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INHALT

 

1. Sarrazin und die Freunde des Gerstensafts

 

2. Die Monokultur des Luxus

 

3. Die zwölf Glaubenssätze von 2010

 

4. Hitler wird der Ton abgestellt

 

5. Neues von Sarrazin

 

6. Was Sie schon immer über Antisemitismus (nicht) wissen wollten

 

7.  Zum Beispiel

 

8.  Aus dem christlich-jüdischen Giftschrank

 

9. Sklerose und Zukunft

 

10. Die Fußball-Legende

 

 

 

1. Sarrazin und die Freunde des Gerstensaftes


Der Bahnhof Berlin-Lichtenberg war zu DDR-Zeiten der heimliche Hauptbahnhof von Ost-Berlin. Heute fahren außer vielen S-Bahnen fast nur noch Regionalzüge von ihm ab. Dennoch hat er eine zeitgemäß und großzügig erneuerte Empfangshalle. Hier bekommt der reisende Mensch alles, wessen er bedarf: Blumen und Bücher, Fahrkarten und Fischstäbchen, Seife und – Sprit.
      In der Halle stehen zu ebener Erde Wartebänke. Auf ihnen etabliert sich zuweilen recht diskret eine kleine Trinkerszene. Nun ja, der Herbst ist früh gekommen … Irgendwo müssen sie bleiben können. Ich dagegen muss nicht bleiben, finde nachher meinen Platz im Zug nach Müncheberg und gehe bis dahin auf und ab.
      Ein anderes Mal, das Wetter hat sich gebessert, ist eine Bank zur Gänze frei. Also mit meiner Zeitung dort Platz genommen. Bald habe ich einen Nachbarn, einen mit Bierflasche. Er beäugt mich, während ich die Schlagzeilen überfliege. Gehöre ich dazu, zu seinem erweiterten Kreis? Dann trifft ein anderer ein, setzt sich zwischen uns in die Mitte. Die beiden kennen sich schon.
      Sie reden über – na, über wen wohl? Sarrazin … Und er hat doch Recht … Natürlich hat er Recht … Das wird man doch noch sagen dürfen …
      Auf einmal werden die beiden für mich durchsichtig und ich habe eine Szene aus den Siebzigern vor mir. Es hätten ihre Väter sein können. Allerdings war es in West-Berlin, in der U 7, und auch noch in Neukölln. Schon damals gab es Elend und Verelendete. Und die Lebenslügen, die den Verelendeten das Überleben erleichtern. Es saßen also zwei versoffene Subjekte auf einer Bank und es standen zwei in feinen Zwirn Gekleidete am Ende des U-BahnWagens. Sie waren zwischen dreißig und vierzig und offenbar aus Südasien, vielleicht indische Wissenschaftler, die an einem Kongress teilnahmen. Falls es Architekten waren, könnten sie von Bruno Tauts Hufeisensiedlung gekommen sein. Sie stiegen bald aus oder um. Die beiden Einheimischen murmelten oder vielmehr zischten ihnen hinterher: Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg … Das war so absurd, dass es nicht mal peinlich war.
      Wie die Alten sungen, krächzen die Jungen. Ich würde ihnen jetzt am liebsten sagen: Hört ihn wenigstens zu Ende an, euren kleinen Thilo. Auch von euch ist ja bei ihm die Rede. Hört nur: Ihr sollt euch nicht vermehren, das ist besser so für unser Land. Seiner Meinung nach.


