gesicht zu spucken …“ Oder: „Da heißt es immer, die nachfolgende Generation soll es einmal besser haben als die vorherige. Totaler Schwachsinn. Das Kapital befindet sich auf dem absteigenden Ast und reißt uns mit sich. Die Generationen nach der jetzigen werden nicht mehr in der Lage sein, auf dem Grundbesitz der Bauern Häuser zu bauen …“
Zugegeben, diese Passagen klingen weniger nach Ari als nach dem Schriftsteller Tsiolkas. Sie sind jedoch nur wie Inseln in einem Strom, der recht gut mit dem Begriff Grunge-Literatur charakterisiert wird. In diesem Stil ist dann Aris persönliche Moral abgefasst – hier nur eine Kurzfassung: „Du sollst darauf scheißen, was die Leute denken … Du trägst keine Verantwortung für das Versagen deiner Eltern … Du kannst einen Mann haben und doch zugleich ein Mann sein … Du sollst die gesamte Menschheit verachten, ohne Rücksicht auf Rasse, Glauben oder Konfession … Du sollst nie die Armen oder die Alten bestehlen, den Reichen hingegen reiß ruhig nach Strich und Faden den Arsch auf …“ (Übersetzung: Stefan Trossbach).
Zum Schluss: Der Roman wurde unter dem Titel „Head on“ von Ana Kokkinos verfilmt – so sehens- wie das Buch lesenswert.
Wenn Felsen weinen – DER BESTSELLER
Schon das kann dem Leser den Atem verschlagen: Noch nie hat ein deutscher Verlag so viel für Übersetzungsrechte bezahlt – sage und schreibe 3,7 Millionen Dollar. Doch der Glockenstein-Verlag weiß, es ist gut angelegtes Geld, schließlich stand „Wenn Felsen weinen“ von Donald Carter monatelang auf einem der vorderen Plätze der US-Bestseller-Listen. Und die Banken haben erfreulicherweise das kleine Sümmchen vorgestreckt, die Finanzkrise scheint also am Abklingen. Dennoch hatte es der Verlag mit der Verwertung eilig: Ein Team von sieben Übersetzern, die – auch ein Novum – anonym bleiben, hat das gewaltige Werk in nur elf Tagen ins Deutsche übertragen. Schnell aus der Presse und rein in den Strandkorb!
Der Titel bezieht sich, glaube ich, auf eine Stelle in der Bibel, und die Hauptcharaktere kommen mir dazu passend wie biblische Gestalten vor: zerrissen, maßlos leidend und für alle Normalbürger große Beispiele. Im Zentrum steht die junge Miriam, zu Beginn sich noch unsicher vorwärts tastend auf der Suche nach dem richtigen Lebensweg. Schockierend die Rückblenden, in denen die Geschichte ihrer Mutter erzählt, nein, uns vor die Füße geworfen wird: Verheiratet mit einem Börsenmakler von Lehman Brothers, den sie für seine anrüchig-profitablen Transaktionen hasst, lässt sie sich scheiden und geht eine neue Ehe mit einem Flugkapitän ein - der sie prompt im Cockpit mit einer Stewardess betrügt. Miriams Mutter tötet die Rivalin im Affekt, wird nach sehr umstrittenem Prozess zum Tod verurteilt, wartet zehn Jahre lang in der Todeszelle …
Erst die Giftspritze bringt – man verzeihe das schiefe Bild, der Artikel muss schnell fertig sein – alles ins Rollen. Miriam unterzieht sich einer Geschlechtsumwandlung, wird als Richard („Dick“) Soldat und zieht in den Irakkrieg. Zur gleichen Zeit – und nun alles atemlos, staccatomäßig interruptierend und die Seiten füllend – bricht erst Lehman Brothers zusammen, dann Miriam-Dicks Vater – er geht in sich, wird Buddhist und zieht sich in ein Kloster in den Bergen der Sierra Orientale (Arizona) zurück. Erst Spekulation, dann Meditation – ein Rezept für das 21. Jahrhundert?
Dann der grandiose, noch einmal den Atem verschlagende Schluss: Miriam-Dick verliert bei einem Selbstmordanschlag in Bagdads Grüner Zone beide Unterarme. Mehrere Transplantationsversuche mit den Extremitäten anderer Toter scheitern. Die Behandlung kostet Unsummen. Offenbar ist der medizinische Fortschritt viel weiter als Obama mit seiner Reform der Krankenversicherung. Um alles Menschenmögliche finanzieren zu können, bringt Miriam-Dicks Vater sein größtes Opfer: Er verlässt die Sierra Orientale und kehrt zurück an die Wall Street (wo die Geschäfte sich inzwischen wieder gebessert haben). Doch als er gerade im alten Stil zu spekulieren beginnt, stirbt die Tochter (der Sohn) den Drogentod. Was dem Leser 793 Seiten lang auf geschickte Weise verborgen blieb: Sie (er) war schon auf Seite 1 KokainistIn. Erschüttert, beinahe vernichtet legen wir den Band neben uns in den Sand und schließen die Augen. Welt von heute, so bist du – bist du so? Immerhin eine tröstliche Perspektive: Der Buddhist wechselt erneut von der Börse ins Kloster.
(Unbekannter, ungläubiger Leser: Natürlich ist alles geflunkert. Es gibt weder Roman noch Autor noch Verlag. Obwohl …)
Über Heinz Schlaffers „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“
Schlaffers 2002 bei Hanser erschienener langer Essay hat neben viel Lob auch einige Kritik auf sich gezogen, am schärfsten wohl formuliert in der „Tageszeitung“. Dort wurde ihm vom Luchterhand-Lektor Siblewski eine „vollendet gestrige Sicht“ bescheinigt. Seltsam, gerade in der linken „TAZ“ wurde einem angekreidet, dass er Büchner und Marx überragend fand, bezogen auf das deutsche 19. Jahrhundert … Das ist schon eine besondere Untersuchung wert: Krasses Fehlurteil des Rezensenten oder ist doch etwas dran?
Schlaffer selbst ordnet sich in seinem Buch einmal selbst geistesgeschichtlich ein: „Der Verfasser hält es mit der radikalen Aufklärung. Jede Religion ist ein Irrtum, aber ein folgenreicher Irrtum …“ (S. 21). Insgesamt ist seine Analyse offenkundig vor allem eins: Abrechnung mit tradierter Betrachtung und d.h. eine Zerlegung der überkommenen Literaturgeschichte der Germanisten. Sein Text ist also auch eine Geschichte der Literaturgeschichte(n).
Zunächst zerstört Schlaffer das gewohnte Bild kontinuierlicher Entwicklung von der alt- über die mittelhochdeutsche Literatur bis zur neuhochdeutschen Produktion um 1700. Für ihn ist diese immer wieder dargestellte Linie eine nachträgliche Entstellung der tatsächlichen Abläufe, die von Diskontinuität, Brüchen, Verspätung und Formlosigkeit geprägt sind. Er legt überzeugend dar, wie isoliert die nicht sehr zahlreichen bedeutenderen Werke waren, ohne Verbindung zum vorausgegangenen deutschen Schrifttum, mit dürftigster Resonanz bei Zeitgenossen wie Nachwelt und zumeist ohnehin von fremder Literatur angeregt. Erst die ideologischen Bedürfnisse des 18. und 19. Jahrhunderts scheinen den Grund für die Fiktion einer allmählich fortgeschrittenen Nationalliteratur gelegt zu legen.
Schlaffer kennt nur zwei große Zeiten deutscher Literatur, die Klassik des 18. und die moderne Klassik des frühen 20. Jahrhunderts – und lehnt den Begriff Klassik zugleich ab. Er schließt sich der Auffassung und Sprachregelung der internationalen Literaturwissenschaft an, die durchgehend nur Romantik sieht („German romanticism“). Schlaffer arbeitet ausführlich den für ihn wesentlichen Mechanismus beim plötzlichen Aufstieg der deutschen Literatur ab etwa 1750 heraus – es ist ein schmerzhafter, literarisch gestalteter Ablösungsprozess von der christlichen Religion. Tatsächlich ist unübersehbar, dass es zunächst das protestantisch-pietistisch geprägte Deutschland war, das diese Literatur voranbrachte. Hundert Jahre später finden wir in der bewussten Nachfolge der ersten „Klassik“ sich von ihrer traditionellen Kultur emanzipierende Autoren vor allem katholischer und jüdischer Herkunft. In dieser abschließenden Auseinandersetzung mit ihrer geistigen Heimat erkennt Schlaffer das eine große Unterscheidungsmerkmal der deutschsprachigen Literatur von den anderen europäischen Literaturen.
