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Busfahren in Neuruppin

INHALT

 

1. Reise nach Berlin

 

2. Berlin - Drehbühne des Lebens

 

3. Zehn Stunden durch Berlin

 

4. Berlin - Da hab ich mal gewohnt ... 

 

5. Lasst uns ein Einkaufszentrum bauen 

 

6. Tempo, Berlin! 

 

7. Arm und alt im Weddding 

 

8. Berliner Schlüsselerlebnis 

 

9. Dame mit Fuchs 

 

10. Es fährt kein Bus nach Rahnsdorf 

 

11. Berlin 2018: Betteln extrem 

 

12. Gut vernetzt 

 

13. Die Pyramide von Garzau 

 

14. Grabmal für einen Eisenbahnkönigssohn 

 

15. Großstadt der Toten - SW-Kirchhof Stahnsdorf

 

16. Gerammt 

 

17. Wo wollen Sie denn mal liegen? 

 

18. Die Sandgrube im Grunewald 

 

19. Sommer in Berlin 

 

20. Er hat dazwischengequatscht 

 

21. Der Euro bleibt hart! 

 

22. Tauben in der Bäckerei 

 

23. An der Sprachgrenze 

 

24. Ostern - Die Vorzeichen mehren sich 

 

25. Das Gemetzel im Maisfeld 

 

26. Muttertag in Z. 

 

27. See in Brandenburg 

 

28. Sie reden aneinander vorbei 

 

29. Tiefer in den Wald hinein

 

30. Herdentrieb 

 

31. Ein Diminutiv-Suffix im Bus 128 

 

32. Die Sammlerin 

 

33. Letzte Ausfahrt Gerechtigkeit 

 

34. Von hoher Warte betrachtet  

 

35. Eine Berolina von heute 

 

36. Wanderungen durch die Mark heute  

 

37. Neues aus Absurdistan

 

38. Chaos durch Ansage

 

39. Berliner Notizen 2011

 

40. Frühsommerwanderung

 

41. Busfahren in Neuruppin

 

42. Die Sache mit dem Eisbecher

 

43. Fern - unfern von Berlin

 

44. Gefangen im Lift - Protokoll einer Zwangslage

 

45. Mühsame Heimfahrt

 

46. Kleines Abenteuer im Wald

 

47. Zweikampf an der Frankfurter Allee, abgebrochen

 

 

Reise nach Berlin

Ich fahre nach Berlin. Jahrelang ist davon die Rede gewesen, jetzt fahre ich wirklich – nach Berlin, der Stadt der ungeheuren Energien. So steht es bei Musil, ist aber nur ironisch gemeint. Es ist Clarisse in den Mund gelegt, die statt nach Berlin in den Wahnsinn unterwegs ist.
      Ich muss die ganze Strecke stehen, denn im Zug ist kein Sitzplatz mehr frei. Dabei habe ich eine Platzkarte, gewöhnlich bin ich vorsorgend. Doch die Bahn hat statt des Normalzuges, für den ich eine Reservierung besitze, einen Ersatzzug eingesetzt. Ich muss das nicht verstehen …
      Von denen, die stehen müssen, bin ich noch am besten dran. Ich stehe in einer geräumigen Nische, früher einmal mit Telefon ausgestattet, es ist inzwischen abmontiert. An der Außenwand lädt mich ein beinahe üppiges Polster zum Anlehnen ein. So hingegossen könnte ich mir wie ein neuer Heiliger Sebastian vorkommen – wenn ich etwas jünger wäre. Unangenehmer Gedanke …
      Ich lese lieber im Kin Ping Meh weiter, das ich jetzt meistens dabei habe. Der junge Tschen treibt es zur gleichen Zeit mit Goldlotos und Lenzpflaume? Hm, pikant. Und Mondfrau lärmt im Palast der Abend- und Morgenröte …
      In meiner Nische sehe ich nichts von der vorbeifliegenden Mark und bin überrascht, dass wir schon in Spandau halten. Die weitere Stadt schiebt sich dann ebenso unsichtbar draußen vorüber. Ich denke vierzig Jahre zurück, an meine erste Reise hierher. Vor der Landung in Tempelhof sind wir über die Neuköllner Mietskasernen geflogen und dann, schon sehr tief, über die Friedhöfe neben dem Flughafen. Fensterkreuze und Grabkreuze - ist das nicht schon ein Sinnbild für Leben und Tod in der Großstadt gewesen? Wenige Wochen später bin ich spontan nach Berlin umgezogen. Unwiederholbar. Vierzig Jahre sind eine lange und vierzig Jahre sind eine kurze Zeit. Banal, aber wahr.
      Heute sehe ich überhaupt nichts, schon gar nicht die mir von früher vertrauten Orte in der Stadt. Ich bin sechsundzwanzig Jahre nicht mehr hier gewesen und würde mich gern erinnern lassen. Vielleicht würde mir das daheim, fern von Berlin, besser gelingen? Ist auch diese Einfahrt wieder ein Sinnbild? Damals bin ich gewissermaßen aus dem Himmel meiner Ahnungslosigkeit gefallen, heute steige ich vielleicht aus der Tiefe meines begrabenen Vorlebens zur Oberwelt empor.
      Jetzt fährt der Zug ins Dunkle, in den neuen Tunnel hinein. Er hält auf dem unterirdischen Bahnsteig. Berlin Hauptbahnhof – ich steige aus, bereit, eine neue Stadt kennenzulernen.  

 


Berlin - Drehbühne des Lebens


Am zweiten Tag in Berlin rief ich ihn an, meinen ältesten Freund überhaupt. Wir hatten uns länger als zwanzig Jahre nicht gesehen und ich schlug ihm vor, uns vor dem Eingang des KaDeWe zu treffen.
      „Damit du mich erkennst: Ich habe einen schwarzen Rucksack und in der rechten Hand ein kleines rotes Buch.“ – „Und ich habe jetzt einen Irokesen-Haarschnitt“, sagte er. Ich unterdrückte ein Erstaunen.
      Dann stieg er aus dem 19er Bus, der inzwischen geadelt war und nun M 19 hieß. Ich erkannte ihn, den Freund von früher, gleich wieder und begann auch die Bedeutung der Frisur zu erahnen. Wir fuhren im Kaufhaus nach oben, wo es beste heiße Schokolade zu trinken gibt. Ich nahm trotzdem einen Café crème. Unterwegs kamen wir an den Stätten zweier Episödchen vorbei, die ich mal in „Fischverkäufer wird Geheimagent“ beschrieben habe. Gott, war das lange her … Und das ist eine Phrase.
      Nachher machte er eine Führung mit mir. Alle diese Straßen und Plätze in Schöneberg kannte ich von früher, ich hatte die meiste Zeit in Berlin in der Nähe gewohnt. Auch ich war hier in vielen Nächten unterwegs gewesen. Er führte mich rasch zu immer neuen Geschäften, Bars, Cafés. Wir sahen meistens nur kurz hinein und an vielem gingen wir bloß draußen vorbei. Nur in zwei Buchhandlungen und in einem Café verweilten wir länger. Mir kamen diese Stunden mit ihm wie ein Akt der Desensibilisierung vor. Es war ja so: Ich hatte dieser Welt vor langer Zeit schon den Rücken gekehrt und mich seitdem je länger, je mehr vor einem erneuten Blick in sie hinein ein wenig gefürchtet. Würde es mich noch beunruhigen?
      Die Szene war breiter und vielfältiger geworden. Ich prüfte mich: Es war kein Neid, was ich empfand – ich gönnte es den Jüngeren von heute. Ich freute mich für sie und staunte über ihre Möglichkeiten, über die Ausstattung der Kneipen, die bunte Warenwelt der Läden. Wir gingen durch ein Geschäft, das Uniformen fast jeder Art anbot, darunter auch echte Polizeiuniformen. Wir lachten über das darüber angebrachte Schild: Verkauf zulässig nur an Polizisten und Schauspieler!
      Er hatte zum Schluss noch eine Überraschung für mich. Wir standen vor dem Eingang einer früheren Disco, meiner allerersten Stammkneipe. Damals war ich blutjung gewesen und hatte klingeln müssen und sie hatten mich zuerst nicht hineinlassen wollen … Jetzt stand die Tür schon am frühen Abend für jeden weit offen. Im Übrigen schien alles unverändert. Wir bogen um die Ecke und ich hatte den Tresen vor mir. Auf einmal griff meine Hand nach meiner Herzgegend. Die Brieftasche! Hier war sie mir damals gestohlen worden, dann hatte ich sie per Post geplündert zurückerhalten. Meine alte Brieftasche und ich, wir trieben uns noch immer herum, wir waren jetzt an diesen Ort zurückgekehrt …
      Die Szene verwandelte sich wie in jenen Träumen, in denen die Orte unserer Erinnerungen sich überlagern, ineinander fließen. Der Tresen erschien mir plötzlich verkürzt und wo die Tanzfläche gewesen war, begannen jetzt dunkle Höhlen. Mein Freund zog mich ein Stück hinein. Unheimlich, es war unheimlich. Nicht dass mir dunkle Räume wie diese Angst machen konnten – ich hatte sie erlebt und hinter mir gelassen. Unheimlich war vielmehr dieses Zusammenziehen aufeinander folgender Abschnitte des Lebens an einem einzigen Ort. Die Schauplätze unserer Geschichte verwandeln sich also nicht nur, sie haben ihr Eigenleben und folgen selbst verspätet unseren Vorlieben? Wieder kam mir das Wort von Hans Henny Jahnn in den Sinn: Wir sind nur die Schauplätze von Ereignissen. Und die Schauplätze verlagern sich eben, autonom sind allein die Ereignisse.
      Ich ging schnell auf die Straße. Der Barmann rief uns etwas hinterher, ironisch bedankte er sich für unseren kurzen Besuch.


Zehn Stunden durch Berlin


Von der Friedrichstraße kommt man mit der S-Bahn in vier Minuten zum Alex. Wir gingen stattdessen zu Fuß und machten den kleinen Umweg über Wedding, Prenzlauer Berg und Friedrichshain – und ließen uns Zeit.
      Ich sollte meinen Berliner Freund auf dem Bahnhof treffen und war eine Stunde zu früh. Diese Zeit nutzte ich, um … Ja, wenn jedermann sonst von Kranzler reden darf, kann ich auch einmal für ein Geschäft Reklame machen. Also, ich sah mir das Kulturkaufhaus Dussmann an der Friedrichstraße an. Wer mir im deutschen Sprachraum ein besseres Sortiment an Büchern nachweisen kann, möge es tun. Sie haben auch große Abteilungen für DVDs und CDs; der Keller ist eine Schatzkammer der Klassik. Gut für meine bescheidene Geldbörse, dass ich nicht in Berlin lebe.
      Nachher gingen wir gleich über die Spree. Mein Freund, geborener Berliner, erwies sich als ein noch größerer Berolina-Spezialist, als ich geglaubt hatte. Während er mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof dirigierte, wies er nonchalant auf Theater, Kneipen, Ministerien, Hauptquartiere von Parteien, Stiftungen und Lobbyverbänden hin. Oder er erzählte sehr amüsant von Bauskandalen. Jener Friedhof ist ja recht bekannt, es gibt größere und schönere, mit prächtigeren Grabmälern und herrlicher als Parkanlagen. Doch keiner kommt ihm in Deutschland in seiner exquisiten Belegung gleich. Soll ich anfangen, die schier endlose Liste herunterzubeten: Hegel und Fichte, Schinkel, Klenze und Rauch, Eisler und Heartfield, Brecht und die Weigel, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Hans Mayer, Herbert Marcuse und Heiner Müller, Günter Gaus … Ich breche ab und frage nur noch: Wussten Sie, dass auch Johannes Rau hier und nicht in Wuppertal oder Düsseldorf begraben liegt? Seltsam, er wollte das so.
      Vor uns links an der Chausseestraße grüßte von weitem eine Großbaustelle. Mein Freund schmunzelte verdrießlich – das kann er sehr gut – und zählte die Kräne: Mehr als damals am Potsdamer Platz! Ich riet falsch: Charité-Erweiterung? – Nee, nix mit Gesundheit oder Kultur. – Das Bauschild, noch nicht lesbar, kam mir ziemlich klein vor. - Ja, sagte er, am liebsten würden sie es ganz verstecken. Es wird die neue BND-Zentrale. – Müssen wir von diesem gigantischen Bauwerk an derart zentraler Stelle auf die Gefährdung unseres Gemeinwesens schließen? Dann stünde es wirklich schlimm um uns.
      Wir kamen an weiteren Friedhöfen vorbei, an einer alten Eisenbahnbrücke, deren Rostrot wunderbar vom dichten Lenzgrün der Bäume abstach – und nahmen an den Mauerresten der Bernauer Straße die neue Trambahnlinie zum Prenzlauer Berg. Dort angekommen, erzählte er mir so viel über die jüngere Geschichte des Stadtteils, seine Bewohner einst und jetzt, über Besetzung, Häuserkampf und Verdrängung, dass ich mich auf einmal selber elend fühlte: Wir sollten jetzt etwas essen gehen. Nach Bauernfrühstück stand uns der Sinn, doch versuchen Sie einmal, das heute am Prenzelberg zu bekommen … Wir klapperten vergeblich Szenecafés ab. Also, wenn Sie diese Gegenästhetik aus Sperrmüll und Vernachlässigung lieben, bei überhöhten Preisen, versteht sich, bitte sehr … Wir zwei gingen zum Schlachter am Eberswalder Platz und labten uns an Leberkäs und Hackbraten. Zum Ausgleich frequentierten – vornehmes Wort zu edlem Handwerk – frequentierten wir, sage ich, hinterher einen Konditormeister, der die phantasievollsten kleinen Kuchenkreationen feilbot, von denen Sie jemals gehört oder wahrscheinlich nie gehört haben.
      Der Prenzelberg hat so viele schöne breite Straßen mit stattlichen alten Häusern, in denen kaum einmal eine Lücke klafft. Wir wanderten durch viele von ihnen. Ich vermied es, auf die Uhr zu sehen. Auf einmal lag der Friedrichshain vor uns, mit seinen beiden Gipfeln aus Trümmerschutt, mit dem See und der Gastronomie an seinem Gestade – wir kehrten schon wieder ein und saßen danach am Märchenbrunnen. Da herzte und küsste sich ein ortstypisches Liebespaar, entschuldigen Sie, ist mir halt im Gedächtnis geblieben.
      Dann noch die Karl-Marx-Allee, was soll ich darüber sagen? Die Häuser sehen wie noble Wohnschlösser aus, beinahe wie an der Loire – und der Verkehr auf dieser Magistrale ist infernalisch. Wer kann da leben? Wir machten dicht am Alex noch einmal Rast, und zwar in einem neuen eleganten Kubus, mit roten Steinplatten verkleidet. Er heißt Alexa und ist ein Einkaufszentrum, das mit viel Geschmack und sehr viel Detailliebe entworfen wurde. Der Architekt ist Portugiese, und wirklich glaubte ich einen dezent maurischen Einfluss zu erkennen. Im Innern gibt es die üblichen Filialen für den Alltagsbedarf, kaum Extravagantes; umso mehr ist die Schönheit des Centers zu loben.
      Allmählich saß mir die Zeit im Nacken. Mein Hotel lag weit draußen und ich wollte dort nicht tief in der Nacht ankommen. So hetzten wir also zum S-Bahnhof Alexanderplatz und trennten uns an der Friedrichstraße. Wie viel mehr wäre noch anzuschauen, wie viel mehr an Meinung auszutauschen gewesen …


Berlin - Da hab ich mal gewohnt …


Nach Berlin habe ich mich mit neunzehn selbst verpflanzt. Erst dort bin ich geworden, was ich seither mehr oder weniger geblieben bin. Ich war jetzt neugierig auf die Häuser, in denen ich seinerzeit gelebt hatte. Zweierlei Vergleiche waren zu ziehen: die Gegenwart der Vergangenheit gegenüberzustellen und die Erinnerung an die Orte den Orten selbst.
      Ich habe zum Beispiel nicht mehr gewusst, wie prächtig die neobarocke Hausfassade meiner ersten Unterkunft an der Uhlandstraße aussieht. Nun, ich hatte da nur ein Zimmer im Hinterhaus, das natürlich Gartenhaus hieß – doch von Garten damals keine Spur. Ich weiß noch, dass ich vom Zimmerfenster gern durch eine Häuserlücke in die Fasanenstraße hineinsah. Dabei fiel mein Blick auf die rote Außenbeleuchtung einer Bar, die ich nie betreten habe. Ich ging jetzt um den Block und fand zwar die Bar nicht mehr, dafür einen schönen Garten in der Baulücke und mitten im Garten das heutige Literaturhaus. In Bulgakows „Der Meister und Margarita“ spielt ein solches Literatenhaus eine große Rolle, dieses hier scheint mir für eine Verfilmung des Stoffs bestens geeignet. Vielleicht haben auch sie eine gute Küche.
      Von der Charlottenburger Uhlandstraße bin ich an den Anfang der Keithstraße in Schöneberg gezogen, in ein Institut, das sich Boardinghaus nannte. Die Gebräuche dort muten heute seltsam an: In den winzigen Appartements gab es kein Telefon nach draußen. Wer zu sprechen gewünscht wurde, den rief die Concierge per Hausapparat an den großen in ihrer Loge. Und dann fasste man sich lieber kurz. Die Mieter oder vielmehr Gäste besaßen auch keinen Haustürschlüssel. Wenn ich um vier morgens aus den Bars nach Hause kam, musste ich klingeln. Oft hatte die Concierge selbst die ganze Nacht mit Freunden durchzecht und öffnete mir mit schrillem Lachen. Lachte sie über mich? Das Haus, obwohl erst in den Sechzigern gebaut, steht nicht mehr. Das erfüllt mich jetzt mit Befriedigung.
      Bleibe Nr. 3 war ein großes Zimmer im obersten Stock eines Gründerzeithauses nahe am Wilmersdorfer Ho-
henzollernplatz. Die großen Wohnungen waren fast alle aufgeteilt und jedes Zimmer mit eigener Kochecke ausgestattet, nur die Parterrewohnung komplett an eine große Familie vermietet. Von allen Berliner Vierteln, in denen ich mal untergekommen bin, gefällt mir dieses heute am besten. Es ist eine auf bequeme, unaufdringliche Weise noble Gegend. Am Haus stellte ich außen keine größeren Veränderungen fest. Doch vermute ich stark, dass keiner der damaligen Bewohner noch dort lebt. Und selbst wenn – jene stattlichen jungen Familiensöhne aus dem Erdgeschoss wären heute selbst alte Männer.
      Von Wilmersdorf bin ich dann nach Moabit gezogen, in meine erste richtige Wohnung. Allerdings hätte ich da gar nicht wohnen dürfen. Diese verzwickte Geschichte kursiert unter dem Titel „Drei Zimmer, Küche, Bad“ schon länger im Internet. Leider musste ich jetzt hören, dass jener, der mir die Wohnung damals überlassen hat, weder in Berlin noch überhaupt unter den Lebenden mehr weilt. Ich stand vor der frisch renovierten Fassade und wunderte mich: Das Haus war höher, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Gewöhnlich geht es uns doch umgekehrt.
      Dann meine letzte Berliner Wohnung, wieder in der Keithstraße, in einem damals neuen Haus, dicht am Landwehrkanal. Vier Jahre habe ich dort gewohnt, fast die Hälfte meiner Zeit in der Stadt. Bis auf eine leichte Aufhellung der Fassade erschien mir alles unverändert – als schrieben wir noch das Jahr 1976. Ich stand vor dem Hauseingang, genau da, wo uns damals, mich und meinen amerikanischen Freund, ein Unbekannter eines Morgens fotografiert hatte und dann rasch weggefahren war. Ich habe nie erfahren, wer es war und was er damit bezweckte. Auch diese Geschichte habe ich beschrieben: „Soldatenliebe“ heißt der Text.
      Ich mache mir jetzt klar, dass der Großteil meines Lebens sich schon in Literatur verwandelt hat oder sich noch laufend darin verwandelt. Texte bleiben übrig, wenigstens eine Weile, Texte und Zeichen.


