1. Über TROPICAL MALADY, Film aus Thailand
In Cannes hat Apichatpong Weerasethakul für Tropical Malady 2004 den Großen Preis der Jury erhalten. Es ist zweifellos ein lohnender Film, fürs Auge, fürs Gemüt und für den Geist. Doch ob ihn jeder, der ihn rühmt, auch vollkommen verstanden hat – ich bezweifle es. Durch den Film geht ziemlich exakt in der Mitte ein Riss, der Film blendet ab, die Handlung setzt aus, um auf eine diametral entgegengesetzte Weise neu anzufangen. Stellen Sie sich vor, am Deutschen Schauspielhaus spielen sie erst zwei Akte Botho Strauß, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, kommt ein barockes Mysterienspiel. Der Vergleich ist unzulänglich, gewiss … Jede Übertragung auf unsere Verhältnisse müsste es sein.
Am Anfang haben Soldaten einen unbekannten Toten in einem Feld entdeckt. Sie bleiben gelassen, schaffen ihn fröhlich zu einem bäuerlichen Anwesen, kehren dort ein. Soldat Keng (Banlop Lomnoi) interessiert sich für Tong, den Sohn des Hauses (Sakda Kaewbuadee). Tong ist Arbeiter in einer Eisfabrik und halber Analphabet. Wir erleben die beiden in einer Reihe kleiner sympathischer Genreszenen auf dem Land oder in Bangkok, mal beim Lkw-Fahrtraining, mal in der Tierklinik, mal in einem Höhlentempel und auch im Kino, im Einkaufszentrum oder in einer Karaoke-Bar. Es ist das Thailand von heute, westlich nicht überformt – nur überhaucht. Dafür sehr asiatisch die Darstellung der erotischen Anziehungskräfte, nie direkt, immer zart, delikat, anspielungsreich. Wenn Keng sich zu Beginn verliebt, sehen wir nur ihn, wie er den für uns unsichtbaren Tong minutenlang betrachtet und dabei zunehmend ironischer lächelt. Ähnlich distanziert-amüsiert reagieren später Tong und eine unbekannte junge Frau in einem Bus in der Hauptstadt aufeinander. Allein schon diese beiden Szenen lohnen das Anschauen des Films.
Eines Morgens ist Tong verschwunden. Und im Dorf heißt es, eine Tigerbestie reiße ihnen die Rinder. Nach dem Abblenden beginnt eine teilweise im Mythologischen angesiedelte Parallelhandlung. Soldat Keng zieht mit Gewehr und Funkgerät auf die Tigerjagd in den Urwald. Der Urwald ist höchst real, mit Baumriesen im Dschungel, ekligen Insekten, scharfen Hell-Dunkel-Kontrasten. Doch der Tiger ist der Geist eines getöteten mächtigen Schamanen, der auch Menschengestalt annehmen kann. Keng verfolgt ihn bei Tag und fürchtet ihn bei Nacht. Am hellen Tag trifft er auf einen nackten Wilden, Inkarnation des Schamanengeistes (wiederum Sakda Kaewbuadee). Sie kämpfen auf Leben und Tod miteinander …
Am Ende lassen wir Keng im nächtlichen Urwald allein zurück. Er hat sich gefunden oder verloren - und die Untertitel des Erzählertextes machen mich Westler etwas ratlos. Die Umgrenzungen der Gestalten sollen sich aufgelöst, die Figuren sich wechselseitig durchdrungen haben. Mir scheint, unsere Terminologie kann dem alten südostasiatischen Mythos nicht wirklich gerecht werden. Der Film bleibt so unaufgelöst suggestiv über seinen Schluss hinaus - ein sehr reizvolles cineastisches Abenteuer mit ungewissem Ausgang für jeden Zuschauer.
2. Über FAR FROM HEAVEN, Film von Todd Haynes
Erst die fünfziger Jahre waren nach einer neuen Theorie das Goldene Zeitalter des Patriarchats. Der Wohlstand der Nachkriegszeit soll demnach auch in den Mittelschichten die Rolle der Frau als Nur-Hausfrau ermöglicht und zur vollen Entfaltung gebracht haben.
Die Whitakers in „Far from Heaven“ leben 1957 in Hartford, Connecticut, und gehören der oberen Mittelklasse an. Er hat eine gute Position bei einem Produzenten von Fernsehgeräten, sie kümmert sich um das perfekte Heim und die zwei wohl geratenen Kinder, draußen in einem grünen Vorort. Die Whitakers sind als Vorzeigefamilie gesellschaftlich hoch geachtet. Allerdings bemüht sich Frank (Dennis Quaid) insgeheim um sein Coming-out. Cathy (Julianne Moore) ist ahnungslos. Sie will nicht wissen, warum sie ihn eines Abends von der Polizeiwache abholen muss, und sie denkt sich nichts dabei, ihm einmal unangemeldet sein Abendessen ins Büro zu bringen. Hier werden ihr die Augen geöffnet.
Cathy verlangt, dass Frank sich von einem Psychiater behandeln lässt. Der „Doctor“ ähnelt nicht nur äußerlich Professor Kinsey. In einem Vorgespräch schätzt er die „Heilungschancen“ als gering ein und deutet an, dass die Behandlung stattdessen bei manchen zur Selbstakzeptanz führe. Frank hat es daraufhin eilig mit der Therapie. Bald schon leidet er unter ihr, trinkt und reagiert zunehmend gereizt auf die attraktive und allzu verständnisvolle Gattin.
Cathy ihrerseits findet Zuspruch und Aufmunterung durch den Farbigen Raymond (Dennis Haysbert), der den Garten der Whitakers in Ordnung hält. Ihr Verhältnis überschreitet die Grenzen der Wohlanständigkeit nie und ist doch deutlich erotisch gefärbt. Für die Gesellschaft von Hartford ist schon der freundschaftliche Umgang eines farbigen Mannes mit einer weißen verheirateten Frau ein unerträglicher Skandal. Cathy ist gezwungen, die harmlose Beziehung abzubrechen.
Frank wird immer labiler, die Firma schickt ihn in Urlaub, und das Ehepaar reist nach Miami. Hier fällt Dr. Bowmans Gesprächstherapie endlich auf fruchtbaren Boden: Frank verliebt sich ruckzuck in den Sohn der Familie vom Nebentisch. Cathy merkt erst, was passiert ist, als Frank daheim in Hartford wieder einmal zusammenbricht. Auch jetzt ist es Cathys Sache, auszusprechen, was geschehen muss: Scheidung.
Raymonds Stellung in Hartford ist unterdessen unhaltbar geworden. Weder die Weißen noch die Farbigen verzeihen ihm die Liaison, die nicht einmal eine war. Er bereitet deshalb seinen Umzug nach Baltimore vor. Cathy würde ihm gern folgen, doch Raymond sieht in ihrer Lage und zu ihrer Zeit nur in einem Sinn – im Verzicht.
Frank erleben wir ein letztes Mal, wie er Cathy den Termin beim Anwalt telefonisch durchgibt, im Schlafzimmerhintergrund der Neue. Frank hat sich stabilisiert, er ist der Krisengewinner – so wie Cathy die Verliererin.
Todd Haynes steht in der Nachfolge von Douglas Sirck und Rainer Werner Fassbinder. Er hat mit diesem Film von 2002 das US-Melodram der fünfziger Jahre zu mitreißendem neuen Leben erweckt. Sehenswert sind allein schon die Authentizität der Drehorte, die Stilsicherheit in allen Details der Ausstattung, die großen Leistungen der Schauspieler, die wunderbaren farbigen Bilder. Nicht zu vergessen Elmer Bernsteins herrliche Filmmusik. Die Vitalität von Stoff und Gestaltung hat ihren tieferen Grund jedoch in folgendem Zusammenhang: Mit dem Bewusstsein von heute wird hier die Zeit von damals wieder heraufbeschworen und zugleich wird klar dargestellt, was seinerzeit nur angedeutet werden durfte. Und siehe: Wir Menschen von heute sind in den Grundfragen unserer Existenz jenen von damals noch immer recht nahe - und eben beide: „Dem Himmel so fern“, so der deutsche Titel des Films.
3. Das Unbewusste im Film
Dargestellt am Beispiel „Far from heaven“ von Todd Haynes
2002 versuchte Todd Haynes mit „Far from heaven“ die Wiederbelebung des US-Melodrams der fünfziger Jahre. In jener fernen Zeit hatte die Psychoanalyse ihren ersten großen Aufschwung in den USA genommen. Drehbuch und Filmrealisierung lassen erkennen, dass Haynes auch diesen Aspekt berücksichtigte. Wir wollen uns den Film daraufhin näher ansehen. Wo lassen sich unbewusste Regungen und Motive aufspüren und wie wurden sie in Szene gesetzt?
Am Anfang muss Cathy ihren Ehemann Frank eines Abends von der Polizeiwache abholen. Sie bekommt dort eine Quittung mit einem Text, dessen Inhalt dem Zuschauer verborgen bleibt. Frank beginnt auf der Rückfahrt sogleich, den Anlass seiner Festnahme hinter einem Wortschwall zu verschleiern. Da ist von einem jungen Herumtreiber und einem karrieresüchtigen Beamten die Rede. Alkohol soll auch eine Rolle gespielt haben. Cathy wirft zu Hause das Polizeipapier ungelesen weg. Bei diesem Vorgang wird kurz bedauerndes Zögern sichtbar. Frank kommt auch an den folgenden Abenden nicht rechtzeitig nach Hause. Als er wieder einmal anruft, um sich mit viel Arbeit zu entschuldigen, will Cathy ihm sein Essen ins Büro bringen. Das ist ein spontaner Entschluss, gleich nach dem Ende des Gesprächs und frei von jeder misstrauischen Überlegung. Wir dürfen jedoch vermuten, dass sie unbewusst den Dingen auf den Grund gehen will. Tatsächlich überrascht sie im Büro den Gatten beim Vorspiel mit einem anderen Mann, den er am Abend davor in einer Bar kennen gelernt hat.
Cathy flüchtet nach Hause und erwartet dort Frank. Als er eintrifft, erfährt er sogleich, der Dachdecker habe einen Kostenanschlag abgegeben - elfhundert Dollar. So unpassend das jetzt wirkt, damit verweist Cathy unwillkürlich auf einen zentralen Aspekt: Du bist als Mann der alleinige Ernährer der Familie, darin besteht deine Hauptdaseinsberechtigung. (Nach dem Scheitern der Ehe werden tatsächlich die Geldmittel knapp.) Nachdem sie so unbewusst die ökonomische Seite angesprochen hat, will sie bewusst die emotionale Bindung zwischen ihnen und ihre eigene Gefühlslage thematisieren – und kommt nicht weit: „I can’t …“ Ihm fehlen auch die Worte oder er tut nur so – sie handeln alles Weitere in einem Dialog aus lauter Gestammel ab und erzielen schon nach wenigen Minuten eine Einigung: Frank soll sich psychiatrisch behandeln lassen. Es ist auffallend, dass er sich bedeckt hält und die Gattin erst verhüllt mit einem Auseinandergehen drohen muss. Auf diese Weise schiebt er ihr bereits die Verantwortung für den weiteren Ablauf zu.
Die Vorbesprechung bei Dr. Bowman scheint ungünstig zu verlaufen, gemessen an Franks Abkommen mit Cathy. Der Arzt spricht von moderner und wissenschaftlicher Auffassung und schlechten Aussichten für eine Verhaltensänderung, dazu sein Hinweis, dass viele Patienten sich infolge der Gesprächstherapie schließlich selbst akzeptierten. Frank soll darüber in Ruhe nachdenken und es mit seiner Gattin bereden. Stattdessen entschließt sich Frank sofort zur Therapie. Er bezeichnet sich mit etwas zu viel Pathos als „verachtenswert“. So spricht sein Ich, angeleitet vom Über-Ich, während ihm das Es schon zuflüstert: Bei dieser Therapie kannst du nur gewinnen. In der Tat befinden sich die Instanzen seiner Persönlichkeit jetzt in einer klassischen Win-Win-Situation.
Die Krise bleibt Frank dennoch nicht erspart. Er trinkt zu viel und brüskiert Cathy bei einer ihrer Partys vor den Gästen, gewissermaßen entschuldigt durch den Alkohol. Hinterher scheitert er – man könnte sagen: programmgemäß – beim Versuch, wieder einmal mit ihr zu schlafen, und als sie auch dafür nur mit Verständnis reagiert, schlägt er sie bei einer Ausweichbewegung „versehentlich“ und verletzt sie am Kopf. Was ihr die Umgebung nun von der Stirn ablesen kann, beruht für Cathy nur auf einem zufälligen Versehen, beteuert sie – und dennoch weint sie dabei heftig.
Eine Reise über Neujahr soll den Wendepunkt bringen. Cathy lässt Frank zwischen verschiedenen Zielen wählen und preist ihm Miami so an: „Da ist alles in Rosa!“ – woraufhin er ironisch kontert: „Dann vielleicht doch lieber auf die Bermudas?“ Aber sie fahren natürlich nach Florida. Am Silvesterabend lässt sich Frank beim Tanzen von Cathy ein kunstvoll gedrechseltes Kompliment entlocken, bevor sie zu ihrem Tisch zurückkehren. Dabei kommt es zu einer Stockung: Sie lassen der unbekannten fünfköpfigen Familie vom Nebentisch den Vortritt. Frank stutzt und unterzieht den blonden Sohn einer intensiven visuellen Prüfung, was der hellwach registriert. Sie sind schon vom ersten Augenblick an im Einverständnis. Wie die Szene aufgebaut ist, kann man gut verfolgen, wenn man die DVD anhält und in kleinen Schritten weitertransportiert. Dabei sieht man auch die Veränderung, die dabei mit Cathy vor sich geht. Erst lächelt sie konventionell höflich, doch das Lächeln schrumpft ein, die Lippen schließen sich und dann wird die ganze Person kleiner. Bewundernswert, wie Julianne Moore es versteht, uns den Cathy unbewussten Vorgang zu verdeutlichen.
Dass Cathy nicht wissend ahnt, was sich anbahnt, wird an einem der Folgetage am Pool deutlich. Sie folgt Franks in die Weite gerichtetem Blick. Er hat nicht nur den Horizont, sondern auch wieder jene verwünschte Familie im Visier. Da drüben sitzen schon vier von ihnen, jetzt kommt Franks Objekt der Begierde dazu, steht eine Weile herum. Cathy sagt energisch: „Das reicht jetzt!“ Frank zuckt zusammen, doch scheinbar grundlos. Sie hat angeblich nur gemeint: genug Modevorschläge aus ihren Magazinen. Dann will sie weiter in „Vom Winde verweht“ lesen, und Frank springt nur zu gern auf, um es aus dem Hotelzimmer zu holen. Als er weggeht, dreht er sich nach Cathy um und wirft ihr eine Kusshand zu. Die übertriebene Geste erfolgt zu rasch, um berechnet zu sein, und das gilt auch für Franks Umdrehen im Weitergehen. Entgegen seiner Gehrichtung präsentiert er sich jetzt frontal dem, der durch die Kusshand erst aufmerksam wurde und für den sie in Wahrheit bestimmt war. Folgerichtig erscheint der Inkubus – oder Sukkubus? – oben auf der Etage kurz darauf in der offen stehenden Zimmertür. Frank macht jetzt einen weniger überraschten als vielmehr stark interessierten Eindruck.