Zwischen den beiden Glanzzeiten herrscht Epigonales vor, und Schlaffers Rückblick auf die Zeit ab 1945 und erst recht sein Ausblick sind noch herabstimmender: nur noch Mittelmäßiges, ungeeignet für nochmalige „Kanonbildung“.
Was Schlaffer darbietet, ist scharfe Analyse, sehr detailliert, zugespitzt und hervorragend formuliert. In seinem Text sind viele Entdeckungen zu machen. Dennoch muss man ihm nicht in allem folgen. Manches ist zu pauschal dargestellt. Es finden sich auch Irrtümer, so z.B. wenn er das Wandern für eine Erfindung der Goethezeit hält, die in der Gegenwart verschwinde. Gravierender erscheint mir, dass der Autor bei jeder Beurteilung mehr Wert auf die Rezeption von Literatur legt als auf das in ihr enthaltene Potential. Ein allzu häufig gebrauchtes Wort aus der Bildenden Kunst könnte man so abwandeln: Für Schlaffer entsteht Literatur erst im Kopf des Lesers. Das ist gewiss nicht „vollendet gestrig“ – es ist ein wenig zu heutig.
Nicht vollkommen überzeugend ist auch sein Versuch, die Schwäche der neueren deutschen Literatur aus der Katastrophe von 1945 und der folgenden Politisierung einschließlich moralischer Selbstverpflichtung und Neigung zu Sprachregulierung zu erklären. Zu Recht hat er vorher die nord- und lateinamerikanische Literaturen als die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts blühenden aufgeführt und nicht die aus Frankreich, Italien oder England. Die Schwäche ist gesamteuropäisch, sie kann nicht primär aus einem deutschen Sonderweg erklärt werden. Viel einleuchtender ist daher dieser Befund: „Damit Dichtung geschrieben werden kann, braucht sie Erinnerungen an eine archaische Welt, in der die Aura der Wörter noch nicht völlig durch technische Medien zerstört worden ist; wo noch nicht die Aufklärung des Journalismus, der popularisierten Wissenschaft und des Tauschverkehrs die letzten Reste von Glauben und Aberglauben beseitigt hat, wo jemand, der schreibt, die Mühsal seiner Befreiung von vorliterarischen Traditionen darstellt, die er dadurch zugleich zerstört und im Gedächtnis bewahrt.“ (S. 135) Schlaffers Pessimismus wird übrigens von einem der großen lebenden US-Autoren geteilt – von Gore Vidal, vor allem in Bezug auf die Zukunft des Romans.
Vermutlich ist eben dieser Rückblick des Literaturhistorikers auf ein als nicht mehr erreichbar Erklärtes inakzeptabel für den platt Fortschrittsgläubigen. Wenn es aber so sein sollte, dass große, wirklich bewegende und fortdauernde Literatur an konkrete historischen Bedingungen gebunden ist, die verschwinden können – dann hilft es wenig, den Überbringer der Nachricht von der Einmaligkeit als „vollendet gestrig“ abzuqualifizieren. Gewiss, geschrieben wird immer, wird immer werden – nur was es noch bedeutet und bewirkt, das ist die Frage.
Über Günter Kunerts "Verspätete Monologe"
Das Jahr 1979 war der Wendepunkt in Günter Kunerts Leben. Der bis dahin recht erfolgreiche, zuletzt in Opposition zur politischen Führung stehende fünfzigjährige Ostberliner Autor konnte ausreisen und siedelte sich in Schleswig-Holstein neu an. Dort, im kleinen Kaisborstel bei Itzehoe, blieb er bis zu seinem Tod im September 2019, immer neue Lyrik- und Prosabände veröffentlichend.
1981 kam „Verspätete Monologe“ heraus, formal ein Band Kurzprosa, die als „Reflexionen“ untertitelt waren. Die 152 Texte kreisen oft um jenen Umbruch in Kunerts Biographie oder lassen zumindest Spuren davon erkennen. Man erhält als Leser so das Bild eines Autors, dessen geistiges Profil endgültig während der großen Krise in seiner Lebensmitte geformt wurde. Es finden sich neben Erinnerungen und aktuellen Erlebnissen und Begegnungen vor allem Gedanken zur Zeit, zur Geschichte, zur Situation des Menschen in der Gegenwart oder zu seiner Existenz überhaupt. Erkennbar bildet die Sammlung Gruppen verwandter Texte, die jedoch nicht scharf voneinander geschieden sind, oft thematisch einander berühren.
Am eingängigsten sind jene Texte, in denen sich Kunerts persönliches Schicksal oder seine konkreten Erfahrungen im Alltag widerspiegeln. Sie sind anschaulich verknappt und oft mit Vergnügen lesbar. Der große Pessimist Kunert scheint hier insgeheim zu schmunzeln und gönnt sich und dem Leser die eine oder andere Prise makabren Humor, so z.B. in „Etwas für Herodot“. Es rapportiert eine leicht absurde Herrenbekanntschaft, vielleicht mit einem Spitzel, im Sanitärraum des Hotels „Unter den Linden“. In „Unbesonnte Vergangenheit“ blickt Kunert auf ähnliche Weise zurück auf einen Lehrgang für Nachwuchsautoren 1950. Er war so unproduktiv wie für einige Teilnehmer in der Konsequenz fatal. „Menschenbild“ zeigt einen Frankfurter Taxifahrer: sympathisch, an Literatur interessiert und alle Welt für korrumpierbar haltend will er Kunert zum Steuerbetrug anstiften.
Im Verlauf der weiteren Lektüre ermüdet man gelegentlich doch, zu apodiktisch sind die Ausführungen oft, zu Kurzschlüssen verführt von den Chancen glanzvoller Kurzprosa, auch häufig einseitig theorielastig, dann wenig anschaulich, dafür artifizielle Verallgemeinerungen im Übermaß enthaltend. Und ein Verdacht entsteht: Hat Kunert seine Desillusionierung vom Osten mitgebracht und dann ins Universale ausgeweitet? So viel Pessimismus kann beim Leser wiederum Skepsis auslösen.
Dennoch findet sich in diesem umfangreichen Lesebuch, behandelnd so viele unterschiedliche Fragen und Stoffe, bis zur letzten Seite immer wieder großartig Formuliertes. Diese Stellen sind es, die Kunerts Format belegen, die Lektüre lohnen. Dafür zum Abschluss hier einige zufällig ausgewählte Beispiele:
Seine knappe Analyse der späten DDR: „ … in einer stagnierenden, jede autonome und individuelle Handlung kriminalisierenden Gesellschaft …“
Beim Vergleich Mitteleuropa 1943 mit Kambodscha 1978: „ … die trostlose Vermutung, es gäbe vielleicht überhaupt keine Überzeugung, die ein Denken hervorbrächte, das sich der Mordbereitschaft verweigerte.“
Eine Kulturgeschichte ohne Größen wie Dürer, Beethoven, Einstein? Kunert: „Ein schmieriger Talg humanoider Provenienz, der jede nur denkbare Lücke ausfüllt, und sie wie nie gewesen erscheinen läßt.“ - Illusionen hat er sich jedenfalls nicht gemacht, dieser Autor, selbst von sehr beachtlichem Rang.