Lasst uns ein Einkaufszentrum bauen


Wo Berliner einkaufen, jenseits von KaDeWe und Galeries Lafayette


Das ist schon lange nicht mehr so: Wenn drei Deutsche zusammenkommen, gründen sie einen Verein … Heute kann man stattdessen sagen: Wenn zehntausend Berliner beieinander wohnen, bekommen sie ein Einkaufszentrum. Ich kenne nur Teile der Stadt und bin doch schon in mindestens drei Dutzend solcher Paläste gewesen. Als ich früher mal gute Worte für das Alexa am Alexanderplatz einlegte, bekam ich einiges zu lesen: Wie kann man nur … Eine Zeitung schmähte neulich die Alexa als „architektonische Todsünde in Schweinchenrosa“, doch ich widerrufe nichts. Mit seinen einfalls- wie abwechslungsreich gut durchgestalteten Details überragt die Alexa die Masse dieser Kaufkraftstaubsauger turmhoch.
      Wenn Sie sich richtig gruseln wollen, dann besuchen Sie DAS SCHLOSS in Steglitz, schräg gegenüber vom Steglitzer Kreisel. Bei dieser Gelegenheit: Falls Sie Bedarf an einem leer gezogenen, asbestverseuchten Hochhaus haben – bitte sehr, es ist wohlfeil zu haben. Alles andere bekommen Sie im SCHLOSS. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus: Die Steglitzer, Lankwitzer und all die anderen bummeln durch dieses große Einkaufszentrum, als wäre es nicht eine einzige Absurdität. Da hat man in eine lange Reihe mediokrer Geschäftshäuser wahrhaftig ein Disneyland-Schloss hineingequetscht, ein Edel-Ramsch-Versailles mit imperialer Fassade und im Innern strotzend von neobarocken Scheußlichkeiten. Hier könnte ein Märchengruselfilm für Vier- bis Sechsjährige gedreht werden: Froschkönigs Rache.
      Das positive Gegenbeispiel sind die Tegeler „Hallen am Borsigturm“. Wo früher Dampflokomotiven hergestellt wurden, brummt jetzt das Geschäft in einem wunderbaren, Seele wie Geldbeutel weitenden großen Gehäuse. So schön können also technische Relikte und Zitate sein. Man sieht geradezu den Zusammenhang von Produktivität und Konsum. Hier ist nichts pseudoästhetisch, jedes Detail ist historisch und zugleich zeitgemäß funktional und höchst erfreulich für das Auge. Die ungewöhnlich großzügigen Dimensionen wirken Stress und Hektik entgegen. Wo so viel Platz ist, gibt es nicht das übliche Gedränge. Der große Hermann Tietz irrte, als er sagte: Die Ärsche müssen sich reiben (- damit es mit dem Umsatz klappt). Es geht auch anders.
      Zurück zur Steglitzer Schlossstraße. Dort haben sie noch zwei weitere Einkaufszentren, das SSC und das Forum Steglitz, am anderen Ende der Straße, vom SCHLOSS aus gesehen, und gleich nebeneinander. Beide rufen wehmütige Erinnerungen in mir wach. An der Stelle des einen befand sich vor Jahrzehnten das Kaufhaus Held, in dessen Imbiss der junge Abendschön sich mittags eine Zeitlang verköstigte, oft mit sämiger Erbsensuppe und fetter Wursteinlage, wozu ein Malzbier gereicht wurde. (Ich war noch sehr mager.) Die hübsche Mamsell hinter dem Büfett war eine lebhafte Schwarzhaarige, und ein boshafter Kollege unterstellte mir „’n Hang fürs Küchenpersonal“ …
      Später ging ich ins Forum Steglitz essen, die Erstgeburt unter den Steglitzer Einkaufszentren. Ich erkenne es nach seinem Umbau nicht wieder, im Innern schon gar nicht. Gewiss, man drängelt sich noch immer, aber in welch geschmackvollem Ambiente jetzt. Nein, so durchgestylt war es damals nicht. Ich suche die Retirade im Tiefgeschoss auf und beim Passieren eines Ganges fallen mir Fotos an der Wand auf: das Forum einst und jetzt. Da hängt ein Bild, betitelt: Rolltreppen im Forum Steglitz 1975. (Es waren übrigens keine Rolltreppen, sondern Laufbänder, die uns auf- und abwärts beförderten.) Ich schaue gebannt hin: Ob ich vielleicht auf dem Bild bin? Nein, in dieser Masse Mensch stecke ich zufällig nicht. Sie sehen alle aus, wie man sich DDR-Bürger zu Unrecht gern vorstellt: graue, uniforme Mäuse. Das Bild ist das einzige Schwarzweiß-Foto unter lauter farbigen. Hätte ich einen Kugelschreiber, würde ich daneben schreiben: Alles Lüge, so farblos waren wir gar nicht!
      Spandau hat die Arcaden und Marzahn das Eastgate, Lichtenberg das Allee Center und das Ring Center I, Ring Center II und Ring Center III. In der Wilmersdorfer ist eines wie am Potsdamer Platz und an jeder zweiten oder dritten Ecke noch eins. Oder es wird gerade gebaut oder geplant. Berlin wird immer mehr zu einer Milchstraße von Einkaufszentren …
      James Joyce ironisiert im „Ulysses“ die zivilisatorischen Tendenzen der Briten in den Kolonien, indem er ein bekanntes Bibelzitat verfremdet: „Hier ist gut sein. Lasst uns ein Wasserklosett bauen.“ In Berlin, vielleicht der Stadt mit der höchsten Centerdichte weltweit, denken sie heute: Hier ist gut sein. Lasst uns ein Einkaufszentrum bauen.


Tempo, Berlin!


Bei der Abreise gab es mal wieder ein Problem. Ich stand auf dem U-Bahnhof Lichtenberg, als eine Durchsage kam: Polizeieinsatz da und da, Strecke von … bis … gesperrt. Sekunden später setzte sich die Menge wartender Fahrgäste um mich herum in Bewegung, ohne zu murren, dafür sehr präzise in ihrem Vorwärtsdrängen. So ähnlich laufen Katastrophenschutzübungen ab. Sie eilten, sie rannten zur quer über dem U-Bahnhof liegenden S-Bahn-Station. Das Selbstverständliche der Massenaktion verblüffte mich. Es zeugte von jahre-, wenn nicht jahrzehntelangem Intensivtraining. Alle schienen das einer großen Schalttafel ähnelnde Schema der innerstädtischen Bahnverbindungen im Kopf präsent zu haben. So ähnlich, stelle ich mir vor, geht es im Netz auf den Datenautobahnen zu.
      Als ich genug gestaunt hatte, griff ich nach meinem Gepäck und folgte ihnen. Hallen, Gänge, Treppen – das Übliche, ich kannte das schon vom vielen Umsteigen. Von dreieinhalb Millionen Berlinern sind permanent einige Hunderttausend in den Bahnen unterwegs und einige Zehntausend wechseln gerade, von der U-Bahn in die S-Bahn, von dieser in die Straßenbahn oder in den Bus. Und umgekehrt. Oder in irgendeiner anderen denkbaren Relation. Und immer bei der Sache und in großer Eile. Wer zu spät kommt, den bestraft der Fahrplan.
      Das Frappierende an diesen Blitzaktionen ist das: Die geschäftige Eile, das ganze höchst zweckmäßige Funk-
tionieren, all die urbane Rationalität wickeln sich zumeist in historischen Kulissen ab. Es sind die Schauplätze von gestern und vorgestern. In ihnen spiegelt sich, was in der Kaiserzeit oder in der Weimarer Republik ästhetisch modern und modern funktional war. Menschenströme von heute ergießen sich in Kanäle, die ihren Vorfahren gemäß waren. Neulich las ich, bezogen auf die unvermeidlichen Verbindungskorridore, das hübsche Wort „Mäusegänge“. Davon hat es in der Tat etwas, zum Beispiel der lange Übergang zwischen zwei Linien im U-Bahnhof Stadtmitte. Wer sich dort auf die Wanderung von der U 6 zu U 2 macht, dem wird zu Beginn auf einer Tafel angezeigt, in wie viel Minuten drüben der nächste Zug geht. Und dementsprechend richten sie ihr Tempo ein.
      Mein Lieblingsübergang? An der Ringbahnstation Landsberger Allee von der Straßenbahn zur S-Bahn, am besten zur morgendlichen Stoßzeit. (Es ist eigentlich immer Rush hour.) Wer es zum ersten Mal mitmacht, für den ist es eine abenteuerliche Schnitzeljagd um so viele Ecken herum, mal hinauf und dann wieder hinunter … Am unangenehmsten ist mir das Konglomerat Friedrichstraße. Wie schaffen die das nur, traumwandlerisch die richtige Treppe und die richtige Ebene zu finden?
      An Hamburg gewöhnt, fielen mir zwei Unterschiede ins Auge. Zum einen: Die Fahrgäste in Berlin verhalten sich vorausschauender. Das ist wirklich mysteriös – sie haben ein Gefühl dafür, wann du in der von Studenten überfüllten S 7 zwischen Friedrichstraße und Zoo wahrscheinlich aussteigen wirst, und rücken zum richtigen Zeitpunkt gerade so viel zur Seite, dass du durchschlüpfen kannst. Es ist unheimlich. Zum andern: Die Türen öffnen sich drei Sekunden früher als in Hamburg. An der Elbe Auen muss die S-Bahn erst halten, damit du mit Erfolg den Knopf zum Öffnen betätigen kannst. In Berlin läuft es synchron, das Einfahren in den Bahnhof und das Aktivieren der magischen Taste. Der Zug hält und im gleichen Moment öffnet sich schon die Tür.
      Jeder zweite Berliner lebt in einem Haushalt ohne Auto. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist in Berlin dreimal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Die Folgen sind an der Ökobilanz ablesbar. Keine andere Stadt in Mitteleuropa hat ein so dichtes Netz öffentlicher Verkehrsmittel, auf dem in so rascher Folge Fahrzeuge rollen. Und die Kehrseite: hoher Verschleiß und häufige Reparaturen. Schienenersatzverkehr, ein Wortungetüm für einen widrigen Sachverhalt.
      Schlaglicht auf den Rest. Die Berliner Straßen sind im Allgemeinen überbreit, superbreit. Merkwürdigerweise sind sie in den klassischen Arbeitervierteln am breitesten. Mich beschleicht der Verdacht, dafür könnten auch militärische Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Zum Beispiel die Osloer Straße im Wedding – sie ist absurd breit. War das die Überlegung: Wie kommen möglichst viele Kompanien möglichst schnell hinein, um einen Aufstand niederzuschlagen? Und dann benötigen sie auch ein Schussfeld …
      Diese überbreiten Straßen sind eine Herausforderung für den Fußgänger – wenn er sie nämlich überqueren will. Survival of the fittest … Nur die Fittesten schaffen es in einer Grünphase hinüber. Der Mittelstreifen nötigt die anderen zum Zwangsaufenthalt. Selbst in einer Art Pensionopolis lebend, erscheint mir dieses Training inzwischen in einem anderen Licht. Die Gemächlichkeit unserer kleinen Kurstadt kommt mir allmählich verdächtig vor, einschläfernd, unmerklich lähmend.
      Berlin spielt – ist METROPOLIS, mehr denn je, heute erst recht.

 

 

Arm und alt im Wedding

 

Die Filiale der Großbäckerei verkauft Brötchen für sieben Cent das Stück, in anderen Stadtteilen verlangt dieselbe Firma dafür zehn - man richtet sich nach der Kundschaft. Durch die Schaufensterscheibe sehe ich mir den Menschenstrom draußen auf der Müllerstraße an, während ich mein Stück Kuchen verzehre. Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben - hat Marie Antoinette das wirklich mal gesagt?

Mein Blick fällt auf die gegenüberliegende hohe und fensterlose Giebelwand. Da wirbt ein Elektronikkonzern für seine nächstgelegenen Filialen. Eine ist am Alexander Platz, zwei Wörter, kein Bindestrich und Platz eine Zeile tiefer mittig. Hübscher Eigenname, denke ich, und stelle mir die Reklamewand als Grabstein vor: Hier ruht ALEXANDER PLATZ …

Rechtschreibung und Zeichensetzung gehören für den Großteil der Kundschaft hier vermutlich zu den weniger bedeutenden Angelegenheiten. Zum Beispiel für die alte Frau, die jetzt an der Reihe ist - ihre Erscheinung entspricht allen gängigen Vorstellungen: rüstig, sauber, ordentlich - und eben ärmlich. Sie möchte wieder, sagt sie, einen Pfannkuchen vom Vortag für dreißig Cent. (Für die Auswärtigen: Gemeint ist das anderswo als Berliner  bekannte Schmalzgebäck.) – Haben wir heute nicht, nur frische. – Was kostet einer? – Sechzig. – Sechzehn? – Nee, sechzig. – Zu teuer. – Sie gehen gemeinsam das Angebot durch, dann erwirbt die Alte einen Kameruner vom Vortag für dreißig Cent. Sie scheint zufrieden, sie hat ihr Budget nicht überzogen und verstaut jetzt Wechselgeld und Kuchenpaketchen. Sie übertreibt es damit nicht, macht kein Getue und flüchtet sich nicht in unpassende Würde. Arm ist sie halt und weiter nüscht. Sie hat meine Sympathie, auch wenn sie davon gar nichts hat.

Einige Tage später im 247er Bus … Es ist schon dunkel, ich will vom Gesundbrunnen zum Leopoldplatz. Der Bus hat beträchtliche Verspätung und als er kommt, quetschen sich vier Elternteile mit vier Kinderwagen in den Mittelbereich. Soll das was fürs Guinness-Buch werden? Wir anderen Zugestiegenen stauen uns im Gang davor, während weiter hinten noch acht, neun Sitzplätze frei sind – kein Durchkommen. Erst an der Reinickendorfer Straße habe ich so viel Luft angehalten und mich so dünn gemacht, dass ich wie ein Schemen durch einen kleinen Spalt passe und backbords auf einen Gangplatz sinken kann.

Mein Nachbar am Fenster hält mir im Nu seine Pfote hin, begrüßt mich mit Handschlag. Aber wir kennen uns doch gar nicht? Er ist Anfang sechzig, sehr hager und nicht gerade overdressed. Nein, wir kennen uns wirklich nicht, aber er will mich gern kennenlernen und stellt mir rasch hintereinander seine Fragen: Wo willste denn hin? – Zum Leo. – Sind da Lebensmittel drin? (Er deutet auf meinen Stoffbeutel.) – Nee, nur Seifenartikel. – Und wo wohnste? – Englisches Viertel. (Meine Stimme klingt ein bisschen unsicher, das ist nämlich die bessere Gegend im Wedding.) – Haste `ne Frau? – Nee, hab ich nicht. – Biste Berliner? – Ach, ich hab immer mal wieder hier gewohnt. – Haste Geld? – Na ja, was man so dabei hat, ein paar Münzen halt … - Haste `ne Frau? – Nee, aber das haste schon mal gefragt. – Bald reicht es mir und ich sage ihm: Keine Lust mehr auf deine Fragen hier im Bus. Damit bin ich für ihn erledigt, ich muss ihn vorbeilassen, er steht den Rest der Strecke lieber.

Am Leopoldplatz steigt er vor mir aus. Er spricht draußen schnell die erstbeste junge Frau an, die auf der Bank im Wartehäuschen sitzt. Was er sagt, ist nicht zu verstehen, ihre Antwort auch nicht. Sie schüttelt energisch den Kopf – bei ihr ist nichts zu machen, bedeutet das. Und er hastet sofort weiter, erwischt noch das Grün an der Müllerstraße, verschwindet schon im Geschiebe Ecke Luxemburger, ein Hektiker ohne viel Hoffnung, den nur noch die Gewohnheit zusammenhält. Weiter, weiter, es muss doch noch was zu machen sein, im Leben noch irgendwas zu machen sein …

 

 

 Berliner Schlüsselerlebnis

 

Der Bus 128 in Berlin verbindet den Flughafen Tegel mit drei von Nord nach Süd verlaufenden U-Bahnstrecken. So ist er einmal wichtiges Transportmittel für Fluggäste, zum anderen normale Stadtbuslinie quer durch ausgedehnte Wohnviertel des Nordens. Das ergibt eine recht bunte Mischung des fahrenden Publikums. Die gerade erst gelandeten Passagiere zeichnen sich häufig durch sehr gehobene Stimmung aus, während in der Gegenrichtung den Abreisenden oft die Sorge ins Gesicht geschrieben steht, ob sie noch rechtzeitig zum Abflug kommen. Unter die Euphorisierten wie unter die gestressten Pressierten mischt sich jeweils die Berliner Normalbevölkerung, unaufgeregt alltäglichen Dingen nachgehend. Und dann gibt es unter den Einheimischen noch gewisse Exoten …
      Heute sitzt da ein dicker Mann mittleren Alters gleich neben der Eingangstür, allen Einsteigenden den Durchgang mit mächtig vorgestrecktem Knie halb versperrend, in sehr angeregtem Gespräch mit dem Busfahrer, auf den er heftig gestikulierend lautstark einredet. Hat man das Hindernis umgangen und weiter hinten Platz genommen, stellt man verwundert fest: Der Fahrer fährt nur, gibt nie Antwort, beachtet die geräuschvolle Suada gar nicht. Den Dicken stört das nicht im Mindesten, er palavert immer weiter. Er verkörpert den Typ Alleinunterhalter im höchsten, reinsten Grade - indem er fortgesetzt trompetet, unterhält er nur sich selbst. Was er erregt und dabei stark nuschelnd vorzubringen hat, versteht man hinter ihm nicht. Und es erregt bei den Mitfahrenden auch weiter kein Interesse.
      Ein hübscher Kontrast: Gleich hinter dem Dicken sitzt ein Tourist mit Koffer neben sich und einem Faltblatt in der Hand, das man ihm am Flughafen gegeben hat: das metropolitane Schnellbahnnetz. Der Mann ist in den Dreißigern, gut, doch nicht auffallend gekleidet, dem Anschein nach ein gehobener Mittelschichtler, deutlich dem mediterranen Typ angehörend. Er kann aus Mailand oder Barcelona sein. Oder aus Buenos Aires. Er schaut ruhig durchs Fenster, sieht die Straßen, die Wohnblocks, das viele Grün vorbeiziehen.
      Jetzt sind wir da, wo alles nach Schweizer Orten benannt ist, und zwar nach berühmten: Aroser Allee, Vierwaldstätter Weg, Grindelwaldweg … Die Haltestelle Brienzer Straße naht, und der Dicke erhebt sich, einen noch halb gefüllten Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Er schwankt zum Ausgang, kehrt noch mal um und steigt doch vorn aus. Als er sich durch die Hineindrängenden schiebt, hat er auf einmal den Becher zwischen den Lippen. So trägt er ihn, wie ein Hund einen Stock oder die Zeitung, zwei Meter weiter, auf die Grünfläche gleich an der Haltestelle zu, schon vorne an sich nestelnd. Dann fällt die Hose, rutscht fast bis zu den Knien. Von einem Slip ist nichts zu sehen, nur viel nackte, weiße Haut. Er füllt nun, seine Blase erleichternd, genau das Blickfeld des fremden Südländers aus, halb Manneken Pis, halb Kröver Nacktarsch.
      Sehn Se, dit is Berlin … Und keiner verliert die Ruhe.

 

 

Dame mit Fuchs

 

Vom Eise befreit ist im Botanischen Garten nur der Hauptweg vom Eingang zu den Pflanzenschauhäusern. Unter bleigrauem Mittagshimmel führt er leicht ansteigend durch eine karge, erstarrte Winterlandschaft mit wenig Schnee, zugefrorenen Wasserflächen, kahlem Geäst und schweigendem Immergrün zu den Glaskuppeln und –dächern auf der Höhe des Gartens. Und der visuelle Höhepunkt dort und des Tages überhaupt ist die Halle mit den Kamelien: rot, rosa, weiß, zweifarbig: rotweiß, rosaweiß. Es ist ein ganzer Kamelienblütenwald, mitten im Januar, mit Bordüren von Zwergrhododendren, die zeitgleich in denselben Farben erglühen.

Die Schauhäuser schließen im Winter früh, noch vor der Dämmerung. Aber jetzt ist keine blaue, nur eine tiefgraue Stunde. Abwärts führt der fast menschenleere Weg, vereist und nicht zu empfehlen die Seitenwege. Doch auf einem von ihnen wandelt allein vorsichtig, umsichtig eine Frau in mittleren Jahren, blickt vor sich, blickt um sich. Kurz vor Erreichen der Hauptpromenade macht sie kehrt. Scheut sie den letzten glatten Abstieg?

Überrascht bemerkt man, die Dame ist nicht allein unterwegs. Ein Wesen auf vier Beinen folgt ihr von der nahen Wiese, nimmt ihre Spur auf. Was sich da ganz wie ein Hund zu verhalten scheint, der ausgeführt wird, ist allerdings ein Fuchs, kenntlich am buschigen Schweif und dem typischen Schnüren. Dann geht es rasch, ist offenbar eingeübt. Die Dame entzieht sich den Blicken in einer Art Boskettlaube, das Tier verschwindet in dem sie umgebenden Gebüsch – und kehrt nach einer halben Minute zurück. Es trägt jetzt einen großen, fuchsmundgerechten Bissen im Maul und strebt mit dem Riesenhappen dem nächsten Wäldchen zu. Die Dame wird nicht mehr gesehen, es gibt so viele Wege dort, vereist oder nicht.

Früher, als Adenauer noch Kanzler war, legten Damen sich gern einen präparierten Fuchs als losen Kragen um den schönen Hals. Heute füttern sie Vulpes vulpes in öffentlichen Gärten. Sieht so zivilisatorischer Fortschritt aus? Das wird man ja noch fragen dürfen.