2. Die Monokultur des Luxus


Ursprünglich hatte ich an der Elbe Luft schöpfen wollen. Aber dann war mir der stürmische Nordwind dafür zu kalt und ich blieb lieber im Hamburger Stadtzentrum. Bummelte ziellos herum und stellte bald fest, wie sehr mich das langweilte, und zwar am meisten in jenem bei Touristen so beliebten Viertel zwischen Rathaus und Gänsemarkt. Was war nur wieder mit mir los?
      Zu Hause versuchte ich meiner Missstimmung auf den Grund zu gelangen. Ich unternahm in Gedanken nochmals einen Streifzug durch das Viertel. Wie oft hatte ich ihn in drei Jahrzehnten schon wirklich zurückgelegt … Dabei stieß ich jetzt immer wieder auf Anziehungspunkte, die es nicht mehr gab. Ich machte mir klar, wie sehr sich die Stadt dort in den letzten fünfzehn Jahren verändert hat, zu meinem Nachteil gewiss und vielleicht auch zu ihrem eigenen.
      Wie üblich begann ich am Gänsemarkt. Das große Kino-Center dort – abgerissen. Zugegeben: Seinem Filmangebot weine ich nur wenige Tränen nach. Immerhin hatten sie sogar Streifen von Fassbinder gezeigt … In der Passage daneben der kleine Buchladen – spurlos verschwunden. Zwei Schritte weiter am Jungfernstieg die Erinnerung an eine große Buchhandlung christlicher Prägung mit langer Tradition – bis auf eine Erinnerungs-
tafel an die dort einmal beheimatet gewesene Hamburger Weiße Rose getilgt.
      Ich drang tiefer in die schmalen Straßen hinterm Gänsemarkt ein, schlenderte auch durch weitere Passagen. Da fand ich jenes Programmkino – nicht mehr. Sehr schade drum, sie hatten lange Jahre die in meinen Augen besten Filme gezeigt, von Visconti zum Beispiel. Schräg gegenüber das Café war sonntags ein Ziel gewesen – verschwunden. Dann ein Laden, wo man die größte und beste Auswahl an Postern gefunden hatte – nicht mehr existent. Und das wirklich gute Restaurant mit der großen Glaskuppel drüber – aufgegeben.
      Ich setzte meinen Gang durch das Plusquamperfekt bis zum Rathausmarkt fort und entdeckte noch die Lücken einer weiteren kleinen Buchhandlung – die mit dem anspruchsvollsten Sortiment in der Stadt – sowie ein Kellerlokal und ein Billigkaufhaus, das sich wirklich jedermann hatte leisten können. Überall Fehlanzeigen. Das große alte Warenhaus am Jungfernstieg gab es noch, doch wie verändert! Ursprünglich das breiteste Sortiment vom einfachen Gebrauchsgut bis zum teuren Artikel für den echten Genießer bietend, erschien es mir nun von Kopf bis Fuß durchgestylt und auf nur eine Käuferschicht und nur deren Vorlieben hin orientiert.
      Was war da geschehen? Verdrängt worden sind vor allem Lokale und Institutionen, die geistige Bedürfnisse befriedigen (Bücher, Filme, Drucke). Sodann herkömmliche Kneipen und Restaurants. Und was hat sich an ihrer Stelle etabliert? Teure Konfektion, teure Konfektion und noch einmal teure Konfektion. Dazwischen mal ein Laden für edlen Schmuck, öfter noch für andere, natürlich teure, Accessoires, je verkrampft neckischer, desto besser. Und eine Bank. All das war vorher auch schon genügend vertreten, nun ist es vorherrschend geworden.
      Wer kauft da? Wer bummelt da? Einwohner von Hamburg eher weniger. Dafür Touristen, die ein Regentag von der Küste ins Landesinnere vertrieben hat. Leute von weit her, aus Skandinavien etwa, mit viel Geld und einem großen Problem: Wie geben sie es stilvoll aus? In Köln sagte mir mal einer: Auf der Rückreise von Westerland haben wir uns noch die Hamburger Passagen angesehen, sehr elegant, wirklich. – Und einseitig bis zur Fadheit.
      Seit Jahren gibt es in Hamburg einen Exodus der Intelligenz Richtung Berlin. Er ist im Verlagswesen an-
zutreffen und in den Künsten. Die hemmungslose Zurschaustellung eines geistlosen Luxuswarenangebots schafft letztlich ein der Kultur feindliches Klima. Dazu passt: Das Altonaer Museum mit seiner großartigen Sammlung sollte geschlossen werden - aber die sündteure Elbphilharmonie wird in jedem Fall weitergebaut. Hamburg ist dabei, seinen Charakter und seinen Ruf in entscheidender Weise zu verändern.


3. Die zwölf Glaubenssätze von 2010


Tucholsky hat in seinem noch immer sehr lesenswerten Aufsatz von 1928 „Die Glaubenssätze der Bourgeoisie“ analysiert, welche unüberprüften Überzeugungen damals im Bürgertum unumschränkt gültig waren. Er schreibt dort.: „Die verschiedenen Schichten des Bürgertums kristallisieren bestimmte Axiome, deren die Axiomträger sich nicht immer bewusst sind; vielfach leben sie dumpf dahin, ihrer selbst nicht bewusst, wie ja überhaupt die leeren Räume im Denken des Menschen viel, viel größer sind, als man gemeinhin annimmt … Die Axiome, von denen ich spreche, sind Glaubenssätze, hingenommen in absolutem Gehorsam, ehern errichtet, für das ganze Leben Geltung behaltend. Sie sind nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen …“

Und so sieht es im Hirn eines typischen Mittelschichtlers anno 2010 aus:

1. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt.

2. Mit Bildung können wir unseren Wohlstand sichern.

3. Unsere Politiker sind unfähig und denken nur an sich selbst.

4. An der jetzigen Wirtschaftskrise ist die Gier der Banken schuld.

5. Wenn die Zuwanderer sich uns anpassen, verschwinden unsere Probleme mit ihnen.

6. Die Nutzung von Autos macht uns mobil.

7. Rad fahren ist gut für die Umwelt.

8. Windkraft ist gut fürs Klima.

9. Hundertwasser war ein großer Künstler.

10. Fußball ist eine interessante und Völker verbindende Sportart.

11. Leistung muss sich wieder lohnen.

12. Alles wird immer schlechter und muss in einer Katastrophe enden.

      Wetten, dass ein durchschnittlicher Leser neun oder zehn von zwölf Sätzen spontan zustimmt? Dabei trifft keine dieser Behauptungen im Kern zu. Keine einzige hält einer Nachprüfung stand - oder sie muss zumindest so stark relativiert werden, dass ihre Aussagekraft gegen null tendiert. Genau diese kritische Auseinandersetzung erfolgt jedoch nicht.
      Die Liste, die noch erweitert werden kann, das ist der Grundbestand an Überzeugungen der sich selbst für informiert Haltenden hierzulande. Er wird permanent in allen Medien verbreitet und gepflegt. Auf ihn beruft sich beinahe jedermann, wenn er argumentiert. Mit dem Verweis auf seine Inhalte werden Wahlen gewonnen. Musil nannte das: Seinesgleichen geschieht. Schlimm für ein Land, eine Zeit, eine Gesellschaft. Überblickt man den ganzen Strauß dieser blumigen Phrasen, würdig eines Flaubert mit seinem „Bouvard und Pécuchet“, zeichnet sich deutlich das Profil des Bürgers in unserer Zeit ab: erfüllt von einer grundlosen Pseudoprogressivität, die jederzeit geneigt ist, ins Reaktionäre umzukippen.