Über zwei Romane von Alois Brandstetter
1. Die Abtei
Bücher haben ihre Schicksale, und dasselbe gilt für Leser. Wer nach Jahrzehnten erneut zum selben Werk greift, bekommt einen Prüfstein in die Hand: Beurteile ich das Buch noch wie damals? Und falls nicht: Liegt es an mir, bin ich ein anderer geworden in der seither vergangenen Zeit? Um 1985 besuchte ich auf Reisen durch Süddeutschland, Österreich und die Schweiz viele Klöster, noch existierende wie längst aufgehobene. Zur Vertiefung las ich den 1977 erschienenen Roman Alois Brandstetters „Die Abtei“ und ärgerte mich, dass mein Kloster-Kunsttourismus beim Ich-Erzähler keine Gnade fand: „Das Klosterbesuchen, das Stifteanschauen und Kirchenbegaffen ist letztlich der Ausdruck einer großen Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit, das Denkmälerbestaunen ist ein Zeichen und Indiz des Indifferentismus, einer inneren Öde und Leere der Menschen …“ Ich revanchierte mich nach der Lektüre mit diesem Fazit:
„Erstaunlich, dass das Buch keine Langeweile erzeugt - damit ist schon alles Positive gesagt. Das Weltbild in ihm ist von äußerster Schlichtheit. Nicht zufällig fällt der Begriff von den zwei Lagern. Da schlägt sich einer in die Schanze für die ecclesia militans – und hat vielleicht gar keinen Begriff davon, was eine christliche Kirche sein kann. Für ihn ist es ein Schutz- und Trutzbündnis Gleichgesinnter, wobei der Inhalt der Gesinnung sich dem Wagenburgcharakter unterzuordnen scheint. Alles, was der Kirche heute Autorität verschaffen kann, wird wütend angegriffen. Im Übrigen wird krass überzeichnet. Das Stiftspersonal scheint fast nur aus Alkoholikern oder feigen Trotteln zu bestehen. Nichts dergleichen ist mir jemals unter die Augen gekommen. Was mir dort unangenehm auffiel, war eine gewisse Verdrießlichkeit, vor allem der Laien. Einige Mönche und Chorherren beeindruckten mich dagegen durch Ausstrahlung von Milde, Humanität und geistiger Entschiedenheit. Brandstetters Erzähler vergreift sich fortwährend im Ton. Von den Predigern, die er besonders aufs Korn nimmt, sagt er, er höre ihnen meistens gar nicht mehr zu. Im Übrigen liegt er fortwährend auf der Kalauer, scheut auch das plumpste Wortspiel nicht.“
Nun erneuter Versuch. Der Roman stellt eine Art Denkschrift des oberösterreichischen Polizeiinspektors Dr. Einberger dar, gerichtet an den Abt des Benediktinerklosters Freimünster. Einberger hatte den Diebstahl eines wertvollen Kelchs zu untersuchen, der Fall scheint von ihm aufgeklärt; es wird nur angedeutet. Der Inspektor erörtert stattdessen breit, was er für Fehlentwicklungen im Kloster wie im ganzen Land hält. Sein Text folgt dabei zunehmend der Tradition barocker Bußprediger. Ein Kunstgriff besteht darin, dass Einberger dem Abt häufig von seinen Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten im Wiener Bundeskriminalamt berichtet, so das Personal des Romans erweiternd. All das ist sprachlich eindrucksvoll, oft mitreißend und zeugt inhaltlich von breiter Bildung und fundiertem Fachwissen. Man wird den Germanisten und Historiker Brandstetter nicht vollkommen gleichsetzen dürfen mit dem eifernden Inspektor. Dass die zwei sich recht nahe stehen, geht allerdings schon aus dem Umstand hervor, dass beide Söhne von Müllern in Oberösterreich sind. Nur scheint Brandstetter dem Einberger nicht resolut genug zu sein – auch jener habe, moniert er, zum Einsturz der Wiener Reichsbrücke 1976 geschwiegen.
Weltanschaulich trennen mich, den Agnostiker mit pantheistischen Tendenzen, noch immer Welten von Brandstetter und Einberger. Dennoch machte mich die Lektüre im Verlauf jetzt nachdenklich. Mich überraschte, wie aktuell die im Detail geäußerte Kritik noch immer oder nun erst recht ist. Dies nicht in dem Sinne, dass sie stets überzeugend wäre, sondern dadurch, dass Einberger 1977 meist dieselben Themen aufgreift wie Fundamentalkritiker in der jetzt laufenden Dekade und in der gesamten Zeit dazwischen. Das Buch spiegelt so ein für einen langen Zeitabschnitt konstitutives Krisenbewusstsein. Darin liegt die Aktualität des Werks: aufzuzeigen, wo der Schuh wirklich drückt, seit langem und noch immer, sei es bezogen auf die Gesellschaft insgesamt oder beträchtliche Teile von ihr.
Es überrascht nicht, dass Einberger eine Theologie ohne Gott moniert. Satirisch nimmt er die seltsamen Bräuche bei Wallfahrten aufs Korn. Und er kreidet es Geistlichen an, wenn sie sich für weltoffen halten oder so geben. Weltoffen? Dieses Wort hat seitdem richtig Karriere gemacht, gehört längst zum argumentativen Kleingeld auch in politischer Debatte. Tatsächlich ist der Begriff seinem Inhalt nach neutral. Offenheit ist weder Wert noch Makel an sich.
Sonderbar, dass meine Ablehnung des Werks seinerzeit sich nur aufs Kirchliche, Klösterliche bezog, die säkularen Themen im Roman ausblendete. Allgemeine Gesellschaftskritik nimmt doch bei Einberger mehr Raum ein als Kirchen- und Klosterschelte. So schließt er sich bereits der jungen ökologischen Bewegung an, wettert gegen Energieverschwendung und Plastikmüll. Wenn er sich gegen Brutalismus in der Architektur wendet oder gegen hohe Opernsubventionen, wenn er Akademikerschwemme und Mangel in Alltagsberufen beklagt, die Vergötzung von Sportidolen geißelt – es ist immer volkstümlich kritisch, bewegt sich in einem oszillierendem Spektrum von konservativ bis progressiv - oder pseudofortschrittlich. Er stellt „Hochmächtige“ bei ihren Stiftsbesuchen bloß und wettert gegen den „kriminellen Schwachsinn der Kriege“. Seine Einstellung gegenüber den USA und deren Außenpolitik ist ausgesprochen negativ, ohne dass das Wort Vietnam fällt. Das ist nach weiteren Kriegen im Orient bis heute in großen Teilen der Bevölkerung anschlussfähig. Russland dagegen, dessen damaligen Staatsnamen er vermeidet, erregt eine gewisse Bewunderung in ihm. Den Einmarsch in Afghanistan 1979 und die fatalen Folgen hat er offenbar nicht vorausgesehen.
Schule und Erziehung, das ist ein weiteres Angriffsfeld für Einberger. Mal geht es ihm um die Rolle des Lehrers oder er kritisiert den Deutschunterricht als hohe Schule des Heuchelns. Er thematisiert auch schon den Dualismus Gedächtnis als Informationsspeicher versus Kompetenz im Nachschlagen, inzwischen hat sich die Problematik infolge der Digitalisierung noch verschärft. Noch präsenter als jener in der Pädagogik ist ein weiterer Gegensatz, der nicht nur Österreich bis heute viel zu schaffen macht, der zwischen Kapitale und Provinz. Einberger arbeitet sich immer aufs Neue ab an seinem Wien-Hass. Oberösterreich ist stets das Opfer. Bruckner und Stifter werden als Kronzeugen zitiert, ihnen an die Seite gestellt Gregor Mendel und Abraham a Sancta Clara, alle nicht aus Wien, doch langjährig dort in aufreibende Kämpfe mit potenten Ignoranten verwickelt.