 

 

Es fährt kein Bus nach Rahnsdorf

 

Sie ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Ich stehe am Bahnhof Karlshorst und warte auf den Bus 296 nach Friedrichsfelde, da spricht mich die Fremde an: „Geht hier der Bus nach Rahnsdorf?“ – „Nach Rahnsdorf?“ frage ich entgeistert zurück. „Dahin kommen Sie von hier nur mit der S-Bahn.“ Und deute auf den Bahnhofseingang hinter uns. Aber sie macht keinen Gebrauch von meiner Auskunft und ihre Miene ist so unbefriedigt, dass ich mich gleich abwende. Soll sie sehen, wie sie weiterkommt … Klar, ich hätte es besser erklären können. Berliner gelten als kurz angebunden, machen sich damit unbeliebt? Nun, ich selbst bin hier weder geboren noch aufgewachsen, darf also ruhig schnippisch sein …

Jetzt kommen die richtigen Berliner zum Zug. Die Unbekannte steuert schon den nächsten Passanten an, Auskunft heischend. Wo findet sie den Bus nach Rahnsdorf? Kopfschütteln als Antwort und danach einige Sätze – er ist geduldiger als ich, hat aber ebenso wenig Erfolg: Statt im Bahnhof zu verschwinden, wechselt sie nun die Straßenseite und geht auf ein Taxi zu. Damit scheint das Problem einer Lösung nahe …

Sie steigt ein, doch das Taxi fährt nicht los. Stattdessen greift der Fahrer nach einem Stadtplan und beginnt mit langen Erklärungen. Drei, vier Minuten geht das so, er weist mit der Rechten wiederholt auf das Bahnhofsgebäude und sie steigt endlich aus, überquert die Straße erneut und betritt tatsächlich die obskure Station. Gute Reise nach Rahnsdorf …

Ach, sie ist schon wieder an der Haltestelle. Nun darf eine Dame sich ihr widmen. Sie bereden es ausführlich, von Frau zu Frau, ohne dass ich viel verstehe. Die Dame kann ihr auch bloß sagen: „Es fährt kein Bus nach Rahnsdorf – aber die S-Bahn, nur fünf Stationen!“ Diesmal müsste sie der Auskunft doch Glauben schenken. Tatsächlich bleibt sie drinnen, während mein Bus an der Ecke auf Grün wartet, um von der Treskowallee abbiegen zu können …

Na ja, als ich aus dem fahrenden Bus kurz zurückblicke, kommt sie gerade wieder aus dem Bahnhof. Seitdem muss ich viel an sie denken, um Einfühlung bemüht. Tatsächlich, es gibt so viele Gründe, auf dem Bus zu bestehen und die Bahn samt Ticketautomaten und hoher Treppe hinauf zu meiden. Man steigt einfach vorne ein und da ist gleich einer, den man fragen kann: Sie fahren doch nach Rahnsdorf? Er nennt den Fahrpreis, nimmt das Geld und sie bekommt dafür den Schein. Dann sitzt sie gleich hinter ihm, fragt zwischendurch, ob es noch weit ist, und am Ziel würde er sie vorn aussteigen lassen – falls es überhaupt einen Bus von Karlshorst nach Rahnsdorf gäbe.

 

 

Berlin 2018: Betteln extrem

 

In diesen Januartagen ist es in Berlin entweder trocken-kalt oder nass-kalt. Die Temperaturen pendeln meist um den Gefrierpunkt. Umso mehr fällt in der U 6 jetzt ein hochsommerlich gekleideter junger Mann auf. Er trägt kurze Shorts – die Knie nackt – und ein T-Shirt, dessen rechte Hälfte er über die Schulter hochgezogen hat. So präsentiert er seinen von massiven Brandverletzungen entstellten Rücken und den entmuskelten Stummel seines rechten Armes. Die Gliedmaße ist oberhalb des Ellenbogengelenks amputiert – der junge Orientale, Syrer oder Iraker vermutlich, könnte das Opfer einer Bombenexplosion sein.

Obwohl hochgewachsen, geht er gebückt  und schlurfend durch die ganze U-Bahn, fortwährend bettelnd. Die neueren durchgehenden Züge erleichtern ihm das Vorankommen. Bei den älteren Wagen hat er Mühe, auf den Stationen rechtzeitig von einem in den anderen umzusteigen. Wenn es in der Stoßzeit schnell gehen muss und viele Fahrgäste gleichzeitig aus- oder einsteigen, läuft er Gefahr, als Letzter in der sich schließenden Tür eingeklemmt zu werden.

Er spricht keinen an, man weiß nicht, welche Sprache er spricht. Er weist nur kurz seinen Armstummel und die massiven, flächendeckenden Narben am Rücken vor. Obwohl er mit den Mitteln des Schocks arbeitet, scheint ihm nicht öfter gegeben zu werden als dem durchschnittlichen Bettler. Sein Anblick ist allzu schockierend. Wer ihn angesehen hat, wird ihn gerade deshalb nicht vergessen, wird noch lange grübeln – über eine Welt aus den Fugen. Was tun angesichts dieses Elends, das uns buchstäblich auf den Leib gerückt ist?

 

 

Gut vernetzt

 

Eine U-Bahn-Endstation im Norden von Berlin. Im Minutentakt karren Busse Menschenmassen aus der nahen Großsiedlung heran. Der leere Zug läuft ein. Die Menge verteilt sich in die Wagen. Mir gegenüber setzt sogleich eine durchdringende, alles überlagernde Jünglingsstimme ein. Aha, er muss jetzt telefonieren, ein Grundbedürfnis, unabweisbar. Ich mustere ihn kurz. Er ist der typische Berliner Jungmann, und ich frage mich wieder einmal, woher die Kraft für die laute Stimme kommt, für dieses Krähen und Bellen. Er ist nur mittelgroß, dünn, dabei eher eckig als schlaksig und im Profil schon ein bisschen schartig.
      Bis zur zweiten Station sind wir anderen über seine Lage weitgehend aufgeklärt. Er spricht mit einem Freund, seit langem erstmals wieder. Er sagt: „Ich bin ja krankgeschrieben, seit dreizehn Monaten schon, also im vierzehnten, hehe, lach nicht …“ – „Ah, interessant“, sage ich dazu, es fährt mir halblaut eben so heraus. Aber er bekommt es nicht mit, er muss eine Vermutung des anderen zurückweisen: „Nee, nee, die Krankenkasse zahlt ganz ordentlich!“ – Dazu ich, schon deutlich lauter: „Na, dann ist ja alles in Ordnung.“ Auch jetzt keine Reaktion – mit mir spricht er nicht.
      Bald darauf klingelt es bei ihm. „Oh, man ruft mich an“, sagt er zum Freund, es klingt freudig erregt. Er legt sein Smartphone Nr. 1 auf den freien Platz neben sich und hält das Zweitgerät ans Ohr. Es folgt ein kurzes Gespräch, in dem es um die Lieferung eines bestellten Gegenstandes geht.
      Dann wird der unterbrochene Dialog mit dem Freund fortgesetzt. Er erklärt, dass es gerade um den Liefertermin für sein Drittgerät ging, als Ersatz für ein defektes. Und dann folgt eine umständliche Beschreibung von Lieferproblemen, falschen Sendungen, verpatzten Terminen und immer so fort in großer Ausführlichkeit. Außer ihn selbst interessiert das keinen, am wenigsten den Gesprächspartner, der gar nicht mehr zu Wort kommt.
      An der sechsten Haltestelle stehe ich auf, gehe zur Tür. Die amüsante Nervensäge redet immer noch ins Erstgerät, das Zweitgerät empfangsbereit neben sich, und redet und redet vom defekten Drittgerät, das jetzt hoffentlich bald durch ein funktionstüchtiges viertes ersetzt wird … Lebt er so alle Tage, frage ich mich, während mich die Rolltreppe hinauffährt.
      Oben zur Linken der Park mit den hohen Bäumen, zwischen denen ein See glitzert. In die Idylle hinein ruft ein junger Mann, dünn, mittelgroß, eher eckig als schlaksig und mit schartigem Profil: „He, Alter …“ (Er meint doch nicht etwa mich?) „He, Alter“, schreit er, „was glaubst du denn – hier wohnen doch nur Assis!“ Er lacht dazu und in diesem Moment überdeckt der Lärm einer abfliegenden Maschine alles am Boden. Ach ja, wieder Ostwind heute, also Schlechtwetter östlich von Tegel – und startende Vögel sind noch lauter als landende. Arm die Stadt, denke ich, ja, aber nicht sexy. Nicht gut so.

 

 

Die Pyramide von Garzau

 

Berlin hat neben anderen Vorzügen noch den einer weiträumigen, intensiv grünen und sehr erholsamen Umgebung. Wie schön es da draußen in Brandenburg ist, wissen die meisten Berlinbesucher gewöhnlich nicht. Wissen es denn die Berliner? Daran zweifle ich, nachdem ich mich zwei Wochen lang zu Fuß dort umgesehen habe. Es war fast immer und fast überall ziemlich leer. Ich wohnte am Nordostrand der Stadt und fuhr vormittags hinaus nach Osten oder Norden und am späten Nachmittag wieder zurück. In diese Richtungen liegen die meisten Seen, die dichtesten Wälder, die eindrucksvollsten Schutzgebiete. Mag sein, dass die Stadt zu groß ist, um sie mal eben für einen Halb- oder Ganztagesausflug zu durchqueren. Die meisten Berliner wohnen in den westlichen Bezirken. Und vielleicht verspürt so mancher Ältere von ihnen noch immer eine Hemmung, das ehemals ummauerte West-Berlin zu verlassen …

Draußen kann man manches entdecken: alte Dörfer und Städtchen mit viel Atmosphäre, mit gotischen Kirchen und feudalen Schlössern. Im kleinen Garzau – 25 km östlich der Stadtgrenze, nächste Bahnstation: Rehfelde – gibt es sogar eine Pyramide. Ich las die lakonische Aufschrift auf dem kleinen Wegweiser und folgte ihm … und kam in einen alten Landschaftspark. Da war nur noch wenig Park, er hatte sich mehr oder weniger in die weite Landschaft verloren. Mittendrin ein vor Zeiten aufgeschütteter steiler Hügel, bekrönt von einer wirklichen Pyramide, recht exotisch wirkend.  

Das Gut Garzau gehörte im späten 18. Jahrhundert einem Grafen von Schmettau. Er war preußischer Offizier, Militärschriftsteller und Kartograph. Er hat jenen Park anlegen, den Hügel aufschütten und die Pyramide bauen lassen - sie sollte seine Begräbnisstätte werden. Daraus wurde nichts. Schmettau verkaufte Garzau kurz nach 1800. Er selbst starb 1806 an einer Kriegsverletzung (Schlacht von Auerstedt) und liegt in Weimar begraben. Die neuen Eigentümer von Garzau hatten keine Verwendung für sein Monument, es verfiel rasch. Das von Langhans (Brandenburger Tor) entworfene Portal wurde nach Strausberg verkauft und ziert dort noch heute die Marienkirche.

Fast zweihundert Jahre nach Schmettaus Tod ging man in Garzau an die Rekonstruktion der Pyramide. Jetzt ist sie fertig und sieht wie neu aus - ist sie ja beinahe auch. Das Portal eine Kopie des Originals in Strausberg, das Innere gemauerter Backstein, das Äußere behauene Feldsteine. Und es führen wieder Rampen und Treppen außen um sie herum bis zu der überdachten Aussichtsplattform auf ihrer Spitze. Nur: Diese Rampen und Treppen haben wie früher keine Geländer. Ich verspürte sogleich Lust zum Aufsteigen und Furcht vor einem Absturz. Ein auf dem Boden der ersten Rampe aufgebrachtes Piktogramm verbietet einem das Betreten. Der Förderverein Pyramide und Schlosspark Garzau e.V. dazu auf seiner Homepage: „Auf Grund der heutigen gesetzlichen Bestimmungen ist ein Betreten und Besteigen der Pyramide verboten … Der Verein arbeitet an einer Lösung, die es erlaubt, zu besonderen Anlässen und mit Führung die Pyramide zu besteigen.“ Ein schweres, hoffentlich nicht unlösbares Problem.

Also blieb ich unten, saß auf einer der vielen leeren Bänke – außer mir war keiner im Park - und aß Mitgebrachtes. Und stellte mir den Verlauf eines Schulausflugs hierher vor. Hier müsste sich im Wettstreit zwischen Kletterlust und Folgsamkeit erweisen, wie stark die Autorität des Lehrers wirklich ist … Dann ging ich weiter auf die Märkische Schweiz zu, nach Waldsieversdorf, wo sie gerade ein John Heartfield-Museum in dessen altem Sommerhaus eröffnet haben, und nach Buckow mit seinem Brecht-Weigel-Haus. 

 

 

Grabmal für einen Eisenbahnkönigssohn

 

Wer in Berlin auf dem Städtischen Friedhof Reinickendorf spazieren geht, kann eine kunsthistorische Entdeckung machen. Kommt er zum Beispiel von Süden, vom Eingang an der Gotthardstraße, und folgt einer der nordwärts führenden Alleen, dann erblickt er nach einiger Zeit einen nach links abzweigenden Pfad, der an einer offenen Pfeilerhalle aus roten Klinkern endet. Der Besucher nähert sich und findet in ihrem Innern ein neobarockes Grabmal von großer Wirkung vor, merkwürdigerweise jedoch keinerlei Hinweise auf einen Toten oder den Künstler. Dabei handelt es sich bei dem Bronzeguss um ein Werk des großen Reinhold Begas (1831 – 1911), des führenden Bildhauers in wilhelminischer Zeit. (Zumindest sein Neptunbrunnen nahe Rotem Rathaus und Fernsehturm dürfte allgemein bekannt sein.)

Der dargestellte Tote liegt lang ausgestreckt auf seinem Sarkophag. Am Fußende machen sich zwei Putti mit Kränzen zu schaffen. Eine junge Frau – es ist die Gattin des Verblichenen – steht leicht vorgeneigt neben ihm, hält mit der Linken sein Haupt und mit der Rechten seine rechte Hand. Der Tote ist ein noch sehr junger Mann. Es war Arthur Strousberg (1850 – 1873), Sohn des Großindustriellen und Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg (1832 – 1884). Seine Überreste liegen heute im Mausoleum der Familie Strousberg auf dem Schöneberger Alten St. Matthäus-Kirchhof.

Strousberg junior war damals an Lungentuberkulose gestorben und sein vermögender Vater hatte das aufwändige Grabmal beim schon bekannten Begas in Auftrag gegeben. Bevor das Modell fertig war, war Strousberg insolvent. Das fertige Werk verblieb beim Künstler und wurde nach dessen Tod von der Stadt Berlin aus dem Nachlass erworben. Seit 1913 steht es auf dem Reinickendorfer Friedhof und erhielt 1928 die offene Halle, es war nun als Gefallenendenkmal gedacht. In jüngerer Zeit hat das beeindruckende Grabmal wiederholt im Schrifttum über Begas und über die Grabkultur allgemein sowie auch auf Ausstellungen die ihm gebührende Beachtung gefunden.

Jüngst hat ein Witzbold Arthur Strousberg eine unangerauchte Zigarette zwischen die Finger der rechten Totenhand gesteckt. Und, merkwürdig, dieser Akt frechen Mutterwitzes vermindert die pathetische Wirkung nicht, er erhöht sie eher noch.   

 

 

Großstadt der Toten - Der Südwestkirchhof Stahnsdorf

 

Nein, romantisch ist er nicht. Da sind einfach zu viele Motive wie von Caspar David Friedrich oder Böcklin. Der Südwestkirchhof, das sind gleich Zigtausende von verfallenen Gräbern - es ist auf eine großartige Weise deprimierend. Man kann sich dem auf stundenlangen Spaziergängen aussetzen …

Der Name täuscht. Das ist kein Kirchhof, also kein überschaubarer Ort für Gräber rund um eine Kirche, vielmehr der flächenmäßig zweitgrößte deutsche Friedhof mit den Gebeinen von mehr als Hunderttausend Bestatteten. 1909 als moderner Park- und Waldfriedhof eröffnet, hatte er seine große Zeit etwa von 1920 – 1945. In der Weimarer Republik wie in der Hitlerzeit war er bevorzugter Ort für Bestattungen Prominenter. Der Stummfilmregisseur Murnau (gest. 1931) sei stellvertretend genannt. Beliebt war der Südwestkirchhof auch bei breiten bürgerlichen Schichten. Er hatte seit 1913 eine eigene Bahnverbindung nach Berlin. In den späten Dreißigern bekam er starken Zuwachs – die Nazis schlossen, um Berlin in „Germania“ umbauen zu können, eine Reihe von Friedhöfen in Schöneberg. Dabei erfolgten ca. 15.000 Umbettungen, oft mit den alten Grabmonumenten. So liegen seitdem z.B. die sterblichen Reste des Verlegers Gustav Langenscheidt in Stahnsdorf.

Der Friedhof war für die Bevölkerung der westlichen und südwestlichen Stadtteile und Vororte angelegt worden, doch nicht auf Berliner Territorium, sondern auf dem der späteren DDR. Daraus resultierte nach 1945 ein starker Rückgang der Bestattungen. Die West-Berliner brauchten bald, um die Gräber ihrer Toten besuchen zu können, Passierscheine. Ab 1961 wurde in Stahnsdorf nur noch ausnahmsweise beerdigt. Gleichzeitig verfiel die Masse der Grabanlagen, überwuchert von der märkischen Vegetation. Heute erinnert das ein wenig an die Überreste der Khmertempel im tropischen Urwald. Zwar hat das Bestattungswesen in jüngerer Zeit wieder einen Aufschwung genommen, Stahnsdorf ist ein wenig in Mode gekommen - doch erscheint es aussichtslos, die Nekropole angesichts ihrer Größe und der schieren Zahl vorhandener, außer Kontrolle geratener Grabstätten jemals wieder in einen normalen Friedhof zurückverwandeln zu können.

Schlendert man über die Wege und zwischen den Gräbern umher, fällt einem auf, wie geschmackvoll die meisten Grabmäler wirken. Abgesehen von manchen älteren, hierher verlagerten Anlagen findet sich wenig Protziges. Das meiste zeugt noch von relativem Wohlstand, war einmal solide, gediegen. Nur ist jetzt fast alles durchweg verfallen. Man staunt über die vielen Abstufungen dieses Verfalls, von leichten Beschädigungen über stark Ruinöses bis zur weitgehenden oder völligen Auflösung. Gelegentlich ist man versucht, die Besichtigung abzubrechen, zu stark sind manche Eindrücke …

Im Block „Reformation“ finden wir das Epitaph eines 1943 bei einem Bombenangriff getöteten Reichsbankrats, die Gebeine neben denen seiner Schwiegermutter, verstorben 1948. Die Witwe bzw. Tochter, wohl Besorgerin der Bestattungen, hat vorsorglich auch von sich Namen und Geburtsjahr auf der Tafel einmeißeln lassen, ist dort jedoch nie beerdigt worden – im Tode unvereint. Und der gut erhaltene Grabstein des Bankrats steht heute schief, Baumwurzeln haben ihn um 30 Grad über die Waagerechte angehoben. Das stört hier keinen … Woanders ein Kadett aus adliger Familie, Anfang 1918 mit sechzehn gestorben – gefallen? Schmal und hoch seine helle Grabstele, nach bald hundert Jahren noch lotrecht und in jeder Beziehung untadelig, und das in stark verwüsteter Umgebung. Man kann es als Sinnbild des Militärischen auffassen - und von dessen Sinnlosigkeit.  

Viel, allzu viel Natur zwischen und über den Gräbern. Doch diese Natur wirkt nicht natürlich. Es bleibt der Eindruck von gescheiterter Zivilisation, von einer Totengroßstadt, deren Entwicklung auf ihrem Höhepunkt abbrach. Die Verwaltung des Friedhofs müht sich, der gelegentlich den Friedhof heimsuchenden Wildschweinrotten Herr zu werden. Es werden auf ihm Ansitzdrückjagden veranstaltet.

Der Südwestkirchhof vermittelt insgesamt das Bild eines materiell und kulturell hoch entwickelten Bürgertums, dessen Projekt eines modernen Großstadtfriedhofs in der Sackgasse einer gesellschaftlich-politischen Krise scheiterte. Ist das auch ein Sinnbild,  vielleicht von absoluter Nichtigkeit unserer materiellen, ästhetischen und geistigen Kultur? Kommt man an einzelnen „normalen“ Grabfeldern aus jüngerer Zeit vorüber – auch die gibt es hier –, kann man sie bald als eigentümlich deplaciert und unwahrhaftig empfinden. Die wahre Vergänglichkeit, ungeschmückt, ungeschminkt, ungetröstet, denkt man, sieht aus wie der Verfall dieser anderen endlosen Gräberreihen.

 

 

Gerammt

 

Juli 2012, Berlin-Wedding, Müller-/Ecke Seestraße. Auf dem Gehweg ist es gerade besonders voll, eben ist eine U-Bahn von Süden gekommen, hat einen Teil ihrer Fracht über die Steintreppe hinauf an die Oberfläche entlassen: „ … knüppeldick voll Menschen, die haben alle was zu tun.“ So steht es in Döblins Berlin Alexanderplatz, und so ähnlich geht es hier noch immer zu.

Unter den Menschen ist ein junger, um die zwanzig, sehr groß, nicht übel aussehend, könnte zum Beispiel Student sein. Sobald er die Treppe hinter sich hat, knallt er sein Skateboard auf den Gehweg und brettert ohne Rücksicht auf die Übrigen los. Hui! wie sie zur Seite stieben … Aber einen erwischt er doch am Fuß, hart am Knöchel. Das Opfer sieht ihm äußerlich ähnlich: auch er ein junger Mann, groß, kräftig. Und der brüllt jetzt los, brüllt so laut und lange, dass sein Gegner, der schon ein Stück weitergezischt ist, tatsächlich stoppt, den Fuß vom Brett nimmt und sich umschaut. Der Gerammte – man sieht es ihm an, man hört’s auch am Ausdruck der Stimme, die brüllt – er würde dem andern gern hinterher, ihm die Fresse polieren oder eine Kopfnuss verpassen oder … Aber er bleibt stehen, verstummt. Ihn hemmt nicht nur der Schmerz da unten, er verbietet sich, was die erste Regung verlangte: zurückzuschlagen.

Und der andere? Zuckt bloß mit einer Schulter, hat sich schon wieder umgedreht und schießt weiter durch die Menge, die sich in Acht nimmt.

Während ich das beobachte, kommt mir eine Erinnerung. Ein Kollege von mir ist mal durch Höllenlärm aus der Wohnung unter ihm aufgescheucht worden: extrem laute Musik. Er hat also da geklingelt und die neuen Nachbarn, ein junges Pärchen, auf diese Weise erst kennengelernt. Sie haben sich so rechtfertigt: „Wir brauchen das, wir sind in einem Einfamilienhaus groß geworden …“

Empathie ist doch das Modewort des Jahrzehnts. Doch je mehr es gebraucht wird, umso öfter tritt dieser neue Menschentyp auf: alle in Einfamilienhäusern groß geworden, wie es scheint, und achselzuckend, wenn sie einen verletzt haben.