4. Hitler wird der Ton abgestellt


Hitler als Stummfilmstar von heute


Im Deutschen Historischen Museum in Berlin wurde gerade die allererste Ausstellung in Deutschland eröffnet, die sich nur mit Adolf Hitler beschäftigt. Ziemlich spät könnte man meinen. Da ich zzt. nicht nach Berlin fahren kann, stellt sich für mich die Frage nicht, ob ich mir die Ausstellung ansehe. Dafür verfolge ich die Berichterstattung über sie.
      Nach den Verlautbarungen der Ausstellungsmacher geht es in ihrem Konzept vor allem um die Faszination der Person des Führers auf die breiten Massen. Und genau hier setzt hier und da bereits Kritik ein. Der deutsch-israelische Publizist Rafael Seligmann konnte sich die Ausstellung vor ihrer Eröffnung ansehen. Er monierte, dass zwar die Wirkung Hitlers auf die Bevölkerung, nicht aber deren geistige Bereitschaft, sich faszinieren zu lassen, thematisiert wird. Dazu gehört für Seligmann selbstverständlich auch die gesamte Vorgeschichte des Dritten Reichs. Sollte seine Kritik zutreffen, würde das ein großes Manko sein. Vielleicht ein absichtlich herbeigeführtes Manko?
      Mich lässt in diesem Zusammenhang jetzt ein Kuriosum stutzen. Der „Tagesspiegel“ schreibt am 18.10.10 in einem sehr kurzen Artikel am Schluss: „Filme, die Hitler beispielsweise bei Reden zeigen, laufen in der Ausstellung ohne Ton ab.“ Wie bitte? Hitler nur als Wackelbild und stummer Geist erträglich? Fürchtete man, dass es mit uns bald schon wieder so weit ist? Wollte man Peinlichkeiten vorbauen, wie ergriffenem Schweigen, offener Zustimmung? Dass hier und da beifällig gemurmelt wird: Da hat er aber doch Recht, das wird man ja noch sagen dürfen …
      Wenn sich einer hinbemühen und uns dann über seine Eindrücke berichten könnte, das wäre schön. Und für uns allemal nutzbringender als der ewige DSDS-Verblödungsquark.


5. Neues von Sarrazin


Zur Vorgeschichte: Die dem Land Berlin gehörende Wohnungsbaugesellschaft Howoge hat in den Jahren 2002 bis 2009 bei der Vergabe von Großaufträgen gegen zwingende rechtliche Vorgaben verstoßen und die Aufträge ohne Ausschreibung vergeben. Die meisten von ihnen gingen an das Ingenieurbüro des Abgeordneten Hillenberg (SPD). Als dies Anfang 2010 bekannt wurde, wurde Hillenberg aus der SPD-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses ausgeschlossen. Zwei Howoge-Geschäftsführer wurden entlassen und klagen dagegen nun vor dem Arbeitsgericht. In diesem Zusammenhang hat der seinerzeit als Finanzsenator verantwortliche Thilo Sarrazin jetzt einen Brief an einen der beiden Entlassenen geschrieben. Darin heißt es:

„Sie hatten anhand von drei ausgewählten Beispielen dargestellt, dass verschiedene Planungsbüros mit Planungsleistungen beauftragt wurden. Dabei war auch erkennbar, dass die Schwellenwerte nach europäischem Vergaberecht mindestens in einem Fall deutlich überschritten wurden. Sie hatten dargestellt, dass diese Form der Direktvergabe ohne förmliche Ausschreibung an verschiedene Planungsbüros die wirtschaftlichste Lösung für die Howoge war, weil diese Planungsbüros über das entsprechende und langjährig erprobte Fachwissen verfügen … Ich habe diese Vorgehensweise der Howoge aus wirtschaftlichen Gründen zum Wohle der Gesellschaft und damit auch des Gesellschafters Land Berlin von Anfang an und uneingeschränkt gebilligt …“

Im Klartext: Was interessierte ihn als Senator Recht und Gesetz. Da stand er doch drüber, nach seinem Rechts-
verständnis. Von Anfang an und uneingeschränkt gebilligt! – Transparency International rügt diese seltsame Aufsichtsmethode als rechtswidrig und Verstoß gegen den Amtseid. Allerdings reiht sich diese Geschichte würdig ein in die sonstigen Skandale um Sarrazin, vom Spree-Dreieck bis zum Golfclub Wannsee. Und in dieser windigen Figur sehen noch immer viele eine Art Praeceptor Germaniae. Leute, macht euch doch kundig …
      Offen ist noch, ob weitere Senatsmitglieder seinerzeit von der fatalen Vergabepraxis wussten. Junge-Reyer und Wowereit dementieren. Sie wären dabei noch überzeugender, wenn sich die Partei mit dem Schlussstrich nicht so schwer täte. Die Selbstsicherheit, mit der Sarrazin sich zu seiner rechtswidrigen Entscheidung bekennt, lässt wohl noch Enthüllungen befürchten. Wie war es überhaupt möglich, dass einer wie Sarrazin so lange Senator sein konnte? Jetzt ist Künast ante portas und Wowereit wird die Altlast Thilo S. nicht los.