Fürs Allgemeine fühlt sich Einberger auch zuständig, tadelt Kritik der Urteilsschwäche, redet vom Fluch der guten Tat und gibt sich auch mal taoistisch: „Nicht zu handeln kann die angebrachteste Handlung sein.“
Mein Fazit nun, fünfunddreißig Jahre später: Ich nehme alles zurück und behaupte dennoch nicht durchgehend das Gegenteil. Brandstetters seltsamer Roman, eine Jeremiade als Kunst des Klagens, ist amüsant und provokant, ihn zu lesen bereichernd, wenn man zu differenzieren versteht. Was möglicherweise nicht die Absicht des Autors und gewiss nicht die seines Dr. Einberger war. Bücher haben auch ihre Schicksale …
2. Die Mühle
1981 - vier Jahre nach dem Vorgängerroman „Die Abtei“ – erschien Alois Brandstetters „Die Mühle“. Beide Werke verbindet einiges und trennt auch manches. Formal handelt es sich jeweils um den Bericht eines Ich-Erzählers, der für einen speziellen Empfänger geschrieben wurde und in dem Geschicke weiterer Personen referiert werden. Beide Romane beginnen mit der engagierten Betrachtung eines Rechtsfalles – einmal der Diebstahl eines wertvollen Kelches, zum andern die amtliche Untersuchung der umstrittenen Baumaßnahme eines Müllers – und verlieren allmählich das Interesse an dessen weiterer Darlegung. An ihre Stelle tritt zunehmend umfassendes Erinnern und Erörtern mit Tendenz zum Enzyklopädischen. Während „Die Abtei“ sich in Tonfall und Stoßrichtung an barocken Bußpredigten à la Abraham a Sancta Clara orientiert, sucht „Die Mühle“ die Nähe zum Entwicklungs-, ja zum Erziehungsroman. „Der Nachsommer“ von Stifter lässt grüßen, auf ihn wird auch im Text Bezug genommen. Die Freude am mäandernden Erzählen und abschweifenden Reflektieren, die schon im älteren Werk ausgeprägt war, wird vom jetzigen Erzähler mit der Arbeitsweise von Mühlen verglichen: „Nimm diesen Mangel als Tugend und als ein Abbild des Mahlens, wo ja auch das Mahlgut öfters über die Walzen geht … Laß mich also … noch einmal aufschütten und nachgießen. Habe ich auch schon einen Teil ausgesondert und abgezogen, so wollen wir doch den verbleibenden Rest in einen weiteren Gang schicken, um noch mehr herauszubekommen; es soll alles noch feiner werden.“
Der Erzähler ist ein in einem Altersheim lebender verwitweter und wohl auch kinderloser früherer Müller und Berufsschullehrer. Er schreibt für seinen Neffen, dem er vor geraumer Zeit die Mühle überlassen hat. An ihn will er möglichst viel vom eigenen Wissen und von gespeicherter Erfahrung weitergeben. Die dritte Hauptperson ist der längst verstorbene Onkel des Erzählers, auch er seinerzeit Betreiber jener Mühle an dem fiktiven oberösterreichischen Fluss Endach. Mit der launigen Charakterisierung dieses kauzigen Onkels beginnt der Text, kehrt später gelegentlich zu ihm zurück. Breiten Raum nehmen die Erinnerungen des Erzählers selbst ein, an seine Arbeit in Mühle und Schule, an Kollegen und Schüler, an Reisen und Lektüre. Recht blass bleibt der Empfänger des Berichts. Auf ihn richten sich die Hoffnungen seines Onkels. Er ist die noch offene Zukunft, der Erzähler die noch einmal alles zusammenfassende Gegenwart, der ältere Onkel die abgeschlossene Vergangenheit. Wir haben es also mit einer doppelten Onkel-und-Neffen-Geschichte zu tun, in der sich fast ein Jahrhundert Mühlen- wie Familiengeschichte spiegelt. Die Mühle an sich scheint darin nicht allein altes, existenzsicherndes Handwerk zu sein, sie ist zugleich Sinnbild für menschliche Kultur und Tradition schlechthin.
Unübersehbar ist die Menge an Themen, die nacheinander abgehandelt werden oder ineinander verwoben aufscheinen, etwa aus Hydrologie, Biologie und Mühlentechnologie. Wo sonst liest man in Romanen von Sicherheitskupplungen, Trennschutzschaltern und Fallbügelreglern? Es geht auch um Leben und Werk von Rembrandt, Sohn eines Müllers (wie Brandstetter selbst). Oder ums Mühlensterben, um Suizide, verschmutztes Mahlgut, Sitten und Unsitten der Bauern. Ein starkes Interesse an Etymologie ist unübersehbar. Der Sinn von Geschichtsbetrachtung wird kurz, eingehender eine Maschinentheorie erörtert, Querverbindungen zu Leibniz und Kant gezogen, Marc Aurel, Karl Marx und Seneca werden zitiert. Und … und …
Und es ist nicht ermüdend. Der Autor Brandstetter verfügte hier über ebenso viel sprachliche Ausdruckskraft und Assoziationsvermögen wie breites Fachwissen. Etwas gemildert gegenüber „Die Abtei“ erscheinen konservative Grundhaltung und Zeitkritik. In summa: nach fast vierzig Jahren noch immer ein mit geistigem Gewinn und ästhetischem Vergnügen gut lesbares Werk.
Über Manfred Hausmanns "Kleine Liebe zu Amerika"
Manfred Hausmann (1898 – 1986) war ein erfolgreicher deutscher Autor des 20. Jahrhunderts, seine zahlreichen Veröffentlichungen werden zum Teil noch heute verlegt und gelesen. Hausmann war zeitweise Feuilletonredakteur in Bremen und jahrzehntelang eine maßgebliche Größe im Kulturleben der Stadt. Daneben betätigte er sich über lange Zeit als evangelischer Laienprediger. Er bereiste im Spätherbst und Frühwinter 1929 die Osthälfte der USA und veröffentlichte im Jahr darauf den Reisebericht „Kleine Liebe zu Amerika“. Eine Neuauflage kam 1938 heraus, meine Taschenbuchausgabe datiert von 1961. Die bisher letzte Ausgabe kam 2000 auf den Markt (alle bei S. Fischer).
Das Buch ist fast schon eine Reiseerzählung. Hausmann macht aus sich selbst einen „jungen Mann“ in der dritten Person und ihn dabei etwas jünger, als er selbst damals tatsächlich war. Der Untertitel lautet: „Ein junger Mann schlendert durch die Staaten“. Der Text schildert nicht allein die Städte, Landschaften und Begegnungen auf der Reise, er porträtiert auch fortlaufend den Reisenden selbst, verzeichnet seine Reaktionen, seine Entwicklung. Es wird großen Wert darauf gelegt, dass der Porträtierte jung ist; außerdem ist er noch dies alles: leichtfüßig, unternehmungslustig, anpassungswillig und –fähig, genau beobachtend, selbstironisch und oft auch poetisch. Er bereist das Land mit dem Bewusstsein, als Bürger des alten Europa die immer weiter aufsteigende neue Weltmacht Nr. 1 zu erleben. Über die amerikanische Demokratie und ihre praktischen Folgen im Alltag äußert er sich mit Sympathie. Zu den Stärken des Textes gehören die Naturschilderungen. Die sich nach dem Börsenkrach von Ende Oktober 1929 langsam zuspitzende ökonomische Lage kommt erst spät zur Sprache, im Kapitel „Über dem Mississippi“. Hier berichtet ein deutscher Auswanderer ausführlich von seiner beruflichen Odyssee.
Wer selbst viel später Reisen in die USA unternommen hat, kann immer wieder Vergleiche ziehen. Was kommt ihm bekannt vor, was war vor knapp hundert Jahren anders? Die Art und Weise des Reisens hat sich vor allem verändert. Hausmann reiste per Schiff, sein Bericht beginnt mitten auf dem Atlantik. Wir erfahren, wie gemächlich die Zeitumstellung damals bewältigt wurde: die Uhr jeden Tag der Überfahrt eine Stunde zurückgestellt. Das Schiff mit seinen drei Klassen legt zuerst in Halifax an, Auswanderer nach Kanada verlassen es. Die „Dresden“ nähert sich Manhattan langsam durch die Bucht von New York, als wäre es die Ouvertüre zu „Lohengrin“. Dann der Broadway, der Trubel in einer Cafeteria, die Auffahrt auf das Woolworth Building, damals noch das höchste Gebäude, Gauner im Central Park erfolgreich abgewehrt … Hausmann reist weiter nach Kuba, wie es damals üblich war: mit dem Zug, der in Key West endet, wo man Dampferanschluss hatte. (Die Bahntrasse über die vielen Inseln dorthin wurde 1935 durch einen Wirbelsturm zerstört.) Später berichtet der Autor aus Miami, Atlanta, St. Louis und Chicago.
Leicht befremdlich wirken die langen erotischen Einschübe. Der junge Mann nähert sich dreimal jungen Frauen, folgt einer Schwarzen in eine Baptistenkirche in Harlem, techtelmechtelt mit einer Kreolin auf dem Schiff nach Havanna – dabei bleibt er slapstickmäßig in einem Bordkabinenfenster stecken – und scheint endlich bei einer forschen US-amerikanischen Reporterin in Havanna ans Ziel gelangt zu sein. Als Zugabe folgt dann noch ein erotisches Anhalterabenteuer in Florida, das ums Haar mit seiner Festnahme geendet hätte. In diesen Passagen verstärkt sich Hausmanns allgemeine Tendenz zu Klischees und Stereotypen, vor allem gegenüber der schwarzen Bevölkerung. Sie wird am stärksten spürbar im Kapitel über jene Baptistenkirche. Zwar dürfte der Gottesdienst der ausschließlich schwarzen Gemeindemitglieder in seinem Verlauf korrekt wiedergegeben sein, doch mit welchen Untertönen und Vorurteilen! Ich werde hier keine Zitate bringen, mit Ausnahme der Feststellung: „Aber mit Christentum hat das Ganze nichts zu schaffen …“ Schreibt Hausmann, der sich bald selbst in einen sehr aktiven Christen verwandeln wird. Er hat die lange, gehässige Passage auch in den Auflagen von 1938 und 1961 beibehalten. Und im Kapitel „Colored People“ lese ich noch immer den üblen Ausdruck „Tierleiber“ …
Nein, ich bin nicht der Meinung, wegen solcher Stellen sollte ein Bann verhängt werden. Auch der Literaturgeschichte hat man sich so zu stellen, wie sie tatsächlich verlaufen ist. Hausmann war ein talentierter Autor. Das Buch ist insgesamt ein gut geschriebenes, gut lesbares Zeitdokument, hat über die neunzig Jahre hinweg viel von seiner ursprünglichen Frische bewahrt. Nur sollte man sich dessen bewusst sein, dass es einer geschrieben hat, der im Lauf seines langen Lebens mit nacheinander vier politischen Systemen gut zurechtgekommen und immer obenauf gewesen ist. Der Fall Hausmann hat etwas Exemplarisches, auch deshalb sollten sein Werk und seine Biografie nicht dem Vergessen anheimfallen.