 

 

Wo wollen Sie denn einmal liegen?

 

Das ist gewiss lange her, dass man, auf Sie bezogen, gefragt hat: Was soll er (sie) denn mal werden? Nähert man sich dem anderen Wendepunkt der Ellipse, dürfte es eher heißen: Wo soll man sich denn abschließend betten - jedenfalls bis zum Ablauf der Liegezeit? Ich wüsste da einen Ort … Er ist ein bisschen ungewöhnlich.

Dieser Friedhof liegt im Norden von Berlin, in einem Gründerzeitviertel. Damals, als es angelegt wurde, hatte sich die Mode der Park- und Waldfriedhöfe noch nicht durchgesetzt. Die Stadtplaner seinerzeit hielten einfach im Rastersystem einen Block frei, und so ist der Ort der Toten unmittelbar benachbart den Wohnungen und Geschäften der Lebenden. Die Gräber sind immer in Sicht- und Rufweite der Nachgeborenen. Das erinnert an den traditionellen Kirchhof im Dorf oder in einer alten Stadt, nur dass eine Friedhofskapelle die Kirche ersetzt.

Dieser lange, schmale Friedhof grenzt mit seiner Stirnseite an die breite und sehr laute Hauptstraße der Vorstadt. Den Nachbarblock nimmt ein großes Warenhaus ein, schräg gegenüber ist ein Multiplexkino. Restaurants, Cafés, Bäckereien, eine Buchhandlung – alles fußläufig vorhanden. U-Bahn und Straßenbahn führen dicht am Friedhof vorbei – wichtig, wenn man Ihr Grab ab und zu besuchen möchte. Der Friedhof ist so überschaubar, dass einer nicht lange wird suchen müssen. Es gibt nur eine Längsallee, kein System von Haupt- und Nebenwegen. Man geht einfach geradeaus und biegt dann zum Grabfeld ab.

Aber das Beste kommt erst noch: In der Kapelle werden sogar Literaturlesungen veranstaltet.

Natur kommt hier nicht zu kurz. Hohe, alte Bäume, Büsche, Blumen – wie überall. Die Friedhofsverwaltung beklagt sich eher über ein Zuviel als ein Zuwenig an Natur: die Kaninchen! In der Tat beleben sie in großer Zahl den Friedhof, hoppeln einzeln oder paarweise zwischen den Gräbern, bilden immer neue Gruppen und äugen intensiv nach dem vorübergehenden Besucher: Wird er oder wird er nicht …? Das Füttern ist allerdings streng verboten. Die Verwaltung spricht von Plage und veranstaltet winters Jagden auf die Kaninchen. Dann Büchsenknall zwischen Warenhaus und Kino-Center.

Hoffnungen setzt man auch auf einen natürlichen Feind der Kaninchen, den Fuchs. Er soll sich nach und nach auf Berlins Friedhöfen angesiedelt haben. Und tatsächlich: Neulich an einem Sommerabend gegen halb sieben schnürte einer über die Längsallee. Die Nager schienen nicht sehr beeindruckt. Zwei von ihnen sahen ihm etwas gelangweilt nach, als wollten sie sagen: Der schon wieder …

Erwarten Sie keine größere Zahl von prächtigen alten Grabdenkmälern, Grüften gar. Das hier ist immer ein Kleine-Leute-Viertel gewesen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wurde kaum mit Sepulkralkultur geprotzt. Falls Ihnen das sympathisch ist: Auf diesem Friedhof ist, wie inzwischen auf den meisten der Stadt, viel Platz, Zuzug durch Neubelegung daher erwünscht. Ursprünglich nur für die evangelische Bevölkerung gedacht, steht er jetzt auch anderen Konfessionen offen. Und der Atheist kann sich hier ebenso wie der Agnostiker beerdigen lassen.

(Bei Interesse verrät der Verfasser gern die Anschrift dieses sehr zentral gelegenen Ortes für eine letzte Ruhe.)   

 

 

Die Sandgrube im Grunewald

 

Die Septembersonne wärmt und ich sitze am Rand der früheren Sandgrube, hinter mir der Waldweg vom S-Bahnhof Grunewald nach Schildhorn, vor mir der Steilhang. Es geht so tief hinunter, wie ein sechsstöckiges Haus hoch ist. Die Grube hat die Ausdehnung eines ganzen Stadtviertels, in ihr eine Sanddüne, hoch wie eine Kirche, und weiterhin flache Gewässer, zu Tage getretenes Grundwasser.

Während ich auf einem abgehobelten Baumstamm sitze, blicke ich auf die Rückenpartien zweier junger Damen vor mir. Sie lagern im Sand, schon jenseits der Abbruchkante. Eine trägt Straßenkleidung, die andere einen Bikini, dessen Oberteilträger einen eintätowierten Text umrahmen, ziemlich viel Text für nur einen Rücken, mag er auch etwas mollig sein – ihr Körper also gewissermaßen ein Textkörper. Was kann da geschrieben stehen? Ich würde gern aufstehen, von hinten an sie herantreten und zu entziffern beginnen. Geht nicht … Der Text selbst ist noch einmal von einem Ornament umspielt. Vielleicht ein Gedicht? Aber nein, es ist Blocksatz, muss also Prosa sein. Dann sehe ich, dass die wortreiche Tätowierung auch einen Titel hat – vielleicht eine Anrede – und eine schwungvolle Unterschrift. Ist es ein Brief, ein Liebesbrief, ein Dankschreiben, eine Klageschrift?

Ich beginne, mir einen passenden Text auszudenken, werde jedoch bald unterbrochen. Die andere junge Frau hat ihren Terrier von der Leine gelassen, er schnuppert im Sand herum. Und jetzt stürzt ein Dackelmischling vom Weg zu ihm hin, während sein Halter den Weg nach Schildhorn unbeirrt ohne ihn fortsetzt. Die zwei Hunde tun, was Hunde in dieser Lage zu tun pflegen: sich beschnuppern, miteinander balgen, sich jagen, nacheinander beißen. Dabei toben sie über den sandigen steilen Abhang und entfesseln Miniatursandstürme. Dann allerdings verfolgen sie sich im Wald, verschwinden schon wie Kugelblitze zwischen den Bäumen, Richtung Havel. Terriers Frauchen jagt alsbald hinterher und findet die beiden zweihundert Meter weiter, wo sie sich um Dackels Herrchen, zu einer Art Salzsäule erstarrt, hetzen, immer im engsten Kreis. Sie nimmt ihren vierpfotigen Liebling hoch und trägt ihn zur Sandgrube zurück.

Bald darauf stapfen zwei noch sehr kleine Mädchen, erste oder zweite Grundschulklasse, den Sandhang hoch. Sie sind kaum bekleidet, von Aufsichtspersonen weit und breit nichts zu sehen. Eltern, es soll Sittlichkeitsverbrecher geben, macht es ihnen nicht zu leicht! Aber kein Sittenstrolch schleicht sich heran, nur der Terrier rast auf sie zu, als sie fast oben sind. Da geraten sie gleich in Panik, drehen um und viel fehlt nicht, dass sie den Steilhang hinunterkugeln und sich ein Leids tun. Der macht nichts, schreit die junge Frau, der will nur … Den Rest schenkt sie sich und rennt zum Ort der zu befürchtenden kleinen Tragödie. Der Terrier wird erneut eingefangen, wieder hochgenommen und jetzt doch angeleint.

Unten, wo neben der Riesendüne ein seichtes Gewässer in der Sonne blinkt, zeichnen sich winzige Figuren ab, Spaziergänger, die auf einem der seitlichen, bequemeren Abstiege hinuntergelangt sind. Da ist einer, der möglicherweise nackt ist und jetzt in der Pfütze herumzugehen beginnt. Ein Anhänger von Freikörperkultur? Dann würde er sich hier sozusagen in der Adresse geirrt und besser am nahen Teufelssee ausgezogen haben. Der vermeintliche Nudist ist aber keiner, wie sich erweist, als er nach seinem Bad den langen,  steilen Anstieg durch den Sand nach oben unternimmt. Er ist in mittleren Jahren, trägt eine fleischfarbene, fast bis zu den Knien reichende Badehose und einen dichten Pelz aus grauen Haaren auf der breiten Brust. Oben angelangt, sprechen ihn bewundernd zwei ältere Damen an, eben des Wegs von der Stadt her gekommen: Sie sind wirklich da ganz heraufgegangen? Haben sich also heraufgekämpft? – O ja, und darauf stolz bin ich auch ein bisschen, muss mich selbst loben … Er sagt noch: Das ist da unten das reinste Moorbad, und dafür geben die Leute sonst viel Geld aus … Sein Deutsch klingt ein wenig russisch, die Damen hören ihm gern zu, und so lässt sich das Trio auf einem weiteren Baumstamm nieder und beginnt ein langes Gespräch, über dem die Wipfel der Grunewaldkiefern leise rauschen.

Dieser Weg vom S-Bahnhof quer durch den Wald ist von jeher ein Lieblingsspaziergang der Berliner. Dementsprechend bevölkert ist er schon immer gewesen. Heutzutage wird nicht mehr nur entspannt geschlendert, sondern auch mit zwei Stöcken und wichtiger Miene pflichtbewusst gestapft oder auf zwei Rädern und voll besten Gewissens rasch dahingebraust. Nicht mit dem Radl, sondern mit leichtem Kinderwagen moderner Bauart kommt eine Frau um die fünfzig. Ist sie die jugendliche Oma oder die ältere Tante des Kleinen, der noch nicht sprechen zu können scheint? Jedenfalls sagt er nie etwas, sie dafür umso mehr: Ach, schau dir das an, wie tief das da runtergeht … Da muss ich doch mal hin, bleib du erst mal hier … Au, so eine Scheiße … Begierig, auf den Grund zu schauen, ist sie wie blind mit dem Kopf gegen einen dicken niederhängenden Ast geprallt und reibt sich jetzt besorgt die schmerzende Stirn. Dann sieht sie zu mir herüber, gibt mir lächelnd zu verstehen: Ist gar nicht so schlimm. Und sie redet wieder zu dem Kleinen im Kinderwagen: Da geht's runter, das ist steil, aber da müssen wir jetzt durch, wir beide schaffen das schon … Sie will wirklich mit dem Kinderwagen den steilen Sandhang hinunter? Dann sollte ich mich lieber verziehen, bevor die unvermeidliche Katastrophe eintritt. Doch sie überlegt es sich plötzlich anders, geht zu den beiden jungen Frauen, spricht sie an. Sie sollen ihren Kopf untersuchen, die eben verletzte Stelle. Es geschieht und dann opfert die eine ihr Mineralwasser und kühlt der Blessierten die anschwellende Stelle und wäscht sie aus. Jetzt kann ich ruhig fortgehen, alles wird noch gut.  

 

 

Sommer in Berlin

 

Es ist heiß in Berlin.

Unserem Haus sieht man an, es wäre einmal gern höher geworden. Wegen der Ein- und Abflugschneise von Tegel ist es seinerzeit, in den Sechzigern, sozusagen nur ein Bonsai-Hochhaus geblieben. Es ist heute nicht nur heiß, sondern auch laut – Hochbetrieb am Himmel, alle fünfundsiebzig Sekunden ein alles andere niedermachendes Dröhnen, etwa zehn Sekunden lang. Wie lange überhaupt noch? Jedenfalls muss man gut durchlüften, bevor man zu Bett geht, bei wieder geschlossenem Fenster. In der Abenddämmerung stehe ich am geöffneten und höre mit Kopfhörern Musik. Die Auswahl des Titels richtet sich nach diesem akustischen Umfeld. Alle eineinviertel Minuten löscht der Krach am Himmel zehn Sekunden lang auch die stärksten Klänge aus. Minimal Music geht natürlich immer, doch auch Schuberts Sinfonien erweisen sich als robust, bei ihren himmlischen Längen verpasst man, regelmäßig kurz unterbrochen, nicht viel. Ich höre seine Dritte und senke den Blick hinaus auf den Parkplatz und sehe unten einen Fuchs schnüren – nein, er schnürt nicht, er läuft geradewegs zur Straße. Dabei trägt er etwas im Maul, das wie eine hellbraune Damenhandtasche aussieht – ein erbeutetes Kaninchen. Er kennt sich aus, achtet auf den Verkehr, überquert den Fahrdamm und verschwindet Richtung Städtischen Friedhof, da wohnt er wohl – gesegnete Mahlzeit!

Ganz Berlin steht jetzt im Zeichen von Barack Obama. (Oder auch nicht.) Und festlich rosa lackiert die Zehennägel der jungen Sandalenträgerin, in der U-Bahn neben der Tür stehend, am anderen Morgen. Die U 6 hält auf dem Bahnhof Naturkundemuseum. Ein großer schwarzer Mischlingshund, der hinausgeführt wird, zögert beim Aussteigen. Die rosa Zehen interessieren ihn, er beginnt zu schnuppern, nähert sich ihnen immer mehr mit der Schnauze. Die beiden Füße werden nacheinander zurückgezogen, soweit es nur geht auf dem knapp bemessenen Raum, eine Gebärde eigener Art, seltsam keusch. Der schwarze Hund wird von seiner Halterin hinausgezerrt. Die Füße mit den rosa Zehennägeln entspannen sich rasch.

Der Staatsbesuch spornt die Zeitungsschreiber zu vielen und langen Artikeln an. Einer faselt von der Frettchenjagd auf Kaninchen. Das hat jetzt, glaube ich, eher weniger mit Obama zu tun, die Hitze entschuldigt mich vielleicht … Aus der Zeitung erfahre ich also, dass die kleinen bejagten Kaninchen zumeist noch blind sind. Doch dieses hier auf dem Urnenfriedhof Seestraße sieht mich aus weit geöffneten Augen an, nur wir beide auf dem weichen grünen Rasenteppich vor dem altrosafarbenen Block des Mahnmals für die Opfer des Faschismus weltweit. Das vereinsamte und etwas abgewetzte Denkmal scheint von einer Mär aus alten Tagen zu künden. (Könnte man meinen.) Das Kaninchen traut mir nicht, rennt weg und verschwindet in der umrahmenden Hecke.

Viel mehr los war zuletzt an einem anderen Mahnmal auf demselben Friedhof, dem für den Aufstand vom 17. Juni 1953. Wie viele Kränze da noch unverwelkt liegen … Ich lese die Aufschriften auf den Schleifen und vermute, es muss eine Kranzniederlegungsordnung geben. Wessen Kranz darf wo liegen? Oben auf dem langen Sockel natürlich die von CDU und FDP und, merkwürdig, auch der vom Land Brandenburg, das eine Zeitlang gern als kleine DDR geneckt wurde. Vor dem Mäuerchen dann das Gewimmel der Kondolierenden, die SPD als Weltkind in der Mitten, Kranz an Kranz mit Grünen, Piraten usw. Wo aber kommen, pardon: legen die Linken nieder? Sozusagen isoliert am Gedenkkatzentisch – ein kleiner Fußpfad trennt ihre Kränze sorgsam von denen der Mitte.

Auf den Friedhof habe ich mich vor der Hitze geflüchtet, aber ich muss zur U-Bahn, eine Verabredung einhalten. Unterwegs noch eine Begegnung am Weg – ein Eichhörnchen. Zur Stunde, als Barack Obama seine begierig erwartete Rede hinter Panzerglas hält, als über Hundert der sorgsam Ausgesuchten vor dem Panzerglas, schon stundenlang ausharrend, dehydriert kollabieren, zu dieser Zeit sitzt der Eichkater im grünen Schatten auf einem Grabstein, ganz oben, bloß um eine Nuss zu benagen. Wir beäugen uns, dabei entgleitet ihm die Nuss, er saust zu ihr runter und mit ihr in die nächste Hecke. Tut mir leid, dass ich dich irritiert habe.

Es ist Spätnachmittag. Auf der schattenlosen Kreuzung Seestraße / Müllerstraße müssen es vierzig Grad oder mehr sein. Dennoch ein Gewühle wie immer: Kampf der Wagen und Gesänge.  

 

 

Er hat dazwischengequatscht

 

Ort der Handlung: ein Wurstimbiss in einem großen Berliner Bahnhof. B. und R. betreten die geräumige Lokalität und bestellen am Tresen.

 

R.: Das Krakauer-Menü, bitte, und mit Wasser …

 

DIE BÜFETTIERE zu B.: Für Sie auch was mit Pommes?

 

B.: Ja, aber das Currywurst-Menü, auch mit Wasser …

 

Die Speisen sind in Arbeit, die Angestellte will schon kassieren. Dabei stellt sich heraus, sie hat zweimal Currywurst-Menü verstanden oder behalten. R. protestiert, für ihn wird seufzend neu angerichtet.

 

DIE BÜFETTIERE sucht sich zu entlasten, wendet sich an B.: Das kommt, weil Sie dazwischengequatscht haben!

 

B.: Wie bitte, ich habe dazwischengequatscht?! Sie haben mich doch gefragt …

 

DIE BÜFETTIERE: Ja, aber nur wegen der Pommes!

 

B.: Sie wollten wissen, was ich bestellen würde.

 

DIE BÜFETTIERE: Aber nach dem Menü habe ich noch nicht gefragt!

 

B.: Ach so! - Die Speisen werden über den Tresen gereicht.

 

DIE BÜFETTIERE: Das ist nur gekommen, weil Sie zu früh Currywurst-Menü gesagt haben.

 

B.: Wissen Sie, wir müssen das jetzt nicht vertiefen.

 

DIE BÜFETTIERE, bekümmert: Ja, aber lassen Sie es sich nur schmecken.

 

B.: Vielen, vielen Dank.

 

 

Der Euro bleibt hart!

 

Das Folgende beweist es. Unumstößlich. Überzeugen Sie sich!

Vor Tagen war in Berlin ein Geschäftsmann zu Fuß unterwegs. Ein Geschäftsmann! In Berlin! Zu Fuß! würde der selige Hanns Dieter Hüsch hier ausgerufen haben. Die lokalen Medien wie „Abendschau“ und „Tagesspiegel“ haben in dankenswerter Ausführlichkeit über den wenn nicht welt-, so doch Deutschland erschütternden  Fall berichtet. Übrigens war der Sohn des Geschäftsmannes an dessen Seite, aber das ist jetzt nebensächlich …

Ein schwarzer Mercedes nahte. Natürlich, eine andere Marke wäre von vornherein nicht in Frage gekommen. Wenn ich mir den bisherigen Text ansehe, stelle ich fest: Er hat vielleicht die Tendenz zum Wirtschaftskrimi? Wie Leser sich täuschen kann … Nein, jetzt kommt es knallhart. Ein Schuss fällt – aus der Karosse heraus, dass ich es nicht zu erwähnen vergesse. Und noch einer hinterher. Eine Kugel, schlecht gezielt, schlägt in die Hauswand ein und die andere – tja, das war das Wunder von Halensee:  SIE WURDE DURCH DIE GELDBÖRSE IN DER JACKE DES GESCHÄFTSMANNES ABGELENKT. Hätten Sie’s vermutet? Eine Zeitung ergänzte: „die offenbar pralle Geldbörse“.

Ja, aber womit denn gefüllt? Mit unserer Hartwährung natürlich. Der Beweis, dass auch eine mit Dollars oder englischen Pfunden gefüllte Geldbörse lebensrettend sein kann, müsste erst noch erbracht werden. Was Finanzkrise, was Währungsturbulenzen – nur das hier ist das reale Leben. Auf unseren Euro ist im Extremfall Verlass, er ist schussecht. Nun soll es wohl auch Leute geben, die Goldbarren am Leib tragen. Die tun’s dann zur Not auch.

Erfinderisch, wie Abendschön ist, ist ihm gleich eine Geschäftsidee gekommen. Er hat also eine Lederweste mit Innenfutter aus lauter Zwei-Euro-Münzen entworfen und sie auch schon beim Patentamt angemeldet. Der Euro braucht keinen Rettungsschirm, er ist selbst einer.

Wie meinen Sie, alles nur fauler Zauber in Halensee? Nein, es waren keine Filmaufnahmen. Sie haben ihm wirklich ans Leder gewollt, und zwar nicht an das aus Kroko oder ähnlichem Zeug. Sie haben ihn selbst einfach durchlöchern wollen und eine Anklage wegen versuchten Mordes eingeheimst. Es lebe der Euro!

 

 

Tauben in der Bäckerei

 

Die Bäckerei liegt im Untergeschoss eines Berliner Bahnhofs - wenn ich in der Stadt bin, frühstücke ich dort manchmal oder trinke nachmittags Kaffee – und auf der gleichen Ebene die Kunden-Center von Deutscher Bahn und S-Bahn, eine Snack-Verkaufsstelle, das WC-Center, die Aufgänge zu den Bahnsteigen. Da unten ist nur Beton, Glas und Metall, eine blank polierte Welt unter Neonlicht, die man in Eile aufsucht und wieder verlässt. Doch eine andere Gattung hat sich auf Dauer niedergelassen – Tauben. Nicht der Hund ist der treueste Begleiter des Stadtmenschen, es ist die Stadttaube.

Zwei Exemplare von columba livia forma domestica trippeln im Durchgang vor der Bäckerei auf und ab. Straßentauben bevorzugen lebenslange Monogamie. Ihr Leben währt nur kurz – zwei bis drei Jahre – und ist entbehrungsreich und allzeit gefährdet. Die beiden hier finden den Anblick der Backwaren in der Auslage sehr verlockend. Solange die Geschäftszeit andauert, versuchen sie, ins Innere des Ladens zu gelangen. Man gönnt es ihnen nicht. Die Angestellten haben einen schwarzen Keramikraben neben der offen stehenden Eingangstür postiert. Die Vögel behalten ihn im Auge, während sie trippelnd vormarschieren, sich an ihm vorbeidrücken. Eines Tages ist der Rabe fort, vielleicht gestohlen, und das Taubenpaar passiert die Tür nun rascher.