6. Was Sie schon immer über Antisemitismus (nicht) wissen wollten …


Das war jetzt ein großes Thema bei Opinio: Parallelen zwischen Antisemitismus und Islamophobie? Um hier mitzureden, müsste man Grundkenntnisse haben: Was ist der moderne Antisemitismus, wie ist er entstanden und wie hat er sich im Lauf der Zeit geäußert? Legt man den Wortlaut der ablehnenden Kommentare zugrunde, ist der Wissensstand dürftig. Er tendiert gegen null, und je schärfer die Zurückweisung, umso geringer die Kenntnis.
      Viele neigen zu allzu schlichtem Zirkelschluss. Sie ordnen Antisemitismus und Rassenhass überhaupt einfach dem Nationalsozialismus zu, und da das eine Sache in der Vergangenheit ist und sie selbstredend keine Nazis sind, ist weder Juden- noch Rassenhass ein Thema für sie und die Untersuchung möglicher Parallelen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem von vornherein verfehlt. So verschafft man sich selbst die Gnade der Ahnungslosigkeit.
      Wer ihnen in der Nazi-Vorgeschichte Beispiele für weit verbreiteten Judenhass präsentiert, wird bestenfalls ignoriert. Oder man verunglimpft ihn pauschal und hütet sich dabei, auf die Sache selbst einzugehen. Ein Spezialfall ist die Verharmlosung. Ein ansonsten kluger Kopf behauptet schlankerhand, Antisemitismus sei vor dem Dritten Reich in Deutschland geringer ausgeprägt gewesen als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das ist, wie leicht nachzuweisen, falsch, und auf Nachhaken relativiert der kluge Kopf: Er habe nur das 18. und 19. Jahrhundert gemeint. Auch hier wird er den historischen Fakten nicht gerecht – klugerweise hat er sich gleichzeitig pikiert weiterer Erörterung entzogen.
      Während ich diese Zeilen in einer fremden Wohnung schreibe, steht mir zum Nachschlagen nur Meyers Großes Taschenlexikon, Ausgabe 1983, zur Verfügung. Ich mache einen Versuch und lese erstmals den Artikel über Antisemitismus dort, um meinen Wissensstand zu überprüfen. Ich lese folgende Kernsätze:

1. Der moderne, rassistische Antisemitismus gewann größeren Einfluss seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der sozialen Umschichtung und mit dem Niedergang des bürgerlichen Liberalismus …

2. Während in West-Europa die politische Bedeutung des Antisemitismus beschränkt blieb, fand er in Deutschland und Österreich-Ungarn … sowie in Ost-Europa starke Verbreitung und wirkte als Ventil sozialer Verunsicherung insbesondere breiter kleinbürgerlicher und bäuerlicher Schichten …

3. Nach dem 1. Weltkrieg wurde der Antisemitismus für die Mittelschichten zu einer neurotischen Zwangsvorstellung und einem Schlüssel zur Erklärung der sozialen und politischen Strukturkrise …

4. In absurd übersteigertem Biologismus wurde vom Einstrom „jüdischen Blutes“ die psychische und physische Zersetzung der arischen Völker erwartet. Dieser irrationale Antisemitismus ist von der völkischen und nationalsozialistischen Bewegung bewusst ausgenutzt worden, erfasste jedoch neben konservativen Gruppen auch Teile des katholischen Klerus, hingegen nicht die Arbeiterschaft …

5. Der Antisemitismus des Nationalsozialismus unterschied sich nur im Grad der Radikalität vom Antisemitismus der Vorkriegszeit ...

Ich finde mich jetzt durch diese hervorragend formulierten Befunde in meinen bisherigen Auffassungen bestätigt. Schön für mich, aber lieber würde es mir sein, sie fielen auch sonst auf fruchtbaren Boden.
      Zwei Anmerkungen noch: Die Arbeiterschaft war frei von Antisemitismus? Schön, wenn es so gewesen wäre … Und: Besonders diese vierte These lege ich allen Lesern geradezu ans Herz. Jetzt schließt sich nämlich der Kreis, genau hier haben wir den Bezug zur heutigen Islam-Debatte. Das ist eine der vergifteten Quellen, aus denen Thilo Sarrazin schöpft.
      Abschließend erlaube ich mir bei Nr. 3 eine leicht abgeänderte Neufassung: Am Anfang des 21. Jahrhunderts wurde die Islamfurcht für die Mittelschichten zu einer neurotischen Zwangsvorstellung und einem Schlüssel zur Erklärung der sozialen und politischen Strukturkrise …