In vielen Besprechungen des Films wird festgestellt, das Cathy als Frau damals zwangsläufig die Verliererin sein musste. Nur dem Mann sei seinerzeit und in dieser Konstellation ein gesellschaftlicher Neuanfang möglich gewesen. So zutreffend das ist, man kann es ergänzen: Frank setzt sich und seine Interessen auch deshalb durch, da sein Agieren unmittelbar aus seinem Unbewussten hervorgeht, dem unbewussten Wahrnehmen und den starken Wünschen seines Unbewussten. Cathy dagegen schwankt zwischen dem bewussten Versuch, ihre Ehe zu retten, und dem unbewussten Erfassen einer Wirklichkeit, die darin besteht, dass ihr Frank unabwendbar entgleitet. Auch in diesem Gespaltensein liegen ihre Schwäche und ihr tragisches Scheitern begründet.
4. Über HAPPY TOGETHER, Film von Wong Kar-Wai
Die Familie bleibt das große Thema im asiatischen Film, auch im Gay Cinema. In Bangkok Love Story hat Mehk sich als Auftragsmörder bei der Mafia verdungen – auch eine Art Familie -, um Mutter und Bruder unterstützen zu können. Dann verliebt sich der Polizeiinformant Itt in ihn und gestaltet diese Liebe von Beginn an nach dem Familienmodell: Fürsorge, Aufopferung. Aus der Konkurrenz von drei familiären Situationen ergeben sich die Katastrophen, die alle in den Abgrund reißen.
Auch schon in Wong Kar-Wais Happy together (Beste Regie, Cannes 1997) ist Familie Ausgangs- und Angelpunkt, doch der Ablauf spiegelbildlich zum späteren Thai-Movie. Die beiden jungen Hongkong-Chinesen Lai Yu-Fei (Tony Leung) und Ho Po-Wing (Leslie Cheung) haben sich vollständig von ihren Familien abgenabelt und ziehen, in gegenseitiger Hassliebe verbunden, durch die Welt. Sie kommen bis Argentinien. Lass es uns noch mal versuchen, sagt Ho immer wieder. Unterwegs zu den Wasserfällen von Iguacu trennen sie sich erneut. Lai wird Portier in einer Tango-Bar in Buenos Aires. Ho geht auf den Strich, wird in Kriminelles verwickelt, zusammengeschlagen und kehrt noch einmal zu Lai zurück. Es kann nicht gut gehen: Ho erträgt die Fürsorge immer nur, solange er sie braucht. Danach will er wieder seine Freiheit.
Also endgültige Trennung. Ho verkommt zusehends. Lai arbeitet in der Küche eines China-Restaurants und lernt hier Chang (Chang Chen) aus Taiwan kennen. Auch er hat die Heimat verlassen, um sich in der Fremde selbst zu verwirklichen. Doch ist er ein anderer Charakter als Ho: nachdenklich, rücksichtsvoll. Er scheint sich inzwischen gefunden zu haben und will zurück nach Taipeh. Einstweilen fehlt ihm noch das Geld für die Heimreise. Unter seinem Einfluss distanziert sich Lai von seiner jüngeren Vergangenheit. Er will eine von ihm in Hongkong begangene Unterschlagung wieder gutmachen und sich mit seinem Vater versöhnen. Um das Flugticket bezahlen zu können, arbeitet er zuletzt in einem Schlachthof.
Auf seinem Heimflug macht Lai kurz in Taipeh Station. Auf dem Nachtmarkt besucht er die Garküche von Changs Vater, ohne Chang selbst anzutreffen. Fotos des Sohnes dort verraten ihm, dass Chang in die Familie wieder aufgenommen wurde. Im Schlussbild fährt Lai froh mit der Hochbahn durch ein gleißend helles nächtliches Hongkong. Seine Reise ins Licht nähert sich dem Ende, er ist offen für den Wiederanschluss an die eigene Familie. Ein gelegentlicher Besuch in Taipeh bei Chang erscheint möglich.
Die Positionen im Film sind in fast schon penetranter Weise eindeutig. Auf der einen Seite der Vertreter unbedingten Autonomiestrebens (Ho), der im Westen zugrunde geht, auf der anderen die Einsichtsfähigen, die umkehren und zu den Wurzeln zurückfinden. Buenos Aires ist beinahe immer eine dunkle, die Melancholie fördernde Stadt. Die Gäste der Tango-Bar erscheinen als plump-vergnügungssüchtige Horde. Wenn sich die Mitbewohner in Hos Mietshaus unterhalten, klingt es nur nach Kakophonie. Hos Umkehr beginnt, als er beim Ballspiel den anderen jungen Chinesen aus dem Restaurant näher kommt. Ausgerechnet am Todestag von Deng Xiaoping, der großen Vaterfigur des modernen China, trifft Lai wieder in Asien ein.
Unabhängig von dieser neokonfuzianischen Tendenz hat der Film große ästhetische Qualitäten: eine stimmungsvolle, bitter-schöne Atmosphäre, passende Musik (darunter Astor Piazzollas herrlicher Tango apasionado), eindringliche Bilder, überzeugende Schauspieler. All das erreicht seinen Höhepunkt in einer Küchenszene, in der Ho Lai Tangoschritte beibringt und beide für Augenblicke zu jener vollkommenen Harmonie gelangen, die ihnen sonst versagt ist.
Harmonie ist die geheime Sehnsucht dieser Menschen. Ohne Ordnung keine Harmonie, ohne Familie keine Ordnung? Man kann es so sehen, man muss es nicht. Doch sehen wir ruhig einmal in den Spiegel, der uns Menschen im Westen hier vorgehalten wird.
5. Über ETHAN MAO, Film von Quentin Lee
Der Regisseur Quentin Lee, geboren 1971, verließ Hongkong mit sechzehn und ging nach Kanada, wie viele damals. Später studierte er in den USA, wurde Drehbuchautor und Filmemacher. ETHAN MAO ist sein dritter Spielfilm.
Ethan (Jun Hee Lee) ist achtzehn, lebt mit seiner Familie in Los Angeles. Sein Vater betreibt ein China-Restaurant, in dem Ethan mitarbeitet. Bei einem Raubüberfall muss Ethans Vater sich als „Japse“ beschimpfen lassen - er knallt den Räuber nieder. Zur Familie gehören noch der jüngere Bruder Noel, die Stiefmutter Sarah und der Stiefbruder Josh. Nur zu Noel hat Ethan ein gutes Verhältnis. Er vermisst seine eigene tote Mutter. Als herauskommt, dass Ethan schwul ist, wirft ihn sein Vater aus dem Haus. Ethan lebt auf der Straße und prostituiert sich.
Ethan lernt Remigio (Jerry Hernandez) kennen, den die New York Times den „süßesten Drogendealer der Filmgeschichte“ nannte. Sonderbar, gerade er ist die positivste Figur im Film. Ihn zeichnen Verantwortungsgefühl und kluge Geschicklichkeit aus. Er nimmt Ethan bei sich auf, doch sie schlafen nicht miteinander. Ethan bittet Remigio, ihn an Thanksgiving zum verwaisten Vaterhaus zu fahren. Er will die Halskette seiner Mutter als Erinnerungsstück stehlen. Während er sie sucht, kommt die Familie unerwartet zurück – sie haben das Geschenk für die Tante vergessen. Es kommt schnell zum Showdown. Ethan und Remigio nehmen die anderen gefangen. Waffenstillstand über Nacht und am anderen Morgen soll Sarah die Kette aus dem Banksafe holen. Bis dahin kommt man sich menschlich näher. Dann aber … Und hier will ich mich einmal an das Spoilerverbot halten.
Der Film ist eine glückliche Verbindung aus chinesischen und amerikanischen Elementen – tiefgründig und glasklar zugleich. Oft scheint Humor durch. Ethan ist noch ein halbes Kind und Remigio nur wenig älter. Das färbt auf die Thriller-Szenen ab. Als der Vater mit gezogenem Revolver Remigio stellt – betrachtet der gerade ein Familienfoto. Wenn sie alle auf Leben und Tod miteinander kämpfen, wird aus der amerikanischen Mittelschichtfamilie wieder der fernöstliche Clan, in dem blutig um die Vorherrschaft gestritten wird. Und dann klingelt es an der Tür: Die weiße angelsächsische Nachbarin beschwert sich bei Noel über den Lärm. Thanksgiving sei ein hoher nationaler Feiertag, sie sollen gefälligst ihre Hongkong-Action-Filme leiser drehen. Ein Herr-im-Haus-Standpunkt, dem langsam der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Natürlich hat der Film eine Botschaft. Man kommt ihr näher, wenn man sich die Namen der Figuren ansieht. Sie sind biblisch, nur Remigio (= Remigius) war ein heiliger Bischof - und Sarah sagt dazu: Wie originell! Diese Chinesen sind katholische Christen. In der Halle hängt ein Kruzifix und an der Wand daneben, meist im Schatten, die Glück bringenden chinesischen Schriftzeichen. Was zwischen Ethan (hebräisch: der Beständige und historisch ein Weiser aus der Umgebung von König Salomo) und seinem Vater Abraham („Abe“) abläuft, ist auch ein Spiel mit der biblischen Geschichte von Abraham und Isaak. Ethan wirft am Morgen Abe vor: „Du hättest den Jungen nicht töten dürfen.“ Nun wird die Geschichte umgedreht und Ethan ist bereit, Abe wirklich zu töten, wenn Gott es will. Aber der hat auch nicht gewollt, dass Ethan sich in der Nacht selbst erschießt. Oder war es der Gedanke an Remigio?
Abraham und seine Familie haben die Normen der weißen angelsächsischen Amerikaner übernommen und werden damit nicht glücklich. Das ist es, was Ethan seinem Vater vorwirft – und der verwandelt sich allmählich in einen milden, weisen Konfuzianer zurück. Oder hat er endlich zu den wahren christlichen Werten gefunden? Der Film ist wie ein Kaleidoskop, in dem immer neue Stationen eines inneramerikanischen Kampfes der Kulturen aufscheinen. Ein Latino beschützt einen Chinesenjungen, dessen Familie sich der konservativen weißen Mittelklasse angeschlossen hat. Dass Sarah und Josh von Weißen gespielt werden, soll im Rahmen dieser kurzen Abhandlung unerörtert bleiben.
Der kulturell brisante Film scheint bisher in Deutschland wenig Beachtung gefunden zu haben. Es fehlt hier noch das Gefühl dafür, wie sehr sich das Zentrum des Weltgeschehens verlagert hat: von den Küsten des Atlantiks zu denen des Pazifiks. Dafür habe ich etwas anderes im Internet gefunden. Einer stellte erleichtert fest: Der Film ist gar nicht schwul! In der Tat, erst ganz am Schluss sind Ethan und Remigio das, was ihnen zu werden bestimmt war - Lovers. Der Film spielt durchgehend auf zwei Bedeutungsebenen, der soziokulturellen und der individuell-psychologischen. Wenn Sarah ihren Stiefsohn a homosexual and psychopath nennt, liegt sie damit nicht vollkommen falsch. Ethan ist gestört und erreicht erst allmählich wieder ein Minimum an Grundvertrauen.
Was ist ETHAN MAO? Ein beinahe heiteres Ethno- und Familien-Psychodrama in Form einer Thriller-Travestie.
6. Film und Traum
- Dargestellt an Quentin Lees „Ethan Mao“ –
Bei Proust bewegt sich das Bewusstsein des Erzählers mühelos durch die Zeit, gleitet wie in einem Fahrstuhl durch die übereinanderliegenden Schichten. Es ist ein vertikales Verfahren, das die beglückende Einheit in einer gegenwärtigen Zeit herstellt oder herstellen soll. In seinem Film „Ethan Mao“ benutzt Quentin Lee anfangs die gleiche Methode eines häufigen Perspektivenwechsels mit Rückblenden aus der erzählten Gegenwart in die vom Helden erinnerte Vergangenheit. Dann aber eröffnet er neben der Zeche Erinnerung einen horizontalen Stollen in den Berg: die Mine Traum. Er geht dabei so diskret vor, dass der Übergang aus der für real erklärten Filmhandlung in die als geträumt konstruierte dem Zuschauer leicht verborgen bleibt. Dazu trägt auch bei, dass die Traumhandlung als kraftvoll inszenierte Thriller-Travestie daherkommt.
Der blutjunge Ethan ist Stricher und wohnt bei dem nur wenig älteren Remigio, einem Drogendealer. In Rückblenden erinnert sich Ethan, wie es dahin gekommen ist. Er vermisst seine früh verstorbene Mutter. Sein Vater hat ihn unter dem Einfluss der Stiefmutter aus dem Haus gejagt, als Ethans Homosexualität zutage trat. Ethan bittet Remigio, ihn demnächst zum Elternhaus zu fahren. Er denkt an die Diamantenhalskette seiner Mutter, die er sich als Erinnerungsstück aneignen möchte.
Die Hauptzeitebene des Films sind ein Abend und eine Nacht in Remigios Wohnung. Während Remigio unterwegs ist, probiert Ethan neuen Stoff. Berauscht hat er die Vision, wie er mit Remigio die an Thanksgiving verwaiste Villa des Vaters betritt und die Alarmanlage ausschaltet. Remigio, zurück vom Dealen, holt ihn in die Realität zurück. Ethan bietet sich jetzt erstmals dem Kumpel zum Sex an, als Dank für die Unterkunft. Er will darin nur ein Geschäft wie seine anderen sehen. Remigio, der ihn liebt, lehnt dankend ab. Ethan fragt, woran man erkenne, selbst verliebt zu sein. Remigio antwortet nur indirekt und erzählt ihm, wie er selbst früher von einem Älteren geliebt und gefördert wurde, ohne das Gefühl erwidern zu können.
Bald darauf ist Thanksgiving. Ethan und Remigio brechen tatsächlich in das verlassene Haus ein – denkt der naive Zuschauer und lässt sich in den Bann der Handlung ziehen, ein rasantes Familienpsychodrama. Quentin Lee führt ihn schon dadurch in die Irre, dass die Traumhandlung mit dem Erwachen von Ethans Verwandten beginnt. Ethan nimmt kühn und kraftvoll Rache für alle Kränkungen. Er ist „high“ – und das ist der Schläfer ja auch - und arbeitet sich an der verkorksten Familiengeschichte ab. Als die Wirkung der Droge nachlässt, wird es auch in der Traumhandlung Nacht und Ethan verliert seinen Mut. Immer stärker lehnt er sich an Remigio an. Sein Zutrauen und seine Zuneigung zu ihm wachsen.
Abrupt wacht er auf und findet sich neben Remigio in dessen Bett … um gleich weiterzuträumen. Die Traumhandlung in der Villa spitzt sich zu. Ethan findet Remigio in einer Blutlache tot vor … und erwacht auch aus diesem Traum. Und ist immer noch zur Verwirrung des Zuschauers im Haus des Vaters. Ja, was ist nun Traum, was Filmrealität? Hier muss man sich klar machen, dass viele von uns gelegentlich im Traum das Bewusstsein davon entwickeln zu träumen. Wir träumen dann, dass wir träumen, und setzen uns mit dem Trauminhalt träumend auseinander. So auch in „Ethan Mao“, dessen Handlung hier nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden soll.
Über den Traumsequenzen liegt fast immer ein bläulich-helles Licht. Die Traumhandlung endet damit, dass die beiden jungen Männer sich Polizei und Justiz stellen und damit zugleich ihre familiären Komplexe abschütteln. Sie gehen dem Gefängnis entgegen und paradoxerweise auch der Freiheit. Als das Haustor der Villa aufgeht, verwandelt sich das bläuliche Licht in ein strahlend-weißes, in dem alle Konturen ausgelöscht werden. Und Ethan liegt wieder neben Remigio im Bett in einer rembrandtbraunen und –satten Beleuchtung. Sie knüpfen an ihr vorher unterbrochenes Gespräch an. Remigio bittet den Freund, es ihn wissen zu lassen, wenn er sich einmal verliebt haben sollte. Ethan lächelnd, noch ganz unter dem Eindruck seines Traums: „Du wirst es als Erster erfahren, ich werde dich dann küssen.“
7. Über NO REGRET, Film von Songhie-il Lee
Das ist wieder bestes, spannungsreiches asiatisches Kino, diesmal aus Süd-Korea. Der Film beginnt idyllisch, wird dann sozialkritisch, weitet sich zu einem ausgeprägten Psychodrama aus und schlägt noch die Richtung auf eine grausame Kriminaltragödie ein – um sie am Ende doch glücklich zu verfehlen.