Die Verkäuferin versucht eine Zeitlang, die Tauben auf dem Fußboden zu ignorieren. Sie hat viel zu tun. Ein älterer Gast, der gleich hinter der Tür sitzt, zerkrümelt sein Brötchen und wirft Bröckchen vor die Vögel hin. Sie picken hurtig. Andere Gäste schauen unmutig drein. Einer ruft laut: „Jetzt sind die Scheißtauben auch hier schon!“ Die Verkäuferin kommt vor den Tresen und fängt routiniert an, die Tauben aufzuscheuchen: „Ksch, ksch …!“ Dazu maßvolle Armbewegungen, wie bei einer Eurythmie-Vorführung. Die Tiere sollen nur hinauskomplimentiert, nicht in Panik versetzt werden - nicht dass sie im Laden herumflattern, auf die Ware koten oder sich im Lagerraum verirren. Die Tauben wissen Bescheid, man kennt sich. Sie picken noch zweimal und verlassen dann trippelnd das Lokal, den Hunger kaum gestillt. Hart ist das Taubenleben.

Wochen später kommt nur noch eine Taube herein, inzwischen wohl verwitwet. Ich bin der einzige Gast und ich zerkrümele keine Brötchen. Ich mache gleich: „Ksch, ksch …!“ Und ahme jene eurythmischen Armbewegungen im Sitzen nach. Die vereinsamte Taube scheint ein wenig erstaunt, sie sieht mich kurz an und trippelt weiter suchend auf dem Boden herum. Neulich habe ich in der Zeitung gelesen, Tauben merkten sich die Gesichter der Menschen, die sie verjagen. Wäre mir unangenehm. Ach ja, Morgenstern und das Huhn in der Bahnhofshalle: … dass ihm unsere Sympathie gehört, selbst an dieser Stätte, wo es - „stört“ … Man sollte nicht so viel durcheinander lesen.

Ich sehe noch mal hin. Was ist das? Die Taube trippelt hinkend. Ihr fehlen rechts sämtliche Zehen. Später werde ich bei Wikipedia lesen: „Der Fuß ist als Sitzfuß ausgebildet und anisodaktyl, drei Zehen weisen nach vorn, eine nach hinten.“ Hier weist keine irgendwohin, es ist wie bei einer Uhr ohne Zeiger. Meine Taube hat sich nach der Radikaloperation – Stachelmanschetten sind grausam – einfach umgestellt und setzt den Torso als Stelzfuß ein. In mir regt sich etwas. Ich mache nicht mehr „Ksch, ksch …!“ Aber Brosamen werfe ich ihr doch lieber nicht hin - nicht in der Bäckerei.

 

 

An der Sprachgrenze

 

Zwischen Hamburg und Berlin liegt eine Sprachgrenze – ich nenne sie die Bechergrenze. Gehst du an der Elbe in eine Bäckerei und wünschst eine Tasse Kaffee von mehr als Normalgröße, dann bestellst du einen Becher Kaffee – und bekommst eine große Tasse mit dem Heißtrunk. An der Spree vermeide diesen Ausdruck besser - sie mögen das nicht, sie wollen es nicht hören, die Bäckereifachverkäufer und –fachverkäuferinnen. Einen Becher? wiederholen sie sehr befremdet. Oder sie korrigieren dich, mehr barsch als freundlich, fahren dir über den Mund: Also einen großen Kaffee?!

     Ach, es rutscht mir immer wieder heraus … Wie leicht fällt es mir dagegen, mich bei den Wochentagen umzustellen – Sonnabend zu sagen statt dem mir, dem gebürtigen Süddeutschen, so gewohnten Samstag. Aber ein Tag ist doch kein Abend … Gewiss, auch in Hamburg ist Sonnabend der bevorzugte Ausdruck, nur scheint mir, man ist dort sprachlich toleranter. In Berlin gilt das Territorialitätsprinzip insoweit absolut.

     Das Körnerbrötchen mit Käse da … und einen Becher Kaffee, für hier … Ich bemerke meinen Fehler sofort und berichtige mich: einen großen Kaffee, natürlich. Aber diese Verkäuferin gehört zu jener Sorte, die dir ihr Ohr nur einmal leiht. Sie verarbeitet, was sie schon gehört hat - und Schluss! Sie stellt mir also aufs Tablett: das Käsebrötchen auf weißem Porzellanteller, mit Serviette, und daneben einen Pappbecher: Coffee to go. Damit gehe ich zum Plastikstuhl am nächsten freien Plastiktisch und stelle fest: So abgefüllt schmeckt der Kaffee scheußlich. Ich will es hier nie wieder sagen – einen Becher Kaffee … Großer Kaffee, einen großen …

 

 

Ostern - Die Vorzeichen mehren sich

 

Die Vorzeichen mehrten sich – und wuchsen dabei ins Riesenhafte. Auf dem Flachdach des Vorstadtkaufhauses saß ein gigantischer Schokoladenosterhase, der mit dem Goldpapier, alle Proportionen etwa 1:1000, und wie beim echten ein Band um den Hals, daran ein Monsterglöckchen, das im kalten Märzwind schaukelte.  

Und dann die Frühlingsdekoration im Parterre des Einkaufszentrums. Wo zuletzt noch die Lederjacken aus dem Obergeschoss zu Aktionspreisen verramscht wurden, ist nun ein lenzlicher Garten angelegt, so bunt und üppig, dass Natur neidvoll erblassen müsste, gäbe es hier eine. Wer zählt die Blumenarten, die Farben, die Variationen … In den Beeten drangvolle Enge. Sind diese Blumen überhaupt echt? Man kann sich das Befühlen sparen, an den Blütenrändern deutet sich Tod durch Verdursten schon leise an. Frühlingsblumen lieben es kühl und luftig, hier in der Halle ist es trocken-warm und stickig. Wenn sie nur bis zum Sonntag durchhalten … Danach werden sie als Biomüll entsorgt.

Es gibt auch Tiere in dieser Ausstellung, in Gehegen Haustiere, so niedlich, dass man sie streicheln möchte und es nicht kann. Das Publikum staut sich an den Holzzäunen vor ihnen. Es gibt allein vier oder fünf Kaninchenrassen und alle streng für sich, darunter die braun gefleckten, die weißen mit den roten Augen und die mit den Dackelohren, jede in ihrem eigenen niedrig eingefriedeten Häschenreich. Und sie bleiben unter ihresgleichen, keine Emigration und keine Immigration. Fell reibt sich da an Fell. Ihre Bedürfnisse gehen nicht über ein Ich-will-auch-mal-an-die-Mohrrübe hinaus.

Lebhafter als die Nager sind die drei Dutzend Küken unter der Infrarotlampe. Sie wuseln durcheinander, schieben sich zu immer neu formierten Pulks zusammen oder picken Körner vom Boden auf. Einige sind früh entwickelt. Sie beherrschen schon die Technik des Scharrens, sie werden es weit bringen. Da geht ein etwa Neunjähriger an ihnen vorüber, wirft ihnen einen kurzen, unbeeindruckten Blick zu und sagt altklug zu seinem Gefährten: Das ist doch jedes Jahr dasselbe …

Es gibt auch Promenaden im Innern des EKZ-Paradiesgärtleins. Da stehen urige Holzbänke, zum Verweilen einladend, und auf einer hat es sich einer gemütlich gemacht, für den die zutreffende Bezeichnung wie lautet? Penner oder Alki oder was der Volksmund sonst an liebevollen Anreden bereithält. Dieser Freund des Gerstensaftes (wenn nicht härterer Sachen) ist durchaus nicht aggressiv, er belästigt niemanden unmittelbar, er hält nur fortwährend mit durchdringender Reibeisenstimme Volksreden. Er blökt, grölt, spektakelt in die vorösterliche Idylle hinein, ohne dass minimaler Sinn hinter erregter Rede offenbar wird. Unmut macht sich bald rundum breit. Es kommt, wie es kommen muss, d.h. wer in solchen Fällen kommen muss: Zwei uniformierte Breitschultrige nähern sich mit Pantherschritten und einer von den beiden fasst den Alten an der Schulter: Komm, mein Freund …

Dann haben sie dieses Eden schon hinter sich, schreiten Seit an Seit dem Ausgang zu, wo die Busse abfahren. Die zwei scheinen sich ruhig zu unterhalten, man könnte sie für in eine metaphysische Debatte verstrickte Philosophen halten. Nein, nein, sagt die Autoritätsperson sanft, aber mit Nachdruck, das ist hier keine Kneipe … Gewiss nicht, es ist ein Tempel und kommenden Sonntag ist das Hochamt: offene Geschäfte von dreizehn bis siebzehn Uhr.

 

 

Das Gemetzel im Maisfeld

 

Sie sagt, es sei früh kalt geworden, sie sei noch nicht daran gewöhnt, und tritt näher zu mir heran in den kleinen Sonnenfleck neben der Bushaltestelle. Die fremde Dame ist unauffällig, nicht groß und noch nicht wirklich alt.

     Momentan gehe es ihr gar nicht gut, sagt sie dann, gerade jähre sich der Todestag ihres Mannes zum vierten Mal. Ich mache dazu die konventionelle Miene beiläufigen Bedauerns.

     Es war auch zu schlimm damals, fährt sie fort – ein Jagdunfall, fürchterlich.

     Ach, wie denn das …?

     Er war doch ein erfahrener Jäger, war sogar im Fernsehen … Sie haben in Brandenburg ein Revier gehabt, da ist er mit einem jüngeren Jäger gewesen, und sie haben Wildschweine in einem Maisfeld aufgescheucht. Der andere hat auf ein Schwein geschossen und wurde selbst verletzt …

     Ich frage nicht nach den Einzelheiten und sie erzählt gleich weiter: Mein Mann wollte ihm helfen, da kam der angeschossene Eber und hat ihn hier unten … Sie deutet mit der Rechten an, wie ihn die Hauer aufgeschlitzt haben.

      Ja, da war alles anders geworden, von einem Tag auf den anderen. Denken Sie nicht, dass ich sonst wildfremde Menschen anspreche. Nur jetzt, in diesen trüben Tagen …

     Ich vergegenwärtige mir die Szene damals im Maisfeld, drücke mein Entsetzen aus, so gut ich kann. Die Dame setzt das Gespräch fort und zeigt auf die Gebäude gegenüber – in einem davon wohne ich – und berichtet: Da zwischen den Häusern habe ich vor kurzem auch ein Wildschwein herumlaufen sehen. Ich habe beim Forstamt angerufen, aber es war wohl zu weit für sie bis zu uns in die Stadt. Am Ende ist es aus dem Gehege in den Rehbergen ausgebrochen …

     Ach wo, sage ich, ganz sicher nicht. Das sind doch so alte Tiere … Und ich denke, sie hat es nicht wirklich verarbeitet. Ich kann mir Wildschweine bei uns noch nicht vorstellen, denn ich war Jahrzehnte weg, bin erst vor kurzem in die Stadt zurückgekehrt. Tatsächlich jedoch wird wenige Tage später ein wildes Schwein drei Menschen in einem Nachbarstadtteil attackieren. Nach einer Kollision mit einem Auto lief es mit verletzten Hinterläufen Amok, wird eine Zeitung schreiben. Berlin wird also wilder.

     Nein, Schweine hier, unglaublich, sage ich. Und: Aber Füchse habe ich schon gesehen.

     Ja, Füchse, die gibt’s natürlich … Lebhafter als vorher erzählt sie noch: Neulich saß einer vor einer Fußgängerampel und hat genau abgewartet und geschaut, bis es grün wurde, dann ging er rüber, stellen Sie sich das vor! – Jetzt lächelt sie beinahe.

      Unser Bus kommt. Wir steigen ein und sind Fahrgäste wie andere, die stumm ihrem jeweiligen Ziel entgegenfahren.

 

 

Muttertag in Z.

 

Die kleine Stadt in Brandenburg hat an Supermärkten nur zwei Discounter aufzuweisen, einen sehr billigen und einen etwas besseren – sonst nichts.
      Der junge Mann geht heute in den besseren – morgen ist Muttertag und er hat noch kein Geschenk.
      Lange umkreist er den Stand mit den Orchideen – Extralieferung für den großen Tag. Weiß sieht nach nichts aus, denkt er. Soll er eine violett blühende kaufen? Der Preis – ziemlich happig. Dafür bekommt er einen Haufen anderer Sachen, zum Beispiel Süßigkeiten, vielleicht sogar eine Flasche Wein. Er geht weiter und greift nach einer roten Konfektschachtel.
      Das Konfekt ist sehr preisgünstig – Aktionsware. Der junge Mann kehrt zu den Orchideen zurück. Soll er nicht doch eine nehmen? Wie würde es aussehen, eine rote Konfektschachtel und eine rosaviolette Orchidee? Übertrieben. Er geht rasch weiter.
      Dann hat er auf einmal zwei Flaschen in den Händen und die Schachtel unter einen Arm geklemmt – Einkaufswagen benutzt er nie. Die grünlichen Flaschen - enthalten sie Sekt oder Weißwein? Ohne zu überlegen, hat er zweimal zugegriffen. Er geht langsam zur Kasse und bezahlt die Waren. Noch zu verschmerzen der Betrag.
      Nachher sitzt er im Auto und betrachtet seinen Einkauf. Wie soll das morgen übergeben werden? Noch extra verpackt oder irgendwie arrangiert – nichts da! Drei Hände müsste er also haben, zwei fürs Flüssige und eine für die Schachtel …
      Er studiert ein Flaschenetikett. Lieblich, hm … Ob man das Zeug überhaupt trinken kann? Da kommt ihm eine Idee: Heute Abend wird er eine Flasche zur Probe leeren. Übersteht er es gut, bekommt Mutti morgen die andere. Und beim Händedruck wandert das Konfekt wieder kurz unter die Achsel. So wird’s gehen. Mit Kopfschmerzen aber bleibt er im Bett und ruft sie bloß an.
      Trotzdem - Scheißmuttertag. Hoffentlich schmeckt wenigstens der Wein.

 

 

See in Brandenburg

 

Zum See hinab geht es auf schmalem Seitenpfad am alten Forsthaus vorbei. Da ist Brennholz zu verkaufen, es steht handgeschrieben auf einem Schild. Denkt einer im August schon an den Winter? Wo der Sommer gerade auf seinem Höhepunkt? Doch ist er es noch? Leise Zweifel regen sich schon.

Unten am Steg liegen in langer Reihe vertäut die alten Holzkähne. Mit ihnen kann man auf den See hinausrudern, um zu fischen. Doch heute tut es keiner. Am Ufer gibt es nicht eine Bank zum Niedersitzen, der Rundblick fällt also kurz aus: das Seeufer eine fast kreisrunde Linie, ringsum bewaldet, eine tiefgrüne Wand aus Buchen, einzelne artfremde Kiefern sind in ihr geduldet. Weder Mensch noch Tier lässt sich blicken, nicht einmal ein Vogel in der Luft. Dafür Stille, nichts als Stille.
      Der Wanderer kehrt zurück zum breiten Forstweg oben und biegt noch einmal von ihm ab. Da ist ein Parkplatz, vollkommen leer, und hinter ihm die kleine Badestelle im Wald, leicht abfallender sandiger Grund mit einzelnen hohen Kiefern. Ein Mann ist verbotenerweise mit seinem Jungen hinuntergefahren. Jetzt stapft er unschlüssig ein paar Schritte auf und ab, betrachtet den Motorroller, sagt etwas zu dem Kleinen. Der Junge hängt in der Krümmung eines schief gewachsenen Baumstammes und gibt keine Antwort. Vielleicht denkt er: Wie langweilig Ferien sein können.
      Am Himmel wechseln sich Sonne und Wolken ruhevoll ab. Die Schwüle der vergangenen Tage hat nachgelassen. Es ist nicht mehr Hoch-, doch auch noch kein Spätsommer. Es ist einer der Tage, an denen sich nichts zu entwickeln scheint, weder Blühen noch Reifen noch Vergehen.
      Der Sand ist noch zu feucht von nächtlichen Regenschauern, als dass man auf ihm sich lagern könnte. Um einen umgelegten Baumstamm sammelt sich der Abfall früherer Besucher: Plastikmüll, leere Flaschen. Der Wanderer sitzt dann unbequem auf der Bohlenumrandung des Parkplatzes und verzehrt sein Mitgebrachtes.
      Ein Auto hält und zwei Männer um die dreißig steigen rasch aus. „Hallo“, ruft der eine schon herüber, es klingt etwas zu vertraulich und zugleich vorsichtig sondierend, wie: Ich bin kein Feind – und was bist du? – Hierher kommen sonst keine Ortsfremden, nur die Bewohner der kleinen Stadt. Die beiden gehen zum See hinunter und umklammern jeder seine drei, vier Bierflaschen. „Nein“, sagt der eine noch, „regnen wird es heute nicht.“
      Kurz darauf braust noch ein Auto mit zwei weiteren jungen Männern heran, die auch schnell zum Seeufer wollen. Verabredet oder nicht, sie werden sich unten zusammentun. Es wird sich beleben der See, sein Gestade. Man muss doch seine Zeit nutzen, seine jungen Tage nutzen – wenn man nur wüsste wie. Wenn man nur wüsste …

 

 

Sie reden aneinander vorbei

 

O, ein neuer Vietnamese im Einkaufszentrum … Und es gibt Frühlingsrollen mit Reisnudeln und Salat – die Dreizehn auf der Tafel an der Wand. Der Gast bestellt es bei dem Mann am Tresen.

Der Angestellte wirkt unsicher, er fragt nach: „Dreizeh?“ – den Schlusskonsonanten wohl verschluckend. „Ja“, sagt der Gast, deutlich akzentuierend, „die Dreizehn, bitte.“ Der Büffetier gibt es an die Kassiererin weiter, auf Vietnamesisch. „Was zu trinken?“ will sie auf Deutsch noch wissen.
      Zusammen nur sechs Euro, denkt der Gast, dann muss das Mineralwasser billig sein … Er greift nach Messer, Gabel und Serviette und wartet an einem Tisch. Bald kommt – ja, was denn: eine Suppe kommt, eher ein Süppchen, etwas klare Brühe mit wenig drin.
      Ein Blick zur großen Tafel: von Suppe steht da nichts. Vielleicht eine Zugabe und gratis? Der Gast holt einen Löffel und als er ihn eingetaucht hat, entdeckt er aufblickend ein zweites Tableau, über Eck so angebracht, dass ein Kunde es anfangs leicht übersehen kann. Ja, da stehen sie, in verkehrter Reihenfolge, die Vorspeisen nach den Hauptgerichten, die einstelligen nach den zweistelligen Zahlen. Was er gerade verspeist, wird die Zitronengrassuppe sein, Nummer DREI C – hehe, reingefallen … Er kann sich nicht mal beschweren, ihm wurde serviert, wofür er bezahlt hat.
      Nachher geht er sich woanders satt essen: Boulette mit Kartoffelsalat.

 

 

Tiefer in den Wald hinein

 

Berliner am Wochenende – manche von ihnen fahren ja gern aufs Land. Und was treiben sie so, da draußen in Brandenburg?

In der Heidekrautbahn sitzt gegenüber ein Paar in den Siebzigern und schaut ruhig auf die vorbeiziehenden Wiesen, Felder und Wälder, anfangs dem äußeren Anschein nach von ähnlichen Gefühlen bewegt. Hört man auf ihr ab und zu ein- und dann wieder aussetzendes Gespräch, wird aber bald deutlich: Philemon und Baucis sind nicht immer derselben Meinung. Der alte Mann erkennt freudig vieles wieder, das ihm von früher bekannt, während die Gattin zunehmend skeptisch hinausblickt. Er registriert auch Veränderungen an den Ortsbildern, mal zustimmend, mal betrübt - und immer neugierig. Die Fabrik hier, sagt er, ist auch stillgelegt. Oder: Was bauen sie denn jetzt da? Und: In der Ecke bin ich oft gewesen … Das entlockt ihr nun doch eine Entgegnung: Also ich möchte da nicht wohnen, da gibt es ja nichts … Und als die Landschaft hinter Klosterfelde immer weiträumiger wird, auch den Blick weitend, das Herz hebend, und er sein Auge unbestimmt schwärmerisch in die grüne Ferne richtet – sagt sie spitz, in Gedanken schon auf der Rückfahrt nach Berlin: Also mir hätte ein Gang daheim um den Weißensee auch genügt … An der Endstation steigen sie in den Bus zum Wildgehege, um Wildschweine und Wölfe anzusehen. Und vielleicht kommen sich die beiden dabei wieder näher.
      Ganz anders das junge Paar aus Berlin, das einem Stunden später bereits von weitem auffällt. Die Landstraße verläuft hier schon ein Stück durch die große, dunkelgrüne Schorfheide. Sie haben gerade ihr Auto am Straßenrand abgestellt, gehen um ihr Gefährt herum, fangen plötzlich an, an den Wagentüren herumzufingern. Dann lassen sie das Auto stehen und gehen die einsame Straße entlang, dem fremden Fußgänger entgegen. Voller Erwartung blicken sie ihn an, seltsam hoffnungsfroh. Sie haben sich, sagen sie, eben selbst ausgeschlossen – wären sie doch nur nicht ausgestiegen, bloß auf eine Minute, und das Handy natürlich im Wagen. Er soll also für sie den ADAC anrufen? Sie würden es auch gern selbst besorgen – ja, wenn er nur ein Telefon dabeihätte … Etwas ist immer, dichtete Tucholsky, mal fehlt uns der Wein, mal fehlt uns der Becher … Dieser zufällig im großen, einsamen Wald Promenierende, scheinbar wie vom Himmel gesandt, ist also keine Hilfe. Sie sollen, sagt er lahm, halt ein Auto stoppen, wenn mal wieder eins vorbeikommt. Oder zum Parkplatz gehen, noch einen Kilometer weiter. Da zweige ein Weg zum See ab, sehr hübsch übrigens, der See, der Parkplatz momentan allerdings leer. Die beiden nicken, wollen gleich in die Richtung, die er ihnen gewiesen.
      Und er geht weiter seinen Weg ins Dorf, das er nach ein paar Hundert Metern erreicht. Eigentlich idiotisch, was sie jetzt tun, denkt er. Hier sind doch die Leute, und sie gehen tiefer in den Wald hinein … So sind sie eben: Berliner am Wochenende draußen in der Pampa – orientierungslos.