7. Zum Beispiel


Im Sommer 2009 bekam ich eine Email von einer mir schon länger bekannten Dame. Wir kannten uns aus verschiedenen Internetforen und hatten vielfach Informationen und Meinungen ausgetauscht. Diesmal erläuterte sie mir, wie sich das Palästina-Problem am besten lösen ließe. Es war eine radikal einfache Lösung: Alle Palästinenser sollten auch noch das restliche Palästina verlassen müssen und auf andere arabische Staaten verteilt werden. Israel sollte sich künftig über die gesamte Westbank erstrecken.
      Ich war in einer peinlichen Lage. Ich hatte mich immer gut mit der Dame verstanden, aber diesmal musste ich ihr widersprechen. Also schrieb ich ihr, die Chance für einen dauernden und gerechten Frieden liege allein in einer verhandelten Zwei-Staaten-Lösung. Und: Es müsse ein für alle Mal Schluss sein mit dem gewaltsamen Verschieben von Bevölkerungsgruppen. Das sei eines der großen Übel des 20. Jahrhunderts gewesen. Und noch einiges in diesem Sinn.
      Es kam zu keiner weiteren Erörterung. Die Dame blieb insoweit stumm. Wir entfremdeten uns einander. Mir ging ihr Vorschlag nicht aus dem Sinn. Sie ist eine gläubige katholische Christin, gebildet und – von großen Ängsten vor der Islamisierung Europas geplagt, seit Jahren schon.
      Ich werde ihre Identität nicht preisgeben. Doch ihr Beispiel ist lehrreich. Es zeigt, wohin einen Angst vor Überfremdung führen kann – in die Geschichtsvergessenheit. In all ihrer fragwürdigen Unschuld vertrat sie die Strategie jener kaltschnäuzigen Gewaltpolitik, die Europa zwischen 1920 und 1950 so viel Unglück und menschliches Leid beschert hat. Für sie ist der Islam so urböse, dass er nicht nur in Europa, sondern auch aus dem Heiligen Land verdrängt werden muss.
      Ihre Ängste wie ihre Hoffnungen haben ein Spiegelbild in der Vergangenheit: im fanatischen Kampf gegen die Juden. Doch in diesem Spiegel der Geschichte erkennt sie sich nicht.


8. Aus dem christlich-jüdischen Giftschrank


Es ist jetzt viel die Rede von den christlich-jüdischen Wurzeln unserer Kultur. Wissen Sie, was das ist: die christlich-jüdische Kultur? Auf der Suche nach ihr habe ich im Internet recherchiert und merkwürdige Entdeckungen gemacht. Mein Verfahren war immer dasselbe: den Namen eines deutschen Dichters bei Google eingeben – es mussten nur Straßen nach ihm benannt worden sein – und dann ergänzt: Juden. Da habe ich merkwürdige Entdeckungen gemacht. Zum Beispiel:

Wilhelm Busch, aus „Die fromme Helene“ (1872):
„Und der Jud’ mit krummer Ferse, / krummer Nas’ und krummer Hos’ / schlängelt sich zur hohen Börse / tiefverderbt und seelenlos.“

oder:

Heinrich Mann, Zeitungsartikel von 1895:
„Jeder vom nationalen und sozialen Gewissen Geleitete wird daher Antisemit sein …“

oder:

Theodor Fontane in einem Brief von 1898 über die Juden: „ein schreckliches Volk, (dem) von Uranfang etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann.“

oder:

Thomas Mann, er freut sich in seinem Tagebuch vom April 1933 über „die Entjudung der Justiz“

oder:

Gerhart Hauptmann in seinem Tagebuch 1938:

„Ich muss endlich diese sentimentale ‚Judenfrage’ für mich ganz und gar abtun: Es stehen wichtigere, höhere deutsche Dinge auf dem Spiel …“

Allerdings. Schließen wir den Giftschrank daher wieder und fangen noch mal von vorn mit den Überlegungen an. Denkt man bei der christlich-jüdischen Kultur vielleicht an Männer wie Tucholsky und Stefan Zweig (ins Exil getrieben und dort Selbstmord begangen)? Ich weiß es nicht. Nun, vielleicht ist das eine ganz neue Erfindung, von der ich erst jetzt höre?

 

 

9. Sklerose und Zukunft

 

 Die deutsche Gesellschaft altert und wird weiter altern, die Veränderung der Alterspyramide zeigt es seit langem an. Die Auswirkungen auf die unterschiedlichen Lebensbereiche sind bereits oft thematisiert worden. Wie entwickeln sich Wirtschaft, Politik und Konsumverhalten, welcher Wandel steht uns erst noch bevor? Um all das wird es hier einmal nicht gehen. Vielmehr soll die heutige Gesellschaft selbst wie ein menschliches Individuum betrachtet werden, das eine Geschichte hat und der Abnutzung durch die Zeit unterliegt, und zwar zunächst unabhängig vom Altersaufbau der Gesamtgesellschaft.