Die beiden Protagonisten sind Su-min (Han Lee), ein Waisenjunge, und Chae-min (Yeong-hoon Lee), einziger Sohn eines reichen Industriellen. Su-min muss mit achtzehn das Waisenhaus auf dem Land verlassen, wo er glücklich gewesen zu sein scheint. Er kommt nach Seoul, arbeitet tagsüber am Fließband einer Fabrik und fährt abends alkoholisierte Barbesucher nach Hause. Dabei begegnet er Chae-min, ohne in ihm seinen Junior-Chef zu erkennen, und zieht sich sofort zurück, als der andere ihm ein eindeutiges Angebot macht.
Sie begegnen sich in der Fabrik wieder. Su-min zieht es vor, entlassen zu werden. Er landet wie andere Waisenjungen in einem Männerbordell. Chae-min sucht immer wieder seine Nähe, verfolgt ihn geradezu. Su-min kann in dem anderen nicht einfach einen Kunden sehen - doch für eine persönliche Beziehung jenseits des Geldes ist ihm der soziale Abstand zu groß. Dabei sagt er von sich selbst, er sei sehr stark. Er will als Prostituierter viel Geld verdienen, um später studieren zu können. Bald würde er am liebsten Seoul in Flammen aufgehen lassen.
Erst als Chae-min im Nachtclub durchdreht und überwältigt wird, akzeptiert Su-min den Gedemütigten, der sein Gesicht verloren hat. Sie freunden sich jetzt rasch an. Gleichzeitig betreiben Chae-mins Eltern dessen Hochzeit. Su-min fühlt sich hintergangen und selbst gedemütigt. Er erfährt nicht, dass Chae-min noch die Kraft für ein Coming-out gefunden hat. Der Plan eines Verbrechens aus Rache wird umgesetzt – und in dessen Verlauf erkennt Su-min, dass er den anderen nicht hassen, nicht vernichten kann.
Die beiden Hauptfiguren sind mental und in ihrer sozialen Stellung denkbar verschieden. Dass sie voneinander angezogen werden, ist für beide mehr als verstörend. Sie verlieren Stück um Stück ihre bisherige Identität, um am Ende nackt dazustehen, reduziert allein auf eine Zuneigung, die unzerstörbar scheint. Su-min büßt seinen Stolz, sein Selbstvertrauen, seine Tatkraft ein. Chae-min bricht mit allem, was ihm reiche Herkunft und konfuzianische Tradition bisher zwingend vorgeschrieben haben. Dieses Programm wird von überzeugenden Schauspielern hervorragend umgesetzt. Unterstützt wird es durch die schillernde Atmosphäre Seouls, die der Film in immer neuen Facetten einfängt.
Den Film durchströmt ein Realismus aus Empathie. Das erweist sich auch an bemerkenswert gut durchgestalteten Nebenfiguren, wie z.B. dem Bordellwirt. Er scheint eine Wiedergeburt von Prousts Jupien zu sein, so wie ihn Raoul Ruiz in „Die wiedergefundene Zeit“ vor Jahren auf die Leinwand gebracht hat. Hier ist er sentimental und brutal, geldgierig und großherzig geworden – und komisch.
Wir wissen so viel über Japan, über China – und so wenig über Süd-Korea. Der Film könnte einen veranlassen, sich mehr mit diesem fernen unbekannten Land zu beschäftigen. Auch seine Entwicklung hat zu unseren Lebzeiten eine dramatische Beschleunigung erfahren. Diese Dynamik voller Brüche ist in „No regret“ spürbar.
8. Über BANGKOK LOVE STORY, Film von Poj Arnon
In diesem Drama zwischen Aids und Mafiamorden fließen fast so viele Tränen wie Blut – Ströme von Blut und immer wieder Tränenbäche.
Für Mehk („Wolke“ – Rattanaballang Tohssawat) ist die Welt „ein einsamer, deprimierender Ort“. Seine Mutter und sein jüngerer Bruder sind aidskrank, angesteckt vom inzwischen verschwundenen Stiefvater. Mehk wohnt nicht mehr bei ihnen. Er unterstützt sie mit Geld, das er durch Auftragsmorde für die thailändische Mafia verdient.
Mehk muss Itt (Chaiwat Thongsaeng) entführen und zu „Narbengesicht“ bringen. Itt, ein Polizeiinformant, gibt die Namen von Mitwissern nicht preis und soll gleich von Mehk „erledigt“ werden. Stattdessen schießt Mehk auf den eigenen Auftraggeber. Die beiden jungen Männer entkommen, Mehk mit einem Armsteckschuss. Itt versorgt und pflegt ihn in ihrer Zuflucht …
Das ist ein seltsamer Ort neben der Hochbahn. Auf der anderen Seite die Wolkenkratzer der City und Mehk und Itt in einem Abrisshaus diesseits, allein in einer Räuberhöhle von Penthouse und umgeben von Terrassen, auf denen sich ein Großteil der weiteren Handlung abspielt. Itt vergisst seine Verlobte und gerät immer mehr in Mehks Bann, der das kaum erträgt und dennoch genießt. Dann eine Vereinigung wie ein Tropengewitter und danach jagt Mehk Itt mit dem Revolver fort. Doch Itt kann nicht loslassen …
Mehks Bruder Mawk wird als Aids-Kranker in ihrem Wohnviertel häufig bedroht und zusammengeschlagen. Mehk will mit ihm und der Mutter aufs Land flüchten, er bereitet die Abreise vor. Itt begegnet dabei Mehk ein weiteres Mal vor dem Haus. Noch ein Tropengewitter, öffentlich, ein Tabubruch für Thailand. Itts Verlobung geht in die Brüche. Die Brüder streiten und die kranke Mutter erhängt sich.
Während Mawk auf dem Bahnhof wartet, bringt Mehk noch drei, vier, fünf Mafiosi zur Strecke. Itt kommt zu spät, um die Morde zu verhindern, und wird selbst durch Kopfstreifschuss verletzt. Die Polizei stellt Mehk auf dem Bahnsteig. Itt, nun erblindet, besucht Mehk im Gefängnis und Mawk im Hospiz – der sich bald darauf ebenfalls stranguliert.
Der Film springt ins Jahr 2032. Der blinde Itt holt Mehk ab, als der aus der Haft entlassen wird. Sie kommen nicht weit - Mehk wird erschossen, späte Rache. Dann die rätselhafte letzte Szene: Kann Itt wirklich wieder sehen und ein uraltes Video von Mehk betrachten? Das Schlussbild legt vielleicht eine andere Deutung nahe: Schnee über geschweiftem Dach, Schnee auf den Zweigen …
Viel starker Tobak für nur eine Filmhandlung - und sie ist tatsächlich noch detailreicher, verwickelter. Alles ist mit größter Emotionalität dargestellt, dazu düster-schöne urbane Kulissen und eine Musik, die mal dramatisiert, mal diese Kaskaden von Leid und Schmerz erst erträglich macht. Bei uns hat der Film aus 2007, der in Thailand sehr erfolgreich war, manche befremdet, wenn nicht verstört: ein Übermaß an Handlung, an Musik, an Melodramatik, an allem …
Es gibt hoffentlich universelle Menschenrechte – einheitliche Maßstäbe für einen weltweiten Filmkunstgeschmack brauchen wir nicht. Wenn Sie thailändisch essen gehen, rechnen Sie auch nicht mit deutscher Hausmannskost. BANGKOK LOVE STORY ist ein präziser, ein hochdramatischer und rundum gelungener Film. Nur auf unsere mitteleuropäischen Sehgewohnheiten sollten wir verzichten. Tipp: Den Film wiederholt anschauen. Man kann sich an diese Kost gewöhnen. Man wird übrigens auf Bekanntes stoßen. Ich habe ein Fassbinder-Zitat erkannt und die Musik klingt oft auch vertraut … Und dann die Mundharmonika, Sie wissen schon … Die Thais sind seit langem Meister der kulturellen Assimilation.
Und was die Expressivität des Films angeht, sie ist bereits funktional angelegt. Das Coming out-Drama muss sich behaupten gegenüber einem rasanten Eastern und der ungeschminkten Darstellung des Aids-Elends im Land. Das Ergebnis kann bestehen als ein Stück Weltkultur von heute.
9. Der Mann, der zu viel weinte
- BANGKOK LOVE STORY im Spiegel der Kritik -
Ist das Internet Segen oder Fluch? Auf jeden Fall bedeutet es Demokratisierung, auch der Kritik. Jeder kann im Netz Rezensent sein. Ich selbst schreibe Buch- oder Filmkritiken, um weniger bekannte lohnende Werke etwas bekannter zu machen. Die großen Kassenschlager brauchen mich nicht. Und Schlechtem durch Einspruch zu mehr Beachtung verhelfen, das will ich nicht.
Gerade bei Filmen bin ich oft unsicher: Habe ich alle Details der Handlung richtig aufgefasst? Dann stöbere ich im Netz und entdecke regelmäßig Kritiken, die brauchbaren Werken mit Vergnügen die Unbrauchbarkeit nachzuweisen suchen. Und manchmal spüre ich, wie sich einer abarbeitet, um etwas abzuwehren und von sich selbst fern zu halten.
Der Film BANGKOK LOVE STORY ist ein Musterbeispiel. Ich habe mehr als fünfzig Besprechungen gelesen, aus Europa, Nordamerika und Asien. Die eine Hälfte war scharf ablehnend, die andere Hälfte zu etwa gleichen Teilen frenetisch applaudierend oder Stärken und Schwächen des Films sorgsam abwägend. So viel Polarisierung verblüfft, zumal wenn das Publikum insgesamt recht angetan war.
Da ich den Film für gelungen halte, konzentriere ich mich auf das negative Echo. Habe ich einen schlechten Filmgeschmack? Fehlen mir die richtigen Maßstäbe? Zunächst fällt mir auf, wie emotional manche Kritik daherkommt. Einige bekunden, dass sie gelacht haben. Manches ist ihnen lächerlich vorgekommen - warum mir nicht? Andere haben das Filmende herbeigesehnt – für mich hätte der Film länger dauern können.
Untersuchen wir es genauer. Wie steht es mit den Fakten? Wie genau haben sie den Film angesehen? Ich ertappe einige bei groben Irrtümern. Einer glaubt, nur weil Mehks Mutter hustet und Auswurf hat, sei sie Tbc-krank. Tatsächlich leidet sie an Aids. Ein anderer wundert sich, wie Itt als Polizist tagelang dem Dienst fernbleiben kann. Dabei ist er nicht bei der Polizei, sondern – das Drehbuch wurde auf Druck der Zensur umgeschrieben – nur Polizeiinformant, angestellt bei einer Privatfirma; außerdem als Entführter entschuldigt.
Einer kommt sich sehr klug vor, wenn er kritisiert, ein Penthouse, von der Hochbahn und den Wolkenkratzern der City gut einsehbar, sei kein guter Fluchtort. Oder eben doch: Mehk hat von seinem hohen Ausguck die beste Übersicht und freie Schussbahn. Wir sehen, wie ein Anschlag auf ihn dort scheitert.
Ein anderer fragt: Warum muss Mehk vor der Flucht aufs Land erst noch ein Blutbad unter den Mafiosi anrichten? - Er erklärt es Itt: Wenn ich sie nicht töte, töten sie mich. Und tatsächlich werden sie ihn nach seiner Haftentlassung umlegen. Die Handlung ist schlüssig, nur nicht für unseren Kritikus. Manche finden Mehks Verhalten noch in anderer Hinsicht unmotiviert: Warum weicht er Itt aus, wenn er sich von ihm angezogen fühlt? Darum: Mehk ist ein mehrfacher Mörder, Itt arbeitet für die Polizei. Mehk muss nach traditioneller Moral für Mutter und jüngeren Bruder sorgen, für eine Bindung an Itt ist kein Raum. Sie kommen auch aus verschiedenen sozialen Schichten. Und vor allem ist er ein Killer, der weint – eine Unmöglichkeit. Er würde endgültig keiner mehr sein, wenn er sich auf Itt einließe.
Einer beschwert sich darüber, dass es zu wenig Sex gäbe, weniger als in der Lindenstraße. Fein beobachtet – doch wir sind in Thailand, wo intimer Körperkontakt in der Öffentlichkeit verpönt ist. Der Film hat immerhin so viel Kraft, das Tabu einmal zu verletzen. Das ist das Grundübel dieser Art von Kritik: Sie sitzen in Berlin, London oder New York und legen den Maßstab an, der für heimische Filmemacher vielleicht gelten würde – wir sehen aber einen thailändischen Film, der für ein asiatisches Publikum gedreht wurde.
Ich bin den umgekehrten Weg gegangen. Ich habe versucht, mich mit einigen Grundzügen der dortigen Kultur vertraut zu machen. Natürlich kann ich den Film nicht wirklich mit thailändischen Augen ansehen … Dennoch ermesse ich, wie viel Reinheit dem Regisseur bedeutet. Reinheit? Eine hierzulande wenig vertraute Kategorie. Um Reinheit geht es, wenn Itt Mehk am ersten Morgen aufdeckt und zu waschen beginnt. Es ist auch eine rituelle Waschung. Die Kamera zeigt genau, wie Itt Mehk die Socken auszieht, die wenig gepflegten Füße reinigt. Die Füße sind die unedelsten Teile am Körper eines Thai. Indem Itt sie mit Sorgfalt behandelt, zeigt sich Hingabe. Da wird einem verziehen …
Soll auch ich diesen Kritikern verzeihen, die rasch fertig mit dem Wort sind? Sie sollten zuvor einsehen, dass ihre Kriterien unzulänglich sind. (Einräumen will ich nur, dass man sich an die exzessive Untermalung mit gefühlvoller Thai-Popmusik erst gewöhnen muss.) Es ist unübersehbar, dass ihre Positionen sich im Einzelnen oft widersprechen. So erscheinen die Aidsepisoden den einen als das einzig Lohnende an einem sonst schlechten Film, die anderen erklären gerade sie für vollkommen überflüssig. Nur weil es hierher passt: Im November 2009 hat die Katholische Studentengemeinde Deggendorf / Niederbayern den Film zusammen mit dem Gesundheitsamt gezeigt und ihn beworben als „Thriller und Schwulendrama auf höchstem Niveau“.
Blendet man alle Ablehnungen übereinander, erhält man ein Profil des typischen Angewiderten. Er ist so beschaffen: männlich, jünger und angelsächsisch. Regelmäßig äußert er, anfangs vom Film angetan gewesen, dann aber enttäuscht worden zu sein, und zwar nach etwa einem Drittel. Immer wieder dasselbe Verdikt: melodramatisch! Was ist da geschehen? Eben das: Mehk weint, er weint wiederholt und ausgiebig. Ein Mann, der weint, ist für sie schwer erträglich. Unerträglich ist ihnen ein weinender schwuler Killer. Und am unerträglichsten ein weinender schwuler Killer, der beim Sex die aktive Rolle spielt.
Die Art der Kritik an Poj Arnon ist mir seit langem vertraut. BANGKOK LOVE STORY verwendet die Mittel des Melodrams in subversiver Weise. Das hat schon Fassbinder getan – und wurde dafür seinerzeit ebenfalls kritisiert. Die gleiche Ablehnung hat das thematisch verwandte Brokeback Mountain hier und da erfahren, als es neu und noch nicht Filmklassiker war.