 

 

Herdentrieb

 

Unter ihm breiten sich Viehweiden aus, auf einer davon eine Rinderherde, fünfzig oder mehr rotbunte Kühe und Kälber. Vielleicht sind auch Stiere darunter - gut, dass die Weide eingezäunt ist. Die Tiere stehen grasend nahe beisammen, bilden eine große Formation. Auf einmal kommt Bewegung in diesen Organismus, seine äußere Gestalt beginnt sich zu verändern. Eine Kuh verlässt erst zögernd den Weideplatz, trottet dann zunehmend sicherer, zügiger davon und zieht andere hinter sich her, aus dem bisherigen Kreis heraus. Immer mehr Tiere schließen sich an, bilden eine lange Prozession. Die Leitkuh führt sie eine andere abgezäunte Wiese entlang, biegt um die Zaunecke und verschwindet hinter einer hohen Baumgruppe. Dann erscheint sie dem Blick wieder, zusammen mit denen, die sich ihr zuerst angeschlossen. Weiter, weiter … Das Ziel wird klar: das Wäldchen unten am Bach. Es ist Mittag und ein warmer, fast heißer Tag.

Gehen alle mit? Ja, ausnahmslos. Ihr schweigender Zug wirkt großartig, schicksalhaft. Einige Kälber haben Mühe mitzukommen. Sie fallen erst zurück und holen dann vorwärtsspringend auf. Nur eines bleibt zurück - es hinkt stark. Jetzt haben alle anderen Tiere die Wegbiegung passiert und das lahmende Kalb ist weit zurückgefallen, ohne Blickkontakt zu den übrigen. Es gibt nicht auf, strebt weiter sehr langsam jenem Wendepunkt zu. Zwischendurch beißt es hier und da ein Grasbüschel ab. Dann beginnt es zu blöken und bald darauf ertönt aus dem Wäldchen das Muhen einer Kuh.

Ein Tier, vermutlich die Mutter des Kalbs, verlässt den schattigen Platz am Bach, tritt langsam den umgekehrten Weg an. Man hört abwechselnd Muhen und Blöken. Kuh und Kalb verschwinden zur selben Zeit hinter den Bäumen an der Wegecke – und können danach nicht mehr ausgemacht werden. Denn inzwischen haben sich erst einige der anderen Tiere, dann immer mehr und schließlich auch der Rest auf den Rückweg gemacht. Nur wenige Minuten haben sie den Schatten genossen. Jetzt ist die Kraft der Bewegung aus so vielen massigen Leibern, angestoßen von nur einer Kuh auf der Suche nach dem verlorenen Kalb, stärker. Sie müssen ihr folgen, müssen zurück. Die Prozession, wiederum großartig, schicksalhaft, staut sich an der Wegbiegung hinter der Baumgruppe und formiert sich dann neu. Minuten später sind alle wieder vereint auf dem vorigen Weideplatz, eng beieinander grasend wie zuvor, ununterscheidbar, die alte Ordnung wiederhergestellt.

 

 

Ein Diminutiv-Suffix im Bus 128

 

Die Fahrer der Buslinie 128 sind nicht zu beneiden. Ihre Strecke beginnt am Flughafen Tegel mit vielen Fahrgästen, die wie vom Himmel gefallen weder mit Tarifen noch Routen in die Stadt vertraut sind, dafür Gepäck im Übermaß hereinschleppen. Rasch sind alle Sitzplätze belegt. Wer keinen erwischt hat, steht unsicher über Koffer und Reisetaschen gebeugt und am nächsten Haltegriff baumelnd. Los geht die kurvenreiche Fahrt, erst zügig über Schnellstraßen mit wiederholtem Aus- und Einfädeln. Vor dem Kurt-Schumacher-Platz wie fast immer längerer Stau und dann hört man auch schon im Tiefflug die Maschinen über den Bus hinwegdonnern. Wenn Hälse sich verdrehen, sind es die von Fremden; die Einheimischen abgestumpft. An der U-Bahn-Station kommt der große Wechsel. Die meisten steigen hier um, werden sogleich durch die ersetzt, die im Einkaufszentrum Waren besorgt haben. Anstelle des Reisegepäcks versperren nun zwei, drei Kinderwagen den Durchgang in der Mitte. Es ist noch beengter als vorher.

Mit fünf Minuten Verspätung geht es weiter. Jetzt kommen auf fünfhundert Metern drei Kreuzungen und jedes Mal muss der Bus abbiegen, sich vorher einordnen, zwischendurch noch zwei Haltestellen bedienen. Bei einem großen alten Friedhof geht es rechts herum, nun länger geradeaus. An jeder Station quälen sich die, die ihr Ziel erreicht haben, durch Trauben ungeduldig Hereinströmender. Der Fahrer drückt aufs Tempo – schon neun Minuten über der Zeit. Er fährt zunehmend zackig, beschleunigt und bremst abrupt. An der Londoner Straße passiert es dann: Ein älterer Mann in Rentnerbeige ist, beinahe am Ziel, dem stürmischen Fahrstil nicht mehr gewachsen, verliert jeden Halt und taumelt, stürzt auf die Mitfahrenden, wird aufgefangen, berappelt sich und ist noch mal heil davongekommen. Doch er ist wütend, ausgestiegen tappt er am Bus entlang, schlägt auf die Frontscheibe und macht dem Fahrer durch die offene Vordertür laut zeternd Vorwürfe.

Und was brüllt der zurück: „Da hättste mal deine Fingerchen benutzen sollen …!“ Er braust weiter.

Ich horche auf, er hat Fingerchen gesagt, denke ich, nicht Hände oder gar Flossen. Zwar mit Zornesstimme gesagt, doch zärtlich seine Wortwahl? Ich gehe der Sache nach und finde bei Wikipedia auch dazu das Passende:

„Verwendung des Diminutivs im Deutschen: … als Wertung: Minderung des Ansehens einer Person oder des Wertes eines Gegenstandes als Pejorativum bzw. Dysphemismus … Da aber Verkleinerungssilben gleichzeitig die gegenteilige positive Bedeutung des Liebkosens aufweisen (Schwesterchen, Omilein), wird in solchen Ausdrücken der Akt der Abwertung gleichzeitig wieder zu einem gewissen Grad zurückgenommen …“

Demnach alles noch mal ohne ernste Verletzungen abgegangen, wie schön. Man muss eben nur den angemessenen Ton zu treffen wissen.

 

 

Die Sammlerin

 

Wir spielten damals alle ein bisschen 18. Jahrhundert. D. aus München war eine der farbigsten Figuren unter uns, groß, kräftig, gut aussehend, extrovertiert und eitel. Er war Bildender Künstler und auf seinem Spezialgebiet im Inland seinerzeit führend. Ich hatte ihn vor einem Rückflug von New York auf dem Kennedy Airport kennengelernt. In den Staaten hatte er seinen Lover besucht und sich in Atlanta, Georgia, eine Polizeiuniform gekauft. D. war Uniformfetischist und stolzierte bei seinem nächsten Berlin-Besuch drei Tage und Nächte lang in der schmucken (und echten!) Montur herum. Er wohnte bei mir, wir tranken nachts unterwegs viel und wenn wir im Morgengrauen heimgingen, sang er lauthals Arien aus „Rheingold“.

Er fuhr an einem Sonntag zurück und ließ sich morgens von P. mit dem Wagen abholen. Wenn D. sozusagen Hochbarock war, so vertrat der stille, schmale P. einen anderen Zeitabschnitt – die Empfindsamkeit. Er war Franzose und sagte: „Nein, ich esse kein Gemüse, nie, mit Ausnahme von Zuckererbsen.“ So distinguiert war er. Sie nahmen mich auf dem Weg zur Autobahn mit ins Berlin-Museum, der sonntägliche Brunch dort war damals sehr beliebt.

 D. wollte dann immer noch nicht nach München zurück. „Arno soll erst Vera kennen lernen, die ist wirklich einmalig. Ich ruf sie gleich an, halte mal an der Ecke.“ Er war ihr vor Jahren auf einem Trödelmarkt begegnet und sagte über ihre Sammlung: „Ein Händler hat sie auf zwei Millionen geschätzt.“

Vera war eine verstiegene ältere Dame – gewissermaßen reinstes Rokoko. Wenn Sie Glenn Close als Marquise de Merteuil in „Gefährliche Liebschaften“ gesehen haben und sich die Film-Marquise vereinsamt und sehr gealtert vorstellen – ungefähr so … Sie bewohnte allein eine Riesenaltbauwohnung in einem der letzten Häuser aus den 1870er Jahren, nicht weit vom Tiergarten, in Walter Benjamins Altem Westen. In –zig Vitrinen und Schränken verwahrte sie die vermutlich größte private Kitschsammlung der Stadt, wenn nicht Deutschlands. Viele Tausende von Figürchen und sonstigen Objekten, auch viel Kunsthandwerk und nicht wenige echte Kunstgegenstände darunter, alles unsystematisch untergebracht, überbordende Fülle auf jeweils gedrängtestem Raum.

Vera empfing uns freundlich und führte uns gleich durch alle Räume Sie nahm vieles von den Seltsamkeiten, Raritäten und fürchterlichen Geschmacklosigkeiten in die Hand und sagte immer wieder: „Ist es nicht herrlich?“ Sie gab sich neckisch, kokettierte mit ihrer eigenen Verrücktheit, lächelte kindlich-boshaft und zugleich mit dem deutlichen Bewusstsein davon. Ihre einzige Gesellschaft in diesem Museum der Verstiegenheit waren eine träge Katze und ein bösartiges Hündchen. Und über allem lag ein penetranter Geruch nach Katzenpisse.

Sie servierte uns in schmutzigen Tassen schlechten Instantkaffee und dazu gab es echten Cognac und widerwärtig schmeckenden Fertigkuchen. All diese Genüsse wurden uns mit engelhaft-diabolischem Lächeln angeboten: „Ist es nicht herrlich? Ja, grauenhaft, ja?“ Und dann freute sie sich über unsere Reaktionen. D. verkehrte als Künstler mit ihr von gleich zu gleich, doch P. und ich waren sehr befangen.

Wir standen wieder auf der Straße und fuhren im Auto rasch weg. Plötzlich pressierte es den beiden mit der Heimfahrt nach München. Sie ließen mich an einer roten Ampel aussteigen, nicht weit von meiner Wohnung. Ich war also wieder im späten 20. Jahrhundert angekommen, wenigstens dem äußeren Anschein nach.

 

 

Letzte Ausfahrt Gerechtigkeit

 

Die alte Frau strengte einen aussichtslosen Prozess an. Ihr war, zu Fuß unterwegs zur Arbeit, ein mürbe gewordener Innenmeniskus spontan gerissen und sie ohne weitere Ursache aufs Straßenpflaster gestürzt. Dabei hatte sie sich noch einen Ellenbogenbruch zugezogen, der schlecht verheilte. Die alte Frau begehrte eine Unfallrente und zog gegen die Ablehnung vor Gericht, das ein fachärztliches Gutachten einholte. Der Gutachter stützte sich auf den klaren histologischen Befund und führte den Sturz allein auf den Kniegelenksverschleiß zurück. Im Termin versuchte der noch junge Vorsitzende, der Klägerin den Sachverhalt zu erklären und sie zur Rücknahme der Klage zu bewegen. Dazu war sie, fern von jedem Verständnis, nicht bereit. Sie beharrte darauf, sie sei auf dem Arbeitsweg gestürzt. Dass dies nur die zufällige Gelegenheit gewesen, an dem der Schaden zutage getreten, war ihr nicht zu vermitteln. Sie verstummte und ihr Blick besagte: Das verstehe ich nicht.

Die Verhandlung wurde kurz unterbrochen, dann das Urteil verkündet: Abweisung der Klage. Die Klägerin, noch wie alle anderen Anwesenden stehend, dabei straff aufgerichtet, mit zur Decke gerichtetem Blick und lauter, vor Empörung vibrierender Stimme: „Die Gerechtigkeit wird siegen!“ Der Vorsitzende der Spruchkammer darauf, sichtlich genervt: „Für diesmal habe ich noch davon abgesehen, Mutwillenskosten zu verhängen.“ Die Verhandlung wurde geschlossen. Die alte Frau stand noch immer an ihrem Platz, wie erstarrt, ganz erfüllt von der Vorstellung einer transzendenten Gerechtigkeit.   

 

 

Von hoher Warte betrachtet

 

Man kann auch in Brandenburg Berge besteigen, etwa den Hohen Timpberg südwestlich von Zehdenick. In Metern erreicht er deren eine hohe zweistellige Zahl. Betone ich auch das erste der beiden Adjektive, es wird kaum das Naserümpfen des Lesers verhindern, wenn ich mit der Wahrheit herausrücke: fünfundneunzig Meter über dem Meeresspiegel ist dieser Berg hoch. Die tiefsten Punkte der weiteren Umgebung bringen es auf gut fünfzig Meter. Um die Differenz zu überwinden, steigt man entweder von der Bahnstation Bergsdorf – stündliche Verbindung mit Berlin-Ostkreuz – oder vom Dorf Klein-Mutz seine anderthalb oder zwei Kilometer bergan. Die Gegend ist waldfrei und man erlebt, während man bergauf voranschreitet, mit den Augen geradeso wie mit den Füßen, wie sie aufgebaut ist, nämlich in Stufen und Wellen. Das weiter Entfernte mit seinen Wäldern sinkt allmählich hinweg. Diese Landschaft ist musikalisch wie ein Andante von Schumann.

Gekrönt wird das, mit Verlaub, Massiv durch eine zierliche nochmalige und von einem Kranz hoher Bäume eingefasste Erhebung, die wir lieber nicht Gipfel nennen wollen; zwischen ihnen ein paar Steinstufen und man hat den wieder besteigbaren Bismarckturm vor sich. Etwa fünfzehn Meter hoch passt er sich geschickt mit seiner Form derjenigen des Geländes an. Ratlos nehme ich zur Kenntnis, was die Informationstafel an seinem Fuß zu künden hat: Der realisierte Entwurf des Architekten lief seinerzeit unter dem Titel oder Motto „Götterdämmerung“. Die Reproduktion einer, ich muss schon so schreiben, Photographie zeigt festtäglich gekleidete Menschen des Jahres 1900.

Nun aber hinauf! Nur hier und da wird einem ein klein wenig abverlangt auf der inneren Steinstufentreppe und dann bitte beim letzten Erklimmen den Kopf einziehen und schon steht man auf der bemerkenswert kleinen Plattform. Man begreift jetzt, warum der Turm auch Bismarcksäule genannt wird. Die Aussicht ist so fulminant, dass es einem sogleich die Sprache verschlagen könnte. Die Wälder, von denen man beim Anstieg kaum mehr als die Ränder gesehen hat, darunter die Schorfheide, erstrecken sich nun tiefer in alle Himmelsrichtungen, ohne dass man die Ausmaße der Forste auch nur abschätzen könnte. Dann nimmt man die nähere Umgebung in Augenschein und erlebt eine gelinde Enttäuschung. Da ist die Landschaft mit ihrem Aufbau, ihrer allmählichen Steigerung durch Steigung auf einmal zu einer reinen Tiefebene geschrumpft und paradoxerweise ist die Aussicht vom Fuß des Turms, zwischen den Bäumen hindurch, insoweit ergiebiger als von seiner Höhe. Ganz anders habe ich vorhin doch all das beim wirklichen Bergaufgehen erlebt. Man kann das optische Wunder wohl auch mathematisch-geometrisch und perspektivisch erklären. Fünfzehn Meter Höhe zusätzlich ebnen die vierzig Meter Höhendistanz vorher vollständig ein, wenn der neue Horizont viele Kilometer weiter ausgedehnt ist.

Man kann aber auch ein allgemeines Gesetz erkennen: Von unverhältnismäßig hoher Warte aus betrachtet verliert die Wirklichkeit zu ihren Füßen an Substanz und Konturen, wird ein wenig abstrakt.  

 

 

Eine Berolina von heute

 

Es ist mitten am Nachmittag, als ich mich dem Haus nähere, in dem ich seit kurzem wohne. Von draußen, vom Westen komm ich her … Jetzt lebe ich noch tiefer im Osten. Da kommt mir eine Frau Anfang dreißig entgegen, eine stattliche Erscheinung - so sagt man doch? Sie blickt mich erwartungsvoll an, steuert auf mich zu, scheint mich grüßen zu wollen. Kenne ich sie, wohnt sie hier bei uns? Ein Jammer, dass ich mir Gesichter so schlecht merken kann.

„Wo fährt der Bus ab, das muss ich jetzt wissen“, sagt die junge Frau als Erstes. „Ein Bus?“ frage ich zurück, denn unsere Sackgasse befährt nie ein Linienbus. – „Ja, der Bus zum Elsterwerdaer Platz …“ – Nun bin ich im Bild, sie sucht den Ersatzverkehr. Die U-Bahn endet wegen Bauarbeiten seit Montag in unserer Station, es ist gleich um die Ecke. Gern teile ich mein Wissen mit der Suchenden: „Hier fährt gar keiner ab. Sie müssen erst zu einer Ersatzhaltestelle fahren. Am besten, Sie fahren mit der U-Bahn zurück nach Lichtenberg, dort fängt der Ersatzverkehr an …“ Unmut kräuselt schon ihre Stirn, so dass ich rasch einen anderen Vorschlag mache: „ … oder Sie nehmen die Straßenbahn ein Stück in die Richtung“ – ich mache eine Handbewegung – „und an der Kreuzung Alt-Friedrichsfelde …“ – Sie unterbricht mich ärgerlich: „Da will ich gar nicht hin. Ich will zum Elsterwerdaer Platz, wo fährt der Bus hier ab?“ – Ich vermeide es, Gute Frau zu sagen, und entgegne nur: „Hier eben nicht. Er kann hier gar nicht vorbeikommen, wie soll er denn durch den Tierpark fahren?“

Auch dieses Argument verfehlt seine Wirkung, so kommen wir nicht weiter. Sie bleibt eisern dabei, sich ihrem Ziel nicht auf Umwegen nähern zu wollen. Mich zieht es ins Haus und ich sage im Weitergehen: „Dann fragen Sie mich nicht, wenn Sie die Antwort gar nicht hören wollen.“ Da habe ich erst recht ihren Zorn provoziert und höre noch: „Verdammt, ich will jetzt endlich wissen, wo der Bus zum Elsterwerdaer Platz abfährt! Ich arbeite nämlich hier, du Penner!“  Im Lift hinauf frage ich mich: Und wenn das nun die Vox populi war?! Fast könnte man es glauben, es würde manches erklären …

 

 

Wanderungen durch die Mark heute

 

Das ländliche Brandenburg schwelgt in Fontane-Seligkeit. Er ist der Hauptwerbeträger für Gastronomie und Hotellerie dort, das Banner, unter dem das Geschäft sich günstig entwickeln soll. Zwar gibt es meines Wissens noch keine Fontane-Socken – dem Luther-Gedächtnis ist das schon widerfahren -, doch neben Schulen und Apotheken ist alles Mögliche nach ihm benannt. So finden wir neben der Rose „Fontane“ den, horribile dictu, Fontane-Wandermarathon, und womöglich ist sogar die Kartoffelsorte „Fontane“ seiner Erinnerung gewidmet: speziell für Pommes frites geeignet. Im Handel ist ja auch die Saatkartoffel „Napoleon“.

Man kann sich der Sache, nämlich der Gegend, auch anders nähern. Brandenburg hat heute viel mehr Ruinen als zu Fontanes Zeit und sie erzählen viel Seltsameres und oft Schrecklicheres, als der Schriftsteller sich je hätte vorstellen können. Da ist jede Menge Stoff für literarische Aufarbeitung. Manches davon möchte freilich lieber im Dunkeln bleiben. So kam ich diesen Sommer zweimal durch ***, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Es ist keine Stadt, kein Dorf, eher ein Unort, eine weiträumige Mixtur von Gebäuden und Restnatur, durcheinandergewürfelt per Zufall oder aus Willkür. Ich vermisste sogleich eine sichtbare organische Geschichte oder eine erkennbare Konzeption für die Zukunft. Es wohnen da nur wenige Menschen. Was noch in Schuss und nicht ruinös ist, sind zumeist Gewerbebetriebe; zwischen ihnen immer wieder abgeräumte Flächen und Waldstücke und viel Brachliegendes.

Die Wegweisung war unzureichend, ich verlief mich beim ersten Mal, erreichte mein Ziel nicht  und versuchte es Wochen später erneut. Ich hielt mich nun an meine Karte, sie wies, abzweigend von der Hauptstraße, einen Wanderweg quer durch ein Waldgebiet aus. Wo er beginnen sollte, war der Eingang durch ein Gatter versperrt. Ich wich auf einen in dieselbe Richtung führenden Feldweg aus und geriet auf zuwachsende Wiesen hinter dem Wald. Der Weg verzweigte sich dreifach. Ich ging alles ab und geriet jeweils in eine Sackgasse. Am Schluss stolperte ich pfadlos zwischen Bäumen und durchs Unterholz immer weiter … und erreichte wieder den eingangs versperrten Waldweg. Er schien kaum mehr begangen oder befahren, ein entwurzelter Baumriese lag offenbar schon Monate quer über ihm. Das Gatter am Wegende konnte ich umgehen und las nun auch „Betreten verboten“, betreffend die Richtung, aus der ich kam. Von da an ging es bis zum Ende gut voran.