Beginnen wir die Einzeluntersuchung mit dem kulturellen Überbau. Das Hauptmedium ist seit Jahrzehnten das Fernsehen. Seine Entwicklung ist oft analysiert worden. Dabei fallen immer dieselben Stichworte: Verflachung, Kommerzialisierung. Das Fernsehen ist allmählich zu einem Nebenbei-Medium geworden. Es hat in den Mittelschichten seine frühere Bedeutung weitgehend eingebüßt. Als trivialer Zeitvertreib dient es hauptsächlich noch der Unterhaltung der unteren sozialen Schichten. Dieser Prozess ist früh in Gang gekommen und mit naturgesetzlich anmutender Konsequenz erst langsam, dann immer schneller abgelaufen. Die Programme vermehren sich, es findet eine fortlaufende Wanderung qualitätvoller Inhalte in immer speziellere Spartenkanäle ab, deren quantitative Bedeutung gegen null tendiert. Ergebnis: Als Medium zur Wissensvermittlung, zur Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensaufgaben, zur Unterhaltung mit einem Mindestanspruch hat das Fernsehen im Wesentlichen ausgedient. Es funktioniert nur noch in einem technischen Sinn und transportiert Inhalte vorwiegend schädlicher Art, schädlich für den Nutzer wie für die Gesellschaft insgesamt. Fernsehen ist vergleichbar Blutbahnen voller Ablagerungen in einem vielfach vergifteten Organismus. Der Vergleich mit dem Befund Sklerose drängt sich auf.

Das Internet ist dabei, das Fernsehen aufzusaugen und abzulösen. Bedeutet das Erneuerung, Revitalisierung der Medienwelt? Man möchte das gern so sehen. Man möchte gern an Demokratisierung glauben, an aktive Teilnahme der Nutzer. Doch das Internet ist nach ungefähr zwanzig Jahren Geschichte kein wirklich junges Medium mehr. Schaut man genauer hin, zeichnet sich für den Beobachter viel der Entwicklung des Fernsehens Vergleichbares ab. Reine Geschäftsinteressen setzen sich gegenüber denen an Inhalten mehr und mehr durch. Trivialisierung und Banalisierung bestimmen den Hauptstrom der Entwicklung. Stärker noch als beim Fernsehen wirkt sich das Moment der Verknappung von Zeit aus. Mit ihm untrennbar verbunden sind Reiz- und Informationsüberflutung, Reduktion von Sprache, Verwilderung der Umgangsformen bis hin zu virtueller Verwahrlosung. Der eine große Unterschied wird bleiben: Im Internet sind wir selbst für unsere eigene Verdummung zuständig – doch selbst das könnte sich irgendwann erledigt haben durch immer perfektere Auswertung unserer Nutzerprofile. Eine gesunde Entwicklung sieht anders aus. Man kann die Art, wie sich die Nutzung des Internets entwickelt, als Krankheitsprozess auffassen, der in überschaubarer Zeit zu vorzeitiger Alterung führen muss.

Politik sollte Rahmenbedingungen schaffen, auch für die Entwicklung der Medienlandschaft. Stattdessen ist Politik als Medienspektakel vor allem Objekt geworden. Auch die bundesdeutsche Demokratie ist inzwischen unverkennbar ins Stadium der Postdemokratie eingetreten, wie sie der Brite Colin Crouch für die Mehrzahl der westlichen Gesellschaften schon 2003 analysiert hat. So haben wir zwar auf der einen Seite ein Grundgesetz, das höchsten Ansprüchen genügt, doch auf der anderen Seite eine Verfassungswirklichkeit, die sich in vielfachem Widerspruch zumindest zum Geist dieses Grundgesetzes befindet. Fassen wir nur kurz die wesentlichen Elemente dieser Degeneration zusammen: Vermarktung von Politik mit den Mitteln der Werbebranche und zu Lasten von Argumentation – absolute Dominanz der maßgeblichen Wirtschaftsinteressen - Auseinanderrücken der sozialen Schichten, die wieder zu antagonistischen Klassen werden – enge Vernetzung der politischen Elite mit dem Führungspersonal der Wirtschaft bis hin zur jederzeitigen Austauschbarkeit – Zerschlagung des öffentlichen Sektors der Arbeitswelt, d.h. Ersatz der Gemeinnützigkeit durch primäre Gewinnorientierung. Die Bundesrepublik Deutschland heute, das ist eine Gesellschaft im Wesentlichen noch mit der verfassungsmäßigen Fassade früherer Jahrzehnte – und einem radikal veränderten Innenleben. Zwar sind Veränderungen an sich für eine Gesellschaft natürlich und sogar notwendig, um überleben zu können, wenn sie aber vor allem in zunehmend einseitiger Macht- und Vermögenskonzentration und dem Wiederaufleben schon überwundener sozialer Missstände bestehen, darf man darin mit gutem Recht Symptome eines Niedergangs sehen.