Vier Frauen bei Manfred Hausmann
Hausmanns 1930 erschienener Reisebericht „Kleine Liebe zu Amerika“ nähert sich dem Genre Reiseerzählung an. Insbesondere geschieht dies durch vier Passagen, in denen das Alter Ego des Autors, immer nur „der junge Mann“ genannt, in kleine erotische Abenteuer verwickelt ist. Dabei verwendet Hausmann für jeden dieser Abschnitte einen jeweils anderen vorgegebenen Typus von Frau, den er sowohl verlebendigt als auch literarisiert. Betrachtet man die vier Gestalten, hat man ein charakteristisches Quartett vor sich. Es sind Figuren, die einem sonst einzeln in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Literatur, Malerei und Film häufig begegnen.
Da ist zuerst die Exotin. Der junge Mann entdeckt sie, als er im Schwarzenghetto Harlem das Menschengewühl vor einem Trauerhaus studiert. Die junge Frau erregt seine Neugierde, da sie für eine Schwarze ungewöhnlich hellhäutig ist. Zwar findet er sie auch hübsch, aber die Frage ihrer ethnischen Zugehörigkeit beschäftigt ihn mehr. Er versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und folgt ihr, als sie fortgeht. Sie besucht den Gottesdienst in einer Baptistenkirche, an dem ausschließlich Schwarze teilnehmen. Der junge Mann placiert sich in ihrer Nähe und arbeitet sich dann zu ihr vor. Während der Feier beobachtet er sowohl die übrigen Gemeindemitglieder, die ihn durch extrovertierte Spiritualität stark befremden, als auch die junge Frau. Ihr gegenüber verspürt er ambivalente Gefühle. Einerseits assoziiert er sinnliche Eindrücke von ihr mit rein Animalischem, andererseits verspürt er durchaus auch Sympathie für ihre Person. Er unternimmt eindeutige Annäherungsversuche und kann ihre Reaktion darauf nicht klar einschätzen. Auf dem Höhepunkt des Gottesdienstes findet eine Art Erweckungsritual für eine begrenzte Zahl von Besuchern statt. Die junge Frau verlässt ihren Platz und schließt sich der Gruppe frisch Bekehrter an. Der junge Mann kann fortgehen. Die Frage, wohin die Frau gehört, ist für ihn jetzt eindeutig geklärt.
Dann die temperamentvolle Südländerin, deren Gefühlstiefe vielleicht nicht ganz der stürmischen Bewegung an der Oberfläche entspricht. Unser Reisender beobachtet sie, als beider Schiff nach Havanna in Key West ablegt. Sie nimmt hochdramatisch von einem anderen Mann Abschied. Aus ihrer Exaltiertheit und der Tönung ihrer Hautfarbe schließt unser junger Mann, dass sie eine Kreolin aus Kuba sein müsse. Zu Beginn der Überfahrt scheint sie untröstlich, weint an Deck längere Zeit heftig. Er findet sie hübsch und sympathisch, nutzt eine unverfängliche Gelegenheit, sich ihr zu nähern – und muss feststellen, dass sie schon wieder Konversation mit einem anderen machen kann. Um sie doch näher kennenzulernen, klettert er vor ihrer Kabine herum. Sie erweist sich als recht zugänglich – er soll durchs Kabinenfenster hereinkommen. Allerdings bleibt er dann in der Luke stecken, wird von einem Schiffsoffizier herausgezogen … Danach kommt der Flirt nicht wieder in Gang. Am Pier in Havanna wird die Kreolin von einem Ramón erwartet. Stürmische Begrüßung und unser junger Mann registriert das als „die heiße Liebe des Südens“.
Ganz anders Miss Kelly. Die US-Amerikanerin in seinem Alter ist Reporterin für eine Zeitung in Havanna, Sparte: aus dem Gesellschaftsleben. Sie interviewt ihn erst routiniert. Anschließend lädt sie ihn zum Abendessen in ihre Wohnung ein und chauffiert ihn später in ihrem Kabrio durch die Stadt. Das Sightseeing mit Miss Kelly ist so perfekt wie alles an ihrer Person. Sie ist schön, klug, smart, erfolgreich, selbstbewusst, zielstrebig, ganz der Girl-Typ der 1920er Jahre. Und so wie zu Beginn sie ihn aufgesucht hat, so ergreift sie auch am Schluss die Initiative für das Unvermeidliche. Worauf der Vorhang verschämt niedergeht.
Und dann als Epilog insoweit die Femme fatale. Die Faszination des Weiblichen schlägt um in Gefahr, der ein Mann gerade noch entkommt. In Florida ist er einmal als Anhalter im Wagen eines Paares unterwegs. Dabei flirtet die Frau, die chauffiert, im Rückspiegel mit ihm und gibt ihm beim Aussteigen in Palm Beach zu verstehen, der Wagen sei geparkt leicht zu öffnen, stehe zu seiner Verfügung. Als er darin auf sie wartet, kommt stattdessen ihr Gefährte und warnt ihn: Die Frau habe die Polizei verständigt, er solle sich in Sicherheit bringen …
Ob die Episoden vom Autor selbst so erlebt worden sind? Vielleicht ist man nicht immer verantwortlich für das, was einem begegnet, aber doch wohl für das, was man aus der Fülle von Erlebtem für einen Bericht auswählt. Hier ist es unter ideologiekritischem Aspekt eine Kollektion von Klischees (wenn sie zusammen auch ein gelungenes Arrangement ergeben). Dennoch wird der Leser durch diese vier Kapitel nicht unbedingt abgestoßen, dafür sind sie zu gut geschrieben, die weiblichen Figuren voller Leben. Nur in Harlem (Kapitel „Halleluja“) bleibt einiges auch so gesehen anstößig. Es ist die Denkweise des Autors damals, die hier ihre Verachtung für eine ihm fremde Welt offenbart. Relativieren lässt sich indessen auch die unveränderte Neuauflage nach dem Krieg. Was Rowohlt damals mit Thomas Wolfe recht war, durfte S. Fischer mit Hausmann billig sein. In Wolfes Romanen und veröffentlichten Briefen finden sich ungleich bösartigere Stellen, gegen Schwarze und Vertreter „lateinischer Rassen“ und am krassesten gegen Juden.
Über Hubert Fichte reden
- Aus einer literarischen Korrespondenz -
I.
Lieber Mario,
… ich komme zum Schluss. Der Brief ist wieder viel zu lang geworden.
Bleibe mir gewogen.
Bodo
PS: Ich habe mir Hubert Fichtes “Versuch über die Pubertät” bestellt.
II.
Lieber Mario,
… als dein Brief kam, hatte ich erst wenige Seiten im Fichte gelesen. Vorher kannte ich von ihm bloß das Ledermann-Kapitel, das hatte mir ein Freund mal unaufgefordert in Kopie zugehen lassen. Ich war damals interessiert, aber nicht begeistert. Dieser Eppendorfer war eine extreme Randfigur, und die Leute bekommen durch ihn eine höchst einseitige Vorstellung von der Welt, für die er steht. So viel Blut, Kot usw.! Das passte zwar Fichte in den Kram, mir aber nicht. Also habe ich Fichte nie mehr angerührt, zumal mich seine Ethnopoesie nicht interessierte. Jetzt erst erkenne ich Fichtes Format und seinen großen Reiz für mich. Dazu später mehr.