10. Motive im Film BANGKOK LOVE STORY
Oft wird „Bangkok Love Story“ nur als thailändische Version von „Brokeback Mountain“ aufgefasst. Das ist ein grobes Missverständnis, zu groß sind die Unterschiede im Aufbau der Handlung wie in den Hauptcharakteren. Viel größer dürfte der Einfluss des chinesischen Films „East Palace, West Palace“ von 1996 gewesen sein. Dort haben wir bereits die Konstellation Polizist – Outsider. Allerdings haben beide ihre Stellung vertauscht. Nun ist es der Outlaw, der zum Polizeiinformanten sagt: „Was soll das, warum bist du immer noch hier?“ Das ist ein fast wörtliches Zitat. Im Rollentausch spiegelt sich in gewisser Weise die unterschiedliche gesellschaftliche Realität: dort China als Einparteiendiktatur, hier Thailand mit seiner übermächtigen Mafia. Wenn Mehk einen seiner Auftraggeber erschießt, kommt ein Zeitungsjunge ins Bild, dessen Blatt titelt: „Skandal: Korruptionsaffäre.“ Das rein Handwerkliche, der Aufbau von Szenen wie der zuletzt angeführten, der Bezug auf die Gesellschaft, doch auch die Vorliebe fürs Melodramatische überhaupt, das alles erinnert stark an Fassbinders Handschrift. So verbinden sich in „Bangkok Love Story“ asiatische mit westlichen Einflüssen. Das soll hier noch weiter untersucht werden.
Relativ früh gibt es in „Bangkok Love Story“ eine psychoanalytisch inspirierte Szene. Mehk hat Itt entführt und mit Handschellen gefesselt. Er wartet mit ihm in einem Appartement, bis es Zeit ist, den Gefangenen bei seinen Auftraggebern abzuliefern. Beide schlafen ein und Mehk träumt. In einer Schwarz-Weiß-Rückblende sehen wir, wie der HIV-positive Stiefvater sich an Mehk vergehen will und der sich ihm gewaltsam entzieht. Da wacht Mehk auf und sein Blick fällt voller Schrecken auf Itt, den Auslöser der Traumerinnerung. Mehk scheint erstmals zu stutzen.
Noch früher haben sich schon einmal unbewusstes Begehren und Angst davor verraten. Mehk prägt sich gewöhnlich anhand von Porträtfotos die Gesichter seiner künftigen Opfer ein. Als er seinem jüngeren Bruder Mawk einen Umschlag mit Geld zusteckt, findet sich darin auch ein Bild von Itt. Die Mechanik dieser Fehlleistung ist komplizierter als die des Traums. Ihre Bedeutung ist vielleicht: Schau, Bruder, was ich alles für dich tue, ich versorge dich nicht nur mit Geld, ich opfere dir und Mama sogar diesen Mann. Bin ich nicht ein vorbildlicher Sohn und Bruder? Es sind noch weitere Deutungen möglich. So kann es Mehk unbewusst auch darum gegangen sein, das Objekt Itt dadurch vor der geplanten Liquidierung zu bewahren, dass er es der eigenen Familie gewissermaßen eingliedert. Tatsächlich nimmt Itt bald danach Kontakt zu Mehks Leuten auf.
Bilder, Fotos spielen eine große Rolle in der Filmhandlung. Mawk erträumt sich ein Leben in der Nordprovinz Mae Hong Son, indem er oft Ansichtskarten von dort betrachtet. Dann wartet er wirklich auf dem Bahnsteig auf den Bruder und die Abreise, zuoberst im Gepäck das Bündel mit den Karten. Drei Minuten vor der Abfahrt trifft Mehk endlich ein. Mawk steht rasch auf, dabei fällt das Päckchen zu Boden, die Ansichtskarten verteilen sich. Während die beiden aufeinander zugehen, umstellen auf einmal Polizisten den Bruder. Mehk gelangt nicht mehr bis zu Mawk, auf dessen Gesicht sich ein Tsunami abspielt: Enttäuschung, Schmerz, Absturz in die Hoffnungslosigkeit. Dabei kommt Wind auf und die Böen verwehen alle Bilder von Mae Hong Son. Poetischer habe ich selten den Untergang einer Utopie dargestellt gesehen.
Ja, die Elemente … Da sind noch Feuer und Wasser. Mehk lässt die Fotos seiner Auftragsopfer nachher jeweils mit dem Feuerzeug in Flammen aufgehen. Da wird nicht nur ein Beweismittel vernichtet, der Vorgang hat auch etwas Magisches, Animistisches. Feuer bedeutet: auslöschen. Es ist das vernichtende Prinzip schlechthin. Es wird viel aus Revolvern geschossen, also gefeuert und getötet. Der Lärm der Schüsse wird wiederholt überblendet von dem eines prächtigen Feuerwerks am Nachthimmel über Bangkok. Das könnte als schlecht motivierte Reminiszenz an eine Szene aus „Brokeback mountain“ fehlinterpretiert werden. Die tiefere Bedeutung offenbart sich, als Itt nach seiner Verstoßung durch Mehk ein abendliches Feuerwerk zu sehen bekommt: Er wendet sich auf einmal entschieden ab und versucht noch zielstrebiger, Mehk wiederzugewinnen.
Itt ist dem Element Wasser nahe. Alles Leben spielt sich im oder mit oder am Wasser ab. Mehk und Mawk zog es schon früher auf den Fluss hinaus. Der durch HIV um seine Zukunft betrogene Mawk hält Kampffische in Wassergläsern. Als der innere Druck für ihn zu groß wird, wirft er eines um, das Wasser rinnt aus, ein Fisch zappelt auf dem Trockenen. Itt wohnt am Fluss, schaut beim Nachdenken auf ihn und fasst seine Entschlüsse. Wasser ist das verbindende Element zwischen ihm und Mehk. Im Penthouse, ihrer Zuflucht für Tage (oder Wochen?), hat er den frisch Operierten versorgt, ihn gewaschen, ihm die Wasserflasche gereicht: Zeit für deine Pille! Und er fragt kritisch: Du rauchst schon wieder? (Feuer ist das Zerstörende.) Itt, in allem so viel besser dran als Mehk, ist der fürsorglich Gebende, der liebend sich Unterordnende. Ihre Vereinigungen spielen sich nach oder in strömendem Regen ab, beim ersten Mal eingeleitet durch eine Badeszene. Wenn Wasser und Feuer zusammenkommen, gewittert es. Es scheint die Zeit des Monsuns zu sein. Es regnet wiederum stark, als Mehk am Gefängnistor von Itt abgeholt und binnen kurzem von unbekannter Hand erschossen wird.
Schnee besteht aus gefrorenem Wasser. Schnee verkörpert Reinheit, einen Lieblingsbegriff des Regisseurs. In Thailand schneit es nur etwa alle fünfzig Jahre einmal. Poj Arnon lässt es in der surreal wirkenden Schlussszene schneien. Itt, krank oder sterbend, kann wieder sehen, er betrachtet ein Video des längst toten Mehk. Wiedergefundenes Bild und wiedergefundene Zeit: Die Geschichte von Feuer und Wasser ist zur Ruhe gekommen.
11. Über COWBOY JUNCTION, Film von Gregory Christian
„Cowboy Junction“ von 2006 ist der erste Film des in Armenien geborenen Gregory Christian. Er emigrierte 1980 mit Eltern und Geschwistern aus der Sowjetunion in die USA. Von ihm ist das Drehbuch, er war Produzent, führte Regie und übernahm eine der drei Hauptrollen.
Der Film spielt in einem ungenannten Präriestaat, dessen Kargheit in allem so überdeutlich ins Bild kommt, dass stilisierter Naturalismus die Machart des Streifens vielleicht am besten trifft. Oder expressiver Provinzialismus? Selten waren, was die Interieurs mit ihren grellen Farben und scheußlichen Möbeln angeht, Öde und Geschmacklosigkeit derart lebendig und in die Augen springend. Das Schlafzimmer ist violett ausgemalt, mit spätneobarocker Einrichtung wie aus der Großen Depression, das Wohnzimmer beeindruckt mit schreiendem Grün, das ganze Heim mit dem Kunstgeschmack eines Alptraums.
Die Handlung dieser schrillen Tragödie versuche ich vielleicht vergeblich so zu charakterisieren: Teorema (von Pasolini) meets Brokeback Mountain. Doch es scheinen sich auch Billy the Kid und eine Desperate Housewife in einen Film noir verirrt zu haben. Was für eine Stilmischung und dabei ein dennoch in sich homogenes Werk. Die drei Hauptfiguren sind allesamt schwer traumatisiert. Sie sprechen vom Schicksal als einer höheren Macht. Die Kraft religiöser Überzeugungen ist noch spürbar. Gleichzeitig werden Psychopharmaka geschluckt und wird psychiatrische Behandlung selbstverständlich in Anspruch genommen. Und im Hintergrund spielen zwei Tote entscheidend mit.
Er (Gregory Christian), der Hausherr – Namen gibt es in diesem seltsamen Film nicht –, ist eine Art Handlungsreisender von heute, den wir mit einem überlangen Schlitten auf staubigen Pisten herumkurven sehen. Ein allzu gut aussehender junger Cowboy (James Michael Bobby) steigt zu ihm in den Wagen, eine allzu große Knarre mit sich tragend. Von Anfang an kommt deren enge Beziehung zur Sexualität ins Spiel. Die beiden amüsieren sich auf den Vordersitzen. Der Cowboy wird nach Hause mitgenommen und der jungen Hausfrau (Elyse Mirto) als Hilfe für Haus und Garten vorgestellt. Sie ist natürlich unbefriedigt und … Ja, wenn Sie den weiteren Verlauf jetzt schon auf die eine oder die andere Weise zu erahnen glauben, irren Sie sich wahrscheinlich. Nur so viel: Alle drei kommen im Verlauf der Handlung zu Erkenntnissen, die sie für ihr Leben gern vermieden hätten.
Die Dialoge sind extrem pointiert. Oft wird Ironie als Spezialwaffe eingesetzt. Manchmal geht man auch zart miteinander um, bis wieder der unvermeidliche Umschlag ins offen Brutale kommt. Zwischen den dreien läuft eine private Tragödie mit fataler Vorgeschichte ab. Gesellschaftliche Bezüge kommen nur diskret ins Spiel.
Angesichts eines Endes in einem ultimativen Sinn kann man sich fragen: Steht der Film nicht in der unseligen Tradition der Hollywood-Filme der fünfziger Jahre? Damals war es im Film nicht unüblich, die Lesbe oder den Homo am Schluss auf grausame Weise zu töten. Der öffentlichen Sexualmoral wurde damit Genüge getan, allen Abweichenden eine Lektion erteilt. Im Vergleich zu jenen älteren Werken fallen hier Rollenverschiebungen auf. Jetzt sind alle Opfer, Werkzeuge eines grausamen Schicksals. Am ehesten trifft Schuld noch den pseudo-bisexuellen Ehemann. Der Schluss ist mit seiner Jenseitsphantasie religiös eingefärbt, gerade sie eine Provokation für den Bible Belt: Schwule, die gemeinsam in die Ewigkeit eingehen.
Was macht diesen Film, wie viele andere amerikanische jenseits von Hollywood und Mainstream, so anregend? Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher, ja gegensätzlicher kultureller Inhalte, ihre wechselseitige Durchdringung. Das gibt es in dieser Schärfe im alten Europa (noch) nicht. Ferner: die gewohnt souveränen Leistungen der Schauspieler. In den USA scheint selbst dem Low-Budget-Film ein unerschöpfliches Reservoir begabter und gut ausgebildeter Schauspieler zur Verfügung zu stehen.
12. Über POSTER BOY, Film von Zak Tucker
Die Schaukämpfe in den USA zwischen religiösen Rechten und schwulen Aktivisten sind seit langem heftig und nehmen in europäischen Augen manchmal skurrile Züge an. Gereizt vom Bible Belt und seinen Umerziehungsanstalten, vergreift sich die Gegenseite an Leonardos Letztem Abendmahl und macht mit neuem Personal daraus ein Werbeplakat für eine Leder- und SM-Parade in San Francisco. Das muss dann die Miller Brewing Company, die gesponsert hat, mit Boykott ihres Gerstensaftes durch erregte Strenggläubige büßen. Kein größerer Wahlkampf mehr, in dem nicht die Rechte der Homosexuellen thematisiert werden.
Vor diesem politischen Hintergrund ist schon 2004 der Film „Poster Boy“ gedreht worden (Regie: Zak Tucker). Auch er bringt zwei Lager gegeneinander in Stellung. Da ist Senator Kray (Michael Lerner), ein machtbesessener Erzkonservativer, dem in Meinungsumfragen die Felle den Potomac hinunterschwimmen. An seiner Seite eine leidenschaftlich frustrierte Gattin (Karen Allen) und Sohn Henry (Matt Newton), von dessen verschlungenen Wegen zum Coming-out der Papa noch nichts ahnt. Henry besucht ein College in New York, lässt sich mit diesem und jenem ein, es spricht sich unter Studenten herum. Im Wahlkampf will der Senator ausgerechnet an diesem College um Stimmen werben. Henry wird von ihm zur Unterstützung zwangsverpflichtet: Er, der „Prinz Edward der religiösen Rechten“, soll auf dem Podium die „amerikanischen Familienwerte“ und den Senator als ihren erprobten Verteidiger und seinen väterlichen Mentor preisen.
Zur gleichen Zeit leben in Manhattan der schwule Anthony (Jack Noseworthy) und die HIV-kranke Izzy (Valerie Geffner) platonisch in einer Wohn- und Schicksalsgemeinschaft voller Katzbalgereien zusammen. Um sich von ihrem trüben Alltag abzulenken, besuchen sie am Vorabend von Senator Krays New Yorker Auftritt eine Sause am College des Sohnes. Anthony macht sich mit Erfolg an Henry heran, der inkognito bleibt, bis ein Machiavell von Aktivist Anthony am nächsten Morgen aufklärt. Ein teuflischer Plan reift heran …
Und dann geraten alle in ein Räderwerk aus politischen Zwecken und starken persönlichen Gefühlen. Wie da eins ins andere greift, gehört zu den Stärken des Films. Die Figuren sind weniger Handelnde als Getriebene und jede eine prachtvolle Studie, bis in die Nebenrollen hinein. Die verschiedenen Milieus werden so glaubwürdig vorgeführt, dass wir sie nur zu gern für authentisch halten. Den semidokumentarischen Stil unterstützt die Rahmenhandlung: Ein älterer Journalist (Steve Sheffler), im Auftreten dem Senator nicht unähnlich, interviewt Monate nach dem Skandal den Poster Boy, der nun keiner mehr ist, setzt ihn unter Druck und presst das Mögliche aus ihm heraus.
Zu den wenigen dramaturgischen Schwächen des Films gehört, wie Izzy an die Familie des Senators herangeführt wird. Doch ergeben sich gerade daraus einige der berührendsten Szenen. Sehen wir auch über die gelegentlich mangelhafte Bildqualität der Low-Budget-Produktion hinweg und schreiben wir ihr dafür gut, dass sie auf ein wohlfeiles Happy End verzichtet hat. Dabei gibt es in dieser Geschichte durchaus Gewinner, vor allem Henry. Frei von familiären Rücksichten, vergleicht er sich am Ende als echter Sohn seines Vaters mit dem einsam die Midtown überragenden Empire State Building.