Das ökonomische Erfolgsmodell der deutschen Nachkriegsgeschichte ist die Kombination von innerem sozialen Frieden und starker Exportorientierung. Die sehr erfolgreiche Exportoffensive der Wirtschaftswunderzeit war die Fortsetzung der aggressiven Militär- und Außenpolitik mit friedlichen Mitteln. Diesem Modell fühlten und fühlen sich alle Regierungen verpflichtet. Es scheint zum Wohlstand durch Exportüberschuss keine Alternative vorstellbar. Dabei ist diese Strategie spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 nicht mehr wirklich zukunftsfähig. Die dauernden hohen Export- und Leistungsbilanzüberschüsse einiger Staaten – vor allem Deutschlands und Chinas - haben die internationalen Wirtschaftsbeziehungen nicht nur über viele Jahre geprägt, sondern dadurch eben auch aus der Balance gebracht. Mit Exportüberschuss ist zwangsläufig Kapitalexport verbunden. Die Warenströme fließen einseitig und die Schuldtitel sammeln sich bei den Produzenten an. So wurde das Spielgeld für die Zocker der Finanzbranche erst geschaffen. Es ist bezeichnend, dass die berüchtigten Lehman-Zertifikate nie für den heimischen US-Finanzmarkt gedacht waren, sie waren dort nicht einmal zugelassen, so wenig wie in den meisten europäischen Ländern für den Verkauf an Privatpersonen. Deutschland war hier die große Ausnahme. Vereinfacht gesagt: Deutschland hat Autos, Maschinen, Chemikalien in die USA geliefert und dafür intelligent recycelte Schrotthypotheken erhalten. Zu einer ähnlichen Analyse kommt anlässlich der Griechenlandkrise die französische Finanzministerin: Deutschland habe mit seinem überbordenden Export und dessen großzügiger Finanzierung wesentliche Mitschuld an den nicht mehr beherrschbaren Defiziten der Nehmerländer. Einsicht in diese Zusammenhänge ist bisher in Deutschland so gut wie nicht vorhanden. Dabei ist das die schlichte Wahrheit: Da ist ein Weg bis an sein Ende gegangen worden. Die Alternative heißt: Umsteuern oder Kollaps. Wenn wir auch hier ein Bild aus der Medizin verwenden wollen: Der extreme Hypertoniker hat die Wahl zwischen radikaler Blutdrucksenkung und Schlaganfall.

Genug der Schlaglichter auf eine Erfolgsgesellschaft, die der Erfolg allmählich in die Sackgasse geführt hat. Ihr Beharrungsvermögen – um das hässliche Wort Erstarrung zu vermeiden – hat gewiss auch mit dem permanent steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung zu tun: je älter, desto konservativer. Auf der jungen Generation ruht also neben allen übrigen Lasten auch noch die, für vielfache Richtungsänderungen zu sorgen. Indessen ist Skepsis über die zur Verfügung stehende Kraft angebracht. Die Jungen von heute kann man wie die früherer Generationen in zwei Hauptgruppen einteilen: die Angepassten und die Kreativen. Der Anpassungsdruck ist heute trotz weggefallener Tabus und vieler abgeschnittener Zöpfe ungleich größer als in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Leistung ist der Zentralbegriff jetzt. Wir haben es mit einer quasi religiös-monotheistischen Leistungsethik zu tun, der sich keiner entziehen kann. Sie hat viele Gesichter und keines ist erfreulich: Ver-schulung, das Unwesen der Rankings, internationaler Konkurrenzkampf, Flexibilisierung nicht nur aller Arbeitsbedingungen, sondern gleich aller Lebensumstände … Da ist dauernd so viel erzwungene Veränderung im Spiel, dass man sich besorgt fragt: Wo soll noch die Kraft für freiwilligen und autonomen Richtungswechsel herkommen?

Natürlich gibt es weiterhin viel kreative Produktivität unter den Jungen. Sie wird vor allem im Internet sichtbar. Noch nie wurde beispielsweise so viel geschrieben, gedichtet, kommentiert. Entspricht der Quantität auch eine kritische Masse an Originalität? Keineswegs. Der Drang, sich zu äußern, ist massenhaft und unwiderstehlich. Doch was sich überwiegend äußert, ist von großer Uniformität. Die Lyrik wandelt thematisch wie formal in den Fußstapfen der Großeltern. Die Prosa lässt eine Verarmung der Sprache, ein Schwinden des differenzierten Ausdrucks, der Genauigkeit und der Nuance erkennen. Gut gehalten haben sich dagegen die Sehnsüchte nach biedermeierlichem Glück und Lebenszuschnitt. Und die anderen, die Protestler, die Nonkonformisten? Wenn sie politisiert sind, scheinen sie vor allem die allgemein akzeptierten Formeln herunterzubeten. Bemühen sie sich um einen künstlerischen Ausdruck, kommt er einem seltsam oder sattsam bekannt vor: Neo-Expressionisten, Neo-Dadaisten, Neo-Beatniks. (Falls sie sich nicht damit begnügen, einfach nur herumzurilken.) Was so gern Avantgarde sein möchte, besteht aus vielen Zombie-Avantgardisten. Allzu beliebt und daher völlig verbraucht ist ihr Mittel der Wahl – der Schock. Das soll schockierend sein, diese Vorliebe für grelle Farben, überlaute Töne, kraftlose Kraftausdrücke? Es ist so schockierend wie eine Ausstellung von Werken der Hobbymalgruppe einer Kreisvolkshochschule.

So viel Alter war nie. Was wir brauchen, ist eine kulturelle Revolution. Sie wird nicht von oben kommen, das ist gewiss. Sie kann nur aus individueller Bildung und Überzeugung und Praxis hervorgehen und wenn sich ausreichend viele auf diesen Weg begeben haben und auf ihm sich zusammenschließen. Wo könnten sich dafür noch Kraftquellen auftun? Dazu nur noch drei Stichworte abschließend: Versinnlichung – Vergeistigung – Nachfolge.

Versinnlichung ist die Umkehr eines generationenlangen Prozesses, der auf Entsinnlichung der Kunst wie des Lebens hingewirkt hat. Vergeistigung bedeutet das ernsthafte Durchdenken und Erarbeiten eigener Positionen zu allen Grundfragen der menschlichen Existenz. Wie man das anfängt und wie man dabei bleibt, kann man aus so vielen in Vergessenheit geratenen Biographien lernen, eine Nachfolge weniger der Technik als der Grundhaltung.