Zuerst will ich auf deine Anmerkungen zu ihm eingehen. Oft ist was dran, manches stimmt meiner Meinung nach so nicht. Sein Schriftbild! Die zerrissenen Zeilenränder fand ich zuerst auch störend, inzwischen sehe ich ihren Zweck ein. Zu der abgehackten Sprache, oft nur Begriffe, keine Sätze, passt es. Das ist extrem verdichteter Stil. So wird dem Leser Raum zum Verarbeiten geschaffen. Stelle dir einen typischen Absatz dieser Art als Block vor, das würde das Verständnis sehr erschweren. – Sein Aussehen: Ich frage mich, ob er mir in der Hamburger Szene mal über den Weg gelaufen ist. Dann war er für mich ein mittelalter Vollbartmann, der mich nicht interessierte. Heute finde ich seine Porträtfotos durchaus ansprechend, vor allem seelisch, geistig. – Was du über seinen Sprachvortrag schreibst, könnte mich gerade reizen, es mir selbst anzuhören. Ich habe noch keinen MP3-Player, vielleicht zukünftig. – Zum Faible fürs Altgriechische: F. hat eine Oberrealschule besucht, ohne Latein und Griechisch, und erst in seiner letzten Periode zusammen mit Frau Mau die alte Sprache gelernt. Demgemäß der Ich-Erzähler 1949: „ … wir können alle kein Griechisch …“
So, er spricht also vieles falsch aus? Das wundert mich nicht. Er war ja weitgehend Autodidakt und zugleich eine gewaltige Input-/Outputmaschine, die zwangsläufig nicht nur exakte Ergebnisse liefern konnte. Ich sehe ihn als einen Überflieger, der allerdings immer wieder sehr Scharfsinniges erfassen konnte, wie im Flug eben. – Seine Bisexualität? War vielleicht auch mehr Programm als Realität. Frau Mau war schon Mitte vierzig, als sie diese Beziehung zu ihm einging, und neunzehn Jahre älter als er. Vor Tagen überflog ich (jetzt überfliege ich auch schon!) eine ins Netz gestellte Diplomarbeit über die Sekundärliteratur. Die Verfasserin fühlte sich bemüßigt, ihre Meinung kundzutun, es bleibe offen, ob die beiden miteinander schliefen, aber das sei für beider künstlerische Produktion ohne Belang. Ja. Vielleicht. Oder auch nicht.
Du kreidest ihm Exotismus an. Mit Verlaub, da sehe ich ein Missverständnis. Sein Hauptantrieb hinaus in die Ferne, das war gerade das Bemühen, das am weitesten Auseinanderliegende in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Gegen den Exotismus wendet er sich selbst öfter, schon im 1. Kap. des Romans: „Touropa und Airlaub zerstören nicht das Exotische, sondern sie bringen es zum Gedeihen … Das Exotische ist die auf die Welt projizierte Angst der Heimat … Haiti und Salvador sind banal. Obduktionen gibt es auch im Eppendorfer Krankenhaus und in Lokstedt laufen mehr Schlangen herum als am Amazonas.“ Dieser Punkt ist sehr wichtig, ich kann ihn hier nicht erschöpfend behandeln. Der Roman ist durchzogen von Querverbindungen zwischen Erster und Dritter Welt. Nur ein Beispiel: Er überblendet einen Besuch mit Jahnn in der Hamburger Musikhalle um 1950 mit der Eröffnung eines brasilianischen Fußballstadions gut zwanzig Jahre später. Inwieweit dieses Verfahren bei ihm geglückt ist, das ist eine andere Frage. Nur denke ich, der Vorwurf, den du ihm machst, ist nicht berechtigt. (Dazu noch passend die witzige Assoziation des Ich-Erzählers als Schafhirt in der Provence: „Es ist fast so, als wenn man bei Billstedt auf die Elbe blickt.“)
Der Journalist Fichte – natürlich war er auch das. Ich kann noch nicht beurteilen, ob es die Wirkung seines Gesamtwerks beeinträchtigt. Im „Versuch“ spielt diese Seite keine große Rolle. Das ist schonungslose Autobiographie, die das eigene pubertäre Ich mit seinen Konflikten und Bezugspersonen ins Zentrum stellt und zu Literatur von Gewicht verarbeitet. In einem Punkt widerspreche ich dir ganz entschieden: Fichte teilt außerordentlich viel über sich selbst mit. Es kann keine Rede davon sein, dass er bloß interessante oder exotische Stoffe suchte, um damit Arglose und Unwissende zu beeindrucken und zu blenden. Das ist doch gerade sein Hauptmerkmal: Er hat sich selbst zur Kunstfigur gemacht. Bei nur wenigen findest du eine derartige Verschränkung von realem und literarisch verarbeitetem Lebensablauf. Der Jahnn-Biograph Freeman formuliert das so: „Mit scheuer Hoffnung auf Anerkennung vertraute Hubert ihm (Jahnn) einige seiner frühen Gedichte an. Der Titel des einen weist auf das eigentliche Thema seiner späteren Romane voraus: ‚Ich’“. Statt Schauspieler geworden zu sein, spielt er dem Lesepublikum ständig das Stück vor: Ich, Hubert Fichte.
Im Internet hat man vollen Zugriff auf die Diplomarbeit von Dominik Barta „Michel Foucault und Hubert Fichte. Über die Homosexualität als Lebensform“. Hier besonders zu empfehlen Kap. 6.3 und 7 über den „Versuch“. Einige Brocken: „Brüchigkeit des ‚Ichs’ … Pubertät als Prozess verweist auf die Offenheit einer Identität: das Ich wird zum lebenslang Pubertierenden …“ Oder, sehr interessant, manches über die Problematik des Begriffs Liebe; sehr verführerisch als Zitat: „Vollhaber sieht in der Zertrümmerung und in der Ablehnung eines traditionellen ‚Liebesbegriffes’ einen wichtigen Schritt in der Entfaltung eines jeden Schwulen … Fichte ist für Vollhaber ein Schriftsteller, der die Ablehnung dieses Liebesbegriffs nicht als das Trauma oder den Tod, sondern als Konstitutionsmoment und Initialzündung der Homosexuellen begreift …“ Na, das ist doch Wasser auf meine Mühlenindustrie, lasst uns auch noch Vollhaber lesen: keine Ahnung wer das ist. Am Schluss bei Barta Stellungnahme contra Queertheorie und scheinprogressive Reformen. Und: „Was in den letzten Jahren als politische Innovation verkauft wird, fällt bei näherer Betrachtung noch hinter die Errungenschaften der Schwulenbewegungen der späten achtziger Jahre zurück: Die institutionelle Politisierung der Homosexualität ist nur ein weiterer Modus, um Homosexualität zu vermeiden.“
Den „Versuch“ zu lesen, fiel mir anfangs schwer. Wozu der Einstieg über das gerichtsmedizinische Institut einer brasilianischen Stadt? Als der Ich-Erzähler dann aber den zu sezierenden Leichnam mit Pozzi (Jahnn) gleichsetzt, ist die Sache klar: Vatermord - und zugleich Bezug auf die verwandte kanarische Szene in „Fluss ohne Ufer“, wohl auch der Versuch, sie zu übertreffen. Fichte setzt sich hier auch dadurch diskret in Beziehung zu Jahnn, dass er als Motiv für den Besuch im Institut angibt, er interessiere sich „für das Auseinanderfallen des Bildes, das mich (!) ausmacht.“ Das Folgende habe ich sehr genossen. Jahnn wird zu der erhaben-lächerlichen Figur, die er tatsächlich z. T. war. Fichte arbeitet seine eigene, von Anfang an vorliegende starke Ambivalenz Jahnn gegenüber gut heraus. Hervorragend nachvollziehbar das Personal der Fichteschen Verwandtschaft und seiner Fick- und Liebesbeziehungen. Der Text gefiel mir auch als Zeitbild: Hamburg um 1950 als zerstörte Stadt, die sich wieder berappelt. Wenig anfreunden konnte ich mich bisher mit den Haiti-Episoden. Ist es recherchiert oder phantasiert? Der Bezug zum Komplex Pubertät scheint mir etwas gewaltsam. Sehr gelungen dann wieder die Figur des Alex W. Kraetschmar und der Beziehung zu ihm. Vorbild ist der Schauspieler und Regisseur Alexander Hunzinger (1910 – 1959). Was der Ich-Erzähler über Päderastie an sich sagt: äußerst scharfsinnig. – Zu den biographischen Einschüben: Der des Angestellten „Rolf Schwab (60)“ überzeugt mich, der „Ledermann“ ist im Detail eher ärgerlich, allerdings als Ganzes innerhalb der Romankonstruktion konsequent als Brücke von Hamburg in die Welt hinaus. Dass Eppendorfer sich hier so im Blut suhlen darf, hängt natürlich auch mit Jahnn zusammen (vgl. den Blutaustausch Horn - Tutein). – Das Frankreichkapitel lese ich erst noch. (Nachtrag: Als Landwirtssohn finde ich die Beschreibung agrarischer Verhältnisse durchweg treffend.)