13. Der Film MIL NUBES von Julian Hernandez
2003 gewann „Mil Nubes“ auf der Berlinale den Teddy Award in der Sparte Spielfilm. Sein voller Titel lautet übersetzt: „Tausend Wolken des Friedens belagern den Himmel, Liebe, du wirst nie aufhören, Liebe zu sein“. Das ist ein Pasolini-Zitat, und tatsächlich erinnert der Schwarzweißfilm mit seiner kargen und zugleich expressiven Ästhetik vordergründig an Werke des italienischen Neorealismus, wie z.B. „Accattone“. Dennoch passt dieses Etikett hier keinesfalls. Der Mexikaner Hernandez interessiert sich in seinen Filmen nur am Rande fürs Soziologische, er behandelt sehr private Stoffe und bedient sich dabei vor allem einer Bildersprache voller Kraft und Suggestivität. Ihr gegenüber tritt die Handlung stark zurück. Dialoge spielen meist nur eine kleinere Nebenrolle.
So einfach hier der Stoff, so schwer das Verständnis, so nahe liegend die Missverständnisse. Manche halten den Film für eine lose Folge von Erinnerungsfetzen des sehnsüchtig leidenden Helden, für verzichtende Trauerarbeit. Bei wiederholtem Ansehen erkennt man jedoch die chronologische Anordnung, das klare Zeitgitter. Eine Episode folgt auf die andere. Daneben gibt es deutlich verfremdende Stilelemente.
Der siebzehnjährige schwule Gerardo (Juan Carlos Ortuno) hat seine Familie verlassen und arbeitet in einem Billardcafé, über dem er ein Zimmer bewohnt. Er hat flüchtige Sexualkontakte, nach denen ihm gewöhnlich Geld, manchmal eine Telefonnummer angeboten wird. Dabei sucht er bei seinen Streifzügen durch die Stadt mehr: Geborgenheit, Glück. Er lernt den etwas älteren Bruno kennen, trifft sich wenige Male mit ihm. Dann bricht Bruno die Beziehung ab. In einem Brief schildert er seine Angst vor einer Bindung, seine Angst davor zu versagen. Gerardo bleibt auf ihn fixiert. Er macht weitere Bekanntschaften, die ihn noch mehr desillusionieren und zugleich seine Sehnsucht nach dem Verschwundenen verstärken. Enttäuscht und vereinsamt bricht er in der vorletzten Szene auf der Straße zusammen. Und dann ist Bruno wieder da … Ist es nur eine Vision? Kennt man den Ausgang der späteren Filme von Hernandez, darf man vermuten: Bruno ist vielleicht tatsächlich zurück.
Junge Frauen haben erstaunlich viel Gewicht in diesem Film. Gerardo begegnet auf einem Straßenmarkt zwei Trödlerinnen. Er sucht eine Filmmusik und trägt ihnen das sehnsüchtige Lied der Filmheldin naiv und gekonnt vor. Sie können ihm helfen und lächeln über den jungen Mann, warmherzig und voller Verständnis. Später nähert sich Gerardo an seiner Brücke, dem Treffpunkt der Verliebten und Enttäuschten, einer jungen Frau – sie sieht ihn an und beginnt hysterisch zu lachen. Gerardo, vor kurzem zusammengeschlagen worden, sieht jetzt jämmerlich aus. (Seine Mutter hat gesagt: wie eine Seele im Fegefeuer.) Und so einer bemüht sich um sie? Gerardo legt ihr den Mantel um, sie fragt: „Protecion?“ Nein, so einer taugt nicht zum Zuhälter. Und sie erzählt von ihren Verletzungen und tröstet ihn: Alles geht schnell vorbei, Glück wie Leid, sogar das Leben …
Dann gibt es eine schwangere Kellnerin in einem Café. Sie fürchtet, bald entlassen zu werden, sie hofft, dass es keine Zwillinge werden. Sie hat schon einen Buben, der bei der Großmutter aufwächst und für den sie sich eine bessere Zukunft wünscht. Während sie zu Gerardo davon spricht, sieht der Zuschauer sie durch die Stadt gehen, die Geschäftauslagen betrachten. Dann dreht sie sich um und lacht voller Klugheit und Optimismus in die Kamera. Gerardo darf über ihren wachsenden Bauch streichen.
Vielleicht ist sein Ausflug nach Ciudad Azteca der Schwerpunkt des Filmes. Gerardo weiß, dass Bruno dort wohnt, kennt aber die Adresse nicht. Er geht eine breite Verkehrsader entlang. Eine öde Gegend, nur in der Ferne niedrige Häuser, jenseits der Straße die Ruine einer Fabrik. Dann setzt klassische Musik ein, die sonst im Film nicht benutzt wird, ein Choral mit Begleitung, hymnisch und melodramatisch - es ist Bachs "Wir setzen uns mit Tränen nieder" aus der Matthäus-Passion. (Pasolini hat sie schon für "Accattone" verwendet.) Diese Musik gibt der Szene ihre spezielle Färbung von ironischem Verismus. Auf dem menschenleeren Trottoir kommt ihm einer entgegen, ein kräftiger Vorstadtbeau, an ihm etwas Ungutes, zur Vorsicht Mahnendes. Sie gehen aufeinander zu wie zwei Helden in einem Western. Gerardo verrät diskret sein Interesse und der andere zeigt diskret, dass er verstanden hat. Gerardo folgt ihm auf das Gelände der stillgelegten Fabrik, nähert sich zögernd und - wird nach kurzem zu Boden geworfen und zusammengeschlagen. Bevor er ihn von sich schleudert, genießt der Beau die Annäherung sekundenlang noch wie ein großes Glück.
Ein Film über Wolken, tief hängende, und über Glück, irgendwo darüber oder darunter.
14. Über BEEFCAKE, Film von Thom Fitzgerald
„Beefcake“ ist der zweite Langfilm des nach Kanada ausgewanderten US-Amerikaners Thom Fitzgerald. Er kam 1998 in die Kinos. Bei einem ersten Versuch vor etwa zehn Jahren, ihn zu würdigen, kam ich nicht weit. Das Werk erschien mir seltsam sperrig, in sich widersprüchlich. Jetzt vergleiche ich ihn mit einer archäologischen Grabung. Material wird entdeckt, ausgebreitet, im Detail zueinander in Beziehung gesetzt. Sich als Zuschauer darauf einzulassen, erfordert etwas Geduld, die dann jedoch belohnt wird.
Der in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts angesiedelte Streifen ist ein Doku-Spielfilm über den Komplex Bodybuilding, Fotomagazine, Muskelmänner-Filme. Dabei geht das Werk verschiedenen Querverbindungen nach, vor allem zu Justiz und Politik, Hollywood und Prostitution. Im Zentrum der Untersuchung, die man kaum Handlung nennen möchte, steht die Biografie des Fotografen und Filmemachers Bob Mizer (1922 – 1992). Er produzierte im Verlauf von Jahrzehnten mit Tausenden männlicher Modelle Millionen von Fotoaufnahmen und wiederum Tausende von Kurzfilmen. Ihr ästhetischer Wert mag nicht groß sein, umso bedeutender ist diese gigantische Sammlung als erhaltenes Archiv. Es zeigt in seiner Breite eine große Typenvielfalt, die in immer neuen Posen vorgeführt wird. Mizer bekam Probleme mit Polizei und Justiz, stand vor Gericht, kam sogar in ein Arbeitslager. Die Ära McCarthy war seiner Kunst nicht günstig und zugleich war sie Antrieb zum Durchhalten und zur Weiterentwicklung. Jene Zeit hat sein Werk auch im Einzelnen geformt, mit den zu beachtenden Restriktionen, den Alibi-Handlungssträngen, den heute oft komisch anmutenden hochkulturellen Bezügen. Mizers Werkstatt war das von ihm gegründete Unternehmen Athletic Model Guild (AMG), ein Foto- und Filmatelier in Los Angeles. Jahrzehntelang gab er daneben das Fotomagazin „Physique Pictorial“ heraus.
Fitzgerald nähert sich seinem Stoff mit immer neuen Ansätzen und Methoden. Er blendet Originalbilder und –szenen ein, dreht Spielfilmszenen abwechselnd in Bunt und Schwarzweiß und führt Interviews mit noch lebenden Zeitgenossen von Mizer, die zum Teil inzwischen verstorben sind. Darunter befindet sich z.B. Jack LaLanne (1914 – 2011), der Begründer der Fitnessbewegung in den USA, eine Art moderner, sehr geschäftstüchtiger Turnvater Jahn. Bekannter bei uns ist der Schauspieler Joe Dallesandro (geb. 1948), dessen Anfänge nicht nur bei Warhol, sondern auch in Mizers Studio lagen. Weitere Statements kommen von Fotografen-Kollegen Mizers, von seinem Biografen Valentine Hooven oder einem Schauspieler. Die Mizer-Darstellung selbst kulminiert mit einem Gerichtsverfahren, wofür ein Originalzeugenprotokoll verwendet wurde.
Die Mixtur des Films ergibt insgesamt ein dichtes Gewebe, in dem nicht nur die damalige Zeit verlebendigt wird, Fitzgeralds Film vermittelt auch einen Eindruck davon, wie die Gesellschaft und ihre Sitten sich in Richtung auf uns hin entwickelt haben. Er ist dadurch Teil unserer Vorgeschichte, und wenn wir in ihr unterirdische Grabungen vornehmen, geraten wir unversehens in der Gegenwart wieder an die Oberfläche.
15. Über THE HANGING GARDEN, Film von Thom Fitzgerald
Der 1997 herausgekommene kanadische Streifen war Thom Fitzgeralds erster Spielfilm. Er fand rasch viel Aufmerksamkeit und Anerkennung, beruhend auf zwei sehr unterschiedlichen Elementen. Einmal ist es ein Werk von großer, oft derber und dabei meist auch origineller Komik. Am Hochzeitstag seiner Schwester kommt der Mittzwanziger William (Chris Leavins) nach zehn Jahren Abwesenheit zu einer kurzen Stippvisite heim. Die chaotische Familie wird dabei mit ihren Schrullen und Defekten vorgeführt, von der dementen Oma (Joan Orenstein) über den versoffenen, sensibel-jähzornigen Blumenfreund und Vater (Peter MacNeill) bis zum blinden, schuldbewussten Haushundgreis, womit das aberwitzige Personal noch nicht vollends aufgezählt ist: Mutter (Seana McKenna), Schwester (Kerry Fox) und Bräutigam (Joel Keller) sind ihnen ebenbürtig in ihrer an Tragik streifenden Komik.
Als die melancholisch-aufgekratzten Brautleute in ein nahe gelegenes Hotel abgedampft sind, blendet der Film zehn Jahre zurück. Damals kam auf sehr peinliche Weise Williams Homosexualität zum Vorschein und seine Mutter wählte eine Schocktherapie, in deren Folge William aus der Familie ausschied. Nur wie? Dafür liefert der Film zwei unvereinbare Erklärungen in Form von Handlungssträngen, die nebeneinander herlaufen und sich zwischendurch auch noch verknoten. So wird das Werk zu einer semisurrealistischen Horrorkomödie und daran, wie diese in sich widersprüchliche Gattung realisiert wird, erweist sich das Frühmeisterliche des Films.
Hat der damals stark übergewichtige William (hier von Troy Venotte gespielt) sich tatsächlich in diesem wunderschönen Garten umgebracht? Dann kann er nicht wirklich als superschlanker junger Mann später zurückkehren. Einer der beiden Abläufe muss irreal sein, doch der Film lässt offen, welcher es ist. Er gibt beide auf eine scheinbar realistische, mal leicht komische, mal das Grauen streifende Weise wieder. Der Zuschauer erschrickt mit dem späteren William, wenn dieser seinen Vorgänger erstmals tot an einem Ast baumeln sieht. Es tritt rasch Gewöhnung an diesen Anblick ein, auch die Schwester scheint ihn natürlich zu finden. Als der reifere Sohn den jugendlichen Toten im Garten beerdigt hat, versucht der Vater, ihn sogleich zu exhumieren; er mag ihn nicht missen. In diesem Zusammenhang wird William für ihn noch einmal viel jünger, wird ein Knabe von etwa sechs Jahren. So überlagern sich, ohne sich im Mindesten aufzulösen, die Erscheinung, die Erinnerungsbilder und Visionen von William. Man neigt vielleicht gerade zur Auffassung, er habe sich tatsächlich als Schüler getötet und sein jüngerer Doppelgänger existiere nur als wehmütige Halluzination in den Köpfen der Überlebenden – da fährt er, sehr erleichtert wirkend, im Auto fort von dieser schrecklich schönen Stätte. Neben ihm sitzt jetzt seine irritierend pueril wirkende eigene kleine Tochter (Christine Dunsworth), die er gerade erst im Familienschoß entdeckt hat. Aber das ist ein anderes Kapitel, auch enthalten in dieser herrlich verrückten Filmstory.
16. ALL MY LIFE - Film aus Ägypten
Die Handlung des 2008 herausgekommenen Films ist im Kairo des Jahres 2001 angesiedelt. Neueren Informationen zufolge scheinen sich die in ihm thematisierten Zustände seither in Ägypten nicht zum Besseren gewandelt zu haben. Das Werk selbst beschäftigt sich mit staatlicher Repression gegen Homosexuelle, mit Hetzpropaganda in den Medien und absurden Einstellungen von Normalbürgern. Es ist ein verstörender Stoff, eine traurige Geschichte, wenn auch voll filmreifer Dramatik.
Hauptfigur ist der sechsundzwanzigjährige Buchhalter Rami, ein ernsthafter Charakter, gleichermaßen um Würde, persönliches Glück und Anpassung an die Verhältnisse bemüht. Am Anfang des Films verlässt ihn sein Partner Walid, um eine Scheinehe einzugehen, die im Verlauf der Handlung zerbrechen wird. Ramis Freund Karim, ein lebenslustiger Arzt, lebt mit Mark, einem amerikanischen Lehrer, zusammen. Mark erreicht, dass sie in die USA übersiedeln, um dem zunehmenden Druck zu entgehen. Auch Ramis Freundin Dalia, eine feministische Studentin, emigriert dorthin, kehrt jedoch später in die Heimat zurück, um am politischen Kampf teilzunehmen. Zu Ramis jüngeren Nachbarn gehören die konträr angelegten Charaktere Ahmad und Mina, der erste ein sexbesessener Hetero-Fundamentalist, der andere ein Angehöriger der koptischen Minderheit, noch unter der Fuchtel seiner Mutter und erst zu Beginn seines Coming-outs stehend. Ein sensationslüsterner Kollege versorgt Rami im Büro mit den neuesten Horrormeldungen aus der Presse. Diese beziehen sich auf eine tatsächlich im Juni 2001 erfolgte Razzia, bei der die Besucher einer schwulen Diskothek festgenommen und nach entwürdigenden Untersuchungen vor Gericht gestellt wurden.
Rami freundet sich mit dem Kellner Atef an. Ihre Beziehung scheitert daran, dass sie nach Bildung und sozialem Status nicht zueinander passen. Atef kehrt enttäuscht in sein Dorf zurück. Rami sucht Kontakte über das Internet und gerät so in die Fänge eines kriminalistischen Schwulenjägers. Er wird festgenommen, gefoltert und unterschreibt ein erzwungenes falsches Geständnis. Im Epilog erfährt der Zuschauer, dass ihm die Flucht nach Frankreich geglückt ist.
Der Film, zum großen Teil mit talentierten Laiendarstellern realisiert, wurde sowohl in Kairo als auch in Kalifornien gedreht. Die Aufnahmen in Ägypten erfolgten heimlich ohne Drehgenehmigung, die in den USA scheinen ein Werk von Emigranten, die voll Zorn zurückblicken. Tatsächlich hat die Präsentation des Stoffs etwas unmittelbar Mitreißendes, trotz formaler Schwächen. Die Handlung, um einen Querschnitt aus der ägyptischen Gesellschaft bemüht, bündelt zu viele exemplarische Schicksale und verknotet sie dann auf dem Höhepunkt ein wenig gewaltsam. Die Dialoge dienen zu oft vor allem der Darlegung von Thesen. So erinnert das Werk in Teilen an Romane des 19. Jahrhunderts. Zugleich empfindet der Rezensent Skrupel: Was wiegen diese Einwände im Vergleich zur Schwere der thematisierten Problematik und zur Überzeugungskraft der dargestellten Schicksale?