Dieser Ort ließ mich nicht los. Recherchieren im Netz war mühsam und lange unergiebig. Über *** gibt es keinen Wikipedia-Artikel, dafür einen über das Nachbardorf, hier fand sich ein kleiner Hinweis. Ich folgte dem Faden und bekam die Geschichte des Unortes im Wesentlichen heraus. Er ist nicht sehr alt, als Vorwerk erst im 19. Jahrhundert gegründet. Lange war es eine Schäferei. Kurz vor dem 2. Weltkrieg kam ein neuer Eigentümer, ein hoher Beamter aus Berlin, Nationalsozialist und Antisemit und in Hitlers Bewegung von Anfang an stark engagiert. Quellen zeichnen eine düstere Vita, ein ungünstiges Charakterbild – ich kann das nicht im Detail überprüfen. Tatsache bleibt, dass der Mann in jenen Jahren in Berührung kam mit Widerstandskreisen, hohen Offizieren, adligen Grundbesitzern. Er stellte ihnen Geheimmaterial zur Verfügung, auch über Massenmorde, und beteiligte sich an den Vorbereitungen zum 20. Juli 1944. Sein Verhalten an diesem Tag soll zögerlich gewesen sein, es hat ihn nicht vor Prozess und Hinrichtung bewahrt. Der schäumende Hitler verfügte, dass der Abtrünnige vor seinem eigenen den Tod dreier anderer in Plötzensee mit ansehen musste.

Das Vorwerk wurde vom Staat eingezogen. Nach dem Krieg etablierte sich dort ein volkseigener Betrieb und produzierte in vielen Ställen eines der Grundnahrungsmittel – nach der Wende: geschlossen. Wie alle anderen Nachkommen der hingerichteten Verschwörer erhielt auch in diesem Fall die Familie das Grundeigentum zurück und bewirtschaftet es bis heute. Verpachtung dürfte die Hauptrolle spielen. Es wurde auch wieder eine Schäferei begründet. Doch Herden sah ich jetzt keine mehr.

All das taugt wenig, um den Fremdenverkehr anzukurbeln. Es ist nur Teil der wahren, katastrophalen Geschichte eines Landstrichs im 20. Jahrhundert. So gesehen erweist sich die Konjunktur für Fontanesche Anekdoten und Histörchen als Sehnsucht nach der vermeintlichen Idylle vor 1914. Als wäre alles Spätere nur ein böser Traum und nicht im Ablauf der Geschichte, Generation für Generation, selbst schon begründet.   

 

 

Neues aus Absurdistan 

 

Das Netz und die Medien insgesamt sind übervoll von Klagen über den miserablen Zustand der Berliner Verwaltung. Kann ich da mit einem weiteren Beispiel noch auf Interesse stoßen? Ich versuche es, der Vorgang ist bezeichnend genug.

Ich plante Anfang Juni einen Umzug für Ende Juli innerhalb der Stadt. Damit stellte sich früh die Frage: Wie halte ich es mit dem Bürgeramt? Ist man doch verpflichtet, sich innerhalb von zwei Wochen nach dem Wechsel umzumelden. Der Vertrag mit der Umzugsfirma war gerade geschlossen, da suchte ich schon online in all den vielen Bürgerämtern der Stadt nach einem freien Termin: irgendeinen irgendwo.

Hunderttausende, die in meiner Lage waren, werden es kaum glauben, aber mir gelang tatsächlich das Wunderbare: In nur ein paar Stunden ergatterte ich einen der kostbaren Termine – und er lag innerhalb der mir gesetzten Frist! Die Buchung wurde sogleich online bestätigt und ich erhielt darüber kurz darauf, wie angekündigt, noch per E-Mail eine förmliche Bestätigung. Wie war ich erleichtert, danke für den Motivationsschub. Und das Bürgeramt kaum mehr als eine Stunde Weges von meiner neuen Wohnung entfernt. Aber dann …

Der große Tag kam, nicht der des Umzugs, sondern der viel bedeutendere der Ummeldung. Als ich die ausgedruckten Belege einpackte, fiel mir als geübtem Berliner Wohnungswechsler eine kleine Unregelmäßigkeit auf: Ich vermisste die Code-Nummer, die im Amt aufleuchtet, wenn man dran ist. Es gab auf dem Papier nicht einmal eine Rubrik, wo sie hätte stehen können. Ich beruhigte mich damit, dass das löbliche Amt dort unten, von mir noch nie in Anspruch genommen, vielleicht den Kundenaufruf anders gestaltet.

Verlorene Illusion! Man eröffnete mir unverblümt, dass ich keinen gültigen Termin hätte. Ich stand auch nicht auf der dort in Papierform geführten Liste der erwarteten Bürger. Ohne Code kein Termin und kein Aufruf! – Aber, wagte ich einzuwenden, der Termin an sich wurde doch als solcher bestätigt? – Ja, aber Sie haben den Vorgang beim Buchen nicht abgeschlossen. – Und trotzdem erhalte ich danach per E-Mail die Bestätigung eines Termins, der in Wahrheit gar nicht existiert? – Ja, das ist immer so.

Immer so? Sie schienen dort Routine beim Ausbügeln zu haben. Sie gaben mir einfach einen gerade von einem anderen nicht wahrgenommenen Termin. Ebenso flugs wurden mir die Ausdrucke abgenommen. Ob ich tatsächlich beim Buchen „den Vorgang nicht abgeschlossen“ hatte, ist nicht zu klären. Klar ist nur: Unmissverständlich formulierte Terminbestätigungen sind in Berlin nicht wörtlich zu nehmen.

 

 

Chaos durch Ansage

 

Brandenburg kann so schön, so beschaulich sein, doch muss der Berliner irgendwann auch wieder heim … In Dannenwalde hält nur alle zwei Stunden ein Zug, nach Norden wie nach Süden. Ich will zurück in die Hauptstadt, und zwar um vierzehn Uhr einundzwanzig. Minuten vorher stehe ich auf dem Bahnsteig, bereit zum Einstieg, und vernehme aus dem Lautsprecher die Schreckensbotschaft: „Infolge eines Notarzteinsatzes fällt der Zug heute aus. Wir bitten um Entschuldigung.“ Das will erst mal verdaut werden.

Ich bemühe mich um Fassung und dabei fällt mein Blick auf die Laufschrift hoch über dem Bahnsteig. Sie ist sehr lang. Ich erhasche das Wort „Ersatzzug“ und folge dem Bandwurmtext weiter. Da werden ausnahmslos die Namen sämtlicher Stationen aufgeführt, die der Zug vor seinem Ziel Elsterwerda noch passieren wird. Es sind dreiundzwanzig, falls ich mich nicht verzählt habe. Das ist eine Reise eigener Art in die Vergangenheit.. Wo ich überall schon mal war, etwa in Nassenheide, in Rangsdorf, Baruth und Golßen. In Waldrehna war ich noch nicht, muss heute auch nicht sein. Und von Hohenleipisch habe ich nicht mal gehört. Was ist nun mit dem Ersatzzug? Als ich dem Sermon dreimal sehnsuchtsvoll gefolgt bin, weiß ich es: Er fährt um vierzehn Uhr einundzwanzig, und zwar von Gleis zwei. Aber genau da stehe ich ja schon, es ist exakt diese Zeit, nur kein Zug in Sicht.

Jetzt wiederholt eine gut geschulte Frauenstimme aus dem Lautsprecher denselben Text Wort für Wort von Gransee bis Hohenleipisch. Aber der Ersatzzug bleibt dennoch uneingelöstes Versprechen. Die Schrift erlischt und die Stimme verstummt.

Um vierzehn Uhr achtundzwanzig neue Laufschrift: „Infolge eines Notarzteinsatzes fällt der Zug heute aus. Wir bitten um Entschuldigung.“ Mir bleibt ein Rätsel, warum die anderen Passagiere in spe so ruhig bleiben. Soll ich einen ansprechen, Trost suchen? Jetzt ist minutenlang alles still.

Um vierzehn Uhr einunddreißig das Neueste von Geisterhand auf dem Ticker: „Der Zug um vierzehn Uhr einundzwanzig hat heute zehn Minuten Verspätung. Wir bitten um Entschuldigung.“ Und er kam tatsächlich, wenn es auch schon fünfzehn Minuten waren. Eine aufregende Viertelstunde lag hinter mir. Was aber, wenn ich der Horror-Storno-Meldung geglaubt, mich vom Bahnhof entfernt und den Zug dann aus der Distanz noch erblickt hätte?

Selbstverständlich sind Laufschrift wie Stimme automatisiert. Da werden per Knopfdruck Botschaften gesendet, die nur einen losen Zusammenhang mit dem aktuellen Geschehen haben. Bitte nicht alles so wörtlich nehmen ...

 

 

  Berliner Notizen 2011

 

 Ab und zu stößt der Flaneur von heute auf paradoxe Nachbarschaften - Tür an Tür Gewerbezweige, die kaum zu harmonieren scheinen. Oder doch? Da gibt es im Norden der Stadt ein Café Tortenträume, angesiedelt im Hause eines Gesundheitszentrums. Ach ja … Und in der Yorckstraße geht das Ur-Berliner Bestattungsunternehmen Grieneisen seinen Geschäften wie eh und je nach und hat zum Nachbarn, Wand an Wand, ausgerechnet eine Tabledance Bar. Manchmal entfaltet auch nur der Kontrast zwischen Firmen- und Straßennamen seine bizarre Komik. Unterwegs auf der Allee der Kosmonauten konnte so längere Zeit auf einer Plattenbauschmalseite die Riesenplakatwand von Dildoking bestaunt werden – konnte, denn das ging der Marzahn-Hellersdorfer Obrigkeit nun doch einen Fauxpas zu weit: Kosmonauten und Dildos!

Die East Side Gallery erzählt mit ihren Bildern Geschichten. Da hat 1990 der Hiddenseer Maler Willi Berger (* 1922) ein Werk von Johannes Meissel (1888 – 1969) kopiert: Soli Deo Gloria, eine abstrakt-expressionistische Umsetzung von Bachs Die Kunst der Fuge. Berger weist mit einem kleinen Text neben der Kopie auf Meissels Schicksal hin, das Ausstellungsverbot im Dritten Reich wie später das in der DDR. Und er setzt als Appell darunter: Nie wieder Zensur in der Kunst. 2009 gehört Berger zu den Künstlern, die ihr untergegangenes Werk noch einmal auf die Mauersegmente malen. Bergers Kopie von Meissels Hommage an Bach hob sich erneut vom weißen Grund ab – hob sich ab, denn schon jetzt - 2011 - geht sie wieder unter im massenhaften Krickelkrakel. Wer zählt die Tags, die von umfassender Unbegabung Zeugnis ablegen? Wer liest all die Botschaften à la Raffaela from Sao Paulo was here? Jedenfalls nicht die Touris, die gerade einem italienischen Reisebus entsteigen, nur ein Fotostopp mit dem Rücken zur Bilderwand und dann geht’s weiter. Ein Gedanke in mir: Sieht so Zensur heute aus: das Kunstwerk marginalisiert und entstellt in der Materialschlacht der Sprühdosen, Edding-Stifte und Blitzlichter, nicht weniger ätzend als Säure?

Berge besteigen auf Berliner Territorium? Da bieten sich die Trümmerberge an, allen voran der Teufelsberg im Grunewald. Man kann vom Bahnhof Heerstraße der Teufelsseechaussee folgen, die am Fuß des Berges entlangführt. Nun, so gewaltig ist er nicht, man ahnt ihn mehr, als dass man ihn im Walddickicht tatsächlich wahrnimmt. Endlich scheint rechts ein Weg aufwärts abzuzweigen, der Fußgänger folgt ihm und sieht sich, oben angekommen, um die erwartete Aussicht betrogen: von hier aus kaum ein Blick auf die Stadt möglich. Und das Innere der Kuppe ist hermetisch abgezäunt, da stehen noch immer die Ruinen der US-Radarstation. Man kann im Kreis um sie herumgehen, und auf einmal öffnet sich eine Sichtachse nach Norden: dort drüben also die baumfreie Hochfläche mit dem Rundblick und auf ihr winzige Menschenfiguren. Falsch aufgestiegen … Und dann dringen Geräusche durch den Wald, ein Knallen und Knattern, ein Seufzen, Klagen und Heulen, dann wieder ein Schlagen und Klopfen, geisterhaft unheimlich. Es kommt aus dem umzäunten Areal, da ragen hoch über den Baumkronen die Betontürme mit den Kuppeln, und die sie umhüllenden Plastikplanen sind vielfach zerrissen. Unaufhörlich führt der Wind sein Zerstörungswerk fort. Es klingt wie atonale Musik und kann einem wie die Vertonung jenes Geschichtsprozesses vorkommen, dessen Zeuge man gewesen ist. Eine Gelegenheit, wieder einmal Brecht leicht variierend zu zitieren: Von diesen Stätten wird bleiben, der durch sie hindurchging: der Wind …

Ein Gang durch den Plänterwald an einem feuchtkühlen Augusttag. Es riecht nach Laubwald und nach Spreewasser zugleich. Man wandert wie zwischen dichten, grünen, lang herabwallenden Vorhängen. Sie öffnen sich, schließen sich, öffnen sich. Vor kurzem ein Schauer, bei bedecktem Himmel jetzt nur wenige Menschen unterwegs. So nah an der Stadt, so still. Nun kommt der Zaun um den stillgelegten Vergnügungspark. Was da nicht abmontiert wurde, rostet, zerfällt schon ein Jahrzehnt lang. Und dann etwas absonderlich Wundersames: Das alte Riesenrad drinnen fängt auf einmal an sich zu drehen. Es funktioniert noch immer in der gewöhnlichen Weise. Gondeln steigen auf, erreichen den Scheitelpunkt, gleiten hinab in den Baumschatten. Nur dass sie alle leer sind. Kein Mensch zu erblicken, auch nicht am Boden. Ist es ein Probelauf oder ein Mirakel? Das würde ich gern glauben: dass die Abgeschiedenen Besitz ergreifen von unseren Ruinen und sich in ihnen einrichten.

 

 

Frühsommerwanderung

 

In Erkner ist der Anschlusszug weg, also gehe ich gleich los Richtung Wald, quer durch die Stadt. Sie lebte mal von der Teerdestillation und war so mit all den Gerüchen auch zum Kurort prädestiniert. Klingt wie ein Märchen aus alten Tagen, genauer: aus Gerhart Hauptmanns Zeiten. Kam Hauptmann mit seinem Bluthusten nach Erkner, um auch Teerdunst zu inhalieren? Er schrieb hier „Bahnwärter Thiel“ und „Vor Sonnenaufgang“. Ich passiere die Villa, in der er mit der kleinen, wachsenden Familie als Dauerpensionsgast vier Jahre lang lebte. Da ist jetzt das Gerhart-Hauptmann-Museum, das ich nachholen könnte, wenn es nicht für Jahre geschlossen wäre.

Dann bin ich im angenehm schattigen Wald, komme gut voran. Linkerhand ab und zu die Löcknitz. Der Maler Leistikow hat das Tal geliebt, es oft besucht und auch gemalt. Er war mit Hauptmann befreundet und brachte sich um, als die Syphilis ihm immer mehr zusetzte. Wie viel besser wir es heute doch haben, dank Fortschritt usw. Haben wir das?

Ich raste auf einer Bank an der Brücke von Klein Wall. Die Löcknitz gibt sich Mühe, malerisch zu wirken, unterstützt von blauen und roten Libellen und schwarzen Schmetterlingen. Blickwechsel mit einer roten Libelle, die auf meiner Wanderkarte gelandet ist. Sie starrt aus Facettenknopfaugen herüber, bewegt sich dabei nicht. Weiter auf breitem Waldweg nach Hangelsberg …

Unterwegs überquere ich die endlich fertiggestellte zweite Ferngasleitung. Weit von Nordosten kommt sie her … Das war jahrelang Deutschlands längste Baustelle, wie oft hat sie mich beim Wandern zum Ausweichen gezwungen. Jetzt liegen die Rohre in der Erde, es wächst Gras drüber. Man versichert uns, eine andere als die ursprünglich gedachte Funktion sei gegeben oder werde sich finden. Kein Märchen aus unseren Tagen!

Zu früh in Hangelsberg, als dass ich schon nach Berlin zurückfahren möchte. Ich suche eine Bank am Spreeufer und vielleicht gibt es nur diese eine, die ich gefunden habe. Sie steht vereinsamt da und ich gebe sie für eine Stunde nicht mehr frei, so schön ist der grün gerahmte Blick in die Landschaft: zwischen Bäumen am Fluss die Felder drüben, ein Wald dahinter und ein Fischreiher fliegt ab und zu durch das Bild. Er bewegt sich, wie es scheint, immer nur wohl überlegt, verharrt in hoher Position, stößt dann in einer wie präzis berechneten Flugbahn hinab aufs Wasser, ruhig, zielsicher und punktgenau. Ich verscheuche eine Assoziation.

Die Bank steht leicht erhöht auf der Kante, die hier Hochufer zu nennen übertrieben wäre. Ich kann das Wasser von oben vorüberfließen sehen, in ihm losgerissene Pflanzenteile, Fragmente von Strünken, sogar ein treibendes Seerosenblatt. Sanfte Wellen werden nur sporadisch sichtbar. Ich sehe stattdessen einen Wasserkörper, der sich als Ganzes in mäßigem Tempo ungeteilt flussabwärts schiebt: Allegro moderato, auf Berlin und das Ende zu, die Mündung in die Havel. Die Spree hat hier in Hangelsberg die gerade richtige Wassermenge und Strömungsgeschwindigkeit, um im Betrachter kontemplatives Wohlgefühl auslösen zu können. Er will gar nicht mehr fortgehen.

Heute ist der 31. Mai 2023, Omas 126. Geburtstag. Lebte Oma noch, wäre ich jetzt der einzige Enkel der ältesten Frau der Welt. Zeit, zum Bahnhof zu gehen.

 

 

Busfahren in Neuruppin

 

Der Ortsfremde, Berliner und Anfang siebzig, erreicht den Südrand von Neuruppin. Er ist zwanzig Kilometer zu Fuß gegangen und will den Bus zum Bahnhof nehmen. Und er hat Glück: Schon in ein paar Minuten geht der nächste. Die Endhaltestelle liegt vor einem Wohnheim in einem Gewerbegebiet. Es gibt einen Stopp zum Aussteigen wie für die Pause und einen zum Einsteigen. Sonst wartet noch keiner hier.

Der Bus nähert sich zwei Minuten vor der Zeit. Er hat nicht beim Ausstieg gehalten, an seiner Stirnseite schon der Name der kommenden Endstation. Die Vordertür öffnet sich, der Fremde will einsteigen, die Chipkarte gezückt. Der Fahrer verwehrt es ihm: Es sei zu früh, es müsse noch etwas umgestellt werden. Der Fremde stellt sich vor der Tür rechts an. Links verlässt gerade eine junge Frau als Letzte den Bus. Der Fahrer steigt ihr rasch nach und beginnt ein Gespräch mit ihr, wohl nicht zum ersten Mal. Sie reden Englisch, es geht um den Alltag der jungen Frau. Der Kopf des Fahrers kommt ihrem sehr nahe. Er wird sie doch nicht küssen wollen? Stattdessen streckt er die Rechte vor, scheint an etwas herumzufummeln.

Jetzt trittt ein älterer Mann hinzu, jünger noch als der aus Berlin. Der Fahrer begrüßt den jüngeren älteren Mann wie einen alten Bekannten und fragt nach Ziel und Wünschen. Es heißt: Da werden wir uns doch gleich drum kümmern … Der Fahrer kehrt in den Bus zurück, den weiteren Fahrgast im Schlepptau, auf ihn einredend. Der Berliner besteigt die kleine Treppe und bleibt weiter wartend auf der unteren Stufe stehen. Nicht schlimm, wenn einer vorgezogen wird.

Der Fahrer kennt den weiteren Ablauf schon. Der Kunde soll wieder die Münzen in die Mulde legen. Es handelt sich um achtzehn Euro sechzig, die nur in kleinen Messingmünzen bezahlt werden, lauter Zehn- und Zwanzig-Cent-Stücke. Es wird genau nachgezählt und dauert vier Minuten, bis alles erledigt ist. Inzwischen hat sich ein Jungmänner-Trio vorbeigequetscht, ihre Handys mit Apps bloß von weitem vorzeigend. Zum Auslesen werden sie zurückgerufen. Dann erst kann der noch immer Geduldige seine Chipkarte auf die Platte legen und ist in drei Sekunden durch. Der Fahrer ignoriert ihn dabei weiter. Auf dem Weg in die Mitte kommt dem Berliner noch der mit den Münzen entgegen. Weiter hinten hat es ihm nicht behagt, er sucht wieder die Fahrernähe. Man zwängt sich aneinander vorbei.

Endlich darf auch der Ortsfremde niedersinken. Muss Busfahren so anstrengend sein? In Neuruppin?

 

 

Die Sache mit dem Eisbecher

 

 Ort des Geschehens: ein Einkaufszentrum an der östlichen Berliner Peripherie. Wir zwei wollen wegen der Hitze mittags auf warmes Essen verzichten, lassen uns stattdessen in einem großen Eissalon nieder. Der freundliche Kellner spricht mehr Italienisch als Deutsch, auch mit uns. Er gibt die Bestellungen in seinen kleinen Apparat ein: für meinen Begleiter einen Kiwi-Becher, für mich einen mit Eierlikör.