Ich bewundere Fichtes Prägnanz: „Wir machen es hinter dem Eppendorfer Gemeindehaus, am Zaun von einer Gaststätte, wo die Leute im Freien essen. Während es Klaus kommt, trägt der Kellner Berliner Weiße in übertrieben großen Gläsern vorbei.“ Diese zwei Sätze möchte ich geschrieben haben, so wenig mir der Fichte-Stil insgesamt Vorbild ist. Da ist so viel drin: die Ausgrenzung und der kritische Blick zurück über den Zaun, die in der Werbung unterschwellig oft benutzte Assoziation von Bierschaum mit Ejakulation und nebenbei mit den zu großen Gläsern das lächerlich Preziöse der halbvornehmen Wohnviertel des Hamburger Nordwestens. Ich erkenne das wieder, habe vierzehn Jahre in Eimsbüttel gewohnt, gleich daneben Fichtes Heimat Lokstedt und Jahnns Stellingen. Kein Zufall, dass beider Nester so nah beieinander liegen. Beide sind später in die wirklich vornehmen Elbvororte umgezogen. Und beide liegen auf demselben Friedhof (Nienstedten). Über diese stadtsoziologischen Aspekte will ich bald mal einen Artikel schreiben. Dass außerdem noch weitere ca. 25 Bände Fichte auf mich warten, ist mir ganz recht.
Wirklich großartig ist auch die Liebesszene bei der Premierenfeier im Britischen Kulturcenter gegen Ende von Kap. 1. Der Ich-Erzähler ist verliebt in den Schauspieler, der ihn in einem Sartrestück so oft schon erwürgt hat, und nun kommt es, curaҫaobeschwipst, auf den Knien: „Liebe dich so, liebe dich, dich liebe ich so, so, ich liebe, liebe, liebe, dich, so, so, so!“ Dann holt einer seine Mutter, die Souffleuse, und unter Ohrfeigen wird er weggeschleppt – „sie vergisst … dass der zusammengesackte sechzehnjährige Schwule ihr Sohn ist …“ Ganz so arg war`s nicht, als ich das allererste Mal in Hamburg war, dennoch im Dunstkreis von Fichte und Jahnn, mir unbewusst. Ich besuchte einen Medizinstudenten, ausgerechnet in Othmarschen, Fichtes damaligem und letztem Wohnviertel. Der Student hatte ein Zimmer in einer Villa bei einem Drachen von Vermieterin, Verhältnisse wie in den Fünfzigern. Ich war die ganze Zeit über unglücklich verliebt und leider allzu klarsehend. Eben eine Liebe nicht wie von Swann, sondern wie von Fichte. Der Student nahm mich mit in ein Café nach Blankenese, es lag in dem Dienerhaus im Hirschpark, das Jahnn vor und nach dem Krieg und bis zuletzt bewohnt hatte. Erst viel später las ich von der Rolle, die das Haus in der Literaturgeschichte gespielt hatte. Der Ich-Erzähler, als Trygve „Mozart“ (real: Yngve Trede) sich von ihm ab- und Jahnns Tochter Signe („Anna“) zugewandt hat: „ … ich beginne, eine Niederlage vorzuführen, die mein ganzes Leben dauert.“ ----
III.
Lieber Mario,
… nach dem Erzählband soll es mit Waisenhaus, Palette und Detlevs Imitationen weitergehen, dann ein oder zwei Bände Sekundärliteratur. „Der Aufbruch nach Turku“ ist eine recht heterogene Sammlung. Bis jetzt – ich habe gut zwei Drittel durch - nichts Missglücktes, einiges Mittelmäßige, einiges gut Lesbare und zwei Sachen, die mich sehr stark berührt haben: „Der 23. Juli“ und „Lef“. Ersteres meint die flächenhafte Bombardierung Hamburgs 1943. Es war ja weltweit der erste und weitgehend erfolgreiche Versuch, eine Millionenstadt mit Spreng- und Brandbomben komplett zu zerstören. Hier wird das ausschließlich aus der Perspektive eines Achtjährigen beschrieben in einer Prosa, so glatt geschliffen wie Kieselsteine. Ein Text für Schullesebücher, und zwar im besten Sinn. Das Haus in Lokstedt hat die erste Angriffswelle überstanden, ist aber wie der Garten ramponiert. Die Villa gegenüber ist eine Ruine, unter der die Hausfrau noch liegt. Zootiere galoppieren durch die Straßen und ausgebombte Verwandte treffen ein. Die Fichtes wollen nach Schlesien aufs Land und ziehen mit dem Handwagen durch die zerstörte, noch brennende Stadt. Der Text endet mit der Abfahrt des Zuges und einem Detlev, der sich einem Quartett von jungen Soldaten anschließt, um mit ihnen zu singen. Das alles hat eine Schönheit, die einem im Hals stecken bleibt, ich könnte es nicht vorlesen. – „Lef“ spielt in Schweden, wo der junge Fichte mal in einer Anstalt für psychisch kranke Jugendliche Hilfskraft war. Der Erzähler fixiert sich unter ihnen auf eine vital-deformierte Unterschichtkopie von James Dean und Elvis. Klar, dass er ihn verliebt ist, aber das steht nur zwischen den Zeilen. Und der Direktor scheint eifersüchtig zu sein, als die beiden sich ein bisschen anfreunden. Es passiert nichts, der Junge steht auf Frauen. Um das Schwedisch des Deutschen zu verbessern, lesen sie sich gegenseitig „Nils Holgerssons wundersame Reise“ vor, kommen aber nicht bis ans Ende. Der Junge hat keine gute Prognose und wechselt die Stadt. Der Erzähler trifft ihn noch mal zufällig und wird sich bewusst, wie unzusammenhängend seine Eindrücke von dem jetzt Betrunkenen schon sind. Das ist der Nusskern des kleinen Textes: das rettungslos Fragmentarische, einfach Zerfließende eines Stoffes, der sich nicht mehr zur Erzählung runden will. Ausgezeichnet die Parallelität von abgebrochener Lektüre und abgebrochener Beziehung. Der andere als ein Text, den man letztlich nicht zu etwas Brauchbarem zusammensetzen kann …
IV.
Lieber Mario,
… die Fichte-Lesungen habe ich alle angehört, teils mehrfach. „Hotel garni“ will ich vielleicht nächsten Winter lesen. Interessant, dass er mal Hundertwasser zufällig begegnet ist (höre ich da) und dass er keinen Wert auf ein Wiedersehen legte. Die Fichte-Stimme kam mir sofort sehr bekannt vor. Ich neige nicht zu Mystifikationen. Dass der Effekt auf persönlicher Bekanntschaft beruht, glaube ich nicht. Ist es nur der Typ an sich, den du so treffend mit „norddeutsche Geistestunte“ bezeichnet hast, und den ich dann wiedererkannt hätte? Am wahrscheinlichsten: Ich kenne die Stimme aus dem Radio. Irgendwann lese ich auch mal eine Sammlung von journalistischen Beiträgen von ihm und stoße dann vielleicht auf Bekanntes.
Eben von Tocotronic per Video „Freiburg“ und „Imitationen“ angehört. Ersteres ist ja ein bisschen kurz und vermittelt mir wenig über die Stadt bzw. die Reaktion der Musiker auf sie. Das andere fand ich anregender, werde ich nach Lektüre des Buches noch mal hören. Den Text kann man wohl nur in seinem ursprünglichen Zusammenhang richtig einschätzen, ist ja kein isoliertes Stück Lyrik …
V.