Der Film darf nicht mit dem US-amerikanischen gleichen Titels von 2020 verwechselt werden. Maher Sabry bezieht sich mit seinem auf die Anfangszeile eines älteren arabischen Lieds, das im Film mehrmals erklingt: „Mein ganzes Leben war ich allein“.
17. Über PERMANENT RESIDENCE, Film von Scud
2009 kam „Permanent Residence“ auf den Filmmarkt. Danny Cheng Wan-Cheung aus Hongkong, der sich als Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Scud nennt, bezeichnet sein Werk als semi-autobiographisch. Tatsächlich folgt die Hauptfigur Yvan (Sean Li) den Lebensstationen des Filmemachers: Geburt und Kindheit in Kanton, als Dreizehnjähriger mit den Eltern nach Hongkong übergesiedelt, nach der Schule zwanzig Jahre in der IT-Branche tätig, dann Ausbildung für die Filmproduktion, mehrjähriger Aufenthalt in Australien, Rückkehr nach Hongkong. Yvan führt auch Scuds realen Familiennamen Wan = Wolke und stellt sich auf einer Party Fragen von Reportern nach Scuds Filmprojekten, als wären es die eigenen. Wie viel Raum bleibt da noch für eine nichtautobiographische Hälfte?
Den Schwerpunkt der Handlung bildet die enge, tragisch verlaufende Beziehung des schwulen Yvan zu dem heterosexuellen Windson (Osman Hung), ein gelegentlich vorkommender Sonderfall starker Anziehung zwischen zwei Männern. Sie ist von Anfang an wechselseitig. Dabei ist Yvan, obwohl auch unter der Problematik leidend, im Vorteil. Er ist eins mit seinem sexuellen Begehren, das seiner Identität entspricht. Er kann sich mit dem Verzicht auf körperliche Liebe eher arrangieren als Windson, der zwangsläufig auf der Stufe des erfolglosen Begehrens nach dem Begehren verharrt. Yvans Sehnsucht ist fast eine Art Glück, lässt ihn produktiv werden. Windsons Zerrissenheit treibt diesen nach Ablauf einer Reihe von Jahren, mit vorübergehender Trennung, zum Suizid.
Scud genießt in Asien den Ruf eines Skandalregisseurs, er wird mit seinen Filmen zum Teil auch bei uns so vermarktet. Das liegt vor allem an seiner Vorliebe für explizite Nacktszenen. Dabei ist „Permanent Residence“ alles andere als pornographisch. Sexszenen kommen nur ausnahmsweise vor und bleiben knapp in der Ausführung. Scuds Interesse an Nacktheit ist in seinem umfassenderen, auf Grundbedingungen menschlicher Existenz ausgerichteten begründet. Er will so den Menschen als dem Schicksal ausgeliefert und ohne die Zutaten von Moden und Verkleidungen zeigen. Als übergreifendes Thema des Films nennt er „the limits of life“. Dieses stark ontologische Interesse beginnt mit der Frage nach Entstehen und Ausdehnung des Universums und geht über zu der, welche Bedeutung und Erfüllung das Leben des Individuums haben kann. Bei der Liebesgeschichte wie bei den weiteren Handlungssträngen geht es immer auch um Ethisches und Spirituelles. Die Frage nach dem Verhältnis des Lebens zum Tod durchzieht den gesamten Film wie ein Leitmotiv. Scud sagte 2017 in einem Interview: „I am not religious but a theist.” Magisches Denken wird thematisiert, Surreales kommt vor und die extremen Zufälle sind nicht Fehler eines ungeschickten Drehbuchs, sondern dem geistigen Hintergrund geschuldet. Bei der Umsetzung verwendet Scud durchgehend eine Bildsprache von großer Kraft und Schönheit. Sehr beachtlich sind auch die Leistungen der Schauspieler.
Eine andere Ebene der Interpretation ist die zeitgeschichtliche und ökonomisch-soziologische. Yvan führt seit seiner Schulzeit Tagebuch und bezieht sich darin auf große wie kleinere aktuelle Geschehnisse, einen Flugzeugabsturz, Nine-Eleven, den großen Tsunami, einen Börsenkrach, Aufstieg und Fall des Boxers Tyson, den Selbstmord des Schauspielers Leslie Cheung … Der Film führt dieses Tagebuch prophezeiend fort bis ins Jahr 2047. Nun stirbt Yvan, er legt sich mit einundachtzig in den Sarg, den er seit Jahrzehnten zu Hause bereithält. Dabei wieder ein exaktes, eindringliches Bild: Yvan zieht den Vorhang zu, der Blick auf die Skyline von Hongkong verschwindet. 2047 ist das Jahr, in dem Hongkongs Autonomie enden wird. Scuds Film ist auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt im 20. und 21. Jahrhundert und Hongkong selbst kommt mit Wohnungen, Häusern, Straßen und der herrlichen Natur auf seinem Territorium immer wieder detailliert ins Bild. Andere Schauplätze des Films sind Festlandchina, Israel (Jerusalem und das Tote Meer), Australien und ein Club mit Sado-Maso-Show in Thailand.
Beziehungsreich und in seiner Aussage nicht leicht entschlüsselbar ist der Titel, der sonst im Englischen einen aufenthaltsrechtlichen Status beschreibt. Man mag hier eine Anspielung auf die Rechte von Minderheiten sehen. (Im Film spielt in diesem Zusammenhang die Mutationstheorie eine Rolle.) Die DVD für den deutschsprachigen Markt - Original mit Untertiteln - nähert sich auf dem Cover der tieferen Bedeutung so an: „Für immer verbunden“. Das dürfte der transzendenten Tendenz des Films entsprechen. Schließlich hat schon Josh (Jackie Chow), Freund von Yvan in Tel Aviv, beim gemeinsamen Baden im Toten Meer gesagt: Du hast Liebe erfahren, das bleibt dir, was sollte mich da dein Tod kümmern? Zum surrealen Schluss mit Josh erscheint als Motto auf einer Holztafel, als abschließendes Versprechen in diesem großen Wurf von Film: „Nobody will be alone.“
Ist dem Rezensenten eine persönliche Notiz erlaubt? Er war mehr als überrascht, im Werk eines als Hongkonger Skandalfilmer Angezeigten so viele Parallelen zu eigener Biographie wie Motivation zu entdecken: die Bedeutung der Großmutter, der Stadt-Land-Dualismus, das frühe Interesse für die Existenz des Individuums im sich seiner wahren, vollen Erkenntnis entziehenden Universum, die Bedeutung des Tagebuchs, die Dominanz des Autobiographischen, die Gleichgeschlechtlichkeit und die Neigung zu asexuellen Beziehungen … So viel Übereinstimmung kann mein Urteil beeinflusst haben. Ja, die Reaktionen auf Scuds Filme gehen oft stark auseinander.
18. Über AUSENTE, Film von Marco Berger
Der Film „Ausente“ (übersetzt: abwesend) war Marco Bergers zweiter Spielfilm und wurde 2011 fertiggestellt. In ihm ist die sehr persönliche Filmsprache des Argentiniers schon voll ausgebildet, der Akzent auf der Psychologie der Figuren, die Anklänge an das Genre Thriller, die Bevorzugung von Nah- und Großaufnahmen, das Ausschnitthafte von Orten, Räumen, Körpern. Wir sehen sehr wenig von Buenos Aires, obwohl der Film nur dort und zum Teil auf seinen Straßen spielt. Die Kameraführung zeigt Figuren, die sich wie in Gefängniszellen oder -höfen bewegen und dabei immer tiefer in ihrem Schlamassel versinken.
Man kann von einem Zwei-Personen-Stück sprechen, die wenigen Nebenfiguren fungieren fast nur als Stichwortgeber. Der Konflikt wird zwischen dem Schwimmlehrer Sebastían (Carlos Echevarría) und dem Schüler Martín (Javier De Pietro) ausgetragen, der eine in den Dreißigern, der andere sechzehn. Martín hat sich in den Kopf gesetzt, seinen Lehrer zu verführen. Mit einer detailreichen Lügengeschichte gaukelt er eines Tages nach Schulschluss Sebastian vor, hilflos auf der Straße zu liegen. Der Lehrer lässt ihn bei sich übernachten, obwohl dies riskant, da verboten ist. Zu Hause passiert kaum etwas. Martín kommt mit seinen vielen Aktionen nicht voran und schon gar nicht ans Ziel – nur dass er seinen Gastgeber vor Nachbarn wie später auch vor einer Kollegin kompromittiert.
Tags darauf erfasst der Lehrer, dass er in allem getäuscht worden ist. Die beiden fangen an, sich ineinander zu verbeißen, mit Blicken, Gesten, wenigen Worten bis hin zu feindseligen Handlungen. Martíns ungeschickte Versuche, das Blatt noch zu wenden, regen Sebastían dazu an, dem Geschehenen wie Nichtgeschehenen noch mehr auf den Grund zu gehen. Parallel dazu verschlechtern sich die Beziehungen des Lehrers zu seiner Freundin. Die so verschiedenen Charaktere der beiden Hauptfiguren enthüllen sich immer mehr. Der Jüngere, obwohl blendend aussehend, weist eine etwas tückische Ausstrahlung auf, wirkt unsicher und leicht unsympathisch. Der etwa zwanzig Jahre Ältere ist zunächst nur der Offene, Hilfsbereite, dann leicht Befremdete, später tief Verunsicherte. Er leidet sichtlich und gewinnt so die Sympathie des Zuschauers.
Das Drehbuch lässt Martín auf brutalste Weise aus der Handlung verschwinden. Für Sebastían wird er von da an zu einer Proustschen Albertine disparue. Der Lehrer fängt an, im Kopf frühere Szenen mit Martín nachzuspielen, vielleicht auch schon ein wenig zu verändern. Die Krise in seiner Partnerschaft verstärkt sich, die Beziehung treibt ihrem Ende entgegen. Sebastian dringt nachts in die vollkommen leere Schwimmhalle ein und hat dort eine Vision des Dahingegangenen. Und dabei verändert sich Martíns Ausstrahlung, wird erstmals licht, freundlich, strahlend. Mit einem veränderten Bewusstsein von sich selbst hat der Lehrer ihn umgeschaffen. Dann bricht die Vision zusammen und der Film endet abrupt mit Sebastians Weinkrampf.
Marco Bergers tiefgründiges, erstaunlich vielschichtiges Werk hat zu Recht auf der Berlinale 2011 den Teddy für den besten Spielfilm erhalten. Zum Gelingen haben auch die beiden vorzüglichen Hauptdarsteller beigetragen.
19. Hier irrt Wikipedia
Im Folgenden soll es nicht um die Zuverlässigkeit von Wikipedia allgemein gehen, sondern an einem Beispiel gezeigt werden, wie flüchtige Rezeption eines Werks zu falschem Verständnis und Verbreitung von Unzutreffendem führt. Zu Marco Bergers Film „Ausente“ findet sich im englischsprachigen Wikipedia-Artikel folgende Aussage:
“The director is vague on certain plot points. In the last images, for example, there is a shot of Sebastián gently kissing Martín on the lips. It is not clear whether this actually happened or only occurred in Sebastián's imagination.”
Der Zweifel, wie der Filmschluss zu interpretieren sei, lässt sich leicht ausräumen. Vor der letzten Szene ist der Schwimmlehrer Sebastían mit seiner Freundin unterwegs ins Theater. Beide sind dem Anlass entsprechend gekleidet. Unterwegs setzt er seine Partnerin bei einer Bekannten ab, die wohl mit zur Vorstellung kommt. Sebastían, der vorausfährt, wird von seiner Freundin aufgefordert, eine Flasche mit einem alkoholischen Getränk mitzunehmen. Danach sehen wir die Partnerin im Foyer des Theaters, wie sie sich in der Pause suchend umblickt. Sie scheint im Gespräch mit jener Bekannten und dabei Sebastían zu vermissen. Der Lehrer fährt währenddessen im Auto zu der Schwimmhalle, in der er tagsüber unterrichtet. Nach dem Aussteigen wirft er die inzwischen von ihm geleerte Flasche fort. Er ist alkoholisiert und trägt bis auf die Jacke dieselbe Ausgehkleidung wie vorher. Er klettert über einen Zaun, schlägt ein Fenster ein, wobei er sich eine stark blutende Verletzung zuzieht, und dringt in die leere, dunkle Halle ein. Dort wechselt das Licht nach kurzer Zeit, wird strahlend hell. Sebastían erblickt nun Martín im Kreis anderer Schüler. Anschließend sondern sich die beiden Hauptfiguren ab und treffen im Bereich der Umkleidekabinen aufeinander. Hier kommt es zu der Kussszene und Sebastían bittet Martín um Verzeihung. Der Zuschauer weiß allerdings, dass Martín schon seit einiger Zeit tot ist. Da Martín sich in ihrem Gespräch jetzt ausdrücklich auf Sebastíans aktuell stark blutende Verletzung bezieht, kann es sich bei dieser Sequenz nur um eine Vision handeln. Sie endet damit, dass Martín mit verzichtender Mimik fortgeht, es in der Halle wieder dunkel wird – eben dies markiert den Übergang zu realistischer Filmerzählung - und Sebastían allein weinend zurückbleibt, womit der Film zugleich endet.
Man findet heutzutage in zahllosen Filmkritiken, auch aus professioneller Feder, ähnliche Unsicherheiten und Fehlinterpretationen. Es scheint üblich zu sein, nach einmaligem und oft nicht ausreichend konzentriertem Anschauen des Werks einen Text darüber zu schreiben. Gerade im Internet bleiben diese Falschinformationen dann über viele Jahre und beeinflussen das Bild, das sich nachlesende Zuschauer beim Recherchieren machen.
Vermutlich entgehen diesen hastigen Rezensenten noch viele andere Details, die mit Bedacht in die Drehbücher eingearbeitet und tatsächlich oft erst nach mehrmaligem Anschauen des Films aufzuspüren oder in ihrer Bedeutung zu entschlüsseln sind. Marco Berger etwa verwendet gern Leitmotive. So findet sich eine zerbrochene Hallenfensterscheibe in „Ausente“ bereits einmal an früherer Stelle. Man kann darin ein Symbol für die Situation der Protagonisten vermuten. Leichter zu verstehen ist die Rolle, die ein Parfüm wiederholt im Film spielt, oder die eines ausgeliehenen T-Shirts. Dem aufmerksamen Zuschauer wird ferner auffallen, dass Sebastían sich zweimal über den Körper eines Beifahrers beugt, um das jenseitige Wagenfenster zu betätigen, einmal ist es Martín, später dann die Freundin. Wer aber nicht einmal leicht erkennbare Übergänge von rein realistischer Handlung zu eingeschobenen phantastischen Sequenzen zweifelsfrei erkennt, wird erst recht damit überfordert sein, die feine Textur der Leitmotive wahrzunehmen.
20. Über DIE STARKEN, Film von Omar Zúñiga
Endlich wieder eine Herausforderung: sich am deutschen Werbetext für den chilenischen Film „Die Starken“ (span. „Los fuertes“) abzuarbeiten; ich nehme sie an und beginne mit der Schlagzeile „Eine Liebe am Ende der Welt“, auf dem Cover der DVD über dem Filmtitel placiert. Ende der Welt? Spielt der Film in Feuerland? Mitnichten, sondern im Raum Valdivia, einer Provinzmetropole, ca. siebenhundert Kilometer südlich von Santiago. Bis zum wirklichen Ende des Kontinents kommen deren leicht noch einmal eintausend hinzu. Der Begriff passt auch in einem übertragenen Sinn nicht. Valdivia und Umgebung sind vielbesuchte Urlaubs- und Touristenziele.