 

 

10. Die Fußball-Legende

 

Wir haben uns angewöhnt, Fußball als eine Massensportart zu betrachten, die vor allem in den unteren, breiteren Volksschichten ausgeübt wird und dort auch beheimatet ist. Aufgrund ihres besonderen sportlich-ästhetischen Reizes soll sie jedoch sich Anerkennung in allen Schichten verschafft haben und dadurch zur Hauptsportart schlechthin aufgestiegen sein. Historisch stimmt daran nichts. Im Folgenden beziehe ich mich insofern auf den detaillierten Wikipedia-Artikel über Fußball.

Der moderne Fußball ist bekanntlich eine englische Erfindung. Gehen wir aber noch etwas weiter zurück, fangen wir bei den alten Chinesen und ihrem Fußball an. Wikipedia: „ … gilt als sicher, dass es als militärisches Ausbildungsprogramm zum Training der Soldaten durchgeführt wurde.“ Die Linie führt weiter über Sparta (nicht Athen, Sparta!) und Rom („militärischer Kontext“). In England taucht die Vorform des Fußballs im Mittelalter auf. Bezeichnenderweise spielt die Rolle des späteren Fußballtores das Stadttor. Die Einnahme des Stadttores war in jenen Zeiten gleichbedeutend mit Einnahme der Stadt und das bedeutete: Plünderung, Vergewaltigungen, Massentötung.

Auf dieses Spiel besann sich also die englische Oberschicht im 19. Jahrhundert, da es hervorragend geeignet schien, die Söhne dieser Oberschicht auf ihren späteren Beruf (Offizier, Kolonialbeamter) vorzubereiten. England hatte sich schon beträchtliche Teile der Erdoberfläche angeeignet und war nicht gewillt, sie wieder herauszugeben. Im Gegenteil: Es setzte im Wettlauf vor allem mit Frankreich und Russland dazu an, sich noch mehr Länder untertan zu machen. Der Aufstieg des Fußballs in England ist eine unmittelbare Begleiterscheinung des britischen Imperialismus. Auf dem Kontinent setzte die Fußballbegeisterung mit erheblicher Verzögerung ein, zuerst in der Schweiz, ausgehend von Privatschulen mit englischen Zöglingen. Im Deutschen Reich waren die konservativen staatstragenden Schichten lange erbitterte Gegner der neuen Sportart. Sie hatten realisiert, welche überlegene Konkurrenz der eigenen Wehrertüchtigung à la Turnvater Jahn erwachsen war.

Das kleine England beherrschte schließlich ein Viertel der Erde, darunter Indien sowie Afrika von Kairo bis zum Kap. Es triumphierte im 1. Weltkrieg. Unmittelbar danach stieg Fußball auch in Kontinentaleuropa zur führenden Sportart auf und stützte sich bald nicht mehr nur auf den bürgerlichen Nachwuchs, sondern bezog gerade auch den proletarischen mit ein. Die zeitliche Parallele zum Aufstieg von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus ist kein Zufall. Diese Gesellschaften bereiteten sich auf Kriege im Innern wie im Äußeren vor, mit massenhaftem Einsatz von Material und Menschen – Menschenmaterial. Fußball war faktisch eine paramilitärische Erziehung. Tatsächlich geht es in diesem Spiel nur in zweiter Linie um körperlich geschickten Umgang mit dem Ball. Im Vordergrund steht unverkennbar die Eroberung von Terrain. Der Gegner soll auf seinem eigenen Gebiet attackiert und niedergerungen werden.

Wer Lust hat, das Thema zu vertiefen, kann die Zusammenhänge zwischen der Fußballwelle nach Weltkrieg II und den Exportoffensiven und Wirtschaftskriegen der Fünfziger und Sechziger untersuchen.

Verblüffend ist die Karriere, die Fußball nach Achtundsechzig bei einem Teil der Intellektuellen gemacht hat. Sie haben sich wohl tatsächlich von der pseudovolksnahen Ausstrahlung täuschen lassen und das Märchen von der originären Volkssportart geglaubt. Und heute? Fußball ist so international und interkontinental wie die Kriege der Gegenwart. Er passt hervorragend zu unserem aktuellen Neoimperialismus. Köhler geht, nachdem er sich einmal im entscheidenden Punkt verhaspelt hat – und die WM beginnt, dürftig geschminkt als angeblich völkerverbindend und friedliche Entwicklung stimulierend. Im Lärm der afrikanischen Vuvuzelas steckt die Wahrheit: Krieg und Kriegsgetöse. Es sind Kriegstrompeten.

Weil sie hierher passen, einige Zeilen von Bertolt Brecht, und zwar der Refrain des „Kanonen-Song“ aus der Dreigroschenoper, in dem er jene stolze britische Mentalität so treffend karikiert hat:

„Wenn es mal regnete / Und es begegnete / Ihnen `ne neue Rasse / `ne braune oder blasse / Da machen sie daraus vielleicht ihr Beefsteak Tartar.“

 

(Geschrieben im Sommer 2010)

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.12.2010

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