Lieber Mario,
… dieses Fichte-Zitat, an dem du Anstoß nahmst: „Nichts ist verwundbarer als ein Männerarsch …“ Es empfiehlt sich, das nicht zu wörtlich zu nehmen. Übertriebene, nicht haltbare Aussagen dieser Art findet man gelegentlich bei ihm. Ein anderes Beispiel, von mir schon mal zitiert: „In Lokstedt gibt es mehr Schlangen als am Amazonas.“ Ist ja offenkundig Blödsinn. Entweder sind solche Stellen sehr nachlässig geschrieben - oder es ist ein bewusst angewandtes Stilmittel. Ich neige zu letzterer Annahme. Da ist eine Tendenz zur Provokation am Werk. Die dahinter stehende Attitüde ist also nicht: „Huch, ich bin die große Künstlerin“, sondern: „Jetzt mal was ganz Krasses, los, reg dich auf.“ Was manche dann ja auch tun. Ganz glücklich bin ich mit diesen Spielchen auch nicht. Ist dabei nicht mal originell, da von jeher im Gebrauch, vor allem mündlich. Eine Art Rüpelei oder infantile Kraftmeierei, jedenfalls eine (sadistische?) Pose. In einer biographischen Darstellung las ich neulich, F. sei „zerrissen und hoch ambitioniert“ gewesen. Und dabei kommen dann solche hochtrabend banalen Sachen heraus. Aber wie F. auch sagt: Geschmack ist säkularisierte Magie. Und Geschmackloses ein mächtiger Gegenzauber. Man muss es dialektisch sehen.
„Das Waisenhaus“ einmal durchgelesen. Da steht viel Bemerkenswertes drin, aber die Grundkonzeption à la Proust kommt mir ein bisschen verfehlt vor: Ein Achtjähriger (!) sieht, während er ein paar Minuten auf seine Mutter wartet, das ganze verflossene Waisenhausjahr äußerst detailliert an sich vorbeiziehen – und ich sehe den jungen Autor Fichte sich am Schreibtisch abstrampeln. Ich werde es ein zweites Mal lesen, bevor ich mir für einen Artikel genügend sicher bin. Übrigens haben sie in Schrobenhausen eine Straße nach ihm benannt, in Hamburg oder sonst wo noch nicht. Und eines bleibt nun mal wahr: Hat man das Buch gelesen, kann man sich sehr gut vorstellen, wie sich das angefühlt hat: als norddeutscher protestantischer unehelicher Halbjude im 2. Weltkrieg in einem süddeutschen katholischen Waisenhaus existieren zu müssen.
VI.
Lieber Mario,
… Lektüre jetzt „Die Palette“. Das ist in der Tat ein ansehnlicher Brocken, zugleich leicht und schwer zu lesen. Leicht, da sich recht mühelos beim Lesen die beabsichtigten plastischen Bilder von Personen und Situationen einstellen; schwer, da so viele Details nur angedeutet oder verschlüsselt sind. Man würde eigentlich zum vollen Verständnis aller Einzelheiten einen wissenschaftlichen Apparat benötigen, vom mehrfachen Umfang des Buches. Für dieses Werk brauche ich länger als für die bisher gelesenen vom gleichen Autor. Ich bin dadurch, dass ich so viele Örtlichkeiten gut kenne, ja noch im Vorteil. Der Gänsemarkt und die ihn umgebenden Viertel, das ist der Teil der Hamburger Innenstadt, in dem ich die meisten Bezugspunkte habe. Ein Block weiter ist „meine“ Bank, und einige Hundert Meter davon das Bürohaus, in dem ich drei Jahrzehnte gearbeitet habe. Das Lokal „Palette“ war schon bei Erscheinen des Romans Geschichte (geschlossen 1964), an seiner Stelle ist seit den 80ern das Hotel Marriott mit edlen und superöden Geschäften und Restaurants im Parterre. Da entsteht mit Sicherheit keine Literatur mehr ...
VII.
Lieber Mario,
… bei Fichte bin ich jetzt bei „Detlefs Imitationen“ angelangt. Das erscheint mir von den bisher gelesenen Werken das überzeugendste, souveränste und amüsanteste. Es mag auch am autobiographischen Hintergrund liegen. Zwischen „Die Palette“ und „Detlefs Imitationen“ ist nämlich die Großmutter gestorben und deren Haus in Lokstedt von der erbenden Mutter verkauft worden. Jetzt erst gestaltet Fichte die Familiengeschichte in Kriegs- und Nachkriegszeit frei von Rücksichten. Opa war also PG und es gab beträchtliche Spannungen innerhalb der Familie. Oma kommt insgesamt bei ihm am besten weg. Richtig lustig wird es, wenn Jäcki im Roman sich vor das verkaufte Haus stellt und kritisch-bissig anmerkt, wie die neuen Eigentümer das Grundstück verschandelt haben. Im nächsten Roman wird Fichte dann auch noch Straßennamen und Hausnummer angeben. Die Bewohner dort werden begeistert gewesen sein, und das erklärt z.T. wohl das Fehlen einer Gedenktafel am „hässlichen Spitzdachhaus“. Sehr amüsant in diesem Roman auch die Schilderung eines Besuchs von Irma und Jäcki bei der Mutter Dora Fichte, die nun in einer Ein-Zimmer-Wohnung östlich der Alster lebt. Gibt es in der dt. Literatur des 20. Jahrhunderts eine zweite Mutter, die literarisch derart ausgebeutet wurde? (Kommt mir vor wie eine Vorwegnahme von Gebräuchen im Internet = das Privateste in die Öffentlichkeit.) Hier auch die Wiedergabe eines (authentischen?) Briefes von ihr, der sie durchaus nackt vorführt: oberflächlich, dabei kulturell ambitioniert und hoffnunglos altmodisch in ihrem Verhaftetsein an das in den Zwanzigern Moderne. Ich kenne diese zutiefst reaktionäre Möchtegern-Progressivität von Anthroposophen von einer früheren Kollegin her. Und dann gibt es hier noch die Protokolle von Jäckis Besuchen beim Zuhälter Wolli, ebenfalls vorzüglich. Oder die fürchterlichen pathologischen Experimente, die 1943 mit bei Luftangriffen Umgekommenen gemacht wurden …
Du hast bei Fichte einmal gelegentliche falsche Aussprachen moniert. Nun, seine Orthographie ist auch sehr angreifbar: von Salvadore (!) Dali bis zu „Fließen“, wenn es um Kacheln geht. Allerdings vermute ich zumindest teilweise Absicht dahinter. Wollte er Jahnn auch insoweit kopieren und übertreffen? Gut möglich, er war ja beinahe in Hassliebe fixiert auf ihn. Dazu kommen noch zahlreiche Errata, die eher auf den Setzer zurückgehen dürften. Das Lektorat scheint gar nicht eingegriffen zu haben. Noch ein Riesenforschungsfeld für bienenfleißige Literaturwissenschaftler! Jetzt habe ich auch die Stelle erreicht, die tocotronic für ihre Hommage verwendet hat. Das ist nicht so einfach, wie der Text scheint. Tatsächlich sitzt da der Erzähler in der Disco „Grünspan“ und lässt sich zudröhnen und seine Gedanken spazieren gehen. Ein Gewirr von Assoziationen, in dem dann diese Verse auftauchen, wie eine Pseudo-Simplizität, typisch eher für alkoholbedingtes Sinnieren und insofern auch gelungen. Aber ob tocotronic das auch so empfunden hat? Der Abschnitt im Roman endet dann folgerichtig in totaler Konfusion und sinnlosem Gestammel. – Bei mir hat die Fichte-Lektüre jetzt noch eine besondere Wirkung: Zu einem Zeitpunkt, da mir Hamburg teils gleichgültig, teils widerwärtig geworden ist, bringen mir seine Texte die Stadt, in der ich so lange gelebt habe, auf eine literarische Weise wieder nahe. Heute las ich die Stelle, an der er aus dem halben Zimmer im Dachgeschoss des Lokstedter Hauses auf den Wasserturm in der Nähe blickt – ach, wie oft sind wir da an Sonntagen oder Mittwochen vorbeigekommen … Nach diesem Roman mache ich eine Pause und lese bis zum Winter einiges an Sekundärliteratur über ihn, dann den einen oder anderen späten Roman ...
INHALT - Besprochene Bücher
1. Herman Bang, Ludvigshöhe
2. Bertolt Brecht, Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar
3. Gore Vidal, The City and the Pillar, dt. Geschlossener Kreis
4. Christos Tsiolkas, Unter Strom
5. Donald Carter, Wenn Felsen weinen
6. Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur
7. Günter Kunert, Verspätete Monologe
8. Alois Brandstetter: Die Abtei / Die Mühle
9. Manfred Hausmann, Kleine Liebe zu Amerika
10. Vier Frauen bei Manfred Hausmann
11. Auszug aus einem Briefwechsel über Hubert Fichte
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2010
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