Auf der Rückseite der Hülle beginnt es so: „Lucas weiß noch nicht so recht, wo er im Leben hinwill …“ Diese Aussage lässt sich aus dem Filminhalt nicht begründen. Wir erfahren fast nichts über Lucas` Leben in Santiago und wenig über seine weiteren Zukunftspläne. Sicher ist, dass er den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen hat, da sie seine Homosexualität nicht akzeptieren. Weiter im Text: „Bevor er sein Architekturstudium in Montreal beginnt, besucht er noch einmal seine Schwester, die in einem abgelegenen Fischerdorf im Süden Chiles lebt …“ Richtig ist: Lucas hat sein Architekturstudium längst abgeschlossen und vermutlich auch in diesem Beruf gearbeitet. Er will sich in Kanada zusätzlich für Denkmalpflege qualifizieren. Dann: „Ausgerechnet hier verliebt er sich in den attraktiven Hafenabeiter Antonio …“ Hafenarbeiter? Antonio ist Fischer und mehrere Szenen zeigen ihn auf dem Boot, das die Sardinenfischerei betreibt. Dass er seinen Arbeitsplatz verliert und sich als Fischer selbständig machen will, ist auch Inhalt der Filmhandlung. Man fragt sich: Hat der Texter den Film überhaupt gesehen? Weiter: „Damit die Beziehung der beiden jungen Männer eine Chance hat, müssen sie über sich hinauswachsen und geben sich ihrer Leidenschaft füreinander hin …“ Auch das hat mit dem Stoff wenig zu tun. Die beiden lernen sich einfach kennen, haben offenkundig nicht zum ersten Mal Sex mit einem Geschlechtsgenossen und sind sich so sympathisch, dass sie sich bis zu Lucas´Abreise immer wieder treffen. Diese unspektakuläre Geschichte soll wohl mit obiger Formulierung aufgepeppt werden, damit der Umsatz, den die edition salzgeber mit dem Film machen kann, ein wenig über sich hinauswächst.
Vom zweiten Absatz nur noch Schlagwörter: „ … ein wild loderndes Liebesdrama ...“ – gerade wild oder gar lodernd ist es nicht - „ … vor einer atemberaubenden Naturkulisse.“ Atemberaubend auch eher nicht, sondern die Seele weitend: eine weiträumige maritime Landschaft, die an die Küsten der Bretagne oder Normandie erinnert, mit grünen Hügeln, Buchten, Inseln, einem großen Fluss und Festungsruinen aus der Kolonialzeit.
Der chilenische Filmemacher Omar Zúñiga präsentierte mit dem 2019 fertiggestellten Werk etwas sehr Ansehnliches und durchweg Überzeugendes. Seine Qualitäten bestehen in mitfühlender Beobachtung von Wirklichkeit und großer Detailtreue. Da, seht her, sagt der Film gewissermaßen, so schön und ergreifend ist unser alltägliches Leben, sind unsere gewöhnlichen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen. Lucas macht eine Urlaubsbekanntschaft und sie gewinnt rasch emotionale Bedeutung, wie es eben mitunter geschieht, wenn es gerade nicht zu den Zukunftsplänen passt. Wie die beiden damit umgehen, sich der Situation stellen und die - absehbare - Lösung des Problems aushalten, das ist der wesentliche Stoff des Werks. Ansehen sehr zu empfehlen, auch wegen der selten gut gelungenen erotischen Szenen, die dem freundlich-lebensbejahenden Geist des Films entsprechen.
„Los fuertes“ (international auch unter dem Titel „The Strong Ones“ vertrieben) war Zúñigas erster abendfüllender Spielfilm. Er kam zu unpassender Zeit heraus, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, die in vielen Ländern die Kinos zeitweise verschloss. Bemerkenswert an der Vorgeschichte des Films: Es ist als Neuverfilmung eine Langfassung des Stoffs von Zúñigas Kurzfilm „San Christóbal“, der 2015 auf der Berlinale prämiert wurde (Teddy für den besten Kurzfilm). Die beiden Hauptrollen wurden schon damals von Samuel Gonzáles (Lucas) und Antonio Altamirano (Antonio) übernommen, attraktiven und talentierten jungen Schauspielern.
21. Über HAWAII, Film von Marco Berger
Mit „Hawaii“ brachte der argentinische Filmemacher Marco Berger 2013 seinen dritten Langfilm in die Kinos. Das Werk wurde auf der Basis von Crowdfunding realisiert und beschränkt sich angesichts schmaler Mittel hinsichtlich seiner Figuren wie der Schauplätze. Im Grunde ist es ein Zwei-Personen-Stück, das überwiegend auf dem Anwesen des jungen Journalisten und Schriftstellers Eugenio (Manuel Vignau) spielt, in einer Kleinstadt der argentinischen Provinz. Eines Tages steht Martín (Mateo Chiarino) an der Gartenpforte und fragt nach einer Gelegenheitsarbeit. Es stellt sich im Gespräch heraus, dass die beiden jungen Männer – Eugenio ist zwei oder drei Jahre älter als der andere – in ihrer Kindheit eine Zeitlang befreundet waren, bis Martín nach dem Tod der Mutter wegzog. Jetzt ist er mittel- und obdachlos zurückgekehrt. Eugenio lässt ihn den Sommer über das Grundstück in Ordnung bringen. Er erfährt erst nach und nach, wie prekär Martíns Lage ist, und bringt ihn dann in einem Schuppen unter. Ihr Umgang wird bald wieder freundschaftlich und sie erinnern sich an charakteristische Begebenheiten aus gemeinsamen Kindertagen. Allmählich fühlen sie sich auch erotisch voneinander angezogen, thematisieren es aber voreinander nicht. Der Zuschauer erfährt erst spät, dass Eugenio sich längst als homosexuell versteht. Martíns erster eindeutiger und spontaner Annäherungsversuch wird von Eugenio brüsk zurückgewiesen – der junge Autor misstraut der Motivation des anderen, fürchtet Komplikationen aufgrund ihrer sozial so verschiedenen Lage. Martín verlässt sofort das Anwesen. Eugenio gelingt es nach Tagen, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Jetzt scheinen sie sich sehr nahe zu sein.
Bei der Umsetzung seines Stoffs kommen die auch an Bergers anderen Filmen ersichtlichen Stärken wieder voll zur Geltung: die exakte Psychologie lebenswahrer Figuren, Schlaglichter auf die sozialen Hintergründe, hochkonzentrierte Filmatmosphäre bei striktem Realismus, ja Naturalismus der Ausstattung. Berger arbeitet viel mit Nah- und Großaufnahmen. Mimik, Bewegungen, Körpersprache sind den Dialogen übergeordnet. Dieses Vorgehen erfordert zwei so exzellente Schauspieler, wie der Regisseur sie für diesen Film gefunden hat. Das Werk ist bis zu jenem retardierenden Element – Martíns Flucht – rundum gelungen. Nur der Ausweg, den Eugenio durch intensives Grübeln und Sichversenken in Kindheitserinnerungen schließlich findet, kann vielleicht nicht vollkommen überzeugen. Das Bild der beiden Ananasfrüchte, ein Dia aus einer Kollektion über Hawaii, wirkt eher wie ein Drehbuch-Artefakt denn als glaubwürdiges Detail aus der im Übrigen so sehenswerten Geschichte der beiden Figuren. Nur hier mangelt es einmal an einem nachvollziehbaren organischen Zusammenhang mit der übrigen Filmerzählung.
22. Über PLAN B, Film von Marco Berger
„Plan B“, herausgekommen 2009, war der erste Langfilm von Marco Berger. Er begründete den Ruf des Argentiniers international und war die Basis für eine ganze Reihe thematisch wie formal verwandter Spielfilme von ihm, die er noch laufend fortsetzt. Der Trailer, der auf den Film neugierig machen soll, lässt eine Art von Komödie vermuten. Tatsächlich handelt es sich um ein Seelendrama mit positivem Ausgang für die beiden Protagonisten, nach einer längeren Phase erst der Intrige, dann der wechselseitigen Annäherung und nach einer größeren Krise zum Schluss hin.
Bruno (Manuel Vignau) und Pablo (Lucas Ferraro) sind zwei junge Männer in Buenos Aires. Laura (Mercedes Quinteros) hat Bruno als Geliebten durch Pablo ersetzt. Bruno versucht vergeblich, zu Laura zurückkehren zu können. Da bekommt er aus anderer Quelle die - gar nicht zutreffende - Information, Pablo habe früher einmal ein homosexuelles Verhältnis gehabt. Brunos neuer Plan sieht so aus: mit Pablo eben eine solche Beziehung zum Schein eingehen, damit der Rivale auf Laura verzichtet und er, Bruno, bei Laura wieder die alte Rolle übernehmen kann. Mit diesem Plan kommt Bruno eine Zeitlang gut voran. Die jungen Männer befreunden sich zunächst auf scheinbar normale Weise, bis zwei unerwartete Entwicklungen zur Krise führen. Bruno verliebt sich entgegen seiner Absicht tatsächlich in Pablo, der seinerseits von Brunos früherer Beziehung zu Laura erfährt und den bisherigen Plan B im Kern durchschaut. Pablo trennt sich tief verunsichert von Laura, die beiden Männer gehen sich fortan aus dem Weg. Laura bietet Bruno die Rückkehr an, der das inzwischen nicht mehr will. Bei einer nochmaligen Begegnung von Bruno mit Pablo erweist sich die gegenseitige Anziehung als so stark, dass sie tatsächlich reale Partner werden.
Die Qualität des Films zeigt sich darin, wie hier Reifeprozesse dargestellt werden. Bruno wird zum betrogenen Betrüger, betrogen durch Selbstbetrug. Er ist agil, konsequent und bedenkenlos, doch zu seinem Glück auch einsichtsfähig. Hat er die enge Beziehung zu Pablo zunächst nur zum Schein anbahnen wollen, sie nur als Mittel zu ganz anderem Zweck angesehen, so erkennt er später sowohl ihren Wert wie auch seine eigene ihm bisher unbewusst gebliebene homosexuelle Motivation. Er empfindet nun das Schäbige und Verwerfliche an seinem Plan, leidet darunter und akzeptiert sein starkes neues Gefühl. Der introvertierte Pablo erschien zunächst naiv und anspruchslos. In der Krise zeigt sich sein Format, sein Wesen ist doch tiefgründig und auch charakterstark. Bezeichnend für ihn ist, dass er zuvor gar keine intime Beziehung zu einem anderen Mann hatte, sondern nur ein abstraktes Bewusstsein von solcher Möglichkeit. Nun unternimmt er, zunächst unsicher und zögernd, den Schritt von der Theorie zur Praxis. Beide Figuren erleben auch einen gemeinsamen Reifeprozess. Sie beginnen eine der üblichen unverdächtigen Jungmännerfreundschaften und fallen dann, während sie die erotische Anziehungskraft schon spüren, zurück in die Gefühls- und Erfahrungswelt von Zwölfjährigen. Erst am Schluss verhalten sie sich wie gereifte Erwachsene.
All das wird detailreich und effektvoll in Szene gesetzt, auch mit komödiantischen Mitteln, und durch das Spiel zweier hervorragender Akteure bewundernswert umgesetzt. Dazu gehört, wie Bruno in einer entscheidenden Phase offenbar nicht abgrenzen kann, inwieweit er noch den ursprünglichen Plan B verfolgt oder schon sein Interesse an Pablo selbst die Oberhand gewonnen hat. Wie sich diese konträren Motivationen noch eine Zeitlang bei ihm überkreuzen, ist sehr reizvoll anzusehen.
Was noch über den Film zu sagen wäre: Die sechs Nebenfiguren – vier Frauen und zwei Männer – dienen lediglich als Stichwortgeber. Alles Entscheidende spielt sich nur zwischen Bruno und Pablo ab. Auch das Bild der Außenwelt – erratisch-brutale, torsoähnliche Hochhauskulissen und ödes La Plata-Ufer mit ausrangierter Technik – erschließt keine andere Perspektive. Drehbuch wie Kameraarbeit sind konsequent in ihrer Konzentration auf eine Innenwelt. Da es allein um deren seelische Entwicklung geht, verzichtet der Film klugerweise auf jede Sexszene. Seine Psychologie lässt einen verwundert feststellen: Das hat ein damals Anfangdreißiger ins Werk gesetzt. Man staunt über den Umfang an Lebenserfahrung, die schon zugrunde liegen dürfte, und man sympathisiert bald mit der persönlichen Handschrift des Filmemachers. Sie ist hier wie in seinen späteren Werken geprägt einerseits von Exaktheit und Detailgenauigkeit und andererseits von nachsichtiger Zärtlichkeit gegenüber allen Figuren.
23. Über DER BLONDE, Film von Marco Berger
Mit seinem sechsten Spielfilm „Der Blonde“ (span. „Un rubio“) von 2019 gelang es dem Argentinier Marco Berger, seine schon sehr beachtlichen früheren Streifen noch zu übertreffen. Dieser Film ist länger als die anderen, figurenreicher und wagt mehr erotische Szenen. Sie sind ästhetisch geglückt, wirken authentisch, lebensnah. Letzteres kann man auch vom Drehbuch sagen, das eine bestimmte Problematik detailliert und sorgfältig erst entwickelt und dann auflöst. Unterstützt wird diese Filmerzählung durch die von Bergers Filmen schon gewohnte exzellente Kameraarbeit. Sie bevorzugt wieder Nah- und Großaufnahmen und führt den Betrachter so dicht an die Figuren heran, als befände er sich ihnen unmittelbar gegenüber. Berger hat wieder vorzügliche Schauspieler für ihre Verkörperung einsetzen können, darunter einen frühreifen Kinderstar (Malena Irusta als Ornella). Wie klug hier fast alles inszeniert und aufeinander abgestimmt ist, kann der Zuschauer daheim anhand eines Experiments feststellen: den Film an einer charakteristischen Stelle stoppen und sich für ein, zwei Minuten der suggestiven Wirkung des stillstehenden Bildes aussetzen. Da ist nichts zufällig oder banal, doch auch nicht aufgesetzt. Es ist im Detail vollkommen natürlich und zugleich große Filmkunst.
Der Film spielt in Vororten von Buenos Aires, vor allem unter Arbeitern. Mehrere von ihnen sind Kollegen in einem mittelgroßen Betrieb. Es könnte eine Tischlerei sein oder eine Möbelfabrik. Betriebsabläufe sind gelegentlich in die Handlung integriert. Daheim spielen Bier, Zigaretten und Fernsehen bedeutende Rollen, in für die untere Mittelklasse typischen Wohnräumen oder auf der Dachterrasse. Man blickt von da auf den Strang einer häufig befahrenen Vorortbahn oder auf eine Straße, die in einer Unterführung verschwindet.
Die geistige Haltung hinter Drehbuch und Realisation ist wieder so zu beschreiben: Darstellen durch scharfes Beobachten, ohne zu verurteilen oder Partei zu ergreifen. So sind alle Figuren imstande, Empathie auszulösen, Trauer empfinden zu lassen. Sie sind eher passiv Leidende als aktiv Gestaltende. Bei Bergers Filmen erinnert sich der Rezensent an ein Schlagwort von Jean Paul: Menschen sind Maschinen der Engel. Das Fluidum dieser Werke ist vor allem eine Mischung aus Fatalismus und tiefem Mitgefühl.