Zweiter Auftritt: Lieferung der Ware durch eine hurtige Serviererin, die noch weniger Deutsch kann: „Der Ki …?“ Der Rest nicht zu verstehen, vielleicht Sizilianisch? Ich habe es eilig mit meinem Becher, beantworte rasch die Kiwi-Frage, indem ich auf den Platz gegenüber deute. Die Portionen werden abgestellt, die junge Frau ist schon außer Rufweite.

Mein Löffel ist noch in der Luft, da höre ich: „Jetzt hat sie mir den Kindereisbecher gebracht!“ Das kann kaum als Kompliment verbucht werden à la Man-sieht-Ihnen-Ihr-Alter-gar-nicht-an. Mein Freund wurde neulich siebzig, es ist ihm anzusehen. Er fügt sich in sein Schicksal und macht sich über den Kinderbecher her.

Meine Eierlikör-Kreation hat zwei kleine Eiskugeln, die ich erst mühsam ergraben muss in den Tiefen des mit viel Sahne und Schokoladensauce aufgefüllten Bechers. Das Wenige an gelber Farbe obendrauf spricht zwar für Eierlikör, kann sich nur geschmacklich nicht durchsetzen.

Fasziniert beobachte ich, was ein alter Mann mit einem Kinderbecher anfängt. Zuerst angelt er mit dem Löffel nach den quietschbunten Kugeln, groß wie Murmeln, die er verächtlich auf dem Servierteller ablegt: „Reiner Zucker. Schlecht für Kinderzähne - und für mich viel zu hart.“ Dann kommt die Sahne dran, die keine Probleme macht. Auf der Suche nach dem Eis stößt er einmal gegen die aus dem Becher hoch aufragende Waffeltüte. Womit er nicht rechnen konnte: Sie ist gefüllt nur mit Luft und fliegt jetzt in hohem Bogen auf den Tisch. Dabei macht sich die der Tüte aufliegende Kugel selbständig und landet als Geschoss unter meinem Stuhl. Ich bücke mich nach diesem Überraschungsei und lege es verformt neben dem Raketentreibsatz ab. Schweigend schlürfen wir weiter bis zum bittersüßen Ende.

Die Rechnung, bitte …! Der Kellner weist anhand seines Displays nach, dass er die Bestellung korrekt aufgenommen hat: Fehler in der Lieferkette dahinter. Einig sind wir uns, dass der erfasste Zahlbetrag reduziert werden muss – ein Kinderbecher kostet zwei Euro weniger. Also muss der Kellner noch mal zum Tresen, um die kalkulatorische Operation von dazu Befugten vornehmen zu lassen. Dann können wir endlich gehen.

Nachtrag: Das Überraschungsei – Schokolade in Einwickelpapier - wurde als Beweisstück mitgenommen. Es enthielt im Innern eine gelbe Plastikkapsel mit drei montierbaren Teilen einer Tierfigur. Bisher gelang es mir nicht, sie zusammenzusetzen. Es könnte sich um ein Hybridwesen handeln, vielleicht ein Känguruh-Reh?

 

 

 

Fern - unfern von Berlin 

 

Die Bushaltestelle liegt mitten im Wald und heißt Deponie. Ich lasse diesen künstlichen Berg links liegen und biege rechts ein, um einen richtigen zu überschreiten. Schon nach zweihundert Metern seine größte Attraktion: eine gefasste Quelle und davor ein rundes Becken mit Goldfischen. Die Fische werden nervös, als ich am Rand erscheine, teilen sich in zwei Haufen, beruhigen sich und kommen wieder zusammen. Der einsame Pfad führt dann steil hinauf. Auf ihm kommt mir eine junge Frau entgegen, deren Begleiter, ein angeleinter Jagdhund, sich vor meinem Anblick so fürchtet, dass er nicht weiter will. Wir lösen das Problem, indem ich mich an den Rand stelle und sie ihr widerstrebendes Tier vorbeizerrt. Von oben habe ich einen Ausblick über eine kleine Ebene und zwei weitere Höhenzüge. Man könnte sich beinahe in einem deutschen Mittelgebirge wähnen.

Steil auch wieder hinab und durch ein kleines Dorf mit sehr altem Kirchturm aus Feldsteinen; das viel jüngere Schiff harmoniert nicht mit ihm in Material oder Gestalt. Ich streiche den Aufstieg auf den nächsten Hügel, da der dorfnahe Weg, den die Karte noch zeigt, unter einem Acker verschwunden ist. Im nächsten Ort könnte man mich auf einer Bank am kleinen See sitzend den Mittagsimbiss halten sehen. Man schenkt mir jedoch keine Beachtung, der Straßenverkehr rauscht vorbei, zweimal unterbrochen von Martinshornklang.

Der nächste Aufstieg ist länger. Es geht nur durch Wald und es gibt keine Begegnungen; verlassen der neue stählerne Aussichtsturm. Auch ich will nicht hinauf, ich scheue diese Konstruktionen, wo man auf Außentreppen durch Drahtgitter in die Tiefe blicken muss. Es kommen am Weg dann zwei Riesenfindlinge. Ihre Benennung verwirrt zunächst. Der kleinere von ihnen ist der Große Stein und der größere der Kleine Stein. Letzterem wurde vor zwei Jahrhunderten so viel Substanz entnommen, wie nötig war, um daraus eine hübsche Schale für ein Berliner Museum zu formen. Ich raste kurz, trinke aus meiner Wasserflasche und plane das Weitere. Auf in den formidablen Kurort da unten! Auf dem noch längeren und dafür sanfteren Weg abwärts bekomme ich selten Menschen zu Gesicht, Wanderer in die Höhe, und ein Radler klingelt mich von hinten zur Seite.

Je öfter ich Bad Neureichenhausen besuche, umso mehr fremdele ich mit ihm. Dort riecht es ein bisschen nach Hautevolee, nach viel Geld, nach Spekulation. Es herrscht der schlechte gute Geschmack und so ertrinken allmählich die Villen der ersten Generation, detailreich und landschaftsbezogen, unter dem Ansturm von massiertem Bauhaus-Weiß. Am Ende des sehr großen Sees dräut, auch ganz in Weiß, als anachronistisches Zwillingspaar ein Luxushotel. Nivellierend-entstellend saniert ist der Altbau, verbunden durch eine tiefer gelegte Kauleiste mit dem Prachtkerl von Neubau daneben. Ich denke an die Auslage eines Zahnlabors und gehe rasch tiefer in den Kurpark hinein. Er ist bevölkert von Menschen wie ich - Zaungästen. Ich suche mir die hinterste Bank und knuspere wieder etwas aus dem Rucksack.

Diesmal wandere ich weiter hinaus in den Vorort, den ich noch nicht kenne. Unterwegs denke ich über ein Phänomen nach: In den kleinen Städten Ostdeutschlands sind oft gerade die bürgerlich-wohlhabendsten Straßen nach historischen Größen des Marxismus benannt: Rosa Luxemburg, Karl Marx, Ernst Thälmann … Seltsam. Die Straße hier parallel zum See ist sehr lang und gerade, der Baubestand so heterogen wie seine Gesamtwirkung monoton. Einige Male sind am sonst privatisierten Strand kleine Grünflächen am Wasser ausgespart zur öffentlichen Nutzung. Das sieht nach Notbehelf aus oder nach Alibi, ich gehe gleich weiter. Entgegen kommt mir unternehmenden Schrittes eine Greisin in Weiß und Hellrosa, eine Kombination von Strand- und Abendkleid für zwei Uhr nachmittags, der Saum gefährlich nahe dem Boden – auf dem ich immer wieder Stolpersteine zum Gedenken an die ersten Bewohner der Villenkolonie entdecke.

Endlich draußen am wirklichen Stadtrand. Gewöhnliche Wohnblocks, ein Discounter, noch ein paar kleine Geschäfte. Hier wird nicht repräsentiert, ich atme auf. Vor dem Bahnhof – Endstation der kleinen Seitenbahn - flattert ein später Admiral, seltener Anblick in diesem Kriegs- und Katastrophenjahr. Noch zwanzig Minuten, bis der Zug kommt. Ich habe von meiner Sitzbank einen exquisiten Blick ins Grün neben dem Gleis, auf prachtvolle Bäume, eine einzelne sehr alte und mächtige Kiefer, eine Wand aus vier hohen, breiten Zitterpappeln mit Tausenden von Blättern, die synchron erzittern, eine fremdländische Fichte mit sehr dicht gewirktem Zweig- und Nadelwerk. Eine Katze jenseits des Bahnkörpers fängt seelenruhig an sich zu putzen.

Nächstes Mal fahre ich gleich hierher und dringe tiefer ins Hinterland vor.

 

 

Gefangen im Lift - Protokoll einer Zwangslage

 

 10.05 Uhr im Bahnhof von F***: Wir betreten mit drei weiteren Personen den Lift, der vom Bahnsteig abwärtsfährt. Allein hätte ich die Treppe genommen, doch Sascha kann mit seiner Kniearthrose schlecht Stufen hinabgehen.

 

10.06 Uhr: Ein kaum merkliches Bremsen und der Lift hält plötzlich in seinem Gleiten inne. Wir scheinen alle verblüfft und sehen uns um. Die verglaste Kabine ist auf halbem Weg zwischen Bahnsteig und Unterführung steckengeblieben. Wir können direkt auf den langen Gang mit den vielen Menschen hinuntersehen.

 

10.07 Uhr: Von links tastet sich die Hand des mittelalten Mannes vor und betätigt den Notrufknopf. Das ältere Paar hinter mir wechselt ein paar Worte auf Polnisch. Sonst betretenes Schweigen.

 

10.08 Uhr: Ich nehme erste Anzeichen von Nervosität bei Sascha wahr. Hoffentlich gerät er nicht in Panik. Die anderen warten weiter geduldig schweigend. Ich gehe einen Schritt nach links, stehe nun genau vor der Schalttafel und drücke auch den Alarmknopf. Eine Reaktion bleibt weiter aus.

 

10.09 Uhr: Ich drücke den Knopf erneut, wieder ohne erkennbaren Erfolg. Verlegenes Gemurmel zwischen uns fünfen in der engen Kabine: Braucht seine Zeit … Allmählich könnte was passieren …

 

10.10 Uhr: Die Notrufzentrale meldet sich. Ich darf die misslichen Umstände durchgeben. Wie viele Personen? Sind alle wohlauf? Man wird die Rettung veranlassen.

 

10.11 Uhr: Bis auf weiteres bleibt alles so, wie es ist.

 

10.15 Uhr: Ich löse noch einmal den Alarm aus. Der Apparat bleibt weiter stumm.

 

10.17 Uhr: Zu unserer Zerstreuung nehmen wir Blickkontakt zu Passanten unten auf. Ich gestikuliere und grimassiere ein wenig. Manche bleiben vorübergehend stehen, stutzen, gehen weiter. Ob einer unsere Notlage irgendwo meldet?

 

10.19 Uhr: Wieder die weibliche Stimme aus dem Apparat, die Feuerwehr sei alarmiert und zur Rettung unterwegs.

 

10.22 Uhr: Uniformierte Männer treffen unten in der Passage ein, machen sich an die Arbeit.

 

10.23 Uhr: Der Fahrkorb ruckelt ein wenig.

 

10.24 Uhr: Wir gleiten abwärts, kommen in der Passage zum Stillstand. Die Lifttür bleibt leider verriegelt.

 

10.25 Uhr: Wir schauen zu, wie die Kabinentürflügel mühsam per Hand auseinandergeschoben werden.

 

10.26 Uhr: Wir sind befreit, bedanken uns im Vorbeigehen, hören einen Feuerwehrmann sagen: Der hat wieder mal Ärger gemacht ...

 

15.45 Uhr: Unser Zug zurück geht vom selben Bahnsteig. Der Lift von heute Morgen gleitet auf und ab. Ich schlage vor, ihn wieder zu nehmen, aber Sascha lehnt ab und quält sich lieber die Steintreppe hinauf.

 

 

Mühsame Heimfahrt

 

 Die letzte Stunde fällt ihm schwer: Muskel- und Gelenkschmerzen wie noch nie. Doch den Vier-Uhr-Bus will er möglichst nicht verpassen. Alles ist durchgeplant, zu kurz kommen daher heute die Eindrücke von Landschaft und Dörfern der Uckermark.

Geschafft - zweiundzwanzig Kilometer in fünf Stunden und zehn Minuten! Und gerastet wurde eben nur in diesen zehn, beim Mittagsimbiss aus dem Rucksack. Jetzt geht der Bus in wiederum zehn Minuten, die Zeit reicht gerade noch für vier kleine Waffeln. Den mitgeführten Kaffee will er später im Zug trinken. Der Bus kommt, erreicht Joachimsthal pünktlich – aber dann die Durchsage: Wegen Reparatur am Fahrzeug fällt der Zug heute leider aus ... Eine Stunde Zwangsaufenthalt! Doch wird sie recht angenehm auf einer Bank zugebracht, mit Blick über das weite grüne Seebecken, während er den Kaffee aus der Thermoskanne – nun ja, genießt.

Er bekommt noch Gesellschaft. Die alte Frau geht sehr mühsam am Rollator und lässt sich neben ihn fallen. Hier sei es viel schöner, meint sie und weist auf die grüne Kulisse. - „Schöner als …? Wo wohnen Sie denn?“ - Es ist eine Berliner Randgemeinde und die alte Frau wird sie bald verlassen: „Ich habe mir hier eine Zwei-Raum-Wohnung gemietet“, sagt sie fröhlich. - „Aber die Infrastruktur, viel weniger Geschäfte und vor allem Ärzte …“ - „Es gibt ja zwei oder drei Ärzte.“ - „Und bekommt man Termine, wird man als Patient angenommen?“ - Über den Ärztemangel hat sie noch nicht nachgedacht und er bewundert ihre resolute Sorglosigkeit.

Umsteigen in Eberswalde. Es zeigt sich, die Joachimsthaler Entspannung kann er gut gebrauchen. Er erfährt, vor Berlin sei die Oberleitung gerissen und der Zugverkehr dahin unterbrochen. Er sitzt dann in einem Pendelzug, der ihn seinem Ziel immerhin ein Stück näherbringen wird. Das Gestammel des Zugbegleiters aus dem Lautsprecher endet mit Verweis auf den Navigator. In Bernau müssen alle aussteigen und werden zur S-Bahn gewiesen. Sie soll allerdings nur zwei Stationen weit fahren, in Zepernick stünden Ersatzbusse bereit. Er sinkt drinnen auf einen Platz nieder, schicksalsergeben. Wann wird er endlich daheim sein?

Da, die erlösende Durchsage des Lokführers: „Ich höre gerade, wir können als erste Bahn wieder durchfahren.“ Im Zug braust großer Jubel auf. Unterwegs erhascht er einen Blick auf die Havarie: Da hängt bei Röntgental – möchte einer in einem Ort namens Röntgental leben? -nur kleines Stück Stromleitung herab, wie eine fallengelassene Masche, und noch kein Reparaturtrupp am Werk. Der Unglücks-ICE ist zur Station Buch zurückgefahren, unser Reisender sieht dort Uniformierte gerade die Lok fotografieren. Später wird er lesen, es seien an die vierhundert Passagiere aus ihm evakuiert werden.

Im Rückblick erweist die erste Zwangspause sich als Glücksfall. Ohne sie wäre die Rückfahrt mit zweimal weiterem Umsteigen noch mühsamer gewesen. Zepernick und überfüllter Ersatzbus blieben ihm erspart. Scheinbares Ungemach war also Segen. Soll man es gelegentlich mit Fatalismus versuchen?

 

 

Kleines Abenteuer im Wald

 

Wann bin ich das vorige Mal in diesem Wald gewesen und seitdem nicht wieder? Vor zehn Jahren, vor zwölf Jahren? Ich komme rasch auf dem schmalen, schattigen Talweg voran, froh, der Hitze entronnen zu sein. Den neuen Zaun zu meiner Linken – dort senkt sich das Gelände zum Bach hin – nehme ich kaum wahr; er reicht mir nur bis zur Mitte des Oberschenkels.

Auf einmal rast ein Hund aus der Tiefe des befriedeten Terrains heran, ein weißer Hirtenhund. Er bellt wütend, streckt den Kopf über den Zaun in meine Richtung, zeigt die Zähne. Er will mich unbedingt weghaben. Schon recht, ich drücke mich an die andere Pfadseite und gehe eilig weiter. Der Hund lässt sich dadurch nicht beruhigen. Er verfolgt mich auf seiner Seite, drückt sich immer wieder gegen den Zaun, tobt geradezu. Das Zaunende ist nicht in Sicht.

Was beginnen, wenn er über den Zaun setzen sollte? Ich sehe mich auf dem Boden nach einem geeigneten Stock um. Da liegt ein großer Ast, den ich ergreife. Ich will ein passendes Stück abbrechen. Es misslingt, so viel Kraft habe ich jetzt nicht, Zeit und Geduld auch nicht. Ich schleppe also den ganzen Ast mit mir. Fafner und Fasolt kommen mir kurz in den Sinn - unpassender Vergleich, ich sehe es ein. Der Hund wird immer wütender.

Sein wachsamer Zorn wird verständlich, als ich nach ein paar Hundert Metern das Ende des Zauns erreiche. Dicht an ihm lagert friedlich eine Ziegenherde, die sich vor der Mittagshitze dort in den tiefsten Schatten zurückgezogen hat. Es sind viele schneeweiße Jungtiere dabei. Ich würde mich jetzt gern hinstellen, das bukolisch-friedliche Bild auf mich wirken lassen. Stattdessen ziehe ich schnell weiter, letztes Gebell hinter mir lassend.

Wegen der Wölfe und der vielen Risse neuerdings wird der Hund wohl gehalten. Er versieht sein Amt gut, er ist tüchtig. Meine innere Einstellung ihm gegenüber wird schon positiver. Ich werfe den Pfahl ins Gebüsch – und erschrecke: Meine Hände sind stark blutverschmiert. Wahrscheinlich habe ich mir beim Hantieren mit dem Ast eine Risswunde zugezogen und sehe jetzt aus, als käme ich von einer Bluttat. Ich lasse es gerinnen. Soll die Sonne es später wegtrocknen.

 

 

Zweikampf an der Frankfurter Allee, abgebrochen

 

 Wie oft hatte er die Türme von Tangermünde aus der Ferne gesehen, immer nur kurz aus dem Zugfenster. Heute ist A. endlich da gewesen – Tangermünde ist schön.

Zurück in Berlin will er rasch im Ring-Center essen, es liegt am Heimweg. Im SB-Restaurant ist er gegen halb sechs mit zwei einzelnen Alten allein. Dann kommt ein junges Paar mit Söhnchen, vielleicht vier. Sie verstellen mit dem Kinderwagen den Ausgang und setzen sich weit ab davon nieder. Der alte Mann vom Nebentisch, stark gehbehindert, zwängt sich beim Aufbruch mühsam am Kinderwagen vorbei.

Der Kleine brüllt die meiste Zeit. Während seine Eltern ruhig weiteressen, stapft er im Lokal herum. Die alte Frau neben ihnen, noch stärker gehbehindert, belädt ihren Rollator mit dem Geschirr und schiebt ihn in Richtung Ablage. Dabei kommt ihr der Junge immer wieder in die Quere. Seine Eltern greifen nicht ein. Erst als der Kleine einen Stuhl besteigt und an der Wandbespannung herumfingert, holt ihn die Mutter zurück. A. beobachtet alles von seiner entfernten Ecke aus.

Das Söhnchen ist schon wieder vom Tisch der Eltern weggelaufen und steuert erwartungvoll den letzten anderen Gast an. - „Du, bleib da weg, komm nicht hierher … Holen Sie Ihren Sohn zurück, ich will ihn nicht am Tisch haben!“ - A. ist laut geworden und die Eltern erheben sich sofort, kommen empört, drohend herüber. Man sagt sich kurz die Meinung, die Mutter bewirft den fremden Gast mit ihrer benutzten Serviette. Dann trinken alle rasch im Stehen aus, räumen ab und brechen gleichzeitig auf. Gott sei Dank, das Trio zieht Richtung Möllendorffstraße.

A. hat die Unterführung passiert und will eben auf der Friedrichshainer Seite zur U-Bahn hinunter, als ihm von hinten der Hut weggerissen wird. Der junge Vater ist ihm doch nachgegangen und schreit: „Du hast meinen Sohn beleidigt!“ - „Er hat genervt, ich wollte in Ruhe essen, tut mir leid. Gib mir bitte meinen Hut zurück.“ - Sie wiederholen das mehrmals, dann: „Ich geb dir deinen Hut nicht zurück, ich schmeiß ihn auf die Frankfurter Allee!“ Er hat die Hand schon über dem Absperrgitter. A. greift sich mit der Rechten den Arm des anderen und zieht mit der Linken am festgehaltenen Hut, vergeblich. Mit gegenseitigem Armdrücken scheint sich ein Ringkampf anzubahnen, und dabei könnte der eine der Enkel des anderen sein …

Passanten treten dazu. Der Ältere ruft nach der Polizei, der Griff um den Hut lockert sich, er hat ihn wieder. Einer sagt zu A.: „Gehen Sie einfach rasch runter.“ Dem kommt er gern nach, sich dabei vergewissernd, ob er nicht wieder verfolgt würde. Ein Glück, dass die nächste Bahn gerade einläuft - schnell hinein! Und lieber wieder an anderes denken: Tangermünde!

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.12.2010

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