Der blonde Gabriel (Gastón Re) ist Mitte zwanzig, schon Witwer und Vater einer Tochter, die bei seinen Eltern wohnt. Ihm selbst wird von seinem Kollegen Juan (Alfonso Barón) ein freies Zimmer in dessen Wohnung angeboten. Gabriel zieht ein und erscheint den häufigen Gästen von Juan – Kollegen, Freunde, Nachbarn – als ungewöhnlich still. Er liest als Einziger unter ihnen Bücher und hat einen besonderen Grund, zurückhaltend zu sein. Obwohl er eine lockere Beziehung zu einer jungen Frau hat – sie zerbricht im Verlauf -, schätzt er sich selbst als homosexuell ein.
Sein Vermieter Juan ist dreißig und noch ledig. Er ist der Bisexuelle par excellence, hatte und hat Beziehungen zu Frauen, länger andauernd oder flüchtig, und ebenso Interesse an Geschlechtsgenosssen. Dabei ist er gerade kein Verführer, sondern der von zahlreichen Gelegenheiten Verführte. Er betrachtet sein reges Sexualleben aus gewissem Abstand, es scheint als Ganzes eher eine Last zu sein. Man sieht ihn kaum einmal froh oder lächeln. Die Tragik menschlicher Existenz spiegelt sich in der ganzen Erscheinung dieses gutaussehenden Mannes, seiner Mimik, Gestik und Haltung.
Man erfährt nicht, ob Juan Gabriel das Zimmer planvoll angeboten hat. Vielleicht ist er sich seiner Neigung zu ihm schon bewusst gewesen und hat den absehbaren Verlauf eben hingenommen. Zwar provoziert er dann Gabriels Annäherung durch eigenes Verhalten, aber es geschieht wie unter Zwang, automatenhaft, mit Störungen infolge Hemmung. Die beiden werden für einige Monate ein Paar, ohne dass Juan das so sehen will, Gabriel schon. Das Milieu um sie herum ist in sexuellen Fragen traditionell orientiert, da sind Rücksichten zu nehmen. Unterbrechungen bedeuten auch die Besuche von Juans Freundin Natalia (Melissa Falter). Juan will erst die eine, dann stattdessen die andere Beziehung beenden – diese Entscheidung wird ihm schließlich abgenommen. Gabriel muss gehen, aber Juan will nicht ganz auf ihn verzichten – Gabriel auf Juan jetzt schon.
Wenn Juan gegen Ende des Films nachdenklich auf die Bahntrasse blickt, erinnert es an die resignative Schlusszene aus James Ivorys „Maurice“. Es kann, muss jedoch keine Anspielung sein. Berger zitiert sich im Übrigen manchmal selbst, so beim Größenvergleich der beiden Männer untereinander (analog einer Stelle in „Plan B“). Diese Wiederaufnahmen sind ein wirksames Mittel, den größeren Zusammenhang des Gesamtwerks sichtbar zu machen. Es wird hoffentlich noch weiter wachsen.
24. Über TAEKWONDO, Film von Marco Berger
Spielfilm Nr. 5 von Marco Berger war „Taekwondo“ (2016). Er ist ebenso überzeugend wie die vorangegangenen und die seitdem noch produzierten, nur unterscheidet er sich im Hinblick auf die Erzählstruktur von ihnen. Hier haben wir es einmal mit einer Haupthandlung zu tun, die sich im Schatten einer Vielzahl von untereinander gleichrangigen kurzen Nebenhandlungen langsam entwickelt. Das ist ebenso reizvoll zu beobachten, wie es die Konzentration des Zuschauers fordert.
Fernando (Lucas Papa), ein Mann um die dreißig, hat wieder einmal ein gutes halbes Dutzend Freunde auf den Landsitz seiner Eltern eingeladen. Man kennt sich seit der Schulzeit und verbringt dort oft gemeinsame Urlaubstage und -wochen. Die Gäste treiben Sport, streiten sich, breiten Frauengeschichten und Beziehungsprobleme voreinander aus. Oder sie reden ein wenig über Kunst und Politik, falls sie nicht gerade Drogen nehmen (in Maßen) oder essen und trinken oder pennen … Es sind die Aktionen typischer Normalos in der Freizeit. Berger hat es trotzdem mit seinem Drehbuch und der Auswahl ausgezeichneter Schauspieler geschafft, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten zu präsentieren, mit individuellen Zügen, Vorgeschichten, Problemen. Man hört ihnen gern zu, verfolgt die Vielzahl rasch aufeinander folgender Gespräche und Aktionen. Zwischendurch schneien Frauen herein, dann belebt sich das Anwesen noch mehr.
Dengegenüber geht der Gastgeber weitgehend in seiner dienenden Rolle auf. Er nimmt sich zurück, beobachtet, organisiert. Er hat keine feste Beziehung, im Unterschied zu den meisten seiner Freunde. Leo (Francisco Bertín) behauptet, Fernando trauere noch immer einer Freundin nach, die ihn vor langer Zeit verlassen haben soll. Aber stimmt diese Geschichte? Über Leo selbst wird geredet: Ist er ein verkappter Homo? Einer erinnert sich, wie Leo und Fernando es vor vielen Jahren miteinander getrieben haben. Leo bestreitet es, Fernando bestätigt es: Es war unter Drogen, das war meine bisexuelle Phase, jetzt bin ich nur noch schwul … Augenzwinkernd bemerkt, soll es als Scherz aufgenommen werden und das wird es vielleicht auch. Leo bleibt misstrauisch und achtet auf Fernandos Umgang mit Germán, dem Neuen, der erstmals dabei ist.
Germán (Gabriel Epstein) ist seit einiger Zeit Fernandos Taekwondo-Trainingspartner in Buenos Aires. Er ist jünger als die anderen, ausgesprochen hübsch und betont unauffällig. Er liest viel in diesen Tagen: Salinger, Hamsun, Hesse. Er fragt sich, warum Fernando ihn überhaupt eingeladen hat, und wartet ab. In vielen kleinen stillen Sequenzen, beiläufig eingestreut zwischen die geräuschvollen Nebenhandlungen im Vordergrund, entwickelt sich ihr freundschaftliches Verhältnis, erweist sich allmählich als Begehren. Als die anderen Gäste abgereist sind und Germán noch eine Nacht bleibt, fragt Fernando: Kann ich dich küssen? - Womit dieser Film eines scheinbar paradoxen Queer Cinema, in dem die einzige Paarung heterosexuell ist, sogleich endet. Ist die dem Drehbuch zugrunde liegende Haltung ironisch? Eher, so scheint mir, leicht melancholisch, dem Stoff angemessen.
25. Flüchtige Blicke - Kurzfilme von Marco Berger und Marcelo Mónaco
2012 brachten die damals noch jungen Argentinier Marco Berger und Marcelo Mónaco eine Sammlung von sechs Kurzfilmen heraus unter dem Titel „Tensión sexual: Volátil“ (dt. Titel: „Flüchtige Blicke“). Gemeinsames Thema ist zufällig sich entfaltende homoerotische Anziehungskraft in sonst normal-durchschnittlicher Alltagswelt. Dieses Begehren entsteht unter ganz verschiedenen äußeren Bedingungen und führt in keinem der kurzen Streifen zur Erfüllung. Es wird als etwas Zufälliges, Flüchtiges wahrgenommen, sich allenfalls kurz eingestanden und löst bei den Akteuren überraschtes, nachdenkliches oder belustigtes Befremden über die Situation aus.
Die Sammlung ist als Ganzes eine sorgfältig komponierte Gemeinschaftsarbeit. Die beiden Regisseure steuern jeder drei Filme bei und wechseln sich in deren aufeinander folgender Präsentation ab. Mónaco zeigt die Filme Nr. 1, 3 und 5 und entwirft mit viel Dialog und trotz der kurzen Filmdauer wahre kleine Filmerzählungen. Sie bieten sogar Charakterstudien der jeweils zwei Protagonisten, zu denen einmal noch eine Nebenfigur tritt, die Freundin des einen. Die Situationen sollen nur angedeutet werden: Ein junger Mann, unglücklich verliebt in seinen Tätowierer … Zwei alte Freunde breiten ihre heterosexuellen Erfahrungen und Probleme handgreiflich voreinander aus … Der Angestellte einer Ferienbungalowanlage landet in dienstlichem Auftrag erst im Schlafzimmer eines Gastes und dann mit ihm unter der Dusche …
Berger (Filme Nr. 2, 4 und 6) setzt nur im letzten Werk auch auf Dialog, sonst überwiegen Körpersprache und voyeuristischer Kamerablick. Der mittlere Streifen kommt sogar ganz ohne Worte aus. Die Perspektiven der beiden Filmemacher sind konträr. Wo Mónaco handelnde Figuren und ihre Psychologie ins Zentrum stellt, fokussiert Berger sich auf eine jeweils besondere Situation, denen die Figuren ausgeliefert scheinen. Worum es bei ihm geht: Zwei füreinander Fremde begegnen und verfehlen sich in der Wohnung ihres Gastgebers … Ein Krankenpfleger wird für einen gehandicapten jungen Mann zur körperlichen Reinigung engagiert … Zwei Sportsfreunde geraten außer Kontrolle beim gemeinsamen Herstellen und Versenden freizügiger Fotos an zu erobernde „Mädels“ …
Zusammen ergeben die sechs Filme eine kleine Welt für sich. Misslungen ist keiner von ihnen. Welchen man für schwächer hält, bleibt Geschmacksfrage. Dem Rezensenten hat Nr. 5 („Amor“) am meisten zugesagt.
26. Über INNOCENT, Film von Simon Chung
Das 2005 herausgekommene Werk „Innocent“ war Simon Chungs zweiter Langfilm. Er wandelt, ohne im Detail autobiographisch zu sein, auf Lebensspuren des Filmemachers. Auch der Oberschüler Eric (Timothy Lee) muss in den 1990ern mit Eltern und Schwester nach Kanada umziehen und sich in Toronto vielfach umstellen. Das gilt für alle Familienmitglieder, jedes geht dabei seinen eigenen Weg und der Zusammenhalt zerbröselt allmählich, ohne dass alle Bande gelöst werden. Am blassesten ist im Film die Schwester Doris (Stephanie Chang) gezeichnet, sie bleibt passiv leidend im Gegensatz zu ihrer sehr aktiven Mutter (Jovita Adrineda); diese startet in der neuen Umgebung beruflich noch einmal durch und betreibt bald ein China-Restaurant. Ihr Mann (Wing Wong Wilson Kam) dagegen schafft sich keine neue Existenz, er sucht sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe und will sich, allein nach Hongkong zurückgekehrt, scheiden lassen.
Erics Geschichte ist der Haupterzählstrang im Film. Der rührige Sohn scheint die miteinander unvereinbaren Verhaltensweisen der Übrigen in sich vereinen zu wollen und gerät zunehmend in Schwierigkeiten. Einerseits zieht es auch ihn nach Hongkong zurück, andererseits nutzt er als junger Homosexueller die Chancen, die Toronto ihm bieten kann. Glücklich wird er dabei nicht. Sein Bedürfnis nach Bindung verführt ihn dazu, den entlassenen Koch seiner Mutter (David Lieu Song Wei) illegal über die Grenze in die USA zu schaffen. Am Filmende sieht sich Eric in New York alleingelassen und tritt schmerzlich desillusioniert die Rückfahrt nach Kanada an.
Die gesamte Handlung wird in lauter kurzen Sequenzen abgespult. Dieses rasche Tempo des Films und die versonnen tragikomische Stimmung, die über ihm liegt, vertragen sich erstaunlich gut miteinander. Zwei Aspekte sollen noch erwähnt werden: Dass die chinesische Familie einer christlichen Kirche angehört, erweist sich für die Familie in Toronto als irrelevant. Und: Mit Erics Augen kann der Zuschauer kritische Blicke auf Einstellungen und Verhaltensweisen typischer nordamerikanischer Mittelschichtler werfen.
27. Über HORSEPLAY, Film von Marco Berger
Marco Berger brachte „Horseplay“ (span. „Los Agitadores“) 2022 heraus. Der Film, seit 2023 mit deutschen Untertiteln verfügbar, fordert mit seiner Struktur den Zuschauer stärker als alle früheren des Argentiniers. Was man zunächst wahrnimmt: Zehn junge Männer, fast alle heterosexuell, geben sich über die Feiertage am Jahresende auf einem Landsitz bei Buenos Aires wechselseitigem pubertären Schabernack hin. Er ist nicht immer harmlos und oft abstoßend. Es wird dazu sehr viel geredet, man muss die Untertitel also rasch durchlesen. Die Vielzahl der Figuren – insgesamt ca. zwanzig, darunter noch Freundinnen, Nachbarn, Familienangehörige - erschwert das Verstehen der Handlungszusammenhänge. Und dann wird einer von einem anderen nieder- und vermutlich auch totgeschlagen – Filmende. Der Zuschauer kann sich überrumpelt fühlen.
Der Rezensent war zunächst enttäuscht, doch nicht sicher, ob auch zu Recht. Berger hat schon viele und stets überzeugende Filme gemacht … Da kam die Idee, bei einem zweiten Ansehen die Aufmerksamkeit von Beginn an auf jene Figuren zu konzentrieren, die von den drei ausdrücklich herausgehobenen Schauspielern verkörpert werden. Nun wurde die Struktur viel besser erkennbar und auch das Drama, das sich innerhalb dieses Trios allmählich entwickelt. „Horseplay“ erscheint als verschärfte und tragische Version des Stoffs von „Taekwondo“ und wohl ebenso gut gelungen. Noch mehr als beim Vorläufer ist jetzt die erzählte Haupthandlung so tief eingebettet in ein allgemeines Sittenbild, ein Porträt einer Gruppe, dass die Essenz des wesentlichen Erzählstrangs sich erst langsam herausschält. Das hat wieder Methode und kann erneut überzeugen. Man muss nur laufend sehr aufmerksam sein und auf jede kleine Aktion einer der drei Hauptfiguren achten. Dann entsteht ein viel stärkerer Sog, als es sonst bei konventionell verdeutlichendem Erzählen der Fall ist.
Sucht man Reaktionen im Netz, stößt man auch dort auf vom Film rasch ausgelöstes Befremden. Manche bleiben dabei, da sie danach auf vertiefte Auseinandersetzung verzichten. Die meisten Rezensenten allerdings loben dort allgemein, ohne viel auf Details einzugehen. Das wird nicht nur an sich selbst auferlegtem Spoilerverbot liegen. Nicht wenige Zuschauer dürften wohl am Vordergründigen haften geblieben sein und konzentrieren sich dann lobend auch darauf.
Dabei sind die entwickelten Hauptfiguren noch interessanter als der Chor hinter ihnen mit seinem provozierenden Gewusel und Palaver. Poli (Franco de la Puente), das ist eine Art stummer Schrei dagegen und Andy (Agustín Machta) ein gutartiger rationalistischer Faun von erschreckend brutaler Offenheit. Nico (Bruno Giganti) bleibt in seiner inneren Struktur und seinen Antrieben zum Teil rätselhaft; er sich selbst wohl auch und das trägt entscheidend zum tragischen Finale bei. Der Rezensent widersteht jetzt der Versuchung, diese drei Gestalten hier näher zu analysieren und ihre Aktionen zu interpretieren. Den relativ neuen Film haben viele noch vor sich. Sie sollen nicht um die Freude am Entschlüsseln gebracht werden. Guter Rat: wiederholt anschauen.
INHALT (Besprochene Filme)
1. Tropical Malady
2. / 3. Far from Heaven
4. Happy together
5. / 6. Ethan Mao
7. No Regret
8. / 9. / 10. Bangkok Love Story
11. Cowboy Junction
12. Poster Boy
13. Mil Nubes
14. Beefcake
15. The Hanging Garden
16. All My Life
17. Permanent Residence
18. / 19. Ausente
20. Die Starken
21. Hawaii
22. Plan B
23. Der Blonde
24. Taekwondo
25. Flüchtige Blicke
26. Innocent
27. Horseplay
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2